Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Goethe oder der Schriftsteller

In der Einrichtung der Welt ist auch für einen Schriftführer gesorgt, der die mannigfachen Verrichtungen des wunderthätigen Geistes des Lebens, der allenthalben pulsiert und schafft, zu verzeichnen hat: den Schriftsteller. Sein Amt ist es, die Thatsachen in seinen Geist aufzunehmen und hierauf eine Auswahl der hervorragendsten und charakteristischen Erfahrungen zu treffen.

Die Natur selbst sorgt für einen Bericht von ihrem Thun. Sie hält alle Dinge dazu an, ihre Geschichte zu schreiben. Der Planet wie der Kiesel sind von ihrem Schatten begleitet. Der rollende Fels hinterläßt seine Spuren in den Berg gerissen, der Fluß sein Bett im Erdboden, das Tier sein Skelett in der Gesteinschicht, Farn und Laub ihre bescheidene Grabschrift in der Kohle. Der fallende Tropfen meißelt sein Zeichen in Sand oder Stein. Kein Fuß tritt in den Schnee oder über den Grund, der nicht in mehr oder minder dauernden Lettern einen Abriß seines Ganges in denselben drücken würde. Jede Handlung des Menschen schreibt sich ins Gedächtnis seiner Mitmenschen ein und ebenso in sein eigenes Wesen und in sein Gesicht. Die Luft ist voll von Tönen, der Himmel von Zeichen, der Erdboden besteht aus lauter Denkmälern und Inschriften, und jeder Gegenstand ist mit Andeutungen bedeckt, die für den Verständigen deutlich sprechen.

In der Natur geht diese Selbst-Registrierung unaufhörlich vor sich, und der Bericht verhält sich zum Geschehenen wie der Abdruck im Wachs zum Petschaft. Er giebt nicht mehr und weniger als die Thatsache. Aber die Natur strebt empor, und beim Menschen ist der Bericht noch etwas mehr als ein bloßer Abklatsch. Er bedeutet eine neue und feinere Form des Originals. Die Erzählung hat ein selbständiges Leben, wie das Erzählte es hatte. Das Gedächtnis des Menschen ist wie ein Spiegel, der, nachdem er die ihn umgebenden Dinge aufgenommen, plötzlich belebt wird und sie neuartig ordnet. Die Thatsachen der Vergangenheit bleiben darin nicht müßig liegen, sondern die einen versinken und andere treten in helles Licht, sodaß wir bald ein ganz neues Bild haben, das aus den auffälligeren Erfahrungen zusammengesetzt ist. Der Mensch wirkt dabei mit. Er liebt es, sich mitzuteilen, und das, was er zu sagen hat, lastet auf seinem Herzen, bis es ins Freie gelangt ist. Aber außer dieser allgemeinen Freude an Mitteilung und Gespräch giebt es Menschen, die mit einer erhöhten Gabe für diese zweite Schöpfung geboren werden. Es giebt Menschen, die zum Schreiben geboren sind. Der Gärtner hebt jedes Steckreis und jeden Samen auf und jeden Pfirsichkern; sein Beruf ist es, ein Pflanzer von Pflanzen zu sein. Nicht weniger Eifer verwendet der Schriftsteller auf sein Geschäft. Was immer er sieht oder erfährt, das muß ihm als Modell dienen und zum Bilde sitzen. Er hält es für unsinniges Gerede, daß es Dinge gebe, die einer Darstellung nicht fähig seien. Er ist der Meinung, daß alles, was gedacht werden kann, auch geschrieben werden kann. das Höchste wie das Geringste; er möchte den heiligen Geist selber in Schrift fassen oder es wenigstens versuchen. Nichts ist so weitreichend, so sein oder ihm so teuer, das nicht gerade dadurch sich seiner Feder empfehlen würde, – und er wird's schreiben. In seinen Augen bedeutet ein Mensch die Fähigkeit, darzustellen, und das Universum die Möglichkeit, dargestellt zu werden. In jedem Gespräch, in jedem Unglück findet er neues Material, wie es unser deutscher Dichter aussprach:

»Gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide.«

Von Wut und Schmerz bezieht er seine Renten. Unüberlegtes Handeln giebt ihm die Kunst, weise zu sprechen. Quälereien und die Stimme der Leidenschaft dienen ihm nur, seine Segel zu schwellen; wie der gute Luther schrieb: »Wenn ich zornig bin, kann ich gut beten und gut predigen;« und wenn wir die Genesis mancher Züge feinster Beredsamkeit kennen würden, wer weiß, sie würden uns an das Entgegenkommen Sultan Amuraths erinnern, der einigen Persern die Häupter abschlagen ließ, damit sein Arzt Vesalius die Zuckungen der Halsmuskeln beobachten konnte. Seine Niederlagen sind die Vorbereitungen zu seinen Siegen. Ein neuer Gedanke, eine Krisis der Leidenschaft lehrt ihn, daß alles, was er bisher gelernt, exoterisch ist, nicht die Thatsache selbst, sondern nur ein Gerücht von ihr. Was nun? Wirft er die Feder weg? Nein, er beginnt seine Schilderung von neuem in dem neuen Licht, das für ihn angebrochen – vielleicht gelingt es ihm irgendwie doch noch ein oder das andere wahre Wort zu treffen. Die Natur ist gleichsam in einer Verschwörung begriffen. Was gedacht werden kann, kann auch ausgesprochen werden und drängt sich auch stets zur Äußerung, freilich nur mit rohen, stammelnden Organen. Wenn sie es nicht bewältigen können, dann harrt es noch und wirkt fort, bis es die Organe umgeformt zu vollkommener Brauchbarkeit für seinen Willen und es artikulierte Töne findet.

Dieses Streben nach nachahmendem Ausdruck, dem wir überall begegnen, ist bezeichnend für die Ziele der Natur, aber es ist nur Stenographie. Es giebt andere höhere Grade, und die Natur hat glänzendere Gaben für die, welche sie zu einem höheren Amte beruft, für die Klasse der Forscher und Schriftsteller, die einen Zusammenhang sehen, wo die Menge nur Bruchstücke sieht, die den Trieb in sich fühlen, die Dinge in einer idealen Ordnung zu zeigen und so selbst die Achse zu liefern, an der der Bau der Welt sich dreht. Die Ausbildung des spekulativen Menschen oder Forschers liegt der Natur gar sehr am Herzen. Es ist ein Ziel, das sie nie aus dem Auge verliert und das schon beim ersten Schöpfungsentwurfe vorgesehen ward. Er ist keine geduldete oder zufällige Erscheinung, sondern ein organisches Mittelglied, einer der Stände des Reiches, von der ältesten Zeit, vom Uranfang an im Netzwerk und Gewebe der Dinge vorgesehen und vorbereitet. Vorgefühl und Impulse beseelen ihn. Eine wärmere Glut wohnt in seiner Brust, die die Aufnahme jeder ursprünglichen Wahrheit begleitet, die ein Strahl der geistigen Sonne ist, der in den Schacht seines Bergwerks fällt. Jeder Gedanke, der im Geiste dämmert, zeigt im Augenblick des Aufleuchtens selbst seinen Rang an, verrät sich als Grille, oder als eine neue Kraft.

Wenn es ihm am inneren Ansporn nicht fehlt, so ist auf der anderen Seite Auffassung und Notwendigkeit genug für seine Gaben vorhanden. Die Gesellschaft hat zu allen Zeiten dasselbe Bedürfnis, nämlich nach einem gesunden Menschen, der die Fähigkeit objektiven Ausdrucks besitzt und all die Gegenstände der mannigfachen Monomanien der Zeit in die richtigen Beziehungen zu einander zu setzen vermag. Die Ehrgeizigen und Geldgierigen kommen mit ihrem letzten neuesten Hokuspokus, sei es ein Zolltarif, eine Bahn nach Texas, Neokatholicismus, Mesmerismus oder Kalifornien, und indem sie den Gegenstand von seinen natürlichen Beziehungen loslösen, gelingt es ihnen leicht, ihn in die grellste Beleuchtung zu setzen; und sogleich wird eine Menge von Leuten damit närrisch, die sich dadurch weder widerlegen noch heilen lassen, daß eine andere Menge ins Gegenteil rennt, weil eine gleiche Tollheit, die sich nur einen anderen Sparren ausgesucht hat, sie vor dieser speciellen Geisteskrankheit behütet hat. Es braucht aber nur ein Mensch das allumfassende Auge zu haben, das jedes dieser isolierten Wunderdinge in seine richtige Stellung und Umgebung zurückversetzt – und die Täuschung schwindet, und die wiederkehrende Vernunft der Gemeinde weiß der Vernunft des Warners Dank.

Der Forscher ist der Mann der Jahrhunderte, aber er muß wohl auch wie andere Leute den Wunsch haben, sich mit seinen Zeitgenossen zu verhalten. Nun liegt aber für oberflächliche Leute eine gewisse Lächerlichkeit auf den Gelehrten und aus der Schreiberzunft, die bedeutungslos ist, so lange der Forscher sich um sie nicht bekümmert. In unserer Heimat empfiehlt eine emphatische Gunst im Gespräch und in der öffentlichen Meinung den sogenannten praktischen Menschen, und der solide Teil der Menschen-Gemeinde wird in jedem Kreis mit bezeichnendem Respekt betrachtet. Unsere Leute sind alle der Ansicht Bonapartes bezüglich der Ideologen. Ideen zerstören nur die sociale Ordnung und Bequemlichkeit, zum mindesten machen sie den, der sie besitzt, zum Narren. Es wird allgemein angenommen, daß die Absendung einer Schiffsfracht von New-York nach Smyrna, oder das Umherrennen, um Subskribenten für eine Aktiengesellschaft zu werben, die fünf- oder gar zehntausend Spindeln in Bewegung setzen soll, oder das Schachern in einem politischen Klub und die Ausnützung der Vorurteile und Leichtgläubigkeit des Landvolks, um sich für den November ihrer Stimmen zu versichern – praktisch und empfehlenswert sei.

Wenn ich Thaten von einer weit höheren Art mit einem der Betrachtung gewidmeten Leben vergleichen sollte, ich würde nicht wagen, mich mit vollem Vertrauen zu Gunsten der ersteren auszusprechen. Die innere Erleuchtung hat für die Menschheit eine so tiefe Bedeutung, daß der Eremit und der Mönch viel zur Verteidigung ihres den Gedanken und dem Gebet gewidmeten Lebens sagen können. Eine gewisse Parteilichkeit, eine gewisse Übereiltheit, ein Mangel an innerem Gleichgewicht ist die Steuer, die für jede That bezahlt werden muß. Handle, wenn du willst, – aber du thust es auf deine Gefahr. Die Thaten der Menschen sind zu stark für sie. Zeigt mir einen Mann, der etwas gethan hat und nicht das Opfer und der Sklave seiner Thaten geworden ist. Was sie gethan haben, das hält sie in Banden und zwingt sie, dasselbe wieder zu thun. Die erste That, die ein Experiment sein sollte, wird zu einem Sakrament. Der begeisterte Reformator verkörpert seine hochstrebende Idee in irgend einem Ritus oder in einem Bunde, und die Folge ist, daß er und seine Freunde sich an die Form klammern und die hohe Idee verlieren. Der Quäker hat den Quäkerismus begründet, der Tanz-Quäker sein Kloster und seinen Tanz, und obgleich jeder vom Geiste schwatzt, ist nirgends vom Geiste etwas zu merken, sondern nur mechanische Wiederholung, die anti-geistig ist. Aber wo sind die neuen Dinge von heute? Und wenn schon in den Handlungen der Begeisterung dieser Mangel fühlbar wird – in jenen niedrigeren Tätigkeiten, die kein anderes Ziel haben, als uns bequemer und feiger zu machen, in Thaten der Schlauheit, in Thaten, die lügen und stehlen, Thaten, die die spekulativen Fähigkeiten von den praktischen scheiden, bei denen Vernunft und Gefühl in Bann gethan sind – diese Thaten sind nur Mangel und Negation. Die Hindu schreiben in ihren heiligen Büchern: »Kinder nur, nicht die Wissenden, sprechen von den Fähigkeiten der Betrachtung und von denen des Thuns als von zweien. Sie sind nur eins, weil beide dasselbe Ziel erreichen, und der Platz, den die Menschen erwerben, welche der Betrachtung folgen, auch von denen, welche der Thätigkeit folgen, erworben wird. Der Mann sieht, der da sieht, daß die Lehren der Betrachtung und der Thätigkeit dieselben sind.« Denn eine große That muß immer von geistigen Motiven ausgehen. Das Maß einer That ist das Gefühl, dem sie entspringt. Die größte That mag leichtlich eine That des verborgensten Privatlebens sein.

Diese Unterschätzung geht niemals von den Führern, sondern stets nur von unbedeutenden Personen aus. Die kraftvollen Herren, die an der Spitze der praktisch thätigen Klassen stehen, haben ihren Anteil an den Ideen, welche die Zeit beherrschen, und zu viel Sympathie für die Klasse der Denkenden. Überhaupt ist nie von Menschen, die auf irgend einem Gebiet Vortreffliches leisten, eine Unterschätzung irgend welcher anderer zu erwarten. Für solche bleibt stets Talleyrands Frage die Hauptfrage: nicht, ist er reich? Ist er verdächtig? Ist er einer von den Gutgesinnten? Hat er diese oder jene Fähigkeit? Ist er einer von den Unruhigen? Einer von den Konservativen? sondern nur: Ist er überhaupt jemand? Vertritt er etwas in seiner Person? Er muß in seiner eigenen Art gut sein. Das ist alles, was Talleyrand, alles, was die Staatsstraße, alles, was der gesunde Menschenverstand fragt. Sei echt und bewundernswert, nicht in der Art, die uns bekannt ist, sondern so, wie du es weißt. Tüchtige Menschen fragen nicht, worin ein Mensch tüchtig ist, wenn er nur tüchtig ist. Jeder Meister schätzt den anderen und bedingt sich nicht erst aus, daß er Redner, Künstler, Handwerker oder König sei.

Die Gesellschaft hat thatsächlich kein ernsteres Interesse als an der Wohlfahrt ihrer Schriftsteller. Und es läßt sich nicht leugnen, daß die Menschen herzlich bereit sind, geistige Leistungen anzuerkennen und zu bewillkommnen. Dennoch nimmt der Schriftsteller bei uns keine gebietende Stellung ein. Ich glaube, daß dies seine eigene Schuld ist. Ein Pfund wird allgemein für ein Pfund geachtet. Es hat Zeiten gegeben, in welchen er eine geheiligte Person war; er schrieb Bibeln, die ersten Hymnen, die Gesetzbücher, die epischen und die tragischen Gesänge, sibyllinische Sprüche und chaldäische Orakel, lakonische Sentenzen, die in die Mauern der Tempel graviert wurden. Jedes Wort war wahr und erweckte die Nationen zu neuem Leben Er schrieb ohne Leichtfertigkeit und ohne Wahl. Jedes Wort stand vor seinen Augen in Erd und Himmel gemeißelt, und Sonne und Sterne waren nur Lettern von gleicher Bedeutung, nicht notwendiger als die seinen. Aber wie sollte er Ehre empfangen, wenn er sich nicht selber Ehre erweist, wenn er sich in der Menge verliert, wenn er nicht länger ein Gesetzgeber ist, sondern ein Sykophant, der sich der unständigen Meinung eines gedankenlosen Publikums beugt; wenn er, ein schamloser Anwalt, eine schlechte Negierung stützt oder das ganze Jahr lang für die Opposition bellen muß, wenn er konventionelle Kritik oder sittenlose Romane schreibt oder überhaupt ohne Gedanken schreibt und ohne bei Tag und Nacht an die Quellen der Inspiration zurückzugehen?

Wir können einige Antworten auf diese Fragen erlangen, wenn wir die Reihe der Männer von schriftstellerischem Genie überblicken, welche unser Zeitalter hervorgebracht hat. Unter diesen begegnet uns kein inhaltsvollerer Name als der Goethes, keiner, der besser zum Repräsentanten der Gaben und Pflichten des Forschers und Schriftstellers ausersehen wäre.

Ich habe Bonaparte als den Repräsentanten der populären äußerlichen Lebensaufgaben und Bestrebungen des neunzehnten Jahrhunderts geschildert. Die zweite ergänzende Hälfte hierzu, der Dichter desselben, ist Goethe, ein Mann, der in dem Jahrhundert heimisch geworden ist wie kein zweiter, der seine Lüfte atmete, seine Früchte genoß, zu jeder früheren Zeit unmöglich gewesen wäre und durch seinen kolossalen Geist es von dem Vorwurf der Schwäche befreite, der, wäre er nicht gewesen, auf den geistigen Werken der Zeit lasten müßte. Er erscheint zu einer Zeit, in welcher sich eine allgemeine Kultur verbreitet und alle scharfen individuellen Züge ausgeglichen hat, in welcher in Ermangelung heroischer Charaktere ein gewisser socialer Komfort und ein allgemeines Zusammenarbeiten Platz gegriffen haben. Es giebt zwar keinen Dichter, aber ganze Haufen poetischer Schriftsteller; keinen Kolumbus, aber Hunderte von Postkapitänen mit Durchgangsfernrohren, Barometern, Suppenextrakten und Pemmican; keinen Demosthenes, keinen Chatham, aber eine beliebige Anzahl gescheiter Parlamentarier und Gerichtsredner; keinen Heiligen oder Propheten, aber geistliche Kollegien; keinen Gelehrten, dafür aber gelehrte Gesellschaften, eine billige Druckerpresse, Lesezimmer und Büchereien ohne Zahl. Nie noch hat es einen solchen Mischmasch von Dingen gegeben. Die Welt dehnt sich aus wie der Handel Amerikas. Wir können griechisches oder römisches Leben, das Leben im Mittelalter als etwas verhältnismäßig Einfaches und Übersehbares denken, aber das moderne Leben umfaßt eine solche Unmenge von Dingen, daß es einen verrückt machen könnte.

Goethe war der Philosoph dieser Vielfältigkeit; hunderthändig, argusäugig, fähig und freudig bereit, es mit diesem rollenden Gemengsel von Thatsachen und Wissenschaften aufzunehmen und durch seine eigene Gewandtheit sie mit Leichtigkeit einzuordnen; ein männlicher Geist, den die unendliche Mannigfaltigkeit der konventionellen Schalen, welche dieses Leben überkrustet hatten, nicht in Verwirrung brachte, den seine Feinheit und sein Scharfblick leicht befähigten, diese Schalen zu durchdringen und seine Kraft aus der Natur selbst zu schöpfen, mit der er in lebendiger Gemeinschaft lebte. Und was seltsam scheinen mag, er lebte in einer kleinen Stadt, in einem winzigen Staat, einem daniederliegenden Staat, und zu einer Zeit, da Deutschland keine so führende Rolle in der Welt spielte, daß den Busen seiner Söhne ein Stolz hätte schwellen können, wie er die Söhne mächtiger Metropolen, wie er ein englisches oder französisches oder dereinst ein römisches oder attisches Genie hätte ermutigen können. Aber in seinen Werken, da verrät sich keine Spur von provinziellen Schranken. Er schuldet seiner Stellung nichts von dem, was er geworden, sondern ward mit einem freien und beherrschenden Geiste geboren.

Die Helena oder der zweite Teil des Faust ist eine Philosophie der Litteratur, in Poesie gesetzt; das Werk eines Mannes, der sich als Meister aller Geschichte und Mythologie, aller Philosophien, Wissenschaften und Nationallitteraturen fühlen mußte in jener encyklopädischen Weise, in welcher die moderne Bildung mit ihrem internationalen Verkehr der Bevölkerung der ganzen Erde bis in die indische, etruskische und in die cyklopischen Künste, in die Reiche der Geologie, der Chemie, der Astronomie forscht, wobei jedes dieser Reiche in dem Werke einen luftigen und poetischen Charakter annimmt, weil ihrer so viele sind. Man sieht einen König mit Ehrfurcht an, aber wenn wir zufällig zu einem Kongreß von Königen kämen, würde sich das Auge mit den Eigenheiten eines jeden Freiheiten herausnehmen. Es sind keine wilden, wunderhaften Gesänge, sondern sorgfältig ausgearbeitete Formen, welchen der Dichter das Resultat achtzigjähriger Beobachtung anvertraut hat. Diese reflektierende und kritische Weisheit läßt das Buch in noch vollerem Sinne als die Blüte dieser Zeit erscheinen. Es datiert sich selbst. Dennoch ist er ein Dichter – ein Dichter mit einem stolzeren Lorbeerkranz denn irgend ein Zeitgenosse, und unter der Qual all dieser Mikroskope (denn es ist, als sähe er mit jeder Pore seiner Haut) schlägt er die Harfe mit der Kraft und mit der Anmut eines Helden.

Das Wunderbare an dem Buche ist die gewaltige Intelligenz darin. Der Verstand dieses Mannes ist ein so mächtiges Lösungsmittel, daß die vergangenen und das gegenwärtige Zeitalter, ihre Religionen, Politiken und Denkungsarten sich darin zu Urtypen und Ideen auflösen. Welche neuen Mythologien keimen in diesem Kopf! Die Griechen sagten, Alexander sei so weit gekommen, daß er das Chaos erreichte; Goethe kam vor wenigen Tagen ebensoweit, ja er wagte sich noch einen Schritt weiter und kam sicher zurück.

Sein ganzes Denken ist von herzerfreuender Freiheit erfüllt. Der unendliche Horizont, der stets mit uns reist, verleiht Kleinigkeiten, konventionellen und notwendigen Dingen die gleiche Majestät wie feierlichen und festlichen Ereignissen. Er war die Seele seines Jahrhunderts. Wenn dieses gelehrt war, wenn es durch seine Volksausbreitung, seine kompakte Organisation, den Drill der einzelnen Teile, eine große Forschungsexpedition geworden war, wenn es eine Fülle von Thatsachen und Resultaten anhäufte, viel zu rasch, als daß irgend einer der bis dahin existierenden Gelehrten sie hätte klassifizieren können – der Geist dieses Mannes hatte weiten Raum, um sie alle einzuordnen. Er besaß die Macht, die losgelösten Atome nach ihren eigenen Gesetzen wieder zu vereinigen. Er hat unsere moderne Existenz mit Poesie bekleidet. Im Kleinsten, im Vereinzelten erkannte er den Genius des Lebens, den alten listenersinnenden Prometheus, der dicht bei uns haust, zeigte, daß die Langeweile und Prosa, die wir unserem Zeitalter zuschreiben, nur eine andere seiner Masken sei:

»Selbst seine Flucht ist nur verkanntes Nahen,«

daß er nur die fröhliche Uniform abgelegt und ein Werktagskleid angezogen und nicht ein Titelchen weniger lebensfrisch oder reich in Haag oder Liverpool ist, als er es einst in Rom oder Antiochia war. Er suchte ihn auf in den belebten Straßen, auf den öffentlichen Plätzen, auf den Boulevards und in Hotels; und im grundfesten Reich des Alltags und der Sinne zeigte er die lauernde Dämonenkraft; zeigte, daß durch die alltäglichsten Handlungen sich ein mythologischer Faden spinnt, der uns bis zu den alten Fabeln zurückführt, sobald wir den Stammbaum jeden Gebrauchs, jeder Gewohnheit, jeder Institution, jedes Mittels und Werkzeugs bis zu seinem Ursprung im Entwicklungsbau der Menschheit verfolgen. Nichts war ihm verhaßter als Hypothesen und Rhetorik: »Wenn ich die Meinung eines anderen anhören soll, so muß sie positiv ausgesprochen werden; Problematisches hab' ich in mir selbst genug.« Er schreibt im einfachsten, leisesten Ton, läßt sehr viel mehr aus als er schreibt, und jedes Wort, das er niedersetzt, bedeutet ein wirkliches Ding. Er hat den Unterschied zwischen der antiken und modernen Kunst klargemacht. Er hat die Kunst, ihre Ziele und Gesetze erklärt. Er hat das Beste über die Natur gesagt, was je über sie gesagt worden ist. Er behandelte die Natur, wie es die alten Philosophen, die sieben Weisen gethan – und ob uns dabei ein gutes Stück französischer Berechnungen und Sektions-Ergebnisse verloren geht, bleiben uns Poesie und Menschlichkeit erhalten, und die sind auch nicht ohne Doktoren-Talent. Im ganzen sind Augen immer noch besser als Teleskope oder Mikroskope. Er hat uns zu vielen Gebieten der Natur den Schlüssel geliefert durch den seltenen Zug zur Einheit und Einfachheit, der in seinem Geiste lag. So gab Goethe als Erster die leitende Idee der neueren Botanik, daß das Blatt oder die Blattknospe das Grundelement der Botanik ist, daß jeder Teil der Pflanze nur ein seinen Funktionen und neuen Lebensbedingungen entsprechend umgewandeltes Blatt ist, und daß mit dem Wechsel der Bedingungen das Blatt sich in jedes andere Organ verwandeln kann; so wie jedes andere Organ in ein Blatt. Gleicherweise nahm er in der Osteologie an, daß ein Wirbel des Rückgrats als die Grundeinheit des Skeletts angesehen werden könne, daß das Haupt nur ein Umwandlungsresultat des obersten Wirbels sei. Die Pflanze schreitet von Knoten zu Knoten und schließt zuletzt mit Blüte und Samen. So schreiten auch der Bandwurm, die Raupe von Knoten zu Knoten und schließen mit dem Kopf. Der Mensch und die höheren Tiere sind durch die Wirbelknochen aufgebaut, und ihre Kräfte konzentrieren sich im Kopf. In der Optik wiederum verwarf er die künstliche Theorie der sieben Farben und nahm an, daß jede Farbe eine Mischung von Licht und Dunkel in anderen Verhältnissen sei. Es ist wirklich sehr gleichgiltig, über welches Thema er schreibt. Er sieht mit jeder Pore, und es zieht ihn wie Gravitation zur Wahrheit. Was einer ausspricht, das prüft er auf seine Wirklichkeit. Er mag mit sich nicht spielen lassen, er sagt kein Altweibermärchen nach, weil es ein paar tausend Jahre von den Menschen geglaubt worden. Er kann es wohl ebensogut auf seine Wahrheit prüfen wie ein anderer. Und so siebt er es denn durch. »Ich bin,« scheint er zu sagen, »gekommen, um das Maß und das Gericht all dieser Dinge zu sein. Warum sollte ich sie auf Treu und Glauben annehmen?« Und so kommt es, daß, was er über Religion, über Leidenschaft, über die Ehe, über Manieren, über das Eigentum, über das Papiergeld, über Perioden des Glaubens, über Wahrzeichen, über Glück oder über was immer sonst sagen mag, sich nicht vergessen läßt.

Für diese Tendenz jeden dem Volksmund geläufigen Ausdruck zu verifizieren, haben wir in folgendem das bemerkenswerteste Beispiel. Der Teufel hatte in der Mythologie aller Zeiten eine wichtige Rolle gespielt. Goethe wollte kein Wort haben, das nicht etwas Wirkliches deckte. Und er fand die gleiche Maßregel dienlich:– »Ich habe nie von einem Verbrechen gehört, das ich nicht hätte begehen können.« – Und so packt er den Kobold an der Kehle. Er soll wirklich werden, er soll modern werden, er soll ein Europäer werden, sich wie ein Gentleman anziehen, unsere Manieren annehmen und durch die Straßen gehen, das Leben in Wien und Heidelberg gründlich kennen, alles dies, wie es im Jahre 1820 war – oder er soll überhaupt nicht existieren. Demgemäß zog er ihm das mythologische Gewand ab, nahm ihm Hörner, Schweif und Klauen, sowie Feuer und Schwefel, und anstatt in Büchern und Bildern nach ihm zu schauen, schaute er nach ihm in seinem eigenen Geist, faßte jeden Schatten von Kälte, Selbstsucht und Ungläubigkeit, der in der Menge wie in der Einsamkeit düster über den Geist des Menschen huscht – und fand, daß das Bild an Wahrheit und Schrecknis gewann durch jeden Zug, den er hinzuthat, und durch jeden, den er hinwegnahm. Er fand, daß das Grundwesen dieses Spukgeistes, der die Wohnungen der Menschen düster umschwebt hat, seitdem es Menschen gab, nichts anderes als reiner, kalter Intellekt sei, der – und hierzu ist das Streben immer vorhanden – im Dienste der Sinne verwendet wird: und so schleuderte er in seinem Mephistopheles die erste organische Gestalt in die Litteratur, die seit Generationen geschaffen worden, und die bleiben wird wie die des Prometheus.

Es ist nicht meine Absicht, seine zahlreichen Werke hier zu analysieren. Sie bestehen in Übersetzungen, Kritiken, Dramen, in lyrischen Gedichten und Gedichten jeder anderen Art, litterarischen Tagebüchern und Portraits hervorragender Personen. Aber ich kann es nicht unterlassen, auf Wilhelm Meister näher einzugehen.

Wilhelm Meister ist ein Roman in jedem Sinne des Wortes – der erste seiner Art, seine Bewunderer nennen ihn die einzige Zeichnung der modernen Gesellschaft, als ob andere Romane, die Scotts zum Beispiel, nur mit den Sitten, Kostümen und äußeren Umständen zu thun hätten, dieser aber mit dem Geiste des Lebens selbst. Es ist ein Buch, über das noch immer ein gewisser Schleier gezogen ist. Sehr gescheite Leute lesen es mit Staunen und Entzücken. Manche von solchen ziehen es als geniales Werk selbst Hamlet vor. Ich glaube, kein Buch dieses Jahrhunderts kann sich an entzückender Süße mit ihm vergleichen, keines ist so neu, so herausfordernd für den Geist, keines erfreut ihn mit so vielen und tüchtigen Gedanken, so tiefen und richtigen Einblicken ins Leben, in Sitten und Charaktere, so vielen nützlichen Winken für die Führung des Lebens, so vielen unerwarteten Lichtblitzen aus einer höheren Welt, und nirgends, nirgends zeigt sich darin eine Spur von Rhetorik oder von Flachheit. Ein höchst herausforderndes Buch für die Neugier genialer junger Leute, aber auch ein höchst unbefriedigendes. Wer eine leichte Lektüre liebt, diejenigen, die darin nach der Unterhaltung suchen, die sie sonst in einem Romane finden, werden enttäuscht, jene anderseits, die es mit der höheren Hoffnung beginnen, darin eine würdige Geschichte des Genies zu finden und von dem verdienten Lorbeer für all seine Mühen und Entsagungen, haben gleichfalls ein Recht zu klagen. Wir konnten vor nicht langer Zeit einen englischen Roman lesen, der vorgab, die Hoffnung der neuen Zeit zu verkörpern und die politischen Hoffnungen der Partei, die man »Jung-England« nennt, zu entfalten, in welchem die Tugend mit einem Sitz im Parlament und einem Adelstitel belohnt wird. Der Schluß von Goethes Roman ist nicht minder lahm und unsittlich. George Sand hat in ihrer Consuelo und der Fortsetzung dazu ein wahreres und würdigeres Bild entworfen. Im Fortschritt der Erzählung wachsen die Charaktere des Helden und der Heldin in einem Maße, daß das porzellanene Schachtischchen aristokratischer Konventionen in Stücke splittert: sie verlassen die Gesellschaft und die Gewohnheiten ihres Standes; sie verlieren ihren Reichtum, sie werden die Diener großer Ideen und des edelsten socialen Zieles: bis der Held, der der Mittelpunkt und der Urheber einer Vereinigung geworden, die der menschlichen Gesellschaft die erhabensten Wohlthaten erweisen soll, zuletzt nicht länger auf seinen eigenen hochbetitelten Namen hören mag, so fremd und fern tönt er in seinem Ohr. »Ich bin nur ein Mensch,« sagt er, »ich atme und wirke für die Menschheit,« und dies thut er in Armut und unter den höchsten Opfern. Goethes Held im Gegenteil hat so viel Schwächen und Unreinheiten und hält sich an so schlechte Gesellschaft, daß das nüchterne englische Publikum, als das Buch zuerst übersetzt erschien, sich abgestoßen fühlte. Und doch ist es so übervoll an Weisheit, an Welterfahrung und an Kenntnis der tiefsten Gesetze; die Personen so wahr und fein gezeichnet und mit so wenigen Strichen, und nirgends ein Wort zu viel. Das Buch bleibt so neu und unerschöpft, daß wir es wohl seinen eigenen Weg gehen lassen müssen und so viel Gutes daraus bereitwillig hinnehmen müssen als wir eben können, und sicher glauben, daß es sein Werk erst begonnen hat und noch Millionen von Lesern nützen wird.

Das Thema ist der allmähliche Übergang eines Demokraten zur Aristokratie, wobei beide Worte in ihrem besten Sinne zu nehmen sind. Dieser Übergang vollzieht sich nicht in irgend einer niedrigen, kriechenden Art, sondern durch das Hauptportal selbst, Natur und Charakter nehmen teil daran, und Verstand und Rechtschaffenheit machen den Rang der Adligen zu einem wirklichen Vorrang. Kein edelherziger Jüngling kann dem Zauber der Wahrhaftigkeit in dem Buche widerstehen, sodaß es Geist und Mut in hohem Maße anfeuern muß.

Der glutvolle, heilig denkende Novalis charakterisierte das Buch »als durchaus modern und prosaisch; das Romantische ist darin völlig ausgeglichen, ebenso das Poetische in der Natur, das Wunderbare. Das Buch handelt einzig von den alltäglichen Angelegenheiten der Menschen, es ist eine poetisierte bürgerliche und häusliche Geschichte. Das Wunderbare darin wird ausdrücklich als Erfindung und enthusiastische Träumerei behandelt« und doch, was gleichfalls charakteristisch ist, kehrte Novalis bald dazu zurück, und es blieb seine Lieblingslektüre bis ans Ende seines Lebens.

Was Goethe für französische und englische Leser besonders auszeichnet, ist eine Eigenschaft, welche er mit seiner Nation teilt – eine durchgehende Basis von innerer Wahrhaftigkeit, In England und Amerika hat man Achtung vor dem Talent, und wenn es zur Unterstützung irgend eines klarliegenden oder erkennbaren Interesses, oder einer Partei, oder auch in regelrechter Opposition gegen solche bethätigt wird, so ist das Publikum damit zufrieden. In Frankreich herrscht vor allem eine noch weit größere Freude am Sprühglanze des Geistes um seiner selbst willen. Und in allen diesen Ländern schreiben Leute von Talent, eben weil sie Talent haben. Es genügt, wenn der Verstand beschäftigt, das Schönheitsgefühl gewonnen wird – so viele Spalten, so viele Stunden in einer lebendigen und ehrbringenden Weise ausgefüllt worden. Der deutsche Geist entbehrt der französischen Leichtigkeit, des klaren, praktischen Verständnisses der Engländer, der Abenteuerlichkeit Amerikas; aber er besitzt eine gewisse Rechtschaffenheit, die sich nie mit einer oberflächlichen Leistung zufrieden giebt, sondern stetig fragt: Wozu soll das alles? Ein deutsches Publikum fordert eine alles kontrollierende Aufrichtigkeit. Wir haben hier eine geistige Thätigkeit, aber wozu soll sie? Was meint der Mann? Woher, warum alle diese Gedanken?

Talent allein kann niemanden zum Schriftsteller machen. Es muß ein Mensch hinter dem Buche stehen, eine Persönlichkeit, die von Geburt und durch ihr Wesen zu den Lehren, die im Buche aufgestellt sind, geradezu verpflichtet ist, die existiert, um die Dinge so und nicht anders zu sehen und darzustellen; welche Thatsachen aufstellt, weil sie Thatsachen sind. Und wenn er sich heute noch nicht in der rechten Weise aussprechen kann, die Dinge bleiben ja bestehen und werden sich morgen offenbaren. Wie eine Last liegt es auf seinem Geist – die Last der Wahrheit, die nach Ausdruck drängt – er mag sich mehr oder minder darüber klar sein, aber es bildet seine Aufgabe und seinen Beruf in der Welt, diese Thatsachen durch und durch zu schauen und sie bekannt zu machen. Was bedeutet es da, daß er stammelt und stottert, daß seine Stimme rauh oder pfeifend ist, daß seine Methode und seine Bilder nicht ausreichen. Die Botschaft wird Methode und Bilderschmuck, artikulierten Ausdruck und Melodie finden. Und wenn er stumm wäre, sie wird sprechen. Wenn aber nicht, wenn in dem Manne kein solches Gotteswort wohnt, was fragen wir danach, wie geschickt, wie fließend, wie geistfunkelnd er spricht?

Es macht einen großen Unterschied für die Kraft einer Sentenz aus, ob ein Mann hinter ihr steht oder nicht. In der gelehrten Fachzeitung, in einem einflußreichen Tageblatt nehme ich keine bestimmte Gestalt aus, höchstens irgend einen verantwortungslosen Schatten; öfter noch ein geldkräftiges Konsortium, oder irgend einen Bummler, der da hofft, in der Maske und dem Mantel des Zeitungsparagraphen für eine Persönlichkeit gehalten zu werden. Aber durch jeden Absatz durch jede Redewendung eines rechten Buches schaue ich in die Augen des entschlossensten aller Menschen; seine Gewalt und sein Schrecken überfluten jedes Wort; die Kommata und Gedankenstriche selbst sind lebendig – und so wird sein Werk athletisch und geschmeidig zugleich, kann ferne wirken und lange leben.

In England und Amerika kann man in den Schriften griechischer oder lateinischer Dichter gründlich belesen sein, ohne selbst irgend welches poetische Feuer und Neigungen zu besitzen. Daß ein Mann Jahre auf Plato und Proclus verwendet hat, muß nicht zwingend zur Annahme führen, daß er heroische Anschauungen hat, daß er die elegante Mode seiner Stadt geringschätzt. Aber die deutsche Nation hat in all diesen Dingen den lächerlichsten guten Glauben; der Student, der den Hörsaal verlassen hat, brütet noch über die Lehren, und der Professor kann sich des Glaubens nicht ganz entschlagen, daß die Wahrheiten der Philosophie sich irgendwie auch auf Berlin und München anwenden lassen. Dieser Ernst befähigt sie, weiter zu schauen, als Leute, deren Talent ein weit größeres ist. Daher kommt es, daß alle wertvollen Distinktionen, die unseren tieferen Gesprächen geläufig sind, uns aus Deutschland gekommen sind. Aber während in England und Frankreich Leute, die durch Geist und Wissen hervorragen, ihre Studien und ihre Parteirichtung mit einer gewissen Leichtfertigkeit wählen und jedermann weiß, daß sie mit dem Gegenstande oder der Partei, welche sie erwählt, nicht gar zu lief durch Gründe, die in ihrem Charakter liegen, verknüpft sind, spricht Goethe, das Haupt und der Leib der deutschen Nation, nicht nur weil er Talent hat, sondern überall leuchtet die Wahrheit durch: er ist höchst weise, obwohl sein Talent uns oft seine Weisheit wie mit einem Schleier verbirgt. Wie ausgezeichnet immer das sein mag, was er ausspricht, er hat noch etwas Besseres im Sinn und im Auge. Und das erweckt unsere Neugier. Er besitzt jene furchtbare Unabhängigkeit, welche der Verkehr mit der Wahrheit giebt: höre auf ihn oder höre nicht, die Wahrheit besteht; das Interesse, das wir an ihm als Schriftsteller nehmen, ist nicht auf die Geschichte beschränkt, die er erzählt, und wir können ihn nicht aus dem Gedächtnis entlassen, nachdem er seine Aufgabe zu unserer Zufriedenheit erfüllt hat, wie den Bäcker, nachdem wir ihm den Laib Brot abgenommen haben, sondern sein Werk ist sein geringster Teil. Der alte, ewige Geist, der die Welt erbaut hat, hat sich diesem Manne mehr anvertraut als irgend einem anderen. Ich kann nicht sagen, daß Goethe den höchsten Standpunkt eingenommen, von dem aus der Geist je gesprochen hat. Er war kein Priester der höchsten Einheit, er ist unfähig, sich selbst dem göttlichen Gefühle völlig hinzugeben und in ihm aufzuheben. Es giebt edlere Weisen in der Poesie als alle, die er ertönen ließ. Es giebt Schriftsteller, die ärmer an Talent sind, deren Töne reiner sind und mehr zum Herzen sprechen. Goethe kann den Menschen niemals lieb werden. Seine Hingebung (für die Wahrheit) gilt nicht einmal der reinen Wahrheit selbst, sondern der Wahrheit um der vollendeten Bildung willen. Er verfolgt keine geringeren Ziele, als die Eroberung der ganzen Natur, aller Wahrheit – damit sie sein Gebiet und Eigentum werden; ein Mann, der sich nicht bestechen, nicht betrügen, nicht einschüchtern läßt; ein Mann von stoischer Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung, der für alle Menschen nur den einen Wertmesser und Prüfstein hat: Was könnt ihr mich lehren? Alle Besitztümer des Menschen werden von ihm nur aus diesem einen Grunde wert gehalten – Stand, Vorrechte, Gesundheit, Zeit und das Dasein selbst.

Er ist der Typus vollendeter Bildung, der Liebhaber aller Künste und Wissenschaften und Ereignisse; künstlerisch, aber kein Künstler, durchgeistigt, aber kein Spiritualist. Es giebt nichts, das zu erkennen er kein Recht hatte, keine Waffe im Zeughause des universellen Geistes, die er nicht in seine Hand nahm, aber mit gebieterischer Obsorge, daß ja keines seiner Instrumente einen Augenblick die Oberhand über das Ganze seines Wesens gewinne. Er legt einen Lichtstrahl unter jede Thatsache, zwischen sich und das Teuerste, was ihm eigen ist. Ihm war nichts verborgen, nichts vorenthalten. Die lauernden Dämonen saßen ihm Modell wie der Heilige, der die Dämonen sah, und die metaphysischen Elemente nahmen Gestalt an. »Die Frömmigkeit selbst ist kein Ziel, sondern nur ein Mittel, mit dessen Hilfe wir durch den reinsten inneren Frieden die höchste Bildung erreichen mögen.« Und seine durchdringende Erkenntnis jedes Geheimnisses der schönen Künste läßt Goethe nur noch statuenhafter erscheinen. Seine Gefühle dienen ihm wie die Weiber, die Cicero verwendete, um den Verschwörern ihre Geheimnisse abzulocken. Feindschaften hat er nicht. Du kannst wohl sein Feind sein – wenn du ihn dadurch etwas lehren kannst, was dein Wohlwollen nicht vermag, und wäre es nur die Erfahrung, die er aus deiner Vernichtung schöpft. Sei sein Feind und ihm willkommen, aber ein Feind nach hohen Regeln. Hassen kann er niemand, seine Zeit ist zu kostbar dazu. Gegnerschaften, die tief im Wesen begründet sind, können geduldet werden, aber nur gleich den Fehden der Monarchen, die sich in würdevoller Weise über Königreiche hin bekämpfen.

Seine Selbstbiographie – unter dem Titel »Dichtung und Wahrheit aus meinem Leben« – ist der Ausdruck der Idee, die heute der Welt durch deutschen Geist bereits vertraut geworden, die aber für Alt- und Neu-England, als das Buch erschien, etwas völlig Neues war – daß der Mensch da ist, um sich zu bilden; nicht für das, was erwachen kann, sondern für das, was sich aus ihm machen läßt. Die Wirkung der Welt und ihrer Ereignisse auf den Menschen ist das einzig bemerkenswerte Resultat. Ein geistig hochstehender Mensch kann sich selbst als dritte Person sehen, und daher interessieren ihn seine Fehler und Enttäuschungen nicht weniger als seine Erfolge. Ob er gleich wünscht, in seinen Angelegenheiten Glück zu haben, wünscht er doch noch mehr, das Schicksal und die Geschichte des Menschen an sich zu erkennen, während die Wolken von Egoisten, die um ihn treiben, nur am niedrigen Erfolge Interesse haben.

Diese Idee herrscht in »Dichtung und Wahrheit« und bestimmt die Auswahl der Ereignisse und keineswegs die äußere Wichtigkeit derselben, den Rang der Persönlichkeiten oder die Höhe des Einkommens. Das Buch bietet begreiflicherweise nur spärliches Material für das, was wir eine »Lebensgeschichte Goethes« nennen würden, wenig Daten, keine Korrespondenz, keine Details von seinen Ämtern und Berufsgeschäften, kein Licht über seine Ehe, und eine Periode von zehn Jahren, die die thätigste seines Lebens gewesen sein mußte, die nach seiner Niederlassung in Weimar, ist ganz in Schweigen versenkt. Statt dessen ist gewissen Liebesgeschichten, aus denen nichts wurde, wie die Leute sagen, die seltsamste Wichtigkeit beigelegt, er überhäuft uns mit Details: gewisse sonderbare Meinungen, Kosmogonien und Religionen seiner eigenen Erfindung, und besonders seine Beziehungen zu bedeutenden Menschen und kritischen Geistesepochen – dies alles setzt er in vergrößerndes Licht. Sein »Tag- und Jahrbuch,« seine »Italienische Reise,« seine »Campagne in Frankreich« und der historische Teil seiner »Farbenlehre« haben das gleiche Interesse. Im letzteren skizziert er mit raschen Strichen Keppler, Roger Bacon, Newton, Voltaire u. s. w., und der Reiz, den dieser Teil des Buches gewährt, liegt darin, daß in der einfachsten Weise das Verhältnis zwischen diesen Größen der Geschichte der europäischen Wissenschaft und ihm selbst festgestellt wird, in dem bloßen Ziehen der Linien von Goethe zu Keppler, von Goethe zu Bacon, von Goethe zu Newton. Das Ziehen der betreffenden Linien ist für die Zeit und Person die Lösung des furchtbaren Problems und gewährt Genuß, wo Iphigenie und Faust ihn nicht mehr gewähren, und ohne den Aufwand einer schöpferischen Kraft, die mit der aus Iphigenie und den Faust verwendeten verglichen werden könnte.

Dieser Gesetzgeber der Kunst ist kein Künstler. War es, daß er zu viel wußte, daß sein Blick zu mikroskopisch war und die rechte Perspektive die Übersicht des Ganzen hinderte? Er ist stets fragmentarisch, ein Verfasser gelegentlicher Gedichte und einer ganzen Encyklopädie von Sentenzen. Wenn er sich niedersetzt, um ein Drama oder eine Erzählung zu schreiben, sammelt und ordnet er seine Beobachtungen von hundert Seiten und vereint sie zu einem Körper, so gut es eben geht. Ein großer Teil sträubt sich gegen solche Einverleibung: diese fügt er dann lose hinzu als Briese der beteiligten Personen, als Blätter aus ihren Tagebüchern und dergl. Ein großer Teil bleibt noch übrig, der an keine Stelle passen will. Diesem kann nur der Buchbinder irgend welchen Zusammenhang geben, und so kommt es, daß wir trotz des losen Aufbaues vieler seiner Werke noch Bände von losgelösten Absätzen, Aphorismen, Xenien und dergl. mehr haben.

Ich glaube, daß der weltliche Ton in seinen Erzählungen aus seiner berechneten Ausbildung des eigenen Ich hervorwuchs. Es war die Schwäche eines bewundernswürdigen Forschers, dessen Liebe zur Welt auf Dankbarkeit beruhte, der wußte, wo Bibliotheken, Galerien, Architekturen, Laboratorien, Gelehrte und Muse zu finden seien, und der den entschädigenden Vorteilen der Armut und Nacktheit nicht traute, Sokrates liebte Athen, Montaigne Paris, und Madame de Staël gestand, daß sie nur an dieser Stelle (nämlich Paris) verwundbar sei. Es hat das seinen günstigen Aspekt. Unsere Genies sind meistens so übel daran und so kränklich, daß man immer wünscht, daß sie wer anderer wären. Selten sehen wir jemand, der sich nicht unbehaglich im Leben fühlt oder gar vor ihm fürchtet. Eine leichte Schamröte liegt auf der Wange guter und hochstrebender Menschen und auch eine leichte Nuance von Karikatur. Dieser Mann aber fühlte sich in seinem Jahrhundert und in der Welt völlig zu Hause und glücklich. Keiner war so berufen zu leben, keiner hatte eine herzlichere Freude an dem Spiel. In jenem steten Streben nach Ausbildung, das den geistigen Zug seiner Werke bildet, liegt auch ihre Kraft. Die Idee der absoluten, ewigen Wahrheit ohne Rücksicht auf meine eigene Erleuchtung, meinen eigenen Fortschritt durch dieselbe, steht höher. Die völlige Hingabe an den Strom poetischer Begeisterung steht hoher, aber verglichen mit all den mannigfachen Motiven, aus welchen in England Bücher geschrieben werden und in Amerika, ist dies ernstliche Wahrheit und hat jene anregende und inspirierende Kraft, die der Wahrheit eigen ist. So hat er den Büchern etwas von ihrer alten Macht und Würde wieder gegeben.

Goethe kam in eine übercivilisierte Zeit und Gegend, wo das ursprüngliche Talent unter der Last von Büchern und mechanischen Hilfsmitteln und der betäubenden Menge der Ansprüche erdrückt wurde, und lehrte die Menschen mit diesem berghohen, wirren Gemenge fertig zu werden und es sich dienstbar zu machen. Ich stelle ihn neben Napoleon, da beide Repräsentanten der Unzufriedenheit und Reaktion der Natur gegen die Morgue des Konventionellen sind, zwei ernste Realisten, die, jeder mit seinen Schülern die Axt an die Wurzel des Baumes der Lüge und des Scheines gelegt haben, für unsere Zeit und für alle Zeit. Dieser fröhliche Arbeiter, den keine äußere Popularität anregte, der Motiv und Plan nur aus der eigenen Brust holte, legte sich selbst Aufgaben für einen Riesen auf und arbeitete, ohne Nachlaß und ohne andere Ruhe als die Abwechslung in der Thätigkeit achtzig Jahre lang mit der Stetigkeit seines ersten Jugendeifers fort.

Es ist die letzte Lehre moderner Wissenschaft, daß die höchste Einfachheit des Baues nicht durch die Verwendung weniger Elemente, sondern durch die höchste Kompliziertheit hervorgebracht wird. Der Mensch ist das zusammengesetzteste aller Geschöpfe: das Rädertierchen, Volvox globator steht am anderen Extrem. Wir werden noch lernen, Renten und Einkommen aus dem unendlichen Erblande der alten und neuen Seiten zu beziehen. Goethe lehrt uns Mut und die Gleichwertigkeit aller Zeiten, er bewies, daß die Nachteile einer Epoche nur für den Schwachherzigen vorhanden sind. Der Genius schwebt mit seinem Sonnenschein und seiner Musik durch die dunkelsten und taubsten Zeiten. Kein Pfandrecht, kein Makel kann auf Menschen oder Stunden haften bleiben. Die Welt ist jung, die großen Männer früherer Zeiten rufen uns freundlich zu. Auch wir müssen Bibeln schreiben, um die Himmel und die irdische Welt wieder zu vereinigen. Das Geheimnis des Genies ist es, daß es keine Fiktion für uns bestehen läßt; daß es alles auf seine Wirtlichkeit prüft, was wir wissen, und in der hohen Verfeinerung des modernen Lebens, in der Kunst, in der Wissenschaft, in Büchern und Menschen guten Glauben, Echtheit und Streben fordert und zuerst, zuletzt, inmitten und ohne Ende jede Wahrheit durch Anwendung ehrt.


 << zurück