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Plato oder der Philosoph

Unter allen weltlichen Büchern hat nur Plato ein Recht auf das fanatische Lob, das Omar dem Koran erteilte, als er den Ausspruch that: »Ihr mögt die Bibliotheken verbrennen, denn, was sie Wertvolles enthalten, das steht in diesem Buche.« Seine Sentenzen enthalten die Bildung der Nationen: sie sind der Eckstein aller Schulen, der Brunnenkopf aller Litteraturen. Sie sind ein Lehrbuch und Kompendium der Logik, Arithmetik, Ästhetik, der Symmetrie, Poetik und Sprachwissenschaft, der Rhetorik, der Ontologie, der Ethik oder praktischen Weisheit. Niemals hat sich das Denken und Forschen eines Mannes über ein so ungeheueres Gebiet erstreckt. Aus Plato kommen alle Dinge, die noch heute geschrieben und unter denkenden Menschen besprochen werden. Unter unseren Originalitäten richtet er ein großes Gemetzel an. In ihm haben wir den Berg erreicht, von dem all dieses Gerölle sich losgelöst hat. Seit zweiundzwanzighundert Jahren ist er die Bibel des Gelehrten, und alle die kühnen jungen Männer, die der Reihe nach jeder widerstrebenden Generation Schönes zu sagen haben – Boethius, Rabelais, Erasmus, Brunos, Locke, Rousseau, Alfieri, Coleridge – sind Leser Platos, die seinen besten Inhalt witzig in die Volkssprache zu übersetzen wissen. Selbst bei Männern von viel großartigeren Maßen müssen wir einen Abzug machen infolge des – soll ich sagen: Unglücks, – daß sie erst nach diesem erschöpfenden Generalisierer gekommen sind. Sankt Augustinus, Kopernikus, Newton, Behmen, Swedenborg und Goethe sind ebenfalls seine Schuldner und müssen ihm nachsprechen. Denn es ist nur billig, daß wir dem, der die umfassendsten allgemeinen Sätze aufzustellen wußte und wagte, auch den Ruhm der speciellen Details, die sich aus denselben ableiten lassen, zuschreiben.

Plato ist die Philosophie, und die Philosophie ist Plato – der Ruhm zugleich und die Schande des Menschengeschlechtes, da weder Sachse noch Romane imstande gewesen sind, auch nur eine Idee zu seinen Kategorien hinzuzufügen. Er hatte kein Weib, keine Kinder; aber die Denker aller civilisierten Nationen sind seine Nachkommenschaft und von seinem Geiste durchdrungen und gefärbt. Wie viel große Männer sendet uns die Natur unaufhörlich aus der Nacht empor, alle seine Männer, alle Platoniker! Da sind zuerst die Alexandriner, eine ganze Konstellation von genialen Geistern, die großen Männer aus der Zeit Elisabeths, die nicht geringer sind; Sir Thomas More, Henry More, John Hales, John Smith, Lord Bacon, Jeremy Taylor, Ralph Cudworth, Sydenham, Thomas Taylor, Marsilius Ficinus und Picus von Mirandola. Der Calvinismus ist bereits im Phädon enthalten, ja das ganze Christentum liegt darin. Der Islam entnimmt all seine Philosophie – im Handbuch der Moral, dem Ahlak-y-Jalaly – aus ihm. Der Mysticismus findet in Plato sein ganzes Evangelium. Dieser Bürger einer griechischen Stadt hat kein Heimatsdorf und kein Vaterland: Der Engländer, der ihn liest, sagt: »Wie Englisch!« der Deutsche ruft aus: »Wie Teutonisch,« der Italiener: »Wie Römisch und wie Griechisch!« So wie sie von der Helena von Argos sagen, daß sie jene allgemeine Schönheit besaß, daß jeder sich von ihr angezogen, jeder sich zu ihr gehörig fühlte, so scheint Plato dem Leser in Neu-England ein amerikanischer Geist zu sein. Seine allumfassende weite Menschlichkeit übersteigt alle partikulären Schranken.

Dieser gewaltige Umfang seines Geistes lehrt uns auch, was wir über die vielumstrittene Frage in betreff der ihm zugeschriebenen Werke – welche davon echt und welche untergeschoben seien – zu denken haben. Es ist sonderbar, daß, wo immer wir einen Mann finden, der um eine ganze Haupteslänge über seine Zeitgenossen emporragt, es sicherlich über kurz oder lang zu Zweifeln kommt, welche seine wirklichen Werke seien. So geht es Homer, Plato, Rafael und Shakespeare. Denn diese Menschen magnetisieren ihre Zeitgenossen, sodaß ihre Gefährten für sie thun können, was sie selbst für sich nie bewältigt hätten, und so lebt der große Mann in mehreren Leibern, und schreibt oder malt oder handelt mit vielen Händen, und einige Zeit nachher ist es nicht leicht, zu entscheiden, was das authentische Werk des Meisters und was nur aus seiner Schule ist.

Auch Plato, wie jeder große Mann, zehrte sein eigenes Zeitalter auf. Was ist ein großer Mann anderes als ein Mensch von mächtigen Affinitäten, der alle Künste und Wissenschaften, überhaupt alles Erkennbare in sich als seine geistige Nahrung aufnimmt? Er kann nichts schonen und alles gebrauchen. Was nicht zur sittlichen Ausbildung taugt, ist tauglich fürs Wissen. Infolgedessen wird er auch von seinen Zeitgenossen stets des Plagiates bezichtigt. Aber nur der schöpferische Geist weiß zu borgen, und die Gesellschaft ist froh, die unzähligen Arbeiter zu vergessen, die diesem Baumeister dienten, und hebt alle ihre Dankbarkeit für ihn allein auf. Wenn wir Plato preisen, preisen wir vielleicht Citate aus Solon, aus Sophron oder aus Philolaus. Sei dem so. Jedes Buch ist nur ein Citat; auch jedes Haus ist nur ein Citat aus allen Wäldern, Bergwerken und Steinbrüchen; und jeder Mensch ist ein Citat aus all seinen Vorfahren. Und dieser zusammenraffende Schöpfergeist nahm Tribute von allen Nationen an sich.

Plato absorbierte das gesamte Wissen seiner Zeit: – Philolaus, Timaeus, Heraklitus, Parmenides und wen es sonst gab; dann seinen Meister Sokrates – und da er sich einer noch gewaltigeren Synthese fähig fühlte – einer Synthese, wie sie damals und seither ohnegleichen geblieben ist – reiste er nach Italien: um das aufzunehmen, was Pythagoras ihm bieten konnte; dann nach Ägypten und vielleicht noch tiefer in den Osten, um das andere Element, dessen Europa bedurfte, dem europäischen Geiste zu bringen. Dieses ungeheuere Gebiet, das sein Geist beherrschte, berechtigt ihn, als der Repräsentant der Philosophie zu gelten. Er sagt in seiner Replik: »Solch ein Geist, wie Philosophen ihn notwendig haben müssen, pflegt sich selten mit all seinen Fähigkeiten in seinem Menschen zu finden, sondern seine verschiedenen Anlagen zeigen sich meist in verschiedenen Personen.« Jeder Mensch, der etwas Ordentliches thun will, muß von einem höheren Plan an die Sache herantreten. Ein Philosoph muß mehr als ein bloßer Philosoph sein. Plato ist mit allen Fähigkeiten eines Dichters bekleidet, ja er steht als Dichter auf der höchsten Stufe und ist (obwohl ich vermute, daß ihm die entscheidende Gabe des lyrischen Ausdrucks fehlte) hauptsächlich deshalb kein Dichter, weil er es vorzog, seine poetische Gabe zu einem anderen Zwecke zu verwerten.

Große Geister haben die kürzesten Biographien. Ihre Vettern wissen nichts von ihnen zu erzählen. Sie lebten in ihren Schriften, und ihr Leben in Haus und Straße war daher trivial und gewöhnlich. Wenn einer wissen wollte, wie ihre Neigungen und ihr Aussehen beschaffen waren: derjenige ihrer Leser, der sie am meisten bewunderte, ist ihnen am ähnlichsten. Plato insbesondere hat keine äußere Biographie. Wenn er Liebhaber, Frau oder Kinder gehabt, – wir wissen nichts von ihnen. Er verrieb sie alle zu Farben. So wie ein guter Ofen seinen eigenen Rauch verbrennt, so verwandelt ein Philosoph alles Wertvolle in seinem Schicksal in die Werke seines Geistes.

Er wurde geboren im J. 430 vor Chr. G., ungefähr zur Zeit, in die des Perikles Tod fiel; war von adeligem Geschlechte seiner Zeit und seiner Stadt und soll eine frühe Neigung zum Kriegerberuf gehabt haben, wurde jedoch in seinem zwanzigsten Jahre, als er dem Sokrates begegnete, mit Leichtigkeit diesem Berufe abwendig gemacht und blieb hinfort durch zehn Jahre, bis zum Tode des Sokrates, dessen Schüler. Er ging hierauf nach Megara, nahm die Einladungen des Dion und des Dionysius an den sicilischen Hof an und begab sich dreimal an denselben, obgleich er sehr launisch behandelt wurde. Er reiste nach Italien, dann nach Ägypten, wo er lange Zeit blieb: einige sagen drei, andere sagen dreizehn Jahre. Man sagt auch, er wäre noch weiter bis Babylon gekommen, aber dies ist ungewiß. Nach Athen zurückgekehrt, unterrichtete er in der Akademie jene, die sein Ruhm dahin zog, und starb, wie uns berichtet wird, am Schreibtische, einundachtzig Jahre alt.

Aber die Biographie Platos ist eine innerliche. Wir haben zu prüfen, wieso dieser Mann in der geistigen Geschichte unserer Rasse die höchste Stellung einnimmt – woher es kommt, daß die Menschen, je nach dem Maß ihrer Bildung, seine Schüler werden; daß so wie unsere jüdische Bibel sich dem Tischgespräch und Hausleben jeden Mannes und Weibes der europäischen und amerikanischen Nationen eingeprägt hat, so die Schriften Platos jede Gelehrtenschule, jeden Denker, jede Kirche, jeden Poeten beschäftigt haben, ja es unmöglich gemacht haben – auf einem gewissen Niveau – überhaupt zu denken, außer durch ihn. Er steht inmitten zwischen der Wahrheit und jedes Mannes Geist, ja, er hat beinahe der Sprache und den Elementen des Denkens überhaupt seinen Namen und Siegel aufgedrückt. So oft ich ihn lese, überrascht mich die Modernität seines Stils und Geistes. Hier haben wir den Keim jenes Europa, das uns so wohl bekannt ist, mit seiner langen Geschichte seiner Künste und Waffen: hier ruhen all seine Züge bereits erkennbar im Geiste Platos – und in keinem vor ihm. Es hat sich seither in hunderte von Geschichten verbreitet, aber ein neues Element ist nicht hinzugekommen. Die unvergängliche Modernität ist der Maßstab für jedes Kunstwerk, der Beweis dafür, daß der Autor sich durch nichts, was nur eine kurzlebige lokale Bedeutung hatte, verführen ließ, sondern sich an die wirklichen und dauernden Züge zu halten wußte. Wie nun Plato dazu kam, Europa und die Philosophie Europas, ja beinahe auch seine Litteratur zu werden, das ist das Problem, dessen Lösung unsere Aufgabe sein soll.

Dies hätte nie der Fall sein können, ohne einen gesunden, wahrhaften und katholischen Menschen, der fähig war, das Ideal oder die Gesetze des Geistes und das Fatum oder die Ordnung der Natur gleichzeitig zu erkennen und zu ehren. Die erste Periode einer Nation wie die des Individuums ist die Periode unbewußter Kraft. Kinder weinen, schreien und stampfen vor Wut, unfähig ihre Wünsche auszudrücken. So wie sie sprechen können und sagen, was sie wollen, und warum sie es wollen, werden sie sanfter. Im Leben des Erwachsenen, so lange das Begriffsvermögen ein stumpfes ist, reden Männer und Frauen mit Heftigkeit und im Superlativ; lärmen und streiten; ihre Rede ist voll von Flüchen und Beteuerungen. Sobald mit der steigenden Kultur die Dinge sich ein wenig geklärt haben, und sie dieselben nicht mehr in Massen und Klumpen, sondern reinlich eingeteilt sehen, lassen sie von jener schwächlichen Heftigkeit ab und setzen ihre Ansicht ruhig und genau auseinander. Wenn die Zunge nicht zum Artikulieren geschaffen wäre, der Mensch wäre noch heute ein Tier im Walde. Aber dieselbe Schwäche, dieselbe Unfähigkeit – nur auf einem höheren Plan – begegnet uns täglich bei der Erziehung leidenschaftlicher junger Leute, Männer und Mädchen. »Ach, ihr versteht mich nicht, ich habe noch nie jemand gefunden, der mich verstanden hätte,« – und sie seufzen und weinen, schreiben Verse und gehen einsam – weil ihnen die Kraft fehlt, das, was sie denken, völlig auszusprechen. Ein oder zwei Monate später, wenn ihr guter Geist es so will, begegnen sie einem, der ihnen so verwandt ist, daß er ihrem vulkanischen Zustande zu Hilfe kommen kann, und nachdem sich die Mitteilsamkeit einmal ordentlich eingestellt hat, werden sie von nun an brauchbare Staatsbürger. Es ist immer so. Aller Fortschritt führt von blinder Kraft zur Genauigkeit, zur Glücklichkeit und zur Wahrheit.

Es kommt ein Augenblick in der Geschichte jeder Nation auf dem Wege aus dieser rohen Jugend heraus zur Kultur, in welchem das Begriffsvermögen zur Reife gelangt und doch noch nicht mikroskopisch geworden ist, sodaß der Mensch in diesem Augenblick die ganze Skala umfaßt, und, während seine Füße noch auf den ungeheueren Mächten der Nacht ausruhen, mit Augen und Hirn schon Sonnensysteme und Himmelsschöpfungen erfaßt. Das ist der Augenblick der vollendeten Gesundheit, der Kulminationspunkt der Kraft.

Dies zeigt auch die Geschichte Europas auf allen Gebieten und auch diejenige seiner Philosophie. Ihre ersten, fast verlorenen Berichte erzählen von den Einwanderungen aus Asien, bei welchen nur die Träume von Barbaren mitgebracht werden; – ein wirres Gemenge von rohen Moralbegriffen und Naturphilosophie, das sich allmählich durch die teilweise Einsicht einzelner Lehrer zu setzen und zu sichten beginnt.

Vor Perikles kamen die sieben Weisen; und mit ihnen die Anfänge der Geometrie, Metaphysik und Ethik; – dann die Partialisten, die den Ursprung der Dinge von der Strömung oder dem Wasser, oder von der Luft, oder vom Feuer, oder vom Geiste herleiteten. Alle vermischen diese Urgründe mit mythologischen Bildern. Und zuletzt kommt Plato, der ordnet und einteilt, der all der barbarischen Bemalung, ihres Tättowierens und Heulens nicht bedarf: denn er vermag zu definieren. Er ist es, der Asien und mit ihm das Wüste und Überschwängliche aufgiebt; er bedeutet den Eintritt der Intelligenz und nüchternen Genauigkeit. »Der soll für mich wie ein Gott sein, der da richtig einzuteilen und zu definieren vermag.«

Dieses Definieren ist die Philosophie. Philosophie ist die Rechenschaft, die sich der menschliche Geist von dem Bau der Welt giebt. Zwei Kardinalthatsachen liegen ihr stets zu Grunde: die Eins und die Zwei, erstens: Einheit oder Identität, und zweitens: Verschiedenheit. Wir führen alle Dinge auf Eins zurück, wenn wir das Gesetz wahrnehmen, das sie durchdringt, wenn wir die oberflächlichen Unterschiede und die tiefe Ähnlichkeit aller wahrnehmen. Aber jeder geistige Vorgang – selbst diese Wahrnehmung der Identität oder Einheit muß auch die Verschiedenheit der Dinge anerkennen. Einheit und Anderheit: es ist unmöglich zu sprechen oder zu denken, ohne beide zu umfassen.

Der Geist fühlt sich gedrängt, nach einem Grunde vieler Wirkungen zu forschen, und wenn er denselben entdeckt, nach dem Grunde des Grundes, und dann wieder nach dessen Grund, unaufhörlich ins Tiefe tauchend, in sich die Gewißheit tragend, daß er zu einer absoluten und befriedigenden Einheit gelangen muß und wird – einer Eins, die alles ist. »Inmitten der Sonne ist das Licht, inmitten des Lichtes ist die Wahrheit und inmitten der Wahrheit ist das unvergängliche Sein« sagen die Vedas. Alle Philosophie des Ostens und Westens hat dasselbe centripetale Bestreben. Von einer entgegengesetzten Notwendigkeit getrieben, kehrt der Geist von dem Einen, zu dem zurück, was nicht Eins sondern anders oder Vielfach ist; vom Grunde zur Wirkung, und betont das notwendige Sein der Mannigfaltigkeit, die spontane Existenz beider, da jedes ins andere gehüllt und verwoben ist. Diese bis ins letzte in einander gemengten Elemente zu trennen und dann miteinander zu versöhnen, ist das Problem des Denkens. Ihre Existenz ist eine gegenseitig contradiktorische und ausschließende – und doch gleitet eins so rasch ins andere, das wir nie sagen können, was das Einheitliche ist und was nicht. Der Proteus ist ebenso behende in den tiefsten Gründen, wenn wir das Eine, das Wahre, das Gute schauen wollen, als in den Oberflächen und äußersten Enden der Materie.

In allen Nationen finden sich Geister, die eine natürliche Neigung antreibt, bei der Conception der fundamentalen Einheit zu verweilen. In den begeisterten Entzückungen des Gebetes und der Ekstasen der Frömmigkeit verliert sich alles Dasein in dem einen Sein. Diese Richtung hat ihren höchsten Ausdruck in den religiösen Schriften des Ostens gefunden, insbesondere in den heiligen Schriften Indiens, in den Vedas, in der Bhagavat Ghita, und dem Vischnu Purana. Diese Schriften enthalten wenig anderes außer dieser Idee und sie erheben sich in der Feier derselben zu reinen und erhabenen Melodien.

Alles ist Einundasselbe!: Freund und Feind sind aus einem Stoff: der Pflüger, der Pflug und die Furche sind aus einem Stoff, und der Stoff ist solcher Art und so viel, daß die wechselnden Formen bedeutungslos sind. »Du bist fähig zu erfassen« – so sagt der höchste Krischna zu einem Weisen – »daß du von mir nicht verschieden bist. Das was Ich bin, bist du, und dasselbe ist auch diese Welt mit ihren Göttern und Helden und Menschen. Die Menschen betrachten die Verschiedenheiten, weil sie von Unwissenheit betäubt sind.« »Die Worte Ich und Mein bedeuten Unwissenheit. Was das große Letzte im All ist, sollt ihr nun von mir erfahren. Es ist der Geist – einer in allen Leibern, durchdringend, einheitlich, vollkommen, über die Natur herrschend, frei von Geburt, Wachstum und Verfall, allgegenwärtig, aus wahrem Wissen bestehend, unabhängig, hat er nichts mit den Unwirklichkeiten, mit Namen und Species und all dem Übrigen zu thun, in vergangener, gegenwärtiger und künftiger Zeit. Die Erkenntnis, daß dieser Geist, der wesentlich Einer ist, derselbe ist in unserm eigenen Leibe, wie in allen andern Leibern, ist die Weisheit dessen, der die Einheit der Dinge erkannt hat. So wie eine zerfließende Luft, durch die Löcher einer Flöte strömend, mit den Noten einer Scala verschieden benannt wird, so ist die Natur des großen Geistes nur eine, obgleich seine Formen, die aus den Folgen von Handlungen entspringen, vielfach sind. Wenn die Verschiedenheit der bekleidenden Form, sei es die eines Gottes oder alles Übrigen, zerstört ist, giebt es keinen Unterschied mehr.«

»Die ganze Welt ist nur eine Offenbarung Vischnus, der identisch ist mit allen Dingen, und den die Weisen nicht als etwas von ihnen Verschiedenes, sondern als Ein und Dasselbe wie sie zu betrachten haben.« »Ich gehe nicht und komme nicht? noch weil' ich an irgend einem Ort; und weder bist du du, noch sind andere andere, noch Ich Ich!« Das ist, als hätte er gesagt: »Alles ist nur im Geist, und der Geist ist Vischnu; und Tiere und Sterne sind nur vergängliche Malerei, und das Licht ist Tünche, und alle Dauer trügerisch; und alle Formen Gefangenschaft, und der Himmel selbst nur eine Lockspeise.« Das, was der Geist anstrebt, in Auflösung in das Sein, über aller Form, – los vom Tartarus wie vom Himmel – die Befreiung von der Natur.

Wenn die Betrachtung so nach einer erschreckenden Einheit strebt, in der alle Dinge absorbiert werden, so strebt alle Thätigkeit in gerade entgegengesetzter Richtung zur Verschiedenartigkeit zurück. Ersteres ist der Weg, die Gravitation des Geistes; das letztere ist Naturgewalt. Die Natur ist das Mannigfaltige. Die Einheit absorbiert und schmelzt oder reduciert. Die Natur erschließt und schafft. Diese zwei Principien erscheinen immer wieder und durchdringen alle Dinge und alle Gedanken: die Einheit und die Vielheit. Das eine ist Sein, das andere Intellect; das eine ist Notwendigkeit, das andere Freiheit; das eine Ruhe, das andere Bewegung: das eine Kraft, das andere Verteilung; das eine Stärke, das andere Genuß; das eine Bewußtsein, das andere Definition: das eine Genie, das andere Talent; das eine Ernst, das andere Wissen; das eine Besitz, das andere Verkehr; das eine Race, das andere Bildung; das eine Königtum, das andere Demokratie, und wenn wir es wagen, diese Generalisationen noch einen Schritt weiter zu führen und das Endziel beider zu nennen, so könnten wir sagen, daß das Ziel des Einen die Flucht aus der Organisation ist – das reine Wissen, während das Ziel der anderen Macht ist, die höchste Instrumentalität, der Gebrauch aller Mittel die Gottheit in der Exekutive.

Jeder Forscher folgt, durch Temperament und Gewohnheit geleitet, der einen oder der anderen von diesen Gottheiten des Geistes. Die Religion führt ihn zur Einheit, der Intellekt oder die Sinne zu dem Vielen. Eine allzurasche Vereinheitlichung und ein übermäßiges Aufgehen in den Teilen und Einzelheiten sind die Zwillingsgefahren der Spekulation.

Dieser Einseitigkeit entspricht die Geschichte der Nationen. Das Land der Einheit, der starren, unbeweglichen Institutionen, der Sitz einer Philosophie, die ihr Entzücken an Abstractionen hat, die Heimat von Menschen, die in Theorie und Praxis treue Bekenner der Idee eines tauben, unerbittlichen, unendlichen Fatums sind, ist Asien; in der socialen Institution der Kaste giebt es diesem Glauben tatsächlichen Ausdruck. Der Genius Europas auf der anderen Seite ist thätig und schöpferisch; er arbeitet der Kaste entgegen durch die Kultur, seine Philosophie war stets eine Wissenschaft, es ist ein Land der Künste, der Erfindungen, des Handels, der Freiheit. Wenn der Osten die Unendlichkeit liebte, der Westen fand seine Freude in weiser Beschränkung.

Die europäische Civilisation ist der Triumph des Talentes der Systematik, des geschärften Verstandes, der anpassenden Geschicklichkeit, der Freude an Formen, des Entzückens am Ausdruck, an verständlichen Resultaten. Perikles, Athen und Griechenland hatten in diesem Element mit der ganzen Freude des Genius geschaffen, die noch keine Voraussicht des Schadens, den das Übermaß anrichten kann, erkältet hat. Sie sehen keine unheilvolle politische Ökonomie vor sich, keinen ominösen Malthus, kein Paris oder London, keine erbarmungslose Klasseneinteilung: nicht das traurige Los der Stecknadelarbeiter, das der Weber, der Zurichter, der Strumpfwirker, der Wollkrämpler, der Spinner, der Kohlenarbeiter; kein Irland, keine indischen Kasten, neu geschaffen durch das Streben Europas, sie abzustreifen. Der Verstand erfreute sich seiner Blütenreife. Die Kunst leuchtete in ihrer Neuheit. Sie schnitten den Penthelischen Marmor, als wäre er Schnee, und die vollkommenen Werke ihrer Architektur und Sculptur schienen ihnen natürliche Dinge, nicht schwerer als heute die Vollendung eines neuen Schiffes auf den Werften von Medford, oder neue Mühlen zu Lowell. Aber diese Dinge sind im Lauf und können schon als gegeben angenommen werden. Die römischen Legionen, die Gesetzgebung der Byzantiner, der Handel Englands, die Salons von Versailles und die Pariser Caféhäuser, Dampfmühle, Dampfboot und Dampfwagen, alle zeigen sich in der Perspektive; die städtischen Versammlungen, die Stimmzettel-Urne, die Zeitungen und die billigen gedruckten Bücher.

Unterdessen sog Plato in Ägypten und auf östlichen Wanderungen die Idee einer Gottheit ein, in der alle Dinge enthalten sind. Die Einheitlichkeit Asiens und die Einzelheiten Europas, die Unendlichkeit des asiatischen Geistes, und das definierende, Resultate liebende, Maschinen bauende, Oberflächen suchende, Singspiele aufführende Europa – Plato kam, sie zu vereinigen und die Energie beider durch die Berührung zu erhöhen. Die Vorzüge Asiens und Europas sind beide in seinem Hirn. In Metaphysik und Naturphilosophie fand der europäische Geist den Ausdruck: er legte ihnen die Religion Asiens als Basis unter.

Kurz, es war ein Geist erstanden, der das Gleichgewicht in sich trug, der beide Elemente zu erfassen imstande war. Es ist eben so leicht groß zu sein, wie klein zu sein. Der Grund, weshalb wir an bewundernswerte Geister nicht sogleich glauben wollen, liegt darin, weil sie außerhalb unserer Erfahrung stehen. Sie sind so selten im wirklichen Leben zu finden, daß sie unglaublich werden; und doch spricht im tiefsten nicht nur keine Vermutung gegen sie, sondern die stärkste Vermutung zu Gunsten ihres Erscheinens. Aber ob Stimmen vom Himmel gehört wurden oder nicht, ob seine Mutter oder sein Vater träumten, daß ihr Knäblein der Sohn Apollos sei, ob ein Bienenschwarm sich wirklich auf seinen Lippen niedergelassen oder nicht, jedenfalls wurde ein Mensch geboren, der beide Seiten der Dinge schauen konnte. Die wundervolle Synthese, die der Natur so vertraut ist; die obere und die untere Seite der Medaille Jupiters; die Vereinigung von Unmöglichkeiten, die in jedem Dinge wiederkehrt; seine reale und seine ideale Bedeutung, – war nun in vollständiger Weise auch in das Bewußtsein eines Menschen übergegangen.

Der Geist, der im Gleichgewicht war, kam. Wenn er die abstrakte Wahrheit liebte, so wahrte er sich sein Menschentum, indem er das populärste aller Principien, das absolute Gute lehrte, das über die Herrscher herrscht und über die Richter zu Gericht sitzt. Wenn er transscendentale Merkmale und Unterscheidungen aufstellte, schützte er sich, indem er all seine Bilder von Quellen hernahm, die die Rhetoren und politischen Redner verachteten, von Rossen und Hündchen, von Eimern und Suppenlöffeln, von Köchen und Ausrufern, aus den Buden der Töpfer, der Pferde-Doktoren, Fleischhauer und Fischhändler. Er gestattet sich keinerlei Parteilichkeit in dem festen Entschluß, daß beide Pole des Geistes in seinen Mitteilungen erscheinen sollen. Seine Argumentation und seine Sentenz haben ihr Gewicht in sich selbst und sind von sphärischer Vollkommenheit. Es zeigen sich darin wirklich und stets beide Pole: ja, und sie werden zu zwei Händen, die, was ihnen angehört, ergreifen und sich aneignen.

Jeder große Künstler ist dies durch die Synthese gewesen. Unsere Stärke liegt in den Übergängen, sie ist, so zu sagen, die Schneidungslinie zweier Ränder. Sie gleicht dem Seeufer, der See, die vom Ufer, dem Ufer das von der See geschaut wird, der Wirkung zweier Metalle, die sich berühren; sie zeigt sich in dem Wachsen unserer Kraft beim Nahen oder Gehen eines Freundes, in der Erfahrung poetischer Produktivität, die sich nicht findet im Zuhausebleiben noch im Reisen, sondern nur in den Übergängen vom einem zum andern, die darum auch geschickt ausgebeutet und eingerichtet werden müssen, um so viel Oberfläche als möglich zu geben; diese Herrschaft über zwei Elemente muß auch die Macht und den Reiz Platos erklären. Die Kunst drückt das Eine und Identische durch das Verschiedenartige aus. Der Verstand sucht die Einheit in der Einheit zu erkennen; die Poesie sie durch das Mannigfaltige zu zeigen, d. h. stets an einem Gegenstande oder Symbol. Plato führt stets beide Gefäße, eins mit Äther und eins mit Pigment gefüllt, an der Seite, und gebraucht stets und unwandelbar alle beide. Thatsachen zu Thatsachen gereiht, wie Statistik, wie pragmatische Geschichte, sind nur Inventarien. Thatsachen als Rede gebraucht sind von unerschöpflichem Reiz. Plato wendet uns in unaufhörlicher Abwechslung bald die zugekehrte, bald die abgekehrte Seite der Medaille Jupiters zu.

Um ein Beispiel zu geben: Die Naturphilosophen hatten jeder seine Theorie der Welt entworfen; die Atom-Theorie, die Theorie des Feuers, die der Strömung und die des Geistes: Theorien, deren Grundgedanke bald ein mechanischer, bald ein chemischer war. Plato, ein Meister der Mathematik, ein eifriger Erforscher aller Naturgesetze und Gründe, fühlt, daß dies lauter zweite Ursachen sind und als solche für Welttheorien nicht geeignet, sondern nur Inventarien und Verzeichnisse sind. Daher schickt er der Naturforschung das Dogma voraus: »Wir wollen die Ursache erklären, welche den Höchsten Lenker bewog, das Universum hervorzubringen und zu organisieren. Er war gut, und wer gut ist, der kennt keinen Neid. Frei vom Neide wünschte er, daß alle Dinge so viel möglich ihm selbst gleichen sollten. Wer da immer, von weisen Männern belehrt, dies als den ersten Grund des Ursprungs und der Schöpfung der Welt zugeben wird, der wird von der Wahrheit nicht fehlgehen.« »Alle Dinge sind um des Guten willen, es ist der Grund alles Schönen.« Dieses Dogma belebt und personificiert seine ganze Philosophie.

Die Synthese, die für seinen Geist charakteristisch ist, offenbart sich in all seinen Gaben. Wo immer der Geistesumfang ein ungewöhnlich großer ist, finden wir Vorzüge, die sich im lebendigen Menschen leicht vereinigen, und doch in der Schilderung unvereinbar scheinen. Der Geist Platos läßt sich nicht in einem chinesischen Katalog ausstellen, sondern kann mir von einem eigenartigen Geiste in der Ausübung seiner eigenartigen Macht erfaßt werden. Das freieste Sichgehenlassen ist bei ihm mit der Präcision eines Geometers verbunden. Seine kühne Phantasie giebt ihm nur um so sichereren Halt in den Thatsachen, so wie die Vögel, die am höchsten fliegen, die kräftigsten Flugbeine haben. Sein aristokratischer Schliff, seine innerliche Eleganz, geschärft von einer so feinen Ironie, daß sie sticht und lähmt, schmücken die kräftigste Gesundheit und den mächtigsten Körperbau. Nach dem alten Satze: »Wenn Zeus zur Erde herabsteigen würde, würde er im Stile Platos sprechen.« Verbunden mit diesem vornehmen Palast-Ton liegt in der Tendenz mehrerer seiner Werke und im Wesen aller ein gewisser Ernst, der sich im Staat und im Phaedon bis zur Frommheit erhebt. Man hat wider ihn vorgebracht, daß zur Zeit von Sokrates Tode er sich krank gestellt hätte. Aber die Anekdoten, die sich aus jener Zeit erhalten haben, bezeugen, wie männlich er beim Volke sich für seinen Meister einsetzte; ist doch auch der wilde Schrei in den Massen die wider Plato ausbrechen, erhalten. Auch die Empörung, mit der er sich in vielen seiner Werke gegen demokratische Regierungsformen ausspricht, verrät eine persönliche Gereiztheit. Er besitzt eine Rechtschaffenheit, eine natürliche Ehrfurcht für Recht und Ehre und eine Menschlichkeit, die ihn weich gegen den Aberglauben des Volkes stimmt. Hierzu kommt noch sein Glaube, daß Poesie, Weissagung und die höchste Einsicht von einer Erkenntnis kommen, über die der Mensch nicht Herr ist, daß die Götter nie philosophieren, sondern daß diese Wunder durch eine Art himmlischer Verzückung vollbracht werden. Von diesen Flügelrossen getragen schwebt er bis in die nebelhaften Regionen, besucht Welten, in die Fleisch nicht eindringen kann; er sah die Seelen in Pein, er hört das Urteil des letzten Richters, er schaut die strafende Metempsychose, die Schicksalsgöttinnen mit Spinnrocken und Schere und hört das betäubende Surren ihrer Spindel.

Aber seine Besonnenheit ließ ihn nie im Stich. Man möchte glauben, daß er die Inschrift auf den Thoren von Busyran gelesen: »Sei kühn« – und auf dem zweiten Thor: »Sei kühn, sei kühn, und immer wieder sei kühn!« und dann am dritten Thor sorglich eingehalten, das die Inschrift trug: »Sei nicht zu kühn!« Seine Stärke gleicht dem Kraftmoment eines fallenden Planeten, seine Diskretion dem geregelten Rücklauf der vollen Kurve, die dieser beschreibt – so herrlich ist seine griechische Liebe zu den harmonischen Schranken, seine Gewandtheit der Definition. Beim Lesen einer Logarithmentafel kann man nicht sicherer sein, als wenn man Plato auf seinen Flügen folgt. Nichts kann kälter sein als sein Haupt, wenn die Blitze seiner Phantasie über den Himmel spielen. Er ist mit seinem Denken fertig, bevor er es vor den Leser bringt, seine Werke sind überreich an all den Überraschungen eines Meisters der litterarischen Komposition. Er verfügt über jene Fülle, die ihm bei jeder Wendung gerade die Waffe bietet, die er braucht. So wie der reiche Mann nicht mehr Kleider trägt, nicht mit mehr Pferden fährt, noch in mehr Zimmern sitzt als der Arme, sondern nur stets das Kleid, das Gespann, kurz das Mittel hat, das für seinen Zweck und die Stunde das geeignete ist, so ist der Überfluß Platos unbeschränkt, und nie fehlt ihm das passende Wort. Es giebt in der That keine Waffe in der ganzen Rüstkammer des Geistes, die er nicht besessen und gebraucht hätte, die Kunst der Epik wie die der Analyse, Wahnsinn, Intuition, Musik, Satire und Ironie bis zum gewöhnlichsten Ausdruck und zur Höflichkeit herab. Seine erläuternden Bilder sind Poesie und seine Scherze Bilder. Sokrates' Profession der Hebammenkunst ist ernste Philosophie und daß er im Gorgias die Worte »Kocherei« und »Schmeichelkunst« für die Rhetorik fand, das leistet uns noch heute gute Dienste. Kein Redner kann sich an Wirkung mit dem vergleichen, der gute Spitznamen zu geben versteht.

Und wie weiß er sich zu mäßigen, wie seine Behauptungen einzuschränken und seinen Donner mitten im Rollen anzuhalten: Er hat dem Bürger und Hofmann gutmütig alles in die Hand gegeben, was gegen die Schulen gesagt werden kann. »Denn die Philosophie ist eine elegante Sache, wenn einer sich bescheidentlich mit ihr befaßt? aber wenn einer sich mit ihr mehr abgiebt, als sich gehört, dann verdirbt sie den Mann.« Er konnte leicht generös sein, er, der bei der sonnengleichen Centralität seines Wesens und der Weite seines Gesichts, einen wolkenlosen Glauben besaß. So wie seine Erkenntnis, war seine Rede: er spielt mit dem Zweifel und nimmt ihn so ernst als möglich; er scheint nur zu malen und zu sticheln und so nebenbei kommt eine Sentenz, die Land und Meer in Bewegung setzt. Der wunderbare Ernst kommt nicht bloß in einzelnen Stellen, in dem vollkommenen Ja und Nein des Dialogs, sondern in ganzen Strömen von Licht. »Ich, o Kallikles, bin daher von diesen Gründen überzeugt, und bedenke nunmehr, wie sich meine Seele vor dem Richter in gesunderem Zustand zeigen mag. Darum werde ich die Ehren, welche die meisten Menschen schätzen, nun nicht mehr beachten, nur nach der Wahrheit trachten und mich bestreben, in Wirklichkeit so tugendhaft zu leben als ich kann, und wenn ich sterbe, so zu sterben. Und ich lade auch alle andern Menschen, bis zum Äußersten meiner Kraft, und auch dich lade ich, der Reihe nach, zu diesem Wettkampf, der, ich behaupte es, alle anderen Wettkämpfe in Schatten stellt.

Groß ist auch die Ausgeglichenheit seines Wesens; mit dem feinsten Denken verbindet er eine solche Gleichmäßigkeit, ein so richtiges Verhältnis unter all seinen Fähigkeiten, daß die Menschen in ihm ihre eigenen Träume und Geistesblitze verwertet und nach ihrem Wert geltend gemacht sehen. Ein überaus gesunder Menschenverstand giebt ihm die Berechtigung und auch die Qualifikation, der Dolmetscher der Welt zu sein. Er hat Geist, wie alle philosophischen und poetischen Menschen ihn haben, aber er hat auch das, was ihnen fehlt, jenen kräftigen auflösenden gesunden Sinn, seine Poesie nicht in Widerstreit mit den Erscheinungen der Welt zu bringen, und eine Brücke von den Straßen der Städte zur Atlantis zu bauen. Nie überspringt er die Stufen und führt seine Gedanken, wie verlockend und malerisch auch der Abgrund an seiner Seite sein mag, immer auf zugänglichem Wege zur Ebene hinab. Er schreit nie in Ekstase, reißt uns nie plötzlich in poetische Entzückungen hinauf.

Plato erfaßte die Cardinalfacta. Er konnte sich auf die Erde werfen und die Augen bedecken, in der Anbetung dessen, was weder gezählt, noch gemessen, noch erkannt oder genannt werden kann; das, von dem alles gesagt und alles geleugnet werden kann, das »was Sein und Nichtsein ist.« Er nannte es »überwesentlich.« Er war sogar bereit – wie im Parmenides – zu beweisen, daß es so sei, daß dieses Wesen die Schranken des menschlichen Verständnisses überschreite. Kein Mann hat jemals das Unaussprechliche rückhaltloser anerkannt. Aber nachdem er so, gleichsam als Vertreter des Menschengeschlechtes, dem Unendlichen seine Huldigung dargebracht hatte, richtete er sich wieder empor und behauptete, wieder zum Menschengeschlechts gewendet: »Und dennoch giebt es Erkenntnis!« das will sagen: das Asien in seinem Geiste wurde zuerst von ganzem Herzen geehrt, der Ocean von Liebe und Kraft, der vor der Form, vor dem Willen, vor der Erkenntnis geht, das ewig Gleiche, Gute, Eine – dann aber, erfrischt und gestärkt durch diese Andacht, kehrt der Instinkt Europas ihm wieder, der Trieb der Bildung, und er ruft aus: »Und dennoch giebt es Erkenntnis!« Ja es giebt Erkenntnis, die Natur der Dinge ist erforschlich, weil, da alle von Einem ausgehen, es Zusammenhänge zwischen ihnen giebt. Es giebt eine Stufenleiter der Dinge, und die Wechselbeziehungen vom Himmel zur Erde, von der Materie zum Geiste, vom Teil zu dem Ganzen, sind unser Führer. So wie es eine Wissenschaft der Sterne giebt, die Astronomie genannt wird, eine Wissenschaft von den Quantitäten, die Mathematik, eine Wissenschaft von den Qualitäten, die Chemie genannt wird; so giebt es eine Wissenschaft von den Wissenschaften – ich nenne sie Dialektik – die nichts anderes ist, als die Art wie der Geist das Falsche und Wahre unterscheidet. Sie beruht auf der Beobachtung von Identität und Verschiedenheit, denn Urteilen heißt mit einem Gegenstande den Begriff verbinden, der zu ihm gehört. Die Wissenschaften, – selbst die besten, Astronomie und Mathematik – sind wie Sportsleute, die nach jeder Beute greifen, die sich ihnen darbietet, auch wenn sie keinen Gebrauch dafür haben. Die Dialektik muß sie erst den Gebrauch derselben lehren. »Sie ist von solcher Natur, daß kein mit Verständnis begabter Mensch irgend eine Forschung um ihrer selbst willen beginnen wird, sondern nur in der Absicht, sich selbst in der einen Wissenschaft, die alle andern umfaßt, vorwärts zu bringen.«

»Das Wesen oder die Eigentümlichkeit des Menschen ist, ein Ganzes zu erfassen, das, was in der Mannigfaltigkeit der Empfindungen sich unter einer rationalen Einheit zusammenfassen läßt.« »Die Seele, welche niemals die Wahrheit erfaßt hat, kann nicht in menschliche Form übergehen.« Ich verkünde den Menschen den Intellekt. Ich verkünde ihnen die Wohlthat, von dem Geiste durchdrungen zu werden, der die Natur geschaffen; nämlich die Wohlthat, die Natur verstehen zu können, die er geschaffen hat und schafft. Die Natur ist gut, aber Intellekt ist besser, wie der Gesetzgeber vor dem Gesetznehmer kommt. Freuet euch mit mir, ihr Söhne der Menschen, denn die Wahrheit ist allenthalben heilsam, freuet euch, daß wir hoffen können, zu erforschen, was das eigentliche Selbst eines jeden Dinges ist. Das Elend des Menschen ist, daß er um das Schauen des Wesens betrogen und mit Vermutungen gespeist wird: aber das höchste Gut ist etwas Wirkliches, die höchste Schönheit ist ein Wirkliches; und alle Tugend und alles Glück hängen von dieser Wissenschaft des Wirklichen ab: denn Mut ist nichts anderes als Wissen: das schönste Geschick, das einem Menschen begegnen kann, ist von seinem Dämon zu dem geleitet werden, was in Wahrheit seinem Wesen entspricht und angehört. Das ist auch das Wesen der Gerechtigkeit, daß jeder sich an das halte, was ihm eigentümlich angehört: ja zur Idee der Vortrefflichkeit könnt ihr gar nicht gelangen als durch das direkte Schauen des göttlichen Wesens. Also Mut! denn »die Überzeugung, daß wir das suchen müssen, was wir nicht wissen, wird uns unvergleichlich besser, tapfrer und thätiger machen, als wenn wir es für unmöglich hielten zu entdecken, was wir nicht wissen, und für nutzlos, danach zu forschen.« Es sichert uns eine Position, die von keiner anderen beherrscht werden kann, durch seine Leidenschaft für das was wirklich ist, und schätzt die Philosophie nur in so weit, als sie den Genuß gewährt, mit dem wirklichen Wesen der Dinge zu thun zu haben.

So voll des Europäischen Geistes gab er das Wort: Bildung. Er sah die Institutionen Spartas und erkannte, man kann sagen, in genialerer Weise als irgend jemand seit ihm, den Wert und die Hoffnung der Erziehung. Er hatte eine unendliche Freude an jedem persönlichen Vorzug, an jedem graziösen und nützlichen und wahrhaften Thun; vor allem aber an dem Glanz des Genies und geistiger Thaten. »Der ganze Wert des Lebens, o Sokrates, sagte Glaukon, liegt für den Weisen darin, solche Reden wie die deinen anzuhören.« Welchen Preis setzt er auf die Glanzleistungen des Talents, auf die Gaben des Perikles, des Isokrates, des Parmenides! Welchen Preis über alle Preise auf die Talente selbst! Götter nannte er die verschiedenen Fähigkeiten in seinen herrlichen Personifikationen. Welchen Wert für die Erziehung legt er der Gymnastik bei, welchen der Geometrie, der Musik, der Astronomie, deren beruhigende und heilende Macht er preist. Im Timäus giebt er die höchste Verwendung an, die wir von unseren Augen machen können: »Von uns ist behauptet worden, daß Gott das Augenlicht zu dem Zwecke geschaffen und uns gewährt, damit, wenn wir die Kreise die der Geist in den Himmeln zog, geschaut, wir die unseres eigenen Geistes gehörig verwenden, welche, obgleich getrübt wenn sie mit jenen verglichen werden, die so einheitlich sind, dennoch mit ihren Bahnen in Verbindung stehen, und damit, nachdem wir es so gelernt haben, und da wir von Natur aus mit einer korrekten Denkfähigkeit begabt sind, wir nach dem Vorbild der ewig gleichen Bahnen der Gottheit unsere eigenen Wanderungen und Irrwege verbessern können.« Und im Staate: »Durch jede dieser Disciplinen wird ein gewisses Organ des Geistes zugleich gereinigt und neubelebt, welches durch Studien anderer Art geblendet und begraben war; ein Organ, das zu schonen wichtiger ist, als zehntausend Augen, da nur durch dieses allein die Wahrheit erkannt werden kann.«

Er sagte Bildung, aber vorerst ließ er ihre Basis gelten, und räumte den angeborenen Vorzügen bei weitem den höheren Rang ein. Sein patricischer Geschmack legte Gewicht auf die Unterschiede der Geburt. In der Lehre vom organischen Charakter und von der Veranlagung liegt der Ursprung der Kasten. »In die Zusammensetzung jener, die fähig sein sollten zu regieren, mischte die formende Gottheit Gold; in die der kriegerischen Silber; Eisen und Erz für die Handwerker und Bauern.« Der Osten bestätigt sich zu allen Zeitaltern in diesem Glauben. Im Koran ist von diesem Thema, den Kasten, ausführlich die Rede: »Die Menschen haben ihr Metall, Gold und Silber. Jene von euch, die die Würdigen waren im Zustande der Unwissenheit, werden auch die Würdigen sein im Zustand des Glaubens, sobald ihr ihn annehmet.« Plato war nicht minder fest. »Von den fünf Reihen der Dinge, können der großen Mehrheit der Menschen nur vier gelehrt werden.« In der Republik betont er die Temperamente der Jugend als das Erste von allem.

Ein glücklicheres Beispiel für das Gewicht, daß er auf die Natur legt, findet sich in dem Dialog mit den jungen Theages, der bei Sokrates Unterricht zu nehmen wünscht. Sokrates erklärt, daß, wenn einige dadurch weise geworden daß sie sich zu ihm gesellten, ihm kein Dank dafür gebühre: sondern dieselben seien einfach, während sie mit ihm gewesen, weise geworden, nicht aber durch ihn; er giebt vor, die Art und Weise, wie es geschehen, nicht zu wissen. »Vielen ist es nicht gegeben, noch können jene im Verkehr mit mir Vorteil finden, gegen die der Dämon sich sträubt, so daß es mir gar nicht möglich ist, mit solchen zu leben. Mit vielen wieder geht es so, daß es mich am Verkehr mit ihnen nicht hindert, sie aber dennoch keinerlei Vorteil davon haben. So, o Theages, ist der Verkehr mit mir beschaffen: denn, wenn es dem Gotte gefällt, wirst du große und rasche Fortschritte machen; du wirst keine machen, wenn es ihm nicht gefällt. Urteile nun, ob es nicht sicherer ist, sich von einem jener unterrichten zu lassen, die über den Nutzen, den sie den Menschen mitteilen, Gewalt haben, als von mir, der Nutzen bringen kann oder nicht, wie es kommen mag.« Es ist, als ob er gesagt hätte: »Ich habe kein System. Ich kann keine Verantwortung für dich übernehmen. Du wirst das werden, was du sein mußt. Wenn zwischen uns Liebe möglich ist, dann wird unser Verkehr ganz unbegreiflich genußreich und nutzbringend sein; wenn nicht, dann verlierst du deine Zeit und wirst mich nur ärgern. Ich werde dir thöricht erscheinen, und der Ruf, den ich habe, falsch. Gänzlich über uns, außerhalb meines und deines Willens, ist jene geheime Anziehung oder Abneigung gelegen. All mein Gutes ist magnetisch und ich erziehe nicht durch Lektionen, sondern dadurch, daß ich meinen Geschäften nachgehe.«

Er sagte: Bildung, er sagte: Natur, aber er verfehlte nicht, hinzuzufügen: »Dann ist noch das Göttliche da.« Es kann kein Gedanke in irgend ein Haupt kommen, der nicht auch bestrebt wäre, sich zu einer Macht zu organisieren, und eine ungeheure Instrumentalität aus allen möglichen Mitteln organisieren würde. Plato, der die Schranken liebt, liebt auch das, was keine Schranken kennt, er kannte die Erleuchtung und Veredelung, die durch die Wahrheit selbst, das Gute selbst zustande gebracht werden, und versuchte ihm, gleichsam von seiten des menschlichen Intellekts entsprechend zu huldigen – eine Huldigung, wie sie der unendliche Geist empfangen konnte, wie sie dem menschlichen Intellekt zu erweisen geziemte. Und er sagte: »Unsere Fähigkeiten erstrecken sich hinaus in die Unendlichkeit und kommen von dorther zu uns zurück. Wir können nur ein kleines Stück weit definieren, dann kommt ein Faktum, das sich nicht überspringen läßt, und vor dem die Augen zu verschließen Selbstmord ist.« Alle Dinge liegen in einer Stufenleiter, und wir mögen beginnen wo wir wollen, sie steigen empor und steigen empor. Alle Dinge sind symbolisch, und was wir Resultate nennen, sind Anfänge.«

Einen Schlüssel zur Methode und Vollständigkeit Platons bildet seine zweimal zweigeteilte Linie. Nachdem er die Beziehung zwischen dem absoluten Guten und Wahren und den Formen der intelligibeln Welt erläutert hat, sagt er: »Man schneide eine Linie in zwei ungleiche Teile.« »Jeden dieser zwei Teile – von welchen der eine die sichtbare, der andere die intelligible Welt vorstellen soll – schneide man wiederum, und, indem nun die beiden neuen Abschnitte den hellen und den dunkeln Teil dieser Welten vorstellen, bekommt man für den einen der beiden Abschnitte der sichtbaren Welt: Bilder, das heißt sowohl Schatten als Spiegelbilder; für den anderen Abschnitt, die Objekte dieser Bilder, das heißt Pflanzen, Tiere und die Werke der Kunst und Natur. Nun teile man die intelligible Welt in gleicher Weise, so wird der eine Abschnitt derjenige der Meinungen und Hypothesen, der andere der der Wahrheiten sein.« Diesen vier Abschnitten entsprechen die vier Operationen des Geistes: Vermutung, Glaube, Verstand und Vernunft. So wie jeder Pfuhl das Bild der Sonne wiederspiegelt, so bringt uns jeder Gedanke und jedes Ding ein Bild und ein Geschöpf des höchsten Guten. Das Universum ist von Millionen Kanälen für seine Thätigkeit durchbohrt. Alle Dinge steigen und steigen.

Überall nimmt sein Geist diesen Aufschwung; im Phaedros, wenn er lehrt, daß die Schönheit das lieblichste aller Dinge sei, überall Heiterkeit verbreite, und Sehnsucht und Vertrauen durch das Weltall ausgieße, wo immer sie hingelange, und in einem gewissen Grade gelange sie überall hin; daß es aber ein Anderes gebe, das noch um eben so viel schöner sei als Schönheit, als die Schönheit herrlicher als das Chaos, nämlich die Weisheit, die unser wunderbares Sehorgan nicht erreichen könne, welche jedoch, könnte sie geschaut werden, uns durch ihre vollkommene Wirklichkeit in Entzücken versetzen würde. Ebenso hoch stellt er sie als die Quelle aller Vorzüglichkeit in den Werken der Kunst. »Wenn ein Künstler bei der Ausführung irgend eines Werkes auf das sieht, was von Ewigkeit ist, weil es dem Ewig-Gleichen, dem Ewig-Identischen entspricht; und wenn er, ein Modell von solcher Art verwendend, seine Idee und seine Kraft im Werke zum Ausdruck bringt; dann muß notwendig folgen, daß sein Werk schön wird. Aber wenn er nur das zu schauen vermag, was geboren wird und stirbt, wird es weit von der Schönheit entfernt sein.«

So immer: das Gastmahl enthielt eine Lehre im selben Geiste, die heute das Gemeingut aller Poesie und aller Predigten und Lehren der Welt geworden ist, daß die Liebe der Geschlechter etwas Unvollkommenes sei, und nur ein entferntes Symbol sei für die leidenschaftliche Liebe der Seele zu jenem unendlichen See von Schönheit, den zu suchen sie da ist. Dieser Glaube an die Göttlichkeit kommt ihm nie aus dem Geist und bildet die Grundlage all seiner Dogmen. Der Leib kann Weisheit nicht lehren – nur Gott. In diesem Sinne behauptet er immer wieder, daß Tugend nicht gelehrt werden könne, daß sie keine Wissenschaft sondern eine Inspiration sei; daß unsere größten Güter durch eine Art Wahnsinn hervorgebracht und durch ein göttliches Geschenk uns zugewiesen werden.

Dies führt mich zu jener centralen Gestalt, die er zum Mittelpunkt seiner Akademie gemacht hat, als das Organ, durch welches die jedesmal in Betracht gezogene Meinung verkündet werden soll, und dessen Biographie er gleichfalls so verarbeitet hat, daß die historischen Thatsachen sich im Lichte von Platos Geist verloren haben. Sokrates und Plato sind das Doppelgestirn, das die kräftigsten Instrumente niemals völlig werden trennen können. Sokrates wiederum bietet in seinen Zügen und seinem Geiste das beste Beispiel jener Synthese in der Platos außerordentliche Kunst beruht. Sokrates, ein Mensch von niederer Herkunft, jedoch ehrsam genug, dessen Geschichte die denkbar gewöhnlichste ist, von einer persönlichen Hausbackenheit, die so auffällig ist, daß sie für andere zum Gegenstand ihres Witzes wird, umsomehr als seine derbe Gutmütigkeit und erlesener Geschmack für einen guten Spaß den Witz herausforderte, der unfehlbar heimgezahlt wurde. Die Schauspieler stellten ihn auf der Bühne dar, die Töpfer malten sein häßliches Gesicht auf ihre Steinkrüge. Er war ein kaltblütiger Gesell, der mit seinem Humor die vollkommenste Gemütsruhe verband und eine Menschenkenntnis, die, mit wem immer er zu thun haben mochte, den andern in jeder Debatte der sicheren Niederlage entgegenführt – und an Debatten hatte er eine unmäßige Freude. Die jungen Leute haben ihn unglaublich gern und laden ihn zu ihren Gelagen ein, und er kommt zu denselben der Gespräche wegen. Er kann auch trinken wie einer, hat den widerstandsfähigsten Kopf in Athen; und geht, wenn er die ganze Gesellschaft unter den Tisch getrunken, fort als ob nichts geschehen wäre, um mit irgend einem, der nüchtern ist, neue Dialoge zu beginnen. Kurz er war, was man bei uns einen »Gewitzten« oder einen »Alten, der's dick hinter den Ohren hat« nennt.

Er gefiel sich in einer ganzen Reihe gut-bürgerlicher Neigungen, er liebte Athen ganz ungemein, konnte Bäume nicht leiden und erschien niemals aus freien Stücken außerhalb der Stadtmauern, er kannte die alten Wahrzeichen, wußte auch die Langweiligen und Philister zu schätzen, und hielt alles was athenisch war, für ein wenig besser als irgendwas an irgend einem anderen Orte. In seinen Gewohnheiten und seiner Rede war er einfach wie ein Quäker, gefiel sich in den Redewendungen des gemeinen Volkes, in Gleichnissen von Hühnern und Wachteln, Suppenpfannen und Sykomorenlöffeln, Reitknechten und Hufschmieden und gar nicht nennbaren Handwerken – besonders wenn er mit superfeinen Leuten plauderte. Er besaß eine Lebensweisheit, ähnlich der Benjamin Franklins. So bewies er einem, der sich fürchtete, zu Fuß nach Olympia zu wandern, daß der Weg dahin nicht mehr ausmachte, als sein tägliches Hin- und Hergehen im Hause, entsprechend fortgesetzt, mit Leichtigkeit ergeben mußte.

Gerader alter Onkel, der er war, mit seinen großen Ohren, ein Plauderer, der des Redens nicht müde wurde, – lief doch das Gerücht, daß er bei ein oder zwei Gelegenheiten im Böotischen Kriege eine Entschlossenheit gezeigt hatte, die den Rückzug einer ganzen Schar gedeckt hatte; und man erzählte sich auch eine Geschichte, daß er unter dem Deckmantel der Narrheit im Stadtvorstand, als er zufällig eines Tages darin Sitz hatte, einen Mut gezeigt, indem er allein der Stimme des Volkes opponierte, der ihm fast das Leben gekostet hätte. Er ist sehr arm, aber er ist auch abgehärtet wie ein Krieger und kann von ein paar Oliven leben, lebt gewöhnlich, im stengsten Sinne des Wortes, von Wasser und Brot, außer wenn er bei seinen Freunden zu Gast ist. Seine notwendigen Ausgaben waren außerordentlich geringe, und niemand konnte so leben, wie er es that. Er trug kein Unterkleid, sein Oberkleid war Sommer und Winter dasselbe, und er ging stets barfuß. Man erzählt sich, daß er, um sich sein Lieblingsvergnügen – den ganzen Tag mit eleganten und gebildeten jungen Leuten behaglich zu verplaudern – verschaffen zu können, hie und da zu seiner Werkstatt zurückkehre und Statuen meißele so gut sie eben ausfallen wollten, die er dann verkaufe. Wie es damit auch sein mochte, gewiß ist nur, daß er an nichts anderem mehr Freude fand als an diesen Gesprächen, und daß unter dem heuchlerischen Vorgeben, nichts zu wissen, er all die Schönredner, all die seinen Philosophen von Athen, Einheimische wie Fremde, von Kleinasien und von den Inseln, alle angreift und unterkriegt. Niemand kann es ablehnen, sich mit ihm ins Gespräch einzulassen, er ist so ehrlich, so wirklich wißbegierig, ein Mann, der sich willig überführen ließ, wenn er nicht die Wahrheit reden sollte, und willig andere überführte, wenn sie etwas behaupteten, was falsch war; und dem es nicht weniger Befriedigung bereitete, überführt zu werden als zu überführen! denn seiner Ansicht nach konnte kein größeres Übel den Menschen begegnen, als falsche Meinungen über das, was recht und was unrecht war. Ein unerbittlicher Streiter, der nichts wußte, aber dessen übermächtiger Intelligenz kein Mensch gewachsen war, keiner auf den Grund kommen konnte, dessen Gleichmut unerschütterlich war, dessen furchtbare Logik immer nur Spiel zu sein schien, immer in Scherzen sich bewegte; so sorglos und unwissend, daß er die Vorsichtigsten entwaffnete und sie in der freundlichsten Weise in schauderhafte Zweifel und Verwicklungen schleppte. Er aber wußte stets den Weg, der aus dein Netz hinausführte, wußte ihn, wollte ihn jedoch nicht sagen. Da giebt es keine Rettung, mit seinen Dilemmas treibt er sie zu schrecklichen Alternativen und spielt und wirft die Gorgiasse und Hippiasse mit all ihrer Weltberühmtheit, wie ein Knabe seine Bälle wirft. Der tyrannische Realist Menon hat tausendmal ausführlich über die Tugend gesprochen, in vielen Gesellschaften und, wie es ihm schien, recht gut; und in diesem Augenblick vermag er nicht einmal zu sagen, was sie ist, – so hat ihn dieser Krampffisch von einem Sokrates behext.

Dieser hartköpfige Humorist, dessen seltsame Einfälle, dessen Spaßhaftigkeit die jungen Patrizier so sehr ergötzten, während das Gerücht von seinen Aussprüchen und Sticheleien täglich mehr herum kommt, ist, wie sich in der Folge herausstellt, von einer Rechtschaffenheit, die ebenso unbezwinglich ist wie seine Logik, und ist entweder wahnsinnig, oder verbirgt unter dem Deckmantel seiner Spielereien eine begeisterte Religiosität. Angeklagt vor den Richtern, daß er die Volksreligion untergrabe, behauptet er die Unsterblichkeit der Seele, künftigen Lohn und Strafe, und da er zu widerrufen sich weigerte, wurde er in einer Laune des Volksgerichts zum Tode verurteilt und ins Gefängnis geschickt. Sokrates ging ins Gefängnis und nahm dem Orte all seine Schmach, es konnte kein Gefangenhaus sein, so lange er darin war. Kriton bestach den Kerkermeister, aber Sokrates wollte nicht durch Schleichwege befreit werden. »Was für Ungelegenheiten auch daraus erfolgen mögen, nichts geht dem Rechte vor. Das höre ich wie Trommeln und Pfeifen, die mich für alles taub machen, was ihr sagen könnt.« Der Ruhm dieses Gefängnisses, der Ruhm der Gespräche, die darin geführt wurden, und das Trinken des Schierlingssaftes bilden eine der wunderbarsten Stellen der Weltgeschichte.

Das seltene Zusammentreffen des Possenreißers und des Märtyrers in einem häßlichen Körper, des schärfsten Wortkämpfers von Markt und Straße mit dem sanftesten Heiligen, den die Geschichte jener Zeit kannte, hatte auf den für diese Kontraste so empfänglichen Geist Platos den tiefsten Eindruck gemacht, und die Gestalt des Sokrates rückte notwendigerweise von selbst in den Vordergrund der Scene als die zur Mitteilung der geistigen Schätze, die er zu offenbaren hatte, geeignetste Persönlichkeit. Es war ein seltener Glücksfall, daß dieser Äsop des Pöbels und der vornehme Gelehrte sich begegneten, um einander durch ihre wechselseitigen Fähigkeiten unsterblich zu machen. Die seltsame Synthese, die in Sokrates' Charakter lag, mußte die Synthese im Geiste Platos verkappen. Außerdem konnte er sich auf diese Weise offen und ohne sich einem Vorwurf auszusetzen, des Witzes und der Autorität des Sokrates bedienen, denen er unzweifelhaft viel verdankte, während diese hinwieder ihren Hauptvorteil von der vollendeten Kunst Platos empfingen.

Es bleibt mir nun noch übrig zu sagen, daß was Plato an Macht über die Gemüter abgeht, eine unvermeidliche Folge seiner Grundeigenschaften ist. Seine Ziele sind geistige, und sein Ausdruck ist daher der des Gelehrten. Ob er zum Himmel emporsteigt, in den Abgrund hinabtaucht, ob er die Gesetze des Staates, die Leidenschaft der Liebe, die Reue des Verbrechens, die Hoffnung der scheidenden Seele erörtert, – er thut es stets als Gelehrter und nie anders. Es ist fast der einzige Abzug, der von Platos Verdienst gemacht werden muß, daß seine Schriften nicht – und dies ist zweifellos nur der unbedingten Herrschaft des Intellekts in seinen Schriften zuzuschreiben – jene urkräftige Autorität haben, welche die Freuden- und Schmerzensrufe der Propheten und die Predigten ungebildeter Araber und Juden besitzen. Seine Werke lassen stets einen Zwischenraum; und für die Kohäsion ist Berührung erforderlich.

Ich weiß nicht, was man gegen diese Kritik anderes vorbringen kann, als daß wir hiermit auf eine Thatsache gestoßen sind, die in der Natur der Dinge begründet ist: Eine Eiche ist eben kein Orangenbaum. Die Eigenschaften des Zuckers bleiben beim Zucker, die des Salzes beim Salz.

Zum zweiten hat er kein System. Die treuesten Verteidiger und Schüler stoßen auf Schwierigkeiten. Er versuchte eine Theorie des Weltalls und seine Theorie ist weder vollständig noch in sich klar und geschlossen. Der eine glaubt, daß er dies gemeint, der andere jenes; an einer Stelle hat er dies gesagt, und an einer anderen das Gegenteil. Man wirft ihm vor, daß er den Übergang der Ideen in die Materie zu erklären unterlassen habe. Vor uns liegt die Welt, gesund wie eine Nuß, vollkommen in sich, nicht das kleinste Restchen von Chaos ist in ihr zurückgeblieben, nirgends ist ein Stich oder ein Fadenende zu sehen, nirgends ein Zeichen von Übereilung, nichts geflickt und nichts nachgebessert – aber die Theorie der Welt ist nur Fetzen und Flickwerk.

Die längste Woge verliert sich rasch im Meer. Plato hätte gerne einen Platonismus geschaffen, einen bewußten, durchdachten und präcisen Ausdruck für die Welt; und er sollte auch präcis werden. Es soll die Welt sein, durch den Geist Platos hindurchgegangen – nichts weniger! Jedes Atom soll die platonische Färbung haben; jedes Atom, jede Beziehung, jede Qualität, die ihr früher gekannt, sollt ihr umlernen und hier wiederfinden, aber geordnet wiederfinden, nicht mehr Natur, sondern Kunst. Und ihr werdet fühlen, daß Alexander in der That mit Mannen und Rossen einige Reiche des Planeten überritt; aber die Reiche und die Dinge, aus denen die Reiche bestehen, die Elemente, ja der Planet selber, die Gesetze des Planeten und der Menschen haben diesen Mann durchdrungen, wie Brot seinen Leib, und sind nicht länger Brot, sondern Leib geworden, und so ist dieser Mammutbissen Plato geworden. Er hat der Welt sein Verlagsrecht aufgedruckt. Dies ist der Ehrgeiz des Individualismus. Aber dies Mundvoll hat sich als zu groß erwiesen. Die Boa constrictor hat den besten Willen es aufzuessen, aber es gelingt ihr nicht. Sie scheitert am Versuch und erwürgt sich im Beißen: die angebissene Welt hält den Rachen der Schlange an den eigenen Zähnen fest. Und so geht sie zu Grunde, und die unbezwungene Natur lebt fort und vergißt es. So ergeht es allen, und so mußte es auch Plato ergehen. Verglichen mit der ewigen Natur sind Platos Werke nur philosophische Übungen. Er spricht über diese Seite und über jene. Der scharfsinnigste Deutsche, der liebendste seiner Schüler vermochte nicht zu sagen, was Platonismus sei; und in der That, man kann bei jeder großen Frage wundervolle Sätze aus seinem Text für die entgegengesetzten Meinungen citieren.

Diese Dinge müssen wir aussprechen, wenn wir das Bestreben Platos oder irgend eines anderen Philosophen, mit der Natur fertig zu werden, beurteilen sollen, – die Natur läßt nicht mit sich fertig werden. Keine Macht des Genies hat bis heute in der Erklärung der Existenz auch nur den geringsten Erfolg gehabt. Es bleibt ein vollkommenes Rätsel. Aber es wäre ungerecht, Plato diesen Ehrgeiz zuzuschreiben. Es soll nicht scheinen, daß wir seinen ehrfurchtgebietenden Namen mit Leichtfertigkeit behandeln. Alle Menschen haben je nach dem Maße ihrer geistigen Fähigkeit seine über alles Maß hinausgehenden Leistungen anerkannt. Wenn man ihn kennen lernen will, muß man ihn nicht mit der Natur, sondern mit anderen Menschen vergleichen. Wie viele Generationen sind vorübergegangen, und noch immer steht er unerreicht! Ein gewaltigster Bau des Menschengeistes, wie Karnak oder die Kathedralen des Mittelalters, oder die etruskischen Ruinen, bedarf es des ganzen Umfangs menschlicher Fähigkeiten, um ihn zu erfassen. Ich glaube, er wird am richtigsten geschaut, wenn er mit der meisten Ehrfurcht geschaut wird. Sein Sinn vertieft sich, seine Bedeutung wächst, je mehr man sich mit ihm befaßt. Wenn wir sagen: er enthält eine wunderschöne Sammlung von Fabeln, oder wenn wir seinen Stil preisen, seinen gesunden Verstand, oder seine Arithmetik, dann sprechen wir wie Schuljungen, und ich hege den Verdacht, daß ein guter Teil unserer ungeduldigen Kritik seiner Dialektik nicht um ein Haar besser ist. Diese Kritik gleicht der Ungeduld, die wir über die Länge der Meilen empfinden, wenn wir Eile haben? es ist doch immer noch am besten, wenn die Meile siebzehnhundertundsechzig Ellen lang ist. So hat auch Platos großes Auge Licht und Schatten nach dem Geiste unseres Lebens bemessen und verteilt.


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