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Der letzte Schuß

Gleichzeitig stieg der Lärm im Gefängnis. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde die Lage der drei Menschen auf dem Dach ernster.

Während der Alte noch einmal seine Experimente an der Leitung wiederholte, sagte er:

»Wenn ich auch diesmal keine Verbindung zustande bringe, können wir den Plan als mißglückt betrachten. Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als ...

»Hallo!« rief er plötzlich in den Apparat, »ist dort die Zentrale?«

Er hatte sicher eine bejahende Antwort erhalten, denn er fuhr fort: »Verbinden Sie mich mit der Wache der Stadtgarnison.«

Während er auf Antwort wartete, sagte er zum Norweger: »Nun ist alles in Ordnung. In einigen Stunden werden wir alle frei sein. Ich schlage vor, daß wir im New-Carlton-Restaurant frühstücken.«

»Ausgezeichnet«, entgegnete Harald Vik strahlend und drückte dabei die Hand des jungen Mädchens. Die beiden standen nebeneinander und betrachteten voller Spannung, was der Alte unternahm.

Er sprach nun wieder in den Apparat:

»Hier das Gefängnis ›Der Schwarze Stern‹. Die Gefangenen meutern. Sie haben sich des Kriminalmuseums bemächtigt, haben den Direktor sowie die andern Angestellten gefangen genommen, ja vielleicht getötet, und sind nun vollständig Herr des Gefängnisses.«

»Nein, weitere Auskünfte kann ich Ihnen nicht geben«, fuhr er fort. »Aber der Plan der Führer ist der, die Stadt zu überfallen und zu plündern.«

Der Alte verließ die Leitung.

»In einer halben Stunde können die ersten Truppen hier sein«, sagte er. »Vor ihrem Eintreffen haben wir noch allerlei auszurichten. Ich mache den Vorschlag, daß die junge Dame so lange hier auf dem Dache bleibt; wenn alles vorüber ist, holen wir sie herunter. Sie wird uns nur zur Last fallen; wir beide müssen wieder durch den Schornstein.«

Harald Vik machte jedoch Einwendungen dagegen, daß das Mädchen oben bleiben solle. Der Gelehrte wurde hierüber so wütend, daß es den Anschein hatte, als würden abermals Händel zwischen den beiden entstehen.

Dann wurde die Frage aber von dem Mädchen selbst entschieden.

»Ich bleibe hier«, sagte sie. »Ich verlasse mich auf den Alten.«

Der Gelehrte nickte ihr beifällig zu.

»Gut; dann können wir gehen.«

»Auf welchen Schornstein wird denn diesmal unsere Wahl fallen?« fragte Harald Vik. »Soll es wieder einer der unbenutzten sein?«

»Nein, diesmal benutzen wir jenen Schornstein, der zu rauchen pflegt.«

»Wohin führt er?«

»In die Küche des Direktors.«

Nach wenigen Minuten waren beide in den Schornstein hineingekrochen.

Im Gefängnis war der Lärm nun aufs höchste gestiegen. Aus allen Gängen ertönten Rufe und Geschrei; unablässig wurden Türen zugeschlagen und lärmend wieder geöffnet. Harald Vik hatte den Eindruck, als ob sich das ganze Gefängnis in einen ungeheuren Ameisenhaufen voll tätigen Lebens verwandelt hätte.

Der Abstieg war mit größeren Schwierigkeiten verbunden, als es in den unbenutzten Schornsteinen der Fall gewesen war, denn der Ruß, der unaufhörlich herabfiel, war ihnen sehr hinderlich.

Fast waren sie unten angelangt, als der Alte, der die ganze Zeit vorangeklettert war, plötzlich stehen blieb.

Unter sich hörten sie eine Stimme »Gnade! Gnade!« rufen.

Dem Rufe folgte ein dumpfer Schlag und ein grobes Brummen. Dann rief die Stimme wieder: »Gnade! Schonen Sie mein Leben!«

»Es ist die Stimme einer Frau«, flüsterte Harald Vik. »Eilen Sie!«

Der Gelehrte hieß ihn schweigen. Noch einige Male hörten sie die flehende Stimme, dazwischen gotteslästerliche Flüche; dann war's still.

Die beiden kletterten weiter hinab und standen schließlich unversehens auf einem riesengroßen Herd.

Sie befanden sich in einer großen Küche. Es war noch ganz dunkel, die Fensterladen waren geschlossen, aber mitten auf der Diele brannte eine kleine Laterne. Mit Hilfe des bescheidenen Lichts, das von dieser Laterne ausging, erkannten sie allerlei Gegenstände in dem großen Raum.

In der Nähe der Laterne lagen drei gefesselte menschliche Gestalten. Zwei von ihnen brachten gurgelnde Laute hervor, was vermuten ließ, daß sie geknebelt waren.

Außer diesen Menschen befand sich kein lebendes Wesen in der Küche.

Schnell sprang der Alte auf die Diele herab und eilte auf den Nächstliegenden zu. Es war ein Mann.

Der Alte beugte sich über ihn. Harald Vik, der mit Interesse seinen Bewegungen zugesehen hatte, beobachtete plötzlich, daß der Alte entsetzt zurückfuhr.

Er eilte nun auch hinzu.

»Was ist los?« fragte er.

Der Alte wies auf die vor ihm liegende Gestalt.

»Kennen Sie ihn nicht?« fragte er.

Harald Vik beugte sich nun auch herab.

»Großer Gott,« rief der junge Mann, »das ist ja der Direktor. Ist er tot?«

Der Alte entfernte den Knebel, den man dem Direktor in den Mund gestopft hatte. Ein Seufzer der Befreiung kam von seinen Lippen.

»Wasser!« flüsterte der Unglückliche.

»Habe ich es mir nicht gedacht,« sagte der Alte leise, »die Schurken waren schlau genug, ihn nicht zu töten.«

Er tastete in der Küche umher, bis er Wasser fand.

Währenddessen hatte Harald Vik die Taue durchschnitten, womit die andern beiden gefesselt waren. Es stellte sich heraus, daß es der zweite Direktor und dessen Frau waren.

Den Direktor hatte die entsetzliche Behandlung am meisten mitgenommen; nachdem aber ein Trunk Wasser ihn erquickt hatte, war er doch in der Lage, aufrecht zu stehen.

Der zweite Direktor hatte sich fast sofort wieder erholt.

Das Erstaunen der drei, als sie erblickten, wer ihre Retter waren, war unbeschreiblich.

Der Direktor hielt dem Gelehrten die Laterne vors Gesicht, fiel aber vor Schreck fast hintenüber.

»Sie!« rief er aus. »Sind Sie ein Gespenst oder ein Mensch?«

»Ein Mensch«, antwortete der Alte unter Lachen.

»Aber Sie sind ja beide entwichen.«

»Jawohl, aus den Zellen, aber nicht aus dem Gefängnis. Später werde ich Gelegenheit nehmen, Ihnen dies zu erklären; zunächst müssen wir uns vor Ueberrumpelung sichern. Wo sind Ihre Aufseher?«

Nun mischte sich der zweite Direktor ins Gespräch.

»Sie haben sich nach dem Weinkeller begeben,« sagte er. »Ein paar Aufseher hatten wir zur Bewachung, als die aber von einer Durchsuchung des Weinkellers hörten, verließen sie uns.«

Der Alte wies auf die Tür.

»Von draußen verschlossen,« sagte der Direktor. »Wir kommen von hier nicht fort.«

»Das ist auch nicht nötig«, entgegnete der Gelehrte. »Aber werden wir uns hier etwa eine Viertelstunde lang verteidigen können? Das Sprengen der Tür wird mindestens eine Viertelstunde dauern, wenn wir die Tür von innen verriegeln.«

»Rechnen Sie denn auf Hilfe?« fragte der Direktor.

»Wir können jeden Augenblick die Truppen erwarten.«

»Aber das ist ja unmöglich. Wer hat denn das Wachtkommando verständigt?« »Das habe ich getan.« »Wie denn?« »Per Telephon.«

»Das erste, was die Meuterer taten, war ja aber doch, die Telephonleitung zu durchschneiden.«

Der Alte zuckte mit den Achseln.

»Wir haben unser eigenes Telephon benutzt«, sagte er.

»Und damit retten Sie also das ganze Gefängnis«, sagte der Direktor bewundernd.

»Nicht nur das,« erwiderte der Alte, »ich rette auch die ganze Stadt. Die Aufrührer beabsichtigen, die Stadt zu plündern. Doch stille ... was war das?«

Ein entsetzlicher Lärm drang an ihr Ohr. Der Alte lachte.

»Dies Geräusch sollte ich kennen«, sagte er. »Das war ein Kanonenschuß. Die Truppen erzwingen sich Einlaß. Meine Herren, mit diesem Schuß ist der Aufruhr erstickt.«

Draußen entstand nun ein unbeschreiblicher Tumult, viele Fäuste bearbeiteten die Tür.

»Aufmachen! Wir wollen hinein!« rief es von draußen.

Eine einzelne Stimme hörte man sagen:

»Die Schufte, die hier hätten aufpassen sollen, sind betrunken. Seht, da torkeln sie. Schießt sie nieder, Kameraden!«

Die Menge draußen machte einen ohrenbetäubenden Lärm vor Wut und Aufregung; zwischendurch hörte man mehrere Pistolenschüsse.

Endlich vereinigten sich alle Rufe zu dem mächtig dröhnenden Ausruf: »Schlagt die Tür ein!«

Die Bretter der Tür waren jedoch dick und der inwendige Riegel fest. Die Kugeln, die draußen gegen die Tür abgefeuert wurden, drangen nicht durch.

Dann und wann wurde der Lärm vom Kanonendonner übertönt, der das ganze Gebäude erschüttern ließ.

Endlich war es den Meuterern gelungen, die Tür so weit zu sprengen, daß ein Mensch durch die Oeffnung den inneren Riegel zurückziehen konnte.

Ein kleiner schmutziger Kerl versuchte es; der zweite Direktor schlug ihn jedoch mit einem Hammer vor die Stirn, so daß er ohnmächtig zurücktaumelte.

Mittlerweile sandten die Meuterer dem Mann einen Hagel von Schüssen nach, so daß er, von mehreren Kugeln getroffen, zusammenbrach.

»Wir können's nicht hindern!« rief der Direktor erbleichend. »In weniger als einer halben Minute müssen die Truppen hier sein oder wir sind verloren.«

Da faßte der Gelehrte Harald Vik am Arm, indem er sagte:

»Nun werden Sie ihn doch wohl hergeben?«

»Was werde ich hergeben?«

»Den Revolver. Wir haben noch vier Kugeln. Geben Sie ihn mir zurück.«

Der Norweger beeilte sich, ihm die Waffe zu geben. In diesem Augenblick versuchte ein zweiter Aufrührer, von draußen durch die Oeffnung zu dringen, um den Riegel wegzuschieben.

Um dies zu verhindern, brauchte der Alte nicht erst das Schußfeld zu betreten. Er zielte von der Seite des Raumes und schoß. Der Meuterer fiel tot in die Arme seiner Kameraden zurück. Diese stießen einen fürchterlichen Wutschrei aus und schossen nun auf gut Glück in den Raum hinein, ohne indessen zu treffen.

»Ein wunderbarer Schuß,« sagte der Direktor, wobei er den Alten bewundernd betrachtete. »Genau den Kopf getroffen.«

»Eben über dem rechten Auge,« antwortete dieser ruhig, »eben da, wo ich ihn treffen wollte.«

Plötzlich hörte man draußen vor der Tür eine, brutale Stimme:

»Drauf, Kameraden, damit wir den Direktor in unsere Hände bekommen. Sein Leben soll uns retten.«

Ein anderer Meuterer kam nun in der Tür zum Vorschein, aber auch dieser wurde sofort von dem Alten niedergeschossen. Ein neuer zeigte sich – dann ein vierter.

»Mein letzter Schuß«, sprach der Alte.

Er zielte. Seine Hand zitterte nicht im geringsten. Er schoß.

»Getroffen«, flüsterte er, wobei er den Revolver gleichgültig zu Boden warf.

In diesem Augenblick entstand draußen neuer Waffenlärm. Schmerzensrufe ertönten, man vernahm Säbelgeklirr und Schüsse.

»Gott sei Dank!« rief der Direktor. »Das sind die Truppen.«

Ein paar Minuten später waren die Meuterer entwaffnet, und Soldaten drangen ein.

Der Direktor fiel dem Anführer um den Hals.

Der Alte und der Norweger wurden als Helden des Tages gefeiert.

Nach und nach fanden sich alle Autoritäten der Stadt im Gefängnis ein. Der oberste Staatsanwalt fragte, ob der Gelehrte irgendwelche Wünsche hätte, man würde alles tun, um sie zu erfüllen.

Indem er den Norweger anblickte, sagte er: »Ich hege nur einen Wunsch; und es wird Ihnen ein Leichtes sein, diesen zu erfüllen.«

»Bitte, sagen Sie.«

»Ich wünsche in einem grünen Auto von hier fortzufahren.«

So verließen denn der alte Gelehrte, das schwarzhaarige Mädchen und Harald Vik das Gefängnis in einem grünen Auto.

Durch eine wunderbare Fügung des Schicksals war es gerade dasselbe Auto, das Asbjörn Krag benutzt hatte, als er dem Gefängnis einen Besuch als ›hoher Gast‹ abstattete.

Mit seiner Braut, dem schwarzhaarigen jungen Mädchen, das er vom sicheren Tode gerettet hatte, reiste Harald Vik nach Norwegen.

Der Alte verlor sich im Gewoge der Großstadt, unbekümmert um sich und um andere. Das letzte, was seine Kameraden von ihm sahen, war sein schmutziger grauer Mantel. – – –

 

Harald Vik und seine junge Frau bewohnen nun eine kleine Villa in der Nähe Stavangers. Der Detektiv Asbjörn Krag hat sie unlängst dort besucht und einige ruhige Wochen in ihrem schönen Heim zugebracht.

Asbjörn Krag erinnerte sich noch genau des Alten, eines sonderbaren Kauzes, der mancherlei Verbrechen begangen, der aber auch – genial, wie er nun einmal war – Großes ausgerichtet hatte. Seinerzeit hatte er unter dem Namen Ingenieur Bara ganz Christiania auf den Kopf gestellt. Rastlos trieb er sich in aller Herren Ländern umher, eine der merkwürdigsten genialsten Erscheinungen des internationalen Verbrechertums. Asbjörn Krag war fest davon überzeugt, ihm in Zukunft noch einmal zu begegnen.

Wenn die Rede auf Asbjörn Krags Versuch, seinen Landsmann aus dem ›Schwarzen Stern‹ zu retten, kam, dann pflegte der Detektiv mit der ihm eigenen Bescheidenheit, die seine Freunde immer aufs neue entzückt, zu sagen:

»Er gelangte aufs Dach, und die Autoritäten glaubten, die Flucht sei wirklich vor sich gegangen. So bestätigt denn auch diese Geschichte wieder, daß mir nichts ganz mißlingt.«

 

* * *

Helikon-Verlag. Berlin W 9.


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