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Die redenden Mauern

Harald Vik saß auf dem Dachfirst ganz nahe bei dem Alten. Er fühlte, wie der Gelehrte vor Spannung zitterte und bebte.

»Bin ich mit dem ›Herald‹ verbunden?« fragte er wieder.

»Ich höre ein Sausen im Telephon,« flüsterte er dem Norweger zu. Zwei Sekunden lang saß der Alte unbeweglich und lauschte. Plötzlich durchzuckte es ihn.

Im Apparat antwortete eine Stimme, die von weither zu kommen schien:

»Nachtredaktion des ›Herald‹.«

»Hier das Gefängnis ›Der Schwarze Stern‹,« rief der Gelehrte. »Soll ich Ihnen eine Neuigkeit mitteilen?«

»Ist wieder jemand entwichen?«

»Nein, noch nicht.«

»Was ist denn los?«

»Wir können von hier aus weit draußen auf dem Meere ein brennendes Schiff sehen. Es scheint ein großer Dampfer zu sein.«

»Was?«

»Direkt vor dem großen Leuchtfeuer der Lotsenstation, mindestens drei Meilen seewärts nach unserer Beobachtung.«

»Danke sehr; wir werden die Sache näher untersuchen.«

»Wissen Sie sonst noch Neuigkeiten?« fragte der Gelehrte voller Spannung. »Ist in der Welt etwas Besonderes passiert?«

Eine andere Stimme antwortete jetzt durchs Telephon:

»Auf den französischen Präsidenten ist ein Attentat begangen worden.«

»Auf den französischen Präsidenten?« wiederholte der Alte.

»Es ist jedoch mißlungen«, fuhr die Stimme fort.

»Ist heute nacht sonst noch etwas geschehen?«

»Peary hat telegraphiert. Er hat großartige Resultate erzielt. Steht morgen im ›Herald‹. Sonst ist nichts Besonderes vorgefallen ... Ach ja, doch! Eine Neuigkeit, die Sie interessieren wird. Der Mann, der zum Tode verurteilt war und vor einigen Tagen aus dem Gefängnis entwich, soll ergriffen sein.«

»Nicht möglich! Wo denn?«

»In Buffalo. Der Polizeichef glaubt bestimmt, daß er den Rechten zu fassen bekommen hat. Er ist schon unterwegs nach hier.«

»Gut, wir werden darauf achten, daß er nicht wieder entweicht. Er scheint zwar ein Teufelskerl zu sein.«

»Ja, das stimmt; ein wahrer Teufel muß das sein.«

»Mehr können Sie uns also nicht erzählen?«

Der Gelehrte führte das Mikrophon an Harald Viks Ohr, so daß dieser ganz deutlich die Stimme antworten hörte: »Nein, mehr nicht. Besten Dank für die Mitteilung. Gute Nacht.«

Ein schwaches Sausen folgte diesen letzten Worten; es war das Abstellen des Apparates.

In der Dunkelheit befühlte der Norweger interessiert den Gegenstand, den er in der Hand hielt. Nun wußte er, daß es die Porzellantasse sein müsse, die er schon früher im Besitze des Alten gesehen hatte.

Dieser ergriff erregt seinen Arm.

»Nun, was sagen Sie?« rief er triumphierend.

»Großartig«, sagte Harald Vik leise. »Nur verstehe ich nicht, wie Sie das zustande gebracht haben.«

»Nun – mit Hilfe dieser Porzellantasse, dieser kleinen Drahtenden, die ich aus der Leitung gestohlen habe, und dem Handschuhleder. Es ist derselbe Apparat, nur viel einfacher, wie ihn die Telephonarbeiter benutzen, wenn sie während der Reparatur der Telephonleitungen mit dem Amt sprechen müssen. Endlich haben wir mit der Außenwelt Verbindung erlangt«, rief der Alte begeistert aus, indem er in die Hände klatschte. »Ist das nicht sonderbar, daß wir beide armen Flüchtlinge, die wir hier auf dem Dache des Gefängnisses sitzen, ohne jegliche Hilfsquelle, daß wir mit der größten Zeitungsredaktion der Welt in Telephonverbindung getreten sind. Aber das ist nur der Anfang.«

»Was kommt nun?« fragte der Norweger.

Der Alte wandte sich dem Blitzableiter zu, der in den schwarzblauen Nachthimmel hineinragte.

»Sehen Sie den da?« fragte er.

»Den Blitzableiter? Jawohl, von dem haben Sie schon früher geredet.«

»Der wird uns eine großartige Hilfe sein,« erwiderte der Gelehrte. Seine Stimme klang sehr überlegen. »Diese gewöhnliche Telephonverbindung finde ich recht veraltet. Wir müssen Moderneres ersinnen.«

»Was könnte das sein?«

»Nun, zum Beispiel drahtlose Telegraphie«, entgegnete der Gelehrte, indem er auf den Blitzableiter wies. »Wenn ich erst meine elektrische Batterie in Ordnung gebracht habe ...«

Harald Vik stand noch ganz im Banne des Gesprächs mit dem ›Herald‹, daß nichts von dem, was der Alte plante, ihm undurchführbar schien. Er machte jedoch den Einwand:

»Wenn nur nicht alle Ihre Experimente uns schließlich ins Verderben bringen.«

Da lachte der Alte laut auf. Es schien Harald Vik, als ob Wahnsinn aus dem langandauernden Lachen herausklang. Ihn graute.

»Warum lachen Sie so?« fragte er.

»Haben Sie gehört, daß sie mich in Buffalo ergriffen haben?«

»Wie?«

»Das wurde mir vom ›Herald‹ mitgeteilt. In Buffalo bin ich wieder erwischt und werde nun hierher transportiert. Hahaha!«

»Aha, nun verstehe ich, warum Sie sagten, daß man ihn gut bewachen würde, damit er nicht wieder entwiche.«

»Eben. Doch begeben wir uns jetzt heim. Es wird hier recht kühl.«

Der Alte ging.

Harald Vik warf noch einen Blick aufs Meer, wo das brennende Schiff noch stärker als vorhin aufflammte.

Da vernahm er hinter sich die Stimme des Alten:

»Sehen Sie dort den hellen Streifen im Hafen?«

»Ja, er bewegt sich.«

»Ich erkenne es genau,« sagte der Alte, »das ist die Pinasse des ›Herald‹. Vorn hat sie einen Scheinwerfer. Man ist schon auf dem Wege zum Wrack. Es ist das schnellste Schiff Amerikas. Kein Torpedoboot kann sich mit ihm an Geschwindigkeit messen. In zwei Stunden wird das Schiff draußen sein. Warten Sie einen Moment; mir fällt eben etwas ein.«

»Was denn?« fragte Harald Vik und näherte sich auf allen Vieren kriechend dem Alten.

»Wir müssen ein Fernglas haben, eigentlich zwei, ein Tages- und ein Nachtglas Es ist doch schade, daß es uns nicht möglich ist, eine so spannende Begebenheit, wie die da draußen, aus der Nähe zu betrachten.«

Hierauf antwortete Harald Vik nicht.

Als sie auf dem andern Dach angelangt waren und sich in der Nähe der Ruine befanden, fragte er:

»Glauben Sie, daß wir noch lange hier bleiben müssen?«

»Ich weiß es nicht; entweder entkommen wir nach wenigen Tagen, oder wir müssen noch sehr lange hier bleiben.«

Sie hatten nun die Ruine, ihre Wohnung, erreicht. Harald Vik wollte sogleich hineinkriechen; der Alte hielt ihn jedoch zurück.

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte er.

In der Dunkelheit konnte der Norweger zwar nicht sehen, was der andere vorhatte; er hörte jedoch ein Rascheln, von dem er glaubte, es kennen zu müssen.

Plötzlich flammte ein Licht in der Hand des Gelehrten auf.

»Zündhölzer!« rief der Norweger. »Sind das Zündhölzer?«

»Jawohl, zwei ganze Schachteln.«

»Haben Sie die auch fabriziert?«

»Nein, gestohlen. Schauen Sie.«

Er geleitete Harald Vik zum Eingang der Ruine, strich ein Zündholz an und hielt es durch die Oeffnung.

Harald Vik blickte hinein.

»Donnerwetter!« rief er aus und fuhr sogleich mit dem Kopf durch das Loch.

»Teufel noch mal, hier sieht's ja aus wie im Schlaraffenland.«

Im Häuschen sah er einen zierlich gedeckten Tisch, auf dem sich Wurst, Brot, Butter und eine Flasche Wein befanden.

Der Norweger kroch nun ganz ins Häuschen hinein; der Alte folgte ihm.

»Bitte, bedienen Sie sich«, sagte dieser. »Wir haben eine anstrengende Nacht hinter uns.«

Mit einem Zündholz zündete er eine Kerze an, wahrhaftig eine Stearinkerze.

Sprachlos stand Harald Vik da und betrachtete alle Herrlichkeiten.

»Tatsächlich eine Flasche Wein und schönes, frisches Brot!« sprach er vor sich hin. »Nun, das soll uns munden. Haben Sie auch dies gestohlen?«

»Gewiß.«

»Wann denn?«

»Wissen Sie denn nicht mehr, daß ich heute nacht in den Schornstein hinuntergestiegen bin, aus dem es zuweilen raucht? Ich stieg ganz hinab und gelangte in die Kantine. Hier fand ich diese Dinge vor. Hätte ich mehr Zeit gehabt, hätte ich mich noch besser versehen.«

»Glauben Sie denn nicht, daß man den Diebstahl entdecken wird?«

»Nein, das glaube ich nicht. Es sind dort unten so große Mengen Eßwaren, daß dieser kleine Diebstahl keineswegs an den Vorräten bemerkt werden wird.«

Schon war Harald Vik im Begriff, die Speisen mit Heißhunger zu verzehren.

»Lassen Sie uns einmal auf unsere nächtlichen Expeditionen zurückkommen«, sagte der Alte. »Ich will aber gleich bemerken, daß auch ich den merkwürdigen Lärm gehört habe, nur wußte ich gleich, woher das Geräusch stammte.«

Fragend betrachtete ihn der Norweger.

»Bemerkten Sie nicht,« fuhr der Alte fort, »daß das Geräusch nicht zufällig war? Es wiederholte sich in regelmäßigen Zwischenräumen.«

»Da haben Sie recht.«

»Demnach stammt es nicht von Ratten oder anderen Tieren, die sich innerhalb dieser Mauern aufhalten.«

»Nein, unmöglich. Dafür war das Geräusch auch zu stark.«

»Die Stärke des Geräusches ist nicht maßgebend. Bedenken Sie, wir befanden uns in den Schornsteinen, und diese sind in solch hohen Gebäuden die reinen Mikrophone.«

»Das ist wahr. Aber was, vermuten Sie, kann das Geräusch hervorgebracht haben?«

»Zweifellos sind es Menschen, Gefangene.«

»Aber mit welcher Absicht?«

»Offenbar waren Sie früher noch nie im Gefängnis«, erwiderte der Alte nachsichtig.

»Nein, es ist das erste Mal. Aber Sie?«

»Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich schon zweimal zum Tode verurteilt war. Alles in allem habe ich wohl einige Jahre im Gefängnis gesessen. Fragen Sie Ihren norwegischen Freund Asbjörn Krag; der weiß schon, weswegen. Während meines langen Gefängnisaufenthalts habe ich auch gelernt, wie sich die Gefangenen miteinander verständigen.«

»Aha, durch Klopfen. Davon habe ich auch gehört.«

»Sowohl durch Klopfen als auch durch Kratzen«, vervollständigte der Alte. »Jetzt telegraphieren sie nach einem neuen System, da das alte unter den Beamten gar zu bekannt ist.«

»Mit anderen Worten: wir hörten das Gespräch der Gefangenen untereinander?«

»Jawohl.«

»Es schien mir jedoch, als ob das Geräusch sich durch das ganze Gebäude fortpflanzte.«

»Das war ja gerade das Interessante daran; sonst hätte es überhaupt gar keine Bedeutung für uns gehabt.«

»Sie unterhielten sich natürlich miteinander.

Wenigstens ein Zeitvertreib für diese armen Menschen. Womit sollten sie sich auch sonst beschäftigen?«

»Sie irren sich,« entgegnete der Alte, »einer fragte, und die andern antworteten alle.«

»Höchst sonderbar!«

»Erinnern Sie sich noch, wo Sie sich befanden, als Sie das Klopfen zum ersten Male vernahmen?«

Harald Vik dachte nach.

»Ich vermute, im sechsten Stock«, antwortete er.

»Das stimmt. Dort hörte auch ich das Klopfen. Mein erster Gedanke war: Wer mag wohl in diesem Teile des Gebäudes gefangen sitzen? Da fiel mir ein. daß die Verschwörerbande der Crawbury-Affäre, zu der Sie gehörten, nach Ihrer Flucht hierher verlegt worden ist. Der Aufseher hat es mir gesagt. Er erzählte mir auch, wo die Zelle des Anführers Crawbury läge. Es war die gesichertste Zelle im ›Schwarzen Stern‹. Durch intensives Hinhorchen und genaues Berechnen der Lage der Zellen kam ich schnell zu dem Resultat, daß das Klopfen und Kratzen aus Crawburys Zelle herrühren müsse. Danach verbreitete sich das Geräusch durch alle Zellenwände. Es war, als hätte er ein Signal oder einen Befehl gegeben, den alle andern weitergehen ließen. Die Antworten gelangten wieder zu ihm zurück.«

»Glauben Sie –?« fragte Harald Vik, indem er aufblickte. In der einen Hand hielt er ein Stück Wurst, die Weinflasche in der andern.

»Ich glaube, dieser verflixte Crawbury bereitet eine neue Verschwörung vor. So leicht gibt der seinen Widerstand nicht auf. Darin stimme ich mit ihm überein.«

»Er ist ein Schurke«, warf der Norweger dazwischen. »Uns alle hat er verraten wollen, um seine eigene Haut zu retten.«

»Schurke oder nicht, das ist hier gleichgültig. Er wird uns einen großen Dienst tun.«

»Haben Sie etwas von dem verstanden, was er telegraphierte?«

»Ja, einen ganzen Satz und ein einzelnes Wort. Beides schien mir jedoch gleich unverständlich zu sein.«

»Was war es?«

»Der Satz lautete: Sind alle über die Hände unterrichtet?«

»Die Hände? Das klingt sonderbar. Wie war die Antwort?«

»Die Antwort konnte ich nicht verstehen.«

»Und das Wort? Wie lautete das?«

»Ja, das ist noch rätselhafter. Es kam mitten in einem langen Satz vor, von dem ich sonst nicht das geringste verstand. Das Wort hieß Museum.«

»Museum! Es wird immer unverständlicher. Was mag er damit meinen?«

»Ich weiß nicht. Ich habe schon hin und her überlegt. Morgen findet die Eröffnung der jährlichen Ausstellung im Nationalmuseum statt.«

»Der Präsident wird daran teilnehmen«, bemerkte Harald Vik.

»Ich hab's«, erwiderte der Alte. »Diese Leute sind ja Terroristen. Vielleicht soll beim Besuch des Präsidenten im Museum etwas passieren. Vielleicht unternehmen ihre Freunde außerhalb des Gefängnisses etwas gegen den Präsidenten. Ida weiß nicht recht ... Doch nun sehe ich den Tag dämmern«, unterbrach er sich plötzlich. »Sie haben noch die ganze Nacht nicht geschlafen, junger Mann. Sind Sie nicht müde?«

»Ja, ich bin entsetzlich müde«, murmelte Harald Vik schlaftrunken. Und schon nickte er ein.

Der Alte legte sich jedoch nicht schlafen. In seiner Lieblingsstellung, die Knie unterm Kinn, saß er da; er überlegte.

Der Norweger mochte einige Stunden geschlafen haben, als er von einem gewaltigen Rückenstoß erwachte. Der Alte hatte ihn geweckt.

»Was ist los?« fragte der Norweger schlaftrunken.

»Jetzt hab' ichs!« entgegnete der Alte. Seine Stimme klang so erregt, daß Harald Vik sofort ganz wach wurde.

»Was haben Sie denn?«

»Jetzt weiß ich die Bedeutung des Wortes ›Museum‹. Und Sie sind es, der mich darauf gebracht hat.«

»So?«

»Sie sagten mir doch, daß Sie unten im Schornstein das Gespräch zweier Männer belauscht hätten. Sprachen diese Männer nicht von Waffen?«

»Jawohl, von dreihundertvierundfünfzig Revolvern sprachen sie.«

»Und fünfzehnhundertsechzig Messern?«

»Ganz recht.«

»Dann weiß ich, was das Wort ›Museum‹ bedeutet. Ich muß aber noch ausfindig machen, was er mit den Worten ›alle über die Hände zu unterrichten‹ meint.«

»Wie wollen Sie das?«

»Kommen Sie mit, dann will ich es Ihnen zeigen.«

Beide krochen sie aus der Ruine ins Freie. Mittlerweile war es ganz hell geworden.

Als sie draußen waren, sagte der Alte, indem er auf eins der Seitendächer wies:

»Auf jenes Dach müssen wir hinabsteigen.«

Sie gingen dorthin.

Plötzlich hielt der Alte inne und taumelte einige Schritte zurück. Zum ersten Male gewahrte Harald Vik, daß sich ein deutlicher Schreck in seinem Antlitz spiegelte.

Als der Norweger nachsehen wollte, was die Ursache seines Erschreckens gewesen war, war es auch ihm, als sollte das Blut in seinen Adern erstarren.

Kaum zehn Schritte von ihnen stand ein Fremder mit einem Revolver in der Hand.


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