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Ein Robinson auf dem Gefängnisdach

Harald Vik saß mäuschenstill im Innern des Schornsteins und wartete, bis die schweren Schritte vorübergegangen waren und das Gespräch der beiden Wachtposten sich nach oben hin verloren hatte.

Noch ist es nicht zu spät, dachte der Flüchtling, noch hat die Uhr nicht zwei geschlagen. Ich will es doch noch versuchen, auf den Hof und von dort über die Mauer zu gelangen.

Er versuchte die eiserne Klappe, die in den Schornstein führte, zu öffnen, entdeckte aber zu seinem Entsetzen, daß die Klappe eingeschnappt war, so daß er nicht imstande war, sie von innen zu öffnen.

Ein halblauter Fluch entfuhr seinen Lippen. Nun hatte er sich selbst eingesperrt. Wie, wenn er versuchte, den Schornstein hinabzusteigen? Er mußte doch wohl in eine darunterliegende Küche münden.

Er vermutete, daß der Schornstein nicht benutzt würde. Im ganzen Gefängnis war schon längst Zentralheizung und Gaslicht; der Schornstein war aber gewiß schon seine hundert Jahre alt. Der Ruß an den Wänden war hart wie Stein.

Intensiv horchte er etwa eine Minute lang. Von irgendwoher kam ein Geräusch, das ein altes Uhrwerk vermuten ließ.

Plötzlich ließ ihn ein lautes und schrilles Glockenzeichen zusammenfahren; gleich darauf wiederholte es sich noch einmal; dann war alles wieder still. Die Uhr im Gefängnisturm hatte zwei geschlagen. Wieder lauschte der Flüchtling. Nein, nun war kein Laut zu hören. Die Extrarunde war scheinbar vorüber.

Er begann, den Schornstein hinabzusteigen, indem er die Schultern gegen die eine und die Füße gegen die andere Wand stemmte; in dieser Weise schob er sich dann hinunter. Dann und wann konnte er in einem der Löcher, die für die Schornsteinfeger in der Wand angebracht waren, festen Fuß fassen. Er vermutete, daß er sich hoch oben im Schornstein befände, und daß er noch sehr tief sein müsse, denn eine recht fühlbare Kälte schlug ihm von unten her wie aus einem Abgrund entgegen.

Dann aber mußte er plötzlich innehalten, denn nun hörte er, daß mit einem Male zwei schwere Glocken vom Gefängnisturm zu läuten begannen. Dies war nicht der gewöhnliche, feierliche Glockenton; es waren heftige, schnelle Schläge, die dem Flüchtling durch Mark und Bein gingen. Gleichzeitig hörte er eilige Schritte auf den Treppen und das Summen vieler und aufgeregter Stimmen. Er wußte wohl, was dies Läuten und dieser Lärm zu bedeuten hatten: die Flucht war entdeckt.

Harald Vik dachte: Nun haben sie die offene Tür in meiner Zelle entdeckt. Augenblicklich werden alle Ausgänge des Gefängnisses besetzt werden, und vermutlich werden sie auch die Strickleiter gefunden und sie von der Mauer heruntergerissen haben. Die Flucht ist total mißlungen.

Sollte er sich zu erkennen geben? Sollte er weiter abwärts steigen, bis er auf den Grund des Schornsteins gelangen würde, und von da auf den Hof hinausgehen, um dort zu sagen: »Hier haben Sie mich, meine Herren?«

Seine Grübeleien wurden dadurch unterbrochen, daß er tief unter sich eine menschliche Stimme hörte. Die einzelnen Worte konnte er nicht unterscheiden; aber immer stärker werdend und immer polternder stieg die Stimme wie durch den Trichter eines Phonographen durch den Schornstein zu ihm empor.

Unwillkürlich begann er nach oben zu steigen, so lautlos, wie es ihm möglich war. Schritt für Schritt arbeitete er sich durch den engen Schornstein wieder hinauf. Er kam an der eisernen Klappe vorbei, hier hielt er einen Augenblick still, stieg aber weiter, als er nichts hörte.

Je höher er stieg, je mehr fühlte er, daß die Luft schärfer und reiner wurde. Demnach war der Schornstein also nicht gedeckt, so daß er auf das Dach hinaus gelangen konnte, und da würde er vorläufig einigermaßen in Sicherheit sein.

Nach halbstündiger übermenschlicher Anstrengung war er endlich oben auf dem Dache angelangt. Ein schräges Blechdach bedeckte einen Teil der Oeffnung des Schornsteins, doch war zwischen diesem und der Blechhaube noch so viel Raum, daß er leicht hindurchkriechen konnte. Er beugte den Kopf über den Schornsteinrand und blickte hinunter. Ein frischer Wind wehte über das Dach hinweg und kühlte seine heiße Stirn. In vollen Zügen trank er die frische, reine Luft.

Vom Rand des Schornsteins bis zum Dach, das nach beiden Seiten gleichmäßig schräg abfiel, war kaum ein Meter. Der Flüchtling kroch aus der Oeffnung hervor und sprang aufs Dach. Er blieb hier ganz still liegen und blickte sich eine Zeitlang um, halb betäubt von dem, was er erlebt hatte.

Noch war es ganz dunkel. Tief unter ihm lag die Stadt, dies düstere, steinerne Meer, von tiefen Straßen kreuz und quer durchfurcht. Im Zentrum der Stadt glänzten die Straßen wie Lichtstreifen, ganz deutlich konnte er Automobile und Wagen hin und her fahren sehen. Menschen waren wegen der weiten Entfernung kaum zu erkennen, wie schwarze Punkte, die sich langsam auf den Fußsteigen vorwärts bewegten, sahen sie aus. Kirchtürme ragten aus dem Dunkel der Steinkolosse hervor. Von vielen Türmen ertönten nun gleichzeitig Glockenschläge. Die Uhr war halb drei.

Der Flüchtling kroch nun ganz bis ans Dachgesims und sah hinunter. Harald Vik hatte das Gefühl, als befände er sich oben auf einer alten Burg. Der Mittelbau des ›Schwarzen Sterns‹ erinnerte nicht wenig an die Bastille. Das ganze Dach war von einer meterhohen, gezackten Mauer umgeben, Schießöffnungen vergleichbar.

Aus einer solchen Oeffnung blickte der Flüchtling hinaus. Er kannte die große Stadt sehr gut. Sofort war er orientiert. Dort unten in der breiten, hellerleuchteten Straße dicht an der Gefängnismauer lag ›New Holborn‹. Vor dem Cafe sah er einige Wagen stehen; der dritte in der Reihe mußte wohl Asbjörn Krags sein. Lange lag er da und starrte den Wagen wie behext an; zuletzt sah er noch, daß er abfuhr. Der Detektiv mußte alle Hoffnung aufgegeben haben. So, nun verschwand der Wagen an der Straßenecke und war im Dunkel der Nacht verschwunden.

Sehnsuchtsvoll blickte Harald Vik nach dem Hafen, wo viele rote und grüne Lichter die Kais bezeichneten. Der Hafen lag gegen Osten. Weit draußen stand ein Leuchtfeuer, das dann und wann sein Licht aufflammen ließ. Der Tag begann zu grauen, wunderbar stieg die Morgenröte aus dem Meer empor.

Nun aber das Gefängnis! Wie sah es aus, dort unten im Gefängnishof? Hatte man aufgegeben, nach ihm zu suchen? Hatte man die Strickleiter gefunden?

Der Flüchtling kroch nun quer übers Dach, das nach dem Regen noch ganz naß war. Bald fühlte er, wie seine Kleidung ganz durchweicht und klebrig war. Endlich gelangte er auf die andere Seite. Unten auf dem Gefängnishofe herrschte reges Leben und Treiben; eine Anzahl von Beamten liefen mit schwankenden Laternen hin und her. Anscheinend hatte die Flucht großes Entsetzen hervorgerufen.

Aus Asbjörn Krags Anweisungen wußte Harald Vik, daß sich die Strickleiter an der Stelle befinden müsse, wo die Gefängnismauer die Winstonstreet kreuzte. Er blickte dahin und gewahrte einen großen Auflauf. Demnach hatte man die Strickleiter entdeckt. Nun konnte von einer weiteren Flucht keine Rede mehr sein. Er war unweigerlich im ›Schwarzen Stern‹, dem größten Gefängnis der Welt, eingekerkert. Wie viele Minuten oder Stunden mochten noch vergehen, bevor man seinen Aufenthalt entdeckt und ihn in seine Zelle zurückgeführt hatte.

Plötzlich wurde es ihm aber klar, daß er trotz allem vorläufig in Sicherheit war. Dieses hatte gerade der Fund der Strickleiter bewirkt.

Die Gefängnisbeamten mußten natürlich annehmen, daß dem Norweger die Flucht gelungen sei, da sie ihn nirgends fanden. Sie glaubten selbstverständlich, daß er mit Hilfe der Strickleiter über die Mauer entkommen sei. Die Polizei würde alle Kräfte daran wenden, ihn in der Stadt ausfindig zu machen; der Gedanke, daß sich der Flüchtling innerhalb der Gefängnismauern befinden könne, würde ihnen wohl kaum kommen; noch weniger würden sie vermuten, daß er auf das Gefängnisdach entschlüpft sei.

Nachdem Harald Vik sich über seine Lage klar geworden war, fühlte er, wie eine todähnliche Müdigkeit ihn überwältigte. Mehrere Tage hatte er nicht geschlafen, und nun kam die Reaktion nach den ungeheuren Anstrengungen und der gewaltigen Nervenanspannung.

Wo er sich eben befand, legte er sich ungeachtet der Nässe nieder und fiel gleich darauf in einen tiefen, erquickenden Schlaf.

Als der Flüchtling erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel; ein heller, herrlicher Tag war angebrochen. Seine Kleidung sowie das Dach waren mittlerweile trocken geworden.

Harald Vik lag noch geraume Zeit, ehe er sich recht besinnen konnte. Anfangs war es ihm nicht ganz klar, wo er sich befand. Die Ereignisse der Nacht durchjagten in verworrenen Bildern sein Hirn. Schließlich kam ihm zum Bewußtsein, daß er sich noch auf dem Dach des Gefängnisses befinde und noch nicht entdeckt sei.

Eine tiefe Traurigkeit überfiel ihn. Seine Lage war entsetzlich. Nicht die geringste Hoffnung bestand jetzt mehr für ihn, aus dem Gefängnis zu entkommen, da die Kontrolle und die Wache nach den Ereignissen der Nacht selbstredend noch verschärft worden war. Gleichzeitig freute er sich jedoch darüber, daß er in einer Weise noch seine Freiheit besaß. Die Polizei würde ihn weit von hier in irgendeiner der dunkeln Verbrecherkneipen der Stadt vermuten. Nur durch einen Zufall würde man ihn entdecken. Darüber würde wahrscheinlich noch einige Zeit vergehen; aber er konnte auch damit rechnen, daß es schon in wenigen Stunden geschehen könnte.

Der Flüchtling erhob sich nun und sah über das Dach hinweg, das so breit war, daß es die darunterliegende Stadt vor seinen Blicken verbarg. Ein sonderbares Gefühl ergriff ihn: hier war er also ganz allein, mitten in einer großen Stadt und zwischen mehreren Millionen Menschen. Zu seinen Füßen schliefen Tausende; und dennoch war er ein Robinson. Mit keiner Menschenseele konnte er hier in Verbindung kommen. Er war darauf angewiesen, alles selbst zu entwirren. Nun stand er mit leeren Händen hier oben auf dem Dach. Seine Lage war wahrhaftig entsetzlicher als die Robinson Crusoes. Was war zu tun? Woher sollte er sich Essen verschaffen? War irgendeine Möglichkeit vorhanden, ohne entdeckt zu werden, ins Gefängnis zurückzugelangen, um Lebensmittel zu erlangen? Es wurde ihm gleich klar, daß, wenn es ihm nicht gelänge, Lebensmittel herbeizuschaffen, es bald mit ihm zu Ende sein würde. Er würde gezwungen sein, sich zu stellen. Erst wollte er jedoch alles versuchen.

Der Schlaf hatte ihn erquickt; nun merkte er, wie der Selbsterhaltungstrieb Mut und Energie in ihm wachrief. Er entschloß sich zu einer Entdeckungsreise über das Dach.

Wenn er nicht ganz bis an den Rand des Daches ging, konnte er sich bewegen, wo er wollte, ohne zu riskieren, entdeckt zu werden. Sein Aufenthaltsort war der höchste Punkt in vieler Meilen Umkreis; die höchsten Kirchtürme ragten nicht bis hier hinauf.

Auf seiner Wanderung stieß er auf mehrere alte Schornsteine, die ebensowenig benutzt wurden wie der, durch den er hinaufgekommen war. Im übrigen war das Dach mit vielen Anbauten und Ausbauten versehen und war so groß, daß ein Bataillon Soldaten hätte darauf exerzieren können. Plötzlich entdeckte er, daß ein leichter Rauch über das Dach hinwegzog. Demnach mußte also doch noch ein Schornstein benutzt werden. Sogleich entdeckte er ihn auch; er war noch ganz neu. Aus seiner Lage konnte der Flüchtling ersehen, daß er in die Privatwohnung des Direktors führen müsse.

Harald Vik ging ganz bis an den Rand des Daches. Von hier aus sah er nach den anderen Gefängnisgebäuden hinüber, die strahlenförmig von dem ursprünglichen Gebäude ausgingen, auf dessen Dach er sich befand. Es wäre ihm gar nicht schwergefallen, auf eines der anderen Dächer zu gelangen; im hellen Tageslicht war es jedoch immerhin mit einigem Risiko verbunden. Gar zu leicht hätte man ihn von einem der oberen Gitterfenster entdecken können. Er wollte damit bis nach Eintritt der Dunkelheit warten.

Er setzte sich nieder, indem er den Rücken an einen größeren Aufbau von Ziegelsteinen, den Resten eines alten Wachtturmes, lehnte. Die Sonne wärmte; ein sanfter Wind umspielte ihn. Lange Zeit saß er da und schaute vor sich hin. Von hier aus hatte er einen wunderbaren Blick über die Riesenstadt, die wie ein ungeheurer Fächer vor ihm ausgebreitet lag. Die Straßen sahen aus wie Ströme dunklen Wassers; so dicht war das Menschengewoge. Von seiner Höhe konnte er nicht mehr die einzelnen Menschen unterscheiden; er sah nur den Strom. Die Dächer der Omnibusse und Straßenbahnen machten den Eindruck, als seien sie treibende Balken auf den Wellen.

Eine Zeitlang amüsierte es ihn, die Eisenbahnzüge, die in wahnsinniger Eile über Dächer und Brücken dahinrollten, zu betrachten. Er erinnerte sich genau der verschiedenen Abfahrtszeiten der Züge aus den Tagen seiner Freiheit dort unten in der Stadt. Da fährt der Zug 3.12, dachte er bei sich, und von der Station kommt der Zug 3.21. Dann sagte ihm dieses Spiel nicht mehr zu, und er begann statt dessen die vielen vergoldeten Kirchturmspitzen zu zählen, worauf die Sonnenstrahlen tanzten. Es tauchten aber immer mehr Kirchturmspitzen auf, so daß er sich verzählte. Seine Augen erblickten in weiter Ferne das grüne Land, Felder, Gärten und Aecker, die weit hinter dem Häusermeer freundlich hervorlugten. Nach der andern Seite sah er hinaus aufs Meer, das seinen mächtigen Arm der Stadt entgegenstreckte und sie in seiner großen Faust gleichsam festzuhalten schien. Auf dem Meere bewegte sich eine Menge schwarzer Punkte. Es waren Dampf-Schiffe, deren Rauchfahnen sich draußen in Luft und Wasser verloren. Er hatte einen Ausblick von hier, um den ihn ein König beneiden konnte.

Plötzlich schrak er zusammen. Vernahm er da nicht Stimmen, menschliche Stimmen? Die Laute schienen von der anderen Seite des Anbaues zu stammen. Gleichzeitig hörte er ein Sausen in der Luft, wobei ein leichter Schatten über ihn dahinglitt. Nun wußte er, was es war: Tauben.

Er rief ihnen laut einige gleichgültige Worte zu, um sie zu verscheuchen. Im Augenblick wurde ihm ganz seltsam zumute, als er seine eigene Stimme hörte. Sie klang so merkwürdig in seinen Ohren. Mit Lärm und Flügelschlagen flog eine Schar Tauben auf, flatterte eine Zeitlang umher, ließ sich aber bald wieder nieder.

Er freute sich, daß auch noch andere Lebewesen als nur er allein sich hier oben befanden, und es kam ihm der Gedanke: hätte ich nur etwas hier, womit ich die Tauben fangen könnte, dann hätte ich Nahrung genug für viele Tage.

Er hatte jedoch nichts, um sie zu fangen.

Nun begann er zu fühlen, daß er entsetzlich hungrig sei.


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