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Das unbekannte Luftschloß

»Wie sind Sie in den Besitz der Waffe gelangt?« fragte der Norweger.

»Ich habe sie dem, der dort drüben liegt,« – damit wies er nach seinem früheren Zellenfenster – : »einfach weggenommen. Er wird sie wohl entbehren, wenn er erwacht.«

Dabei lachte er höhnisch und verschmitzt. Harald Vik packte ihn erschreckt am Arm.

»Ja,« entgegnete der Gelehrte, »er erwacht ganz bestimmt. Ich werde nämlich nicht zum Mörder, wenn es nicht absolut nötig ist.«

»Dann ist er also nur ohnmächtig?«

»Er schläft.«

Dem Norweger wurde recht unheimlich zumute; er wollte daher das Gespräch auf ein anderes Thema überleiten.

»Es wird wohl am besten sein, die Tauben zu holen«, sagte er. »Es weht ziemlich; der Sturm könnte sie uns leicht entführen.«

»Ja, holen Sie die Tauben«, murmelte er.

Harald Vik schlich über das Dach und ergriff die beiden erlegten Tauben.

Bei der einen war der Schuß mitten durch die Brust gegangen und hatte sie sicherlich gleich getötet; die andere lebte noch, als Harald Vik sie aufhob. Um ihren Qualen ein Ende zu machen, packte er sie mit festem Griff und erwürgte sie.

Als er zum Wachtturm zurückkam, erblickte er etwas, das ihn, trotz all des Unheimlichen, das ihn umgab, zum Lachen zwang, weil es so drollig wirkte.

Der Gelehrte hatte nun so viele Steine entfernt, daß er den Versuch wagen konnte, durch das Loch in der Mauer zu kriechen.

Er war jedoch zu ungeduldig gewesen. Nun saß er fest und konnte weder vor- noch rückwärts kommen. Die Beine des kleinen Mannes und der äußerste Zipfel seiner Kleidung bewegten sich kläglich in der Luft.

Harald Vik hörte ihn von drinnen durch die Oeffnung rufen: »Helfen Sie mir! Ich ersticke!«

Der Norweger ging zu ihm und versuchte ihn herauszuziehen; es war ihm aber nicht möglich. Schließlich entdeckte er, daß sich der Alte selbst sträubte. In diesem Augenblick klatschte ein Regenguß prasselnd aufs Dach nieder, so daß Vik nicht verstehen konnte, was der andere sagte. Sowie sich aber der Lärm gelegt hatte, hörte er die ärgerliche, jammernde Stimme des Alten aus dem Innern: »Sie Schafskopf! Sie Schafskopf! Ich will doch nicht wieder heraus! Hinein will ich!«

»Ach so«, rief Harald Vik und schob aus allen Kräften nach.

Es kam ihm vor, als müsse der hagere Körper des kleinen Mannes zwischen den Steinen zerbrechen. Schließlich glitt er hinein; denn Harald Vik sah seine Stiefelsohlen in dem dunklen Loch verschwinden. In diesem Moment flog eine Schar aufgeschreckter Tauben aus der entgegengesetzten Seite des Wachtturms heraus.

Der Norweger wartete mehrere Minuten lang in größter Spannung.

Endlich streckte der Alte sein unheimliches, bärtiges Gesicht aus der Oeffnung hervor.

»Sie haben Glück!« sagte der Gelehrte. »Sie haben riesiges Glück!«

»Wie meinen Sie das?« fragte Harald Vik.

»Hier in dieser Ruine ist Platz genug vorhanden; es ist Raum da für uns beide.«

»Dann sind Sie also in derselben glücklichen Lage«, sagte der Norweger, dem die egoistischen Aeußerungen des andern nicht gefielen.

»Nein,« erwiderte der Gelehrte und lachte wiederum in seiner unheimlichen Weise, »Sie sind derjenige, der von Glück sagen kann; denn daß für mich Platz vorhanden war, wußte ich. Verbergen müssen wir uns. Und wäre nicht für beide Platz gewesen, dann hätten Sie das Dach verlassen müssen. Ich hätte es nicht geduldet, daß Sie hier oben herumspazierten mit der Möglichkeit vor Augen, daß vielleicht schon morgen eine Untersuchung in Gang gesetzt wird.«

»Wo hätte ich denn bleiben sollen?« fragte Harald Vik verwundert.

»Hehe, ich hätte Sie vielleicht erwürgen und in einen der alten Schornsteine hinabwerfen müssen.«

Der Norweger fuhr zusammen. Betrachtete er das Gesicht des Alten, wie es jetzt aus dem Loch in der Mauer hervorlugte, so wurde ihm ganz beklommen. Der alte Mann sah aus wie ein Geier im Käfig. Er glaubte jetzt bestimmt, es mit einem Wahnsinnigen zu tun zu haben; dachte jedoch, es sei das klügste, ihn mit Nachsicht zu behandeln.

Er schlug einen scherzhaften Ton an und sagte: »Ich wäre aber doch der Stärkere.«

»Sie sind größer,« entgegnete der Alte, »aber stärker sind Sie nicht.«

»Das möchte ich wohl mal sehen!«

»Der Aufseher in der Zelle war ein Riese,« fuhr der andere fort, »und doch war es mir ebenso leicht, ihn zu überwältigen, wie mir das Erwürgen einer Taube sein würde.«

Den Norweger schauderte; aber er bezwang sich und lachte, als ob alles nur Scherz sein sollte.

»Außerdem haben Sie ja den Revolver«, sagte er.

»Es sind aber nur noch vier Kugeln darin«, antwortete der Gelehrte. »Das ist schon sehr wenig; Ihnen werde ich keine Kugel opfern. Haben Sie die Tauben?«

Harald Vik hielt dem andern die Vögel vor die Augen.

»Leckeres Zeug«, sagte er. »Das gibt für jeden einen netten kleinen Braten ab.«

»Ganz recht. Für jeden einen Braten.«

»Ich fürchte, wir werden sie roh verzehren müssen.«

»Das werde ich niemals tun. Als ich mich noch meiner Freiheit in der großen Stadt erfreute, sagte man mir nach, ich sei ein Feinschmecker. Wie können Sie nur auf den Gedanken kommen, daß ich mich so weit erniedrigen könnte, rohes Fleisch zu essen?«

»Weil ich keine Möglichkeit sehe, die Tauben, braten zu können. Dazu brauchen wir doch Feuer.«

»Ganz recht.«

»Und dazu haben wir Feuerholz nötig.« Der andere nickte.

Mit steigender Lebhaftigkeit fuhr Harald Vik fort: »Und eine Pfanne müßten wir haben.«

»Vollkommen richtig. Geröstete Tauben mag ich nicht.«

»Etwas Butter zum Braten.«

»Jawohl.«

»Wir haben nichts von allem.«

»Aber wir können es uns verschaffen.«

»Wie wollen Sie sich das alles verschaffen?« fragte Vik. »Hier oben auf dem Dach?«

»Selbstverständlich, wo denn sonst? Meinen Sie, daß ich etwa zum Gefängnisdirektor hinabsteigen und ihn darum ersuchen werde? Der Direktor ist mein Feind. Ich wünsche nicht, ihn um etwas zu bitten.«

»Ich glaube, Sie sind verrückt«, entfuhr es Harald Vik.

Der andere lachte laut.

»Das haben schon viele geglaubt«, sagte er. »Ich fasse diesen Ausruf als Kompliment auf; für Schmeicheleien bin ich empfänglich. Zum Dank erlaube ich mir, Sie für morgen früh zu einem bescheidenen Frühstück hier oben auf dem Dache einzuladen.«

»Besten Dank, ich fange schon an, hungrig zu werden.«

»Das freut mich; Sie müssen aber mit der größten Einfachheit in der Anrichtung vorlieb nehmen. Ich bedaure sehr, Ihnen noch keinen Wein bieten zu können.«

Der Norweger lachte.

»Dagegen werde ich Ihnen zu den gebratenen Tauben ganz delikates Gemüse vorsetzen. Das wird ein Genuß werden, nicht wahr?«

»Vortrefflich!«

»Schon gut. Lassen Sie uns die Zeit durch dies unnütze Geschwätz nicht vergeuden.«

Während des Gespräches hatte der Alte mehrere Steine losgelöst, so daß die Oeffnung bedeutend größer geworden war.

»Wollen Sie nicht einen Blick in unsere gemeinsame Wohnung werfen?« fragte er.

Harald Vik überlegte einen Augenblick.

»Sind Sie ängstlich?« rief der andere halb überrascht, halb ärgerlich aus. »Ach so, Sie sind auch ängstlich!«

»Ich bin nicht ängstlich.«

»Dann müssen Sie hereinkriechen. Es bleibt Ihnen schlechterdings keine andere Wahl.«

Der Gelehrte zog sich nach innen zurück, und Harald Vik steckte den Kopf durch die Oeffnung. Sofort schlug ihm der herbe Geruch alten Mauerwerks entgegen.

»Weiter!« hörte er die befehlende Stimme des andern.

Mit Hilfe der Ellbogen hob er sich über die Mauerkante und kroch durch die Oeffnung.

»Hier ist es weich!« rief er überrascht aus, als er im Innern der Ruine angelangt war. Der Alte lachte.

»Wir befinden uns hier in einem großen Taubenschlag«, sagte er. »Sie sind auf ein Nest gefallen, voller Federn und Stroh, welches die Tauben jahrelang zusammengetragen haben. Ein angenehmer Duft herrscht hier gerade nicht: aber vorläufig müssen wir uns damit abfinden.«

»Hier ist ein unerträglicher Zug«, sagte der Norweger.

»Was schließen Sie daraus?«

»Daß ich an der entgegengesetzten Seite dieses Loches selbstverständlich eine Oeffnung befinden muß«, entgegnete Vik.

»Ganz recht; aber das hätte Ihnen gleich klar sein müssen, als die Tauben bei meinem Eindringen in die Ruine hinausflogen.«

Hierauf erwiderte der Norweger nichts.

»Stehen Sie auf!« befahl der Alte.

Harald Vik erhob sich, stieß aber mit dem Kopf gegen die Decke. Unwillkürlich stieß er einen Schmerzensschrei aus und wäre beinahe vornübergefallen.

»Schon gut«, sagte der Gelehrte ruhig. »Ich wollte nur festgestellt haben, wie hoch es hier zur Decke ist. Ich kann hier aufrecht stehen. Es tut mir leid, daß das Haus für Sie nicht ebenso bequem ist.«

Traurig setzte sich Harald Vik wieder auf den Fußboden. Die Rücksichtslosigkeit des andern entwaffnete ihn vollständig.

»Im übrigen kann ich Ihnen mitteilen,« fuhr der andere fort, »daß dieser Raum ein ziemlich gleichmäßiges Viereck von etwa zwei Meter Breite darstellt. Sie müssen zugeben, daß für zwei Personen der Platz vollkommen ausreicht.«

Der Norweger fuhr zusammen, von draußen ertönte lautes Sausen.

»Das Glück ist uns gewogen,« murmelte der Alte, »nun fängt es wieder an, stark zu regnen. Jetzt gilt es, die Gelegenheit zu benutzen.«

Trotz der Dunkelheit konnte Harald Vik dennoch erkennen, daß der Alte ein weißes Taschentuch hervorzog, das er in die kleine Oeffnung steckte, durch die die Tauben davongeflogen waren.

»Was machen Sie da?« fragte er.

»Ich experimentiere. Sie vergessen wahrscheinlich, daß ich Gelehrter bin.«

»Kann ich Ihnen nicht in irgendeiner Weise helfen?«

»Nein, heute nacht nicht. Heute nacht müssen Sie sich vollkommen ruhig verhalten. Sie müssen schlafen.«

Sofort fühlte der Norweger, daß er entsetzlich müde sei. Er lehnte seinen Kopf gegen die Wand; seine Augenlider fielen zu. Er versuchte, gegen die ihn überwältigende Müdigkeit anzukämpfen; es gelang ihm aber nicht.

Das Letzte, was er wahrnahm, war, daß der Gelehrte ihn mit dem Taschentuch umfächelte, worauf er ihn ganz deutlich sagen hörte: »Ich muß die Gewißheit haben, daß Sie sich innerhalb der nächsten acht Stunden nicht mehr bewegen. Eine Uebereilung Ihrerseits könnte uns beiden alles verderben. Ich bin gewohnt, eigenmächtig zu handeln.«

Dann überwältigte ihn die Müdigkeit vollständig. Nach einem Augenblick schlief er tief und fest, Kopf und Oberkörper gegen die Wand gelehnt.

Sowie Harald Vik eingeschlafen war, kroch der Gelehrte mit der Gelenkigkeit einer Katze aus der Oeffnung heraus und verschwand im Finstern auf dem ungeheuren Gefängnisdach. Noch immer goß es in Strömen, und dann und wann spaltete ein greller Blitz das tiefe Dunkel.

Als Harald Vik erwachte, war um ihn herum alles hell. Er spürte ein sonderbares Sausen im Kopf, das jedoch nach und nach vorüberging. Er blickte sich um; im ersten Augenblick war ihm nicht recht klar, wo er sich befand.

Dann aber erinnerte er sich mit einem Male aller Vorgänge. Er befand sich ja noch immer in der alten Ruine. Dort war die große Oeffnung nach dem Gefängnisdach, und nach der anderen Seite diejenige, durch welche die Tauben herausgeflogen waren. Der Norweger kroch nach dieser Oeffnung hin und schaute durch sie hinaus. Zunächst blickte er in einen ungeheuren Abgrund hinab. Der alte Wachtturm war mit der Fassade des Gefängnisses in einer Flucht gebaut. Ein Vorsprung war nicht vorhanden, nur eine breite Dachrinne, die von dem Regen der vorhergehenden Nacht noch naß war.

Harald Vik ließ den Blick weiter in die Ferne gleiten. Wiederum sah er die ungeheure Stadt tief unter sich liegen, in deren Kirchturmspitzen und vielen tausend Fenstern die Sonne sich spiegelte. Es mußte ziemlich spät am Vormittag sein. Der Himmel war nun vollständig wolkenlos und voller Sonne. Er fühlte, wie ihn eine angenehme Wärme durchströmte, als ob er zu einem neuen Leben erwacht sei. Wo aber war der geheimnisvolle Alte?

Harald Vik drehte sich um in der Absicht, auf das Dach hinauszukriechen, blieb jedoch plötzlich stehen. Dort – in der Oeffnung – stand der kleine Gelehrte und blickte ihn wohlwollend und freundlich an.

»Acht Stunden,« brummte er in den Bart, »genau acht Stunden haben Sie geschlafen. Alles ist programmäßig gegangen. Ich habe immer recht.«

Der Norweger erinnerte sich der nächtlichen Begebenheiten und fragte:

»Ist jemand hier oben gewesen?«

»Nein,« entgegnete der Gelehrte, »hier ist niemand gewesen. Sie haben noch keinen Verdacht. Wahrscheinlich denken sie, daß auch ich über die Ringmauer entwichen bin. Vorläufig sind wir ganz sicher.«

»Schliefen Sie selbst nicht auch?« fragte Vik.

»Ja, etwa eine Stunde; ich schlafe für gewöhnlich sehr wenig. Schlaf ist ein notwendiges Uebel. Ich betrachte die Zeit, die man verschläft, für verloren.«

»Ich bedaure, daß mich die Müdigkeit übermannt hat,« stotterte der Norweger, »vielleicht hätte ich Ihnen ein wenig von Nutzen sein können.«

Der Alte lächelte wieder, sogar noch wohlwollender.

»Es war nur gut, daß Sie schliefen,« antwortete er, »so störten Sie mich nicht bei meiner Arbeit. Ich habe alles zu einem Empfang auf dem Gefängnisdach vorbereitet. Hier in unserer Wohnung ist es so still, so still; aber glauben Sie mir, draußen war ein entsetzlicher Lärm, als man meine Flucht dort unten entdeckt hatte. Ueber eine Stunde lang. – Ach, wie sind die Menschen doch dumm«, rief er aus, indem er die Hände zusammenschlug. »Nun reden sie dort unten von rätselhaftem Entweichen, und die einzige richtige Lösung dieses Rätsels, das Dach, fällt ihnen nicht ein. Das Dach soll unser Luftschloß werden, das unbekannte Luftschloß.«


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