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In der Diaspora und unter dem Bolschewismus (1924–1925)

In der ersten Auflage dieses Buches sagten wir, daß unter dem bolschewistischen Regime jede künstlerische und dichterische Regung in Rußland erstickt sei und daß sich die Überreste der russischen Literatur, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, im freiwilligen Exil befänden. Aber was vor zwei Jahren stimmte, stimmt heute nicht mehr. Heute stehen die Dinge so, daß man von zwei ziemlich scharf voneinander abgegrenzten russischen Literaturen sprechen kann: einer in der Diaspora und einer in Sowjet-Rußland. Die erstere wird von den während und nach der Revolution ins Ausland geflüchteten Schriftstellern repräsentiert, die letztere ist – wie manches andere auf den Trümmern des russischen Kaiserreichs – im Werden begriffen und bestätigt bereits den Glauben an die Auferstehung der großen russischen Dichtung, den wir in den Schlußsätzen der ersten Auflage ausgesprochen haben.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Literaturen liegt nicht, wie mancher annehmen würde, im Politischen: nicht alle in Sowjet-Rußland wirkenden Dichter sind Kommunisten, wie auch nicht alle in der Diaspora lebenden in einer unversöhnlichen Opposition zum Bolschewismus stehen. Der Unterschied ist viel tiefer und in der Verschiedenheit des Bodens begründet, auf dem die eine und die andere Literatur wächst und aus dem sie ihre Säfte schöpft: während die in den letzten Jahren im Ausland entstandene im großen und ganzen eine Fortsetzung und Weiterentwicklung der vorrevolutionären bedeutet und deren Tradition fortführt, ist die auf der von der Pflugschar der Revolution aufgerissenen heimatlichen Scholle gewachsene in ihrem ganzen Wesen durchaus neu und hat mit der andern fast nur die Sprache gemein. Wir wollen mit der ersteren als der älteren beginnen.

Die vor den Schrecken der ersten Revolutionsjahre aus Rußland geflüchteten russischen Schriftsteller und Gelehrten verteilten sich zunächst über ganz Europa, und bald darauf entstanden überall russische Verlagsunternehmungen und Zeitschriften: in Berlin, Paris, Prag, Stockholm, Sofia, sogar in Amerika und China. Allmählich kristallisierte sich aber ein neues Zentrum der exterritorialen russischen Geistigkeit in Berlin, das jetzt auch im Mutterlande als die (neben Petersburg und Moskau) ›dritte Residenz Rußlands‹ bezeichnet wird. In Berlin haben sich nach und nach die anfangs über ganz Europa versprengten Vertreter der russischen Literatur, Kunst und Wissenschaft – bis auf wenige Ausnahmen – versammelt, und zu ihnen gesellten sich automatisch die später aus Rußland ausgewiesenen und geflohenen. Die Zahl der russischen Verlagsunternehmungen in Berlin hat schon die fünfzig überschritten. Die Gründe für die Konzentrierung so vieler russischer Dichter und Gelehrten in der Hauptstadt Deutschlands sind wohl nur zum Teil wirtschaftlicher Natur; eine weit größere Bedeutung scheint die – auf beiden Seiten – wirklich vorhandene politische Neuorientierung zu spielen. Die russischen Verlagsunternehmen in Paris sind bis auf eines eingegangen, und von den namhaften russischen Schriftstellern sind nur vier in Frankreich geblieben: Mereshkowskij, Hippius, Balmont und Bunin.

Dmitrij Mereshkowskij, dem es 1920 gelang, aus Petersburg zu entkommen, ließ sich mit seiner Gattin Zinaïda Hippius in Paris nieder und entfaltete zunächst eine äußerst rege, gegen den Bolschewismus, dessen grimmigster Feind er ist, gerichtete publizistische Tätigkeit. In zahlreichen Zeitungsaufsätzen, ›offenen Briefen‹ und der gemeinsam mit Zinaïda Hippius und anderen herausgegebenen Kampfschrift Das Reich des Antichrist, die wohl von aufrichtiger Überzeugung erfüllt ist, aber manche beklagenswerte Entgleisung, wie z. B. die unbegründeten Angriffe auf Gorkij, enthält, versuchte er, die Völker Europas zu einem Kreuzzug gegen den Antichrist, d. h. den Bolschewismus zu bewegen. Als ihm dies nicht gelang, kam er zur Überzeugung, daß auch die Westeuropäer Christum verloren hätten; der Dichter und Denker zog sich daher aus der gottlosen Gegenwart ins gotterfüllte graue Altertum zurück, widmete sich dem Studium der Religionen des alten Ägyptens, Babylons, Assyriens, Kanaans usw. und versuchte in ihnen dem Geiste Christi nachzuspüren, den die Völker des Altertums vorausgeahnt hätten und der in der Gegenwart verdunkelt sei. Als Frucht dieses Studiums erscheint das großangelegte, auf mehrere Bände berechnete Werk Geheimnisse des Ostens. Es ist keine zusammenhängende, systematische gelehrte Abhandlung, sondern eine lose Aneinanderreihung von ausgewählten Stücken aus religionsgeschichtlichen Dokumenten, untermischt mit Zitaten aus Dostojewskij, Rosanow u. a. und eigenen, zum Teil überraschend tiefen Äußerungen und Bekenntnissen des Autors: uns erscheint das überaus fesselnde, von einem tiefen Glauben durchglühte Werk als die Krönung des eigenartigen religiösen Systems Mereshkowskijs (vgl. S. 133). – Zinaïda Hippius, die sich an der antibolschewistischen Kampagne ihres Gatten beteiligte, veröffentlichte einen neuen Gedichtband, der zur Hälfte im freiwilligen Exil entstanden ist und an Schönheit die früheren Werke dieser großen Lyrikerin vielleicht noch übertrifft. – Konstantin Balmont hat einige neue Versbücher und – sein erstes Prosawerk – einen Roman erscheinen lassen. In den Gedichten finden sich noch immer einzelne berückende Zeilen, sonst ist aber alles, auch der Roman, belanglos, und der vor zwanzig Jahren als der größte russische Lyriker gefeierte Dichter vermag heute nicht einmal einen Achtungserfolg zu erringen. – Iwan Bunin, der hervorragende Fortsetzer der klassischen russischen Erzählertradition, lebt gleich den genannten in einer unversöhnlichen, aber stummen Opposition zu dem, was sich heute Rußland nennt, und hat nur einige wenige neue Novellen und Gedichte geschrieben, von denen aber jedes eine Perle ist.

An dieser Stelle ist ein neuer Name zu nennen, der erst in der Diaspora bekanntgeworden ist: Georgij Grebenschtschikow. Er ist ein geborener Erzähler vom Schlage eines Alexej Tolstoi, unterscheidet sich aber von diesem und allen anderen durch einen neuen Ton: er stammt aus Sibirien, gehört einem gesünderen und unverbrauchteren Menschenschlage an, und jede seiner Zeilen atmet den eigentümlich frischen Duft der grenzenlosen Wälder und Steppen Russisch-Asiens. Er schrieb eine Reihe Novellen und den stofflich ungemein interessanten Roman Die Tschurajews, die Chronik einer sibirischen Familie.

In Berlin, der ›dritten Residenz‹ Rußlands, haben sich alle übrigen aus Rußland geflüchteten und vertriebenen Schriftsteller niedergelassen, mit dem Nestor der russischen Moderne, dem bald siebzigjährigen Nikolai Minskij an der Spitze. – Maxim Gorkij, der nun auch in Deutschland lebt, produziert sehr wenig und läßt nur ab und zu Stücke aus seinen Erinnerungen und Tagebüchern erscheinen, die, wie wir schon sagten, das Wertvollste sind, was er geschrieben. – Eine ungemein fruchtbare Tätigkeit entfaltet auf deutschem Boden Alexej Remisow. Gleich nach seiner Flucht veröffentlichte er 1921 ein Bändchen Das brennende Rußland, das mit einem erschütternden Klagelied auf das russische Land beginnt. Von seinen zahlreichen neueren Werken nennen wir Rußland in Lettern – eine Sammlung kurioser Glossen zu allerlei russischen gedruckten und handschriftlichen Urkunden im Besitze des Dichters, ein stilistisches Meisterwerk ersten Ranges, und köstliche Paraphrasen auf russische Märchen und Legenden. – Alexej Tolstoi tritt uns in seinem 1922 in Berlin erschienenen Roman Höllenfahrt als reifer Meister entgegen. Der Roman bildet den ersten Teil einer geplanten Trilogie, bei der sich der Autor ein gewaltiges Ziel gesteckt hat: ebenso wie sein großer Namensvetter in Krieg und Frieden ein Kolossalgemälde der Zeit der Napoleonischen Feldzüge gibt, versucht Alexej Tolstoi, ein Panorama der letzten Kriegs- und Revolutionsjahre in Rußland zu malen, das zugleich als Hintergrund für die Lebensschicksale einer Petersburger Familie dient, und es muß zugegeben werden, daß er diese Aufgabe glänzend bewältigt hat. Nicht unerwähnt sei das gleichzeitig entstandene intime Buch Nikitas Kindheit, ein modernes Seitenstück zu des älteren Tolstoi Kindheit und Knabenalter. Alexej Tolstois neuestes Werk ist der phantastische Roman Aëlita, der auf dem Planeten Mars und im bolschewistischen Petersburg spielt und sich von allen anderen Marsromanen dadurch auszeichnet, daß seine Helden Russen sind (die auf dem Mars einen bolschewistischen Putsch zu inszenieren versuchen), daß die Sage von dem untergegangenen Atlantis auf eine höchst geistreiche Art mitverwoben ist und daß das Ganze von einer zarten Liebesmelodie begleitet wird. – Andrej Belyj, der nun auch in Berlin angelangt ist, schreibt an seiner autobiographischen Epopöe(vgl. S. 148) weiter und veröffentlicht zugleich die außerordentlich wichtigen Erinnerungen an Block. Dieses letztere Werk ist weit mehr, als sein Titel ausspricht: obwohl Block darin tatsächlich den Mittelpunkt bildet, behandelt es den Werdegang der ganzen russischen Moderne im ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts und enthält so lebenswahre Porträts der ersten russischen ›Dekadenten‹ (namentlich des Ehepaares Mereshkowskij) und anderer markanten Persönlichkeiten jener Zeit (z. B. Wladimir Ssolowjows), wie sie nur einem ganz großen Künstler und Gestalter geraten können. – Eine Reihe Dichter zweiten Ranges, die sich in Berlin aufhalten, wollen wir übergehen und nur noch einen Namen nennen, der zwar schon vor dem Kriege nicht ganz unbekannt war, aber erst in der Diaspora, in Berlin, zu einem der bekanntesten geworden ist: es ist Ilja Ehrenburg.

Ilja Ehrenburg, 1891 zu Moskau geboren, kam mit achtzehn Jahren als politischer Flüchtling nach Paris, woselbst auch sein erster Gedichtband erschien. In diesem klingt ein der russischen Dichtung sonst fremder Ton: Ehrenburg war in den Bann des französischen Dichters Francis Jammes geraten und eignete sich auch etwas von dessen ästhetisierendem Katholizismus an. Seine Begeisterung für den letzteren ging so weit, daß er, von Haus aus Jude, schon im Begriff war, katholisch zu werden und in ein Benediktinerkloster einzutreten. Bei Beginn der letzten Revolution kehrte er nach Rußland zurück und schloß sich begeistert der kommunistischen Bewegung an. Als aber der reine Kommunismus zum Bolschewismus zu entarten begann und zu den groteskesten Auswüchsen des von ihm ursprünglich bekämpften Kapitalismus führte, verließ Ehrenburg Rußland, wo er vorher noch einen Gedichtband hatte erscheinen lassen, und zog sich enttäuscht nach Berlin zurück. Hier ließ er in rascher Folge eine Reihe von Büchern erscheinen, die ihn auf einen Schlag berühmt machten. Sein bedeutendstes Werk ist die monumentale Groteske Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito und seiner Jünger (eines Franzosen, Deutschen, Amerikaners, Russen, Italieners, des Autors Ehrenburg selbst und eines kleinen Senegalnegers), in den Tagen des Friedens, des Krieges und der Revolution in Paris, Rom, Moskau usw. Der Held dieses Satyrspieles zu den Weltgeschehnissen der letzten zehn Jahre, der mexikanische Abenteurer Jurenito, kommt kurz vor dem Weltkrieg nach Europa, wirbt die erwähnten sieben Jünger an und entfaltet eine ebenso fieberhafte wie geheimnisvolle Tätigkeit, die zu den bekannten auf den 1. August 1914 folgenden Ereignissen führt. Mit einer Skepsis, die die eines Anatole France noch übertrifft, werden alle Blüten der modernen europäisch-amerikanischen Kultur – Kapitalismus und Bolschewismus, Militarismus und Pazifismus, Nationalismus und Sozialismus, Kirche und Staat – zerpflückt, und auch an den Nationen wird kein gutes Haar übriggelassen. Am besten kommt noch, außer dem unverdorbenen kleinen Neger, der Deutsche weg: er ist wenigstens tüchtig und seiner Sache selbstlos ergeben. Das Werk erregte großes Aufsehen und wurde nach Erscheinen in mehrere Sprachen übersetzt. Außer dem Jurenito veröffentlichte Ehrenburg eine Reihe Novellenbände, die vom gleichen skeptischen Geiste erfüllt sind. Was Stil und Technik betrifft, so gehört er, obwohl im Ausland lebend, zu der neuen in Sowjet-Rußland wirkenden Schule, auf die wir bald zu sprechen kommen.

Von den in Rußland gebliebenen bedeutenderen Dichtern ist nur Valerij Brjussow offiziell ins Lager der Bolschewisten getreten. Uns liegt sein 1919 unter dem bescheidenen Titel Versuche erschienener Gedichtband vor. Es ist eigentlich ein Lehrbuch der Metrik, und die darin enthaltenen Gedichte sind lediglich als Illustrationen für die zahlreichen rhythmischen und metrischen Möglichkeiten gedacht. Einige von ihnen sind wirklich überraschend. – Unfreiwillig befinden sich in Rußland Ssologub, Iwanow und Kusmin. Ssologub veröffentlichte einen neuen Roman Die Schlangenbeschwörerin. Das ›Schlangennest‹ ist hier eine sittlich entartete Kapitalistenfamilie, die Beschwörerin eine marxistisch aufgeklärte Arbeiterin Wjera. Künstlerisch bedeutet dieser Roman wohl das Ende des großen Dichters Ssologub. – Von Wjatscheslaw Iwanow, der sich schwerkrank irgendwo im Kaukasus befindet, lasen wir ergreifend traurige Winterliche Sonette. – Kusmin, der während des Krieges eine unheimliche Menge neuer Novellen und Romane, die auf einen Abstieg hinwiesen, produzierte und der in den ersten Jahren des konsequenten Kommunismus gleich allen andern zum Schweigen verurteilt war, veröffentlicht neuerdings wieder Verse von hoher Vollkommenheit, in denen hie und da durchaus nicht ernst gemeinte futuristische Töne klingen, die sich auf eine höchst pikante Weise in seine sonst bewußt altmodische Musik (Mozart, Rossini) mischen.

In den ersten Jahren des strengen kommunistischen Regimes waren alle in Rußland gebliebenen Dichter (mit Ausnahme der offiziell anerkannten Futuristen, auf die wir noch zu sprechen kommen) zum Schweigen verurteilt: alle literarischen Revuen waren eingestellt worden, alle Verlage und Druckereien ›sozialisiert‹ und zum größten Teil gleichfalls eingestellt, und die Zensur, die an Strenge die der Zarenzeit bei weitem übertraf, ließ nichts die Presse passieren, was nicht direkt der bolschewistischen Propaganda diente. Wie es in dieser schweren Zeit den Dichtern ging, erzählt mit schönem Humor Michaïl Kusmin in einem Der Auftrag betitelten Gedicht (1922), in dem er einen ›Wanderer‹, der nach Berlin geht (»zu den mir so teuren Deutschen, die den Hoffmann, den Mozart und den Chodowiecki hatten«), bittet, einer gewissen blonden Tamara auszurichten,

... daß wir noch nicht tot sind, vielmehr abgehärtet,
und bald zu Heiligen werden;
daß wir weder Speise, noch Trank noch Schuhwerk haben
und von geistiger Nahrung leben ...
daß wir einen wunderlichen Handel treiben:
alles verkaufen und gar nichts kaufen,
in den heiteren Frühlingshimmel schauen
und unsrer fernen Freunde gedenken.
Ob unsere Herzen ermüdet,
ob unsere Hände erlahmt sind,
ersehe man aus unsern neuen Büchern,
wenn diese jemals erscheinen ...

Inzwischen haben sich die Verhältnisse geändert: nach dem Versagen des konsequenten Kommunismus und der Wiederkehr zum sogenannten ›freien Handel‹ d. h. zur kapitalistischen Ordnung, tauchte sofort wieder eine ganze Reihe von Verlagsunternehmungen auf, und das Erscheinen von rein literarischen, den Bedürfnissen der ›Bourgeoisie‹ dienenden Werken wurde nach und nach erlaubt. Und nun zeigte es sich, daß nicht nur die schon genannten Dichter in der Zwischenzeit neue Werke, die nur der Veröffentlichung harrten, geschrieben hatten, sondern auch, daß eine ganze Reihe vorher unbekannter oder wenig bekannter Dichter herangereift war. Diese jungen Leute, die durch alle Schrecken des Krieges, der Revolution und der ersten Bolschewistenzeit hindurchgegangen waren und deren Talente sich unter den ungünstigsten Verhältnissen entwickelt hatten, repräsentieren die neueste russische, auf russischem Boden gewachsene Literatur, die sich von der bisherigen ebenso gewaltig unterscheidet wie das neue Rußland vom alten. Die auffallenden Merkmale dieser neuen Literatur beruhen zum Teil auf rein äußeren Umständen, unter denen der folgende vielleicht mit zu den wichtigsten zählt: als die Veröffentlichung belletristischer Werke praktisch wieder möglich wurde, war das Papier in der ersten Zeit sehr rar (wie auch früher das Manuskriptpapier) und der Raum in den wenigen Zeitschriften beschränkt; dies zwang die Schreibenden zur äußersten Knappheit, und so entstand der eigentümliche Telegrammstil der neuesten Erzählungskunst. Alles nur irgendwie Entbehrliche wurde weggelassen, jedes Wort mußte eindeutig und gewichtig sein und gleichsam als stählerner Träger in der Konstruktion des Ganzen dienen. Als entbehrlich wurde u. a. auch alles Psychologische angesehen, und so fiel diese wichtigste Eigentümlichkeit der klassischen russischen Literatur auf einmal weg. Es wird in den nacktesten und präzisesten Worten nur von nackten Geschehnissen berichtet, alles ist so hart, knapp und asketisch wie das ganze Leben im kommunistischen Staat, und die Konstruktion der Erzählung tritt, von keinem psychologischen Beiwerk, von keiner Detailmalerei verhüllt, ebenso nackt zutage wie das Stahlgerippe in einem modernen Industriebau: man kann sogar sagen, daß zwischen der heutigen russischen Literatur und der von gestern der gleiche äußere Unterschied besteht wie zwischen einer modernen amerikanischen Eisenbahnbrücke und einem Barockpalast. (Der deutsche Leser kann sich diesen Unterschied annähernd vergegenwärtigen, wenn er eine Novelle von Carl Sternheim mit einem Werk des Jeremias Gotthelf vergleicht.)

Neben der Sparsamkeit im Gebrauch der Ausdrucksmittel und dem Verzicht auf das Psychologische fällt als Drittes in der neuesten russischen Literatur auch das rein Stoffliche auf. Der Dichter schöpft ausschließlich aus der ihn umgebenden Wirklichkeit, und so ist auch der Inhalt seiner Erzählungen ebenso ungewöhnlich und ungeheuerlich wie diese: Anthropophagie, Mord, Vergewaltigung, Höllenangst und Blut, ganze Meere von Blut. Die trockene Sachlichkeit und der knappe Stil lassen das Grauenhafte noch grauenhafter erscheinen und verleihen der Schilderung eine ungewöhnliche Überzeugungskraft. Es ist zu betonen, daß dieser ganzen Literatur jede anklagende oder rechtfertigende Tendenz fehlt: der Dichter schildert ohne jede Nebenabsicht die Wirklichkeit, wie sie sich ihm bietet, und ist nur auf die möglichst vollkommene und knappe Konstruktion des Ganzen bedacht. Es ist der neue Realismus, der ja auch in der modernen bildenden Kunst zum Durchbruch zu kommen scheint und dem etwas Unheimliches anhaftet.

In Petersburg sind die neuen Erzähler gleich als organisierte Gruppe aufgetreten, die sich ›Die Serapionsbrüder‹ nennt. Mit E. Th. A. Hoffmann haben sie jedoch nur das Unheimliche gemein, das bei ihnen aber nicht geträumt, sondern mit nüchternen Augen geschaut ist. Der bedeutendste unter den Serapionsbrüdern ist Wsewolod Iwanow, der vorwiegend die Schrecken des Bürgerkrieges in Sibirien schildert, so in der Novelle Panzerzug Nr. 64–69. Eine andere Novelle Das hohle Arabien handelt von Bauern, die von der Hungersnot des Jahres 1922 getrieben und von einer verrückten Alten geführt, nach einem phantastischen gelobten Lande ziehen und unterwegs wie die Fliegen sterben; unter ihnen befindet sich ein Bauer, der trotz des Hungers so stark und dick ist, daß er den Verdacht erweckt, als habe er irgendwo Lebensmittel versteckt. Nachts schleichen sich die andern zu ihm heran und betasten den Schlafenden wie ein Masttier, ob es nicht schon schlachtreif sei ... In der Novelle Das Kind erzählt er, wie bolschewistische Insurgenten in Sibirien einen ›weißen‹ Offizier und dessen Frau erschlugen und ihr Kind zu sich nahmen; um dieses Kind am Leben zu erhalten, rauben sie unterwegs ein säugendes Kirgisenweib samt ihrem Säugling und geben es dem Offizierskind als Amme; nach einiger Zeit schöpfen sie Verdacht, daß die Kirgisin ihr eigenes Kind bevorzuge, stellen durch Wiegen fest, daß das weiße Kind wirklich leichter ist, und schaffen dann das Kirgisenkind in einem Sack in die Steppe; das weiße Kind gedeiht, und die Leute haben nun ihre ungetrübte Freude an ihm und seiner Amme ... Nicht weniger grauenhaft ist der Inhalt aller übrigen Werke Iwanows wie auch des andern, ihm zum Verwechseln ähnlichen Serapionsbruders Nikolai Nikitin, der mit Vorliebe die Schrecken der Revolution in der Provinz und auf dem Lande schildert. Von den Angehörigen dieses Kreises seien noch genannt Konstantin Fedin und Michaïl Soschtschenko. Auch sie sind nur schwer von den schon genannten zu unterscheiden, wie auch überhaupt die Serapionsbrüder bereits eine Art Akademie mit festgefügten Traditionen bilden.

Von den zahlreichen keiner Schule oder Akademie angehörenden neuen Prosadichtern wollen wir nur den interessantesten von allen, Boris Pilnjak, nennen, dessen Entwicklung noch nicht ganz abgeschlossen ist, der aber zu den höchsten Hoffnungen berechtigt. Er schildert gleich den anderen jüngsten russischen Erzählern die Wirklichkeit, aber ohne die trockene Sachlichkeit der Serapionsbrüder, sondern durch eine expressionistische Brille gesehen. Sein Stil gemahnt zuweilen an den von Remisow, ist aber dabei doch von großer Originalität, und man kann wohl sagen, daß Pilnjak von allen Dichtern dieser Generation das persönlichste Antlitz hat. Auch fehlt ihm die kühle Objektivität der Serapionsbrüder, da er ganz vom Geist Sowjet-Rußlands durchdrungen ist, womit aber nicht gesagt werden soll, daß er tendenziös sei. Seine Palette ist reicher an Farben, im Stahlgerippe seiner Konstruktionen finden sich stellenweise verstreute Barockelemente, vor allem ist er aber im Gegensatz zu den neuen Petersburger ›Akademikern‹ ein Suchender und Gärender. Auch er schildert vorwiegend die Revolution und den Bürgerkrieg im Dorf und in der Provinz, und man hat den Eindruck, daß er den eigentümlichen Ton und Rhythmus der russischen Revolution besser getroffen habe als jemand anderer. In seinem besten Werke Das nackte Jahr stellt er das zerfallende, alte, passive Rußland dem neuen, tatkräftigen, jungen, so gar nicht sentimentalen gegenüber, und seine Sympathien gehören dem letzteren, obwohl er durchaus kein Kommunist ist; man braucht es auch gar nicht zu sein, um das Lebende dem Toten vorzuziehen. Wir wollen noch erwähnen, daß in allen seinen Werken das Erotische eine große Rolle spielt; natürlich ist es nicht die zarte Liebessehnsucht Turgenjewscher Helden, sondern die grausame und sehr animalische Erotik der neuen Menschen, die er an einer Stelle wie folgt charakterisiert: »Lederharte Menschen in Lederjoppen, alle von gleicher Statur, alle kräftig, alle hübsche Kerle mit Lockenhaar, das aus der Mütze in den Nacken fällt; ein jeder hat das Maximum von Willen in den hautumspannten Backenknochen, in den Falten an den Mundwinkeln, in den Bewegungen der gleichsam immer bügelnden Arme, – Willen und Kühnheit. Die beste Auslese aus dem lockeren, verwachsenen russischen Volke. Daß sie Lederjoppen tragen, ist gut: so sind sie gegen die Limonade der Psychologie geschützt: das haben wir uns vorgenommen, das wissen wir, das wollen wir und basta. Den Karl Marx hat übrigens wohl keiner von ihnen gelesen.«

Die Lyrik hat auch in der russischen Neuzeit die wichtige Stellung behalten, die sie in der russischen Literatur immer innehatte. Schon einige Jahre vor dem Kriege machten sich in ihr futuristische Strömungen bemerkbar, und unter den Futuristen gab es einen nicht unbedeutenden Lyriker – Igor Ssewerjanin, der sich übrigens ›Ego-Futurist‹ nannte und, von Balmont ausgehend, sehr musikalische und verhältnismäßig zahme Verse schrieb; das ›Futuristische‹ an ihnen waren nur die gleichfalls recht zahmen und allgemein verständlichen Neubildungen von Worten, die aber, nicht im Geiste der russischen Sprache gebildet, durchaus nicht lebensfähig sind und eine Verunreinigung, doch keine Vervollkommnung der Sprache bedeuten. Andere schrieben Gedichte, die aus sinnlosen Worten, Silben und sogar Buchstaben bestanden und mit Kunst auch nicht das geringste zu tun haben. Mereshkowskij hatte schon damals im Futurismus eine Gefahr oder vielmehr die Symptome einer nahenden Katastrophe erblickt. Und als diese Katastrophe hereinbrach, gelangten die Futuristen, von den maßgebenden bolschewistischen Machthabern unterstützt, für einige Zeit zur unumschränkten Herrschaft. Die bekanntesten Vertreter dieser offiziellen Dichtkunst sind: Wladimir Majakowskij, Anatolij Mariengof und Wadim Scherschenewitsch; von ihnen ist nur Majakowskij (1894–1930), der schon als ›Klassiker‹ des Futurismus gilt, wirklich begabt. Ihre Dichtung bedeutet formal und inhaltlich das Ende jeder Kunst. Alle Gesetze der Metrik sind selbstverständlich abgeschafft. Von einem Rhythmus, selbst von einem freien, ist nicht mehr die Rede. Das Vokabular ist der Straße und selbst Abortinschriften entnommen (wie sich diese Dichter selbst rühmen). Der Inhalt ist Blasphemie. Ströme stinkender Jauche ergießen sich nicht nur gegen die politischen Gegner des Sowjetstaates, nicht nur gegen die Spießer und Popen, sondern auch gegen den Heiland und seine Mutter. Puschkin und Raffael werden an die Mauer gestellt und füsiliert. Alle Versuche, die futuristische Dichtung den Untertanen der Sowjetregierung als die einzig würdige gewaltsam aufzudrängen, erwiesen sich als ebenso erfolglos wie manche anderen bolschewistischen Experimente. Die proletarischen Massen, denen diese Kunstart eingeimpft werden sollte, wehrten sich gegen sie als die ersten und verlangten nach verdaulicherer Kost. Heute wird die futuristische Lyrik nur noch in einigen Klubs und Cafés in Moskau und Petersburg kultiviert.

Neben den Futuristen wurden von den Sowjetbehörden auch noch Dichter bäuerlicher und proletarischer Abkunft protegiert, und unter diesen gibt es einige wirkliche Talente. An erster Stelle wollen wir hier Ssergej Jessenin nennen, der 1895 in Zentralrußland als Sohn eines Bauern geboren wurde und seine Kindheit als echter Bauernjunge in einem Dorfe zubrachte. Er sollte jedoch nicht Bauer, sondern Dorfschullehrer werden und wurde daher in eine geistliche Schule gegeben. Lehrer wurde er nicht, sondern ein Dichter, der sehr schnell große Berühmtheit erlangte. Seine ungemein starken und bilderreichen Gedichte erinnern äußerlich an die Visionen Hesekiels oder die Offenbarung Johannis. Der Inhalt ist aber blasphemisch oder zumindest häretisch: der Prophet (für den sich Jessenin zweifellos hält) verheißt dem Russenland einen neuen Himmel und einen neuen Gott. Stellenweise erreicht er wirklich die Eindringlichkeit und die Wucht alttestamentarischer Propheten. – Aus dem Bauernstande stammt auch der in Sowjet-Rußland wegen seiner Hüttenlieder berühmte und überschätzte Nikolai Kljujew; seine vor dem Kriege veröffentlichten, an Nekrassow gemahnenden Gedichte erscheinen uns viel bedeutender. – Was die sogenannten ›proletarischen‹ Dichter betrifft, so sollen einige von ihnen gar keine richtigen Proletarier sein, sondern Intellektuelle mit Hochschulbildung, die, die Konjunktur ausnützend, sich für Proletarier ausgeben. Wirklich proletarischer Abstammung (von Haus aus Dachdecker) ist einer der begabtesten jungen russischen Lyriker, Wassilij Kasin, dessen rhythmisch ungemein interessante Gedichte ein gründliches Studium klassischer Vorbilder verraten, dabei aber durchaus originell und im besten Sinne modern sind.

Unter den nichtproletarischen jungen russischen Lyrikern nimmt die hervorragendste Stellung Boris Pasternak ein. Er war auch schon vor dem Kriege bekannt, hat aber erst in den letzten Jahren seine hohe Stellung errungen. Pasternak gebraucht klassische Formen und Versmaße, mit besonderer Vorliebe Jamben, aber die innere Dynamik seiner Verse, der Satzbau und die Bilder sind von einer so unerhörten und dabei natürlichen Eigenart, daß man ihn oft schon an einer einzigen Zeile erkennen kann. Das gilt besonders von seinen unerhörten Bildern. Pasternaks bester Gedichtband ist Meine Schwester, das Leben betitelt; es ist bezeichnenderweise Lermontow gewidmet und trägt als Motto folgende Verse Lenaus:

Es braust der Wald, am Himmel
zieh'n des Sturmes Donnerflüge,
da mal' ich in die Wetter hin,
o Mädchen, deine Züge.

Von den übrigen modernen Lyrikern nennen wir noch die folgenden: den von Kennern auch schon vor dem Kriege sehr geschätzten Ossip Mandelstamm, der gleich Pasternak Jude ist und manche Ähnlichkeit mit ihm hat; er ist pathetischer als dieser und verrät gewisse Einflüsse Brjussows und Wjatscheslaw Iwanows; den dem Kreise der Petersburger ›Serapionsbrüder‹ angehörenden Nikolai Tichonow, der die oben besprochenen Eigentümlichkeiten dieser Schule in der Lyrik zu verwenden sucht; den etwas kühlen, doch tiefsinnigen Wladislaw Chodassewitsch, der oft in vollkommenen Versen gleich Ssologub den Tod besingt.

Zum Schluß erwähnen wir noch zwei lyrische Dichterinnen, die den Genannten würdig zur Seite stehen. Anna Achmatowa, die auch schon früher bekannt war, ist eine echte Nachfolgerin Blocks. Durch alle ihre formvollendeten, eigentlich gar nicht weiblichen Gedichte weht ein Hauch stiller Trauer, und ihr Thema ist ewig alt und ewig neu: die unglückliche Liebe. – Den denkbar stärksten Gegensatz zu ihr bildet die erst in den letzten Jahren bekannt gewordene Marina Zwetajewa: sie ist ganz Weib, von einer wilden zigeunerhaften Leidenschaft, frei wie der Wind, schrankenlos wie die südrussische Steppe. Ihre Verse klingen wie Zigeunermusik, wie Räuberlieder und sind in der Form ebenso ungebunden wie diese. In der lyrischen Dichtung läßt sich die Scheidung zwischen Diaspora und Sowjet-Rußland naturgemäß nicht so konsequent durchführen wie bei der Prosa; wenn aber in ihr der Geist des neuen entfesselten Rußlands überhaupt irgendwo zum Ausdruck kommt, so in erster Linie bei Marina Zwetajewa, obwohl die Dichterin im Ausland lebt und in Opposition zum Bolschewismus steht.

So ist die Literatur in Rußland keineswegs tot, wie es vor zwei Jahren schien. Sie blüht mit unverminderter Kraft und ist ein Hinweis und eine Verheißung, daß dieses Land nicht zugrunde gehen wird. Diesen Glauben atmen die schönen Verse der Zinaïda Hippius, mit denen wir unser Buch beschließen:

Es wird nicht verderben, wißt es!
Es wird nicht verderben, nimmer!
Nein, Rußland wird leuchten – glaubt es! –
In goldener Ähren Schimmer.

Nicht werden wir fallen – glaubt es!
Doch was ist uns unser Entgehen?
Gerettet wird Rußland, wißt es!
Und nah ist sein Auferstehen. Deutsch von Wolfgang E. Groeger.


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