Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Tschechow

Der letzte große russische Dichter, der die ›heroische‹ Periode der russischen Literatur beschließt, hatte ein seltsames Schicksal: da er mit zum Teil recht harmlosen, bei der großen Masse als Reiselektüre beliebten Humoresken angefangen hatte und schnell berühmt geworden war, blieb ihm lange Zeit der Ruf eines nicht ernst zu nehmenden Humoristen und schwand nur allmählich, als sein Talent sich in einer ganz anderen Richtung entfaltete und er als einer der ernsthaftesten, tiefsten und bedeutendsten russischen Dichter, als letztes Glied in der Kette Puschkin-Turgenjew-Tolstoi dastand. Auch im Ausland, wo er beinahe ebenso schnell wie in Rußland berühmt geworden war, ging es ihm nicht besser: zahllose, von den Übersetzern willkürlich zusammengestellte Auswahlbände zeigten ihn immer und immer wieder als Humoristen. Bestenfalls verglich man ihn hier mit Maupassant oder Hermann Bang und hielt ihn sogar für ihren Schüler, ohne den Abgrund zu sehen, der den Russen von dem Franzosen trennt, und ohne zu wissen, daß Tschechow den Dänen überhaupt nicht gekannt hat. Nun höre man aber, wie Leo Tolstoi über Tschechow nach dessen Tode urteilte:

»Tschechow war ein unvergleichlicher Künstler, ja, ein unvergleichlicher. Ein Künstler des Lebens ... Der Wert seines Werkes liegt darin, daß es nicht nur jedem Russen verständlich und vertraut ist, sondern jedem Menschen überhaupt, und das ist das Wichtigste. Ich las einmal die Erzählung eines Deutschen, in der ein junger Mann, der seiner Braut ein schönes Geschenk machen will, ihr die Werke von – Tschechow schenkt, da er ihn über alle berühmten Dichter stellt. Und das ist sehr richtig; ich war ganz erstaunt, als ich es las ... Er entnahm dem Leben das, was er sah, unabhängig vom Inhalt dessen, was er sah . . . Und wenn er etwas nahm, so gab er es erstaunlich plastisch und verständlich wieder und klar bis ins kleinste Detail ... Er war aufrichtig, und das ist ein großer Vorzug; er schrieb über das, was er sah und wie er es sah ...« Bei einer späteren Gelegenheit sagte Tolstoi noch: »Tschechow ist unersetzlich. Man liest ihn mit Vergnügen nicht nur einmal, sondern immer wieder, und das ist selbst bei Dickens nicht immer möglich!« Diese Äußerungen sind um so wertvoller, als sie aus den letzten Lebensjahren Tolstois stammen; so groß war eben die realistische Kunst Tschechows, daß der größte Realist Tolstoi, selbst als er schon jede Kunst verdammt hatte, ihr seine Anerkennung nicht versagen konnte.

Anton Pawlowitsch Tschechow kam im Gegensatz zu den meisten großen Russen nicht aus dem Adel, sondern aus dem Bauernstand. Sein Großvater war noch Leibeigener gewesen, sein Vater Viehhändler und kleiner Kaufmann. Die Familie stammte aus dem Woronesher Gouvernement. Der Dichter wurde am 29. Januar 1860 zu Taganrog am Asowschen Meer geboren, einer von Kleinrussen und auch Griechen bewohnten langweiligen und verschlafenen Stadt, an der der Dichter jedoch zeit seines Lebens mit großer Liebe hing. Mit neunzehn Jahren absolvierte er das Gymnasium und kam auf die medizinische Fakultät der Moskauer Universität. Die Wahl der Fakultät war rein zufällig. Tschechow selbst äußerte sich später darüber wie folgt: »Von den Fakultäten hatte ich damals eine recht schwache Vorstellung, und ich weiß selbst nicht mehr, warum ich mich für die medizinische entschied; aber ich bereute später diese Wahl nie ... Ich zweifle nicht, daß die Beschäftigung mit medizinischen Wissenschaften einen wichtigen Einfluß auf meine literarische Tätigkeit hatte; sie erweiterten bedeutend das Gebiet meiner Beobachtungen, bereicherten mich mit Kenntnissen, deren wahren Wert für mich, als einen Dichter, nur der ermessen kann, der selbst Arzt ist ... Die Bekanntschaft mit den Naturwissenschaften und der wissenschaftlichen Methode ließ mich stets auf der Hut sein, und ich bemühte mich, wo es ging, mich nach den Ergebnissen der Wissenschaft zu richten; wo es aber nicht ging, zog ich vor, gar nicht zu schreiben.« Dieses letztere Bekenntnis ist für die realistische Art Tschechows außerordentlich bezeichnend.

Als Student mußte Tschechow selbst für seinen Unterhalt sorgen und fing schon im ersten Semester an, an den Witzblättern Libelle, Wecker, Splitter usw. mitzuarbeiten. Die Witze und humoristischen Skizzen aus dieser ersten Zeit verraten noch nichts von seinem großen Talent und entsprechen durchaus dem Geschmack der Leser dieser seichten Blätter, – doch befinden sich auch unter ihnen wahre Perlen der Erzählungskunst. Im Jahre 1884 absolvierte er die Universität und erhielt ein ärztliches Diplom. Zur Ausübung der ärztlichen Praxis im größeren Maßstabe kam er jedoch nie und leistete nur gelegentlich ärztliche Hilfe, wie in Moskau, wo an seiner Tür ein Schild ›A. P. Tschechow, Arzt‹ prangte, so auch auf dem Lande, wenn sich die Bauern an ihn wandten. Die Mitarbeiterschaft an den Witzblättern brachte ihm aber mehr ein, als ein angehender Arzt sonst zu verdienen pflegt. Einen gewissen Aufstieg bedeutet die 1886 beginnende Mitarbeiterschaft an der größten Petersburger Zeitung Nowoje Wremja: der Herausgeber derselben, Ssuworin, hatte Tschechows Begabung früh erkannt und blieb für immer sein Verleger. Im gleichen Jahre 1886 erschien auch Tschechows erste Sammlung Bunte Erzählungen; er hatte sie, wie auch alle seine Beiträge in den Witzblättern, nicht mit seinem Namen, sondern mit dem Pseudonym ›Tschechonte‹ gezeichnet (so pflegte ihn der Religionslehrer am Taganroger Gymnasium zu nennen). Diese Sammlung, die die besten Humoresken Tschechows enthielt, hatte beim Publikum großen Erfolg; die 1887 erschienene Sammlung In der Dämmerung erregte auch die Aufmerksamkeit literarischer Kreise, u. a. Grigorowitschs. Dieses zweite Buch enthält nicht nur Humoresken, sondern auch Erzählungen, die schon den späteren, grau in grau malenden Künstler Tschechow verraten. Der Erfolg des Bandes war ganz außerordentlich; die Akademie belohnte Tschechow mit dem Puschkinpreis, und die ›dicke‹ literarische Monatsschrift Russkaja Myslj lud ihn zur Mitarbeiterschaft ein.

In dieser Zeitschrift erschien 1888 die längere Erzählung Tschechows Steppe, sein erstes wirklich bedeutendes Werk. In dieser Erzählung geht eigentlich nichts vor, sie schildert bloß die höchst langweilige Wagenfahrt eines etwa zehnjährigen Jungen in Begleitung seines Onkels, eines Geistlichen, durch die südrussische Steppe nach der Kreisstadt, wo der Junge in die Schule eintreten soll. Die Schilderung ist den besten Stellen bei Turgenjew und Tolstoi ebenbürtig; sie ist ganz grau in grau gehalten und wird nur an einer Stelle von einem warmen, hellen Licht erhellt: es ist die Stelle, wo die Reisenden in der Steppe einem jungverheirateten Bauern begegnen, der vor lauter Glück nicht schlafen kann und sich nachts in der Steppe herumtreibt. Der Duft von Blumen und wogendem Gras der uferlosen Steppe liegt über dem Ganzen und verleiht dem Werk einen eigenen Zauber. Um die gleiche Zeit schrieb Tschechow sein erstes Theaterstück, das Drama Iwanow, das in Moskau und Petersburg mit großem Erfolg aufgeführt wurde. Im Jahre 1889 brachte der Nordische Bote seine zweite längere Erzählung, die Langweilige Geschichte, die Tragödie eines alten Professors und seines jungen Mündels, Katja, die alle beide des Lebens müde sind, er infolge seines Alters, sie infolge ihrer tragisch-leidenschaftlichen Veranlagung. In diesem Werk steht Tschechow als Künstler vollendet da, und alle seine weiteren Werke bedeuten nur eine größere Vereinfachung der Kunstmittel. In den folgenden Jahren erschienen zwei weitere Novellensammlungen von höchster Meisterschaft, Im Jahre 1890 unternahm Tschechow eine Reise nach der Verbrecherinsel Ssachalin an der Ostküste Sibiriens. Auffallend ist die Wahl eines so unerfreulichen Reiseziels; Tschechow selbst äußerte sich darüber in einem Brief wie folgt: »Ich reise nicht, um Betrachtungen und Eindrücke zu sammeln, sondern nur um ein halbes Jahr anders zu leben, als ich bisher gelebt habe.« Als Resultat dieser Reise erschien in der Russkaja Myslj 1893 Die Insel Ssachalin, eine der vollendetsten Reiseschilderungen der Weltliteratur, großartig trotz des durchweg düstern Kolorits.

Im gleichen Jahre entstand auch Tschechows zweites Stück, der Waldteufel. Es kam in Moskau zur Aufführung und fiel durch. Nach Jahren schuf Tschechow aus dem Waldteufel ein ganz neues Stück, den Onkel Wanja; dieses wurde 1901 vom berühmten Moskauer Künstlertheater wieder aufgeführt und hatte einen ganz beispiellosen Erfolg; viele Jahre gehörte es, neben den andern Stücken Tschechows, zu den Grundpfeilern des Repertoirs dieser Musterbühne. Sein drittes Stück, die Möwe, erlebte bei der Uraufführung in Petersburg (1896) einen berühmten Durchfall, wurde aber später vom Moskauer Künstlertheater glänzend rehabilitiert. (Dieses Theater führt auch heute noch eine Möwe als Wahrzeichen.) Tschechows zwei letzte Stücke, Drei Schwestern (1901) und Kirschgarten (1904), waren eigens für das Moskauer Theater geschrieben, und ihre Aufführung wurde zu einem Triumph des Dichters.

Alle diese Jahre lebte Tschechow in Moskau, das ihm zur zweiten Heimat geworden war. 1891 und 1897 unternahm er Reisen ins Ausland, nach Wien, Venedig und Paris. Sein Lungenleiden, über das er schon 1884 klagte und das nach seiner Ssachalinreise eine bedenkliche Form angenommen hatte, veranlaßte ihn, nach dem Süden zu ziehen. 1898 kaufte er sich einen Bauplatz in der Nähe von Jalta (Krim) und ließ sich da eine kleine Villa errichten. Jalta, das er wenig mochte, wurde nun zu seinem dauernden Wohnsitz. Ab und zu kam er nach seinem geliebten Moskau, so im Januar 1904 zur Uraufführung seines Kirschgartens. Er produzierte immer weniger und veröffentlichte nur zwei bis drei Erzählungen im Jahr, die bei ihrem Erscheinen (in den Monatsschriften Russkaja Myslj, Nordischer Bote u. a.) jedesmal ein großes Ereignis für das ganze literarische Rußland bedeuteten. Im Jahre 1897 erschienen Die Bauern, 1898 Der Mensch im Futteral und Jonytsch, 1899 Ein Fall aus der Praxis und Die Dame mit dem Hund – wohl das schönste Werk Tschechows.

Im Frühjahr 1904 verschlimmerte sich Tschechows Gesundheitszustand derart, daß die Ärzte ihn ins Ausland schickten, und zwar nach Badenweiler. Der Aufenthalt in diesem Schwarzwald-Kurort gefiel ihm gut. Er hatte kurz vorher die Schauspielerin Knipper (vom Moskauer Künstlertheater) geheiratet, und so war er in der Fremde nicht allein. Da er selbst Arzt war, ließ er sich über den Ernst seines Zustandes nicht täuschen. Zu der Lungentuberkulose kam noch eine Herzkomplikation hinzu, die Kräfte nahmen rapid ab, und in der Nacht auf den 15. Juli trat das Ende ein. Seine letzten Worte waren deutsch: »Ich sterbe.«

Tschechows dichterische Tätigkeit zerfällt, wie schon oben gesagt, in zwei Perioden. Die erste ist die des Humoristen ›Tschechonte‹ und umfaßt an die dreihundert kurze Humoresken von sehr verschiedenem Wert; die ältesten aus Tschechows Studentenzeit sind fast sämtlich sehr schwach und entsprechen durchaus dem Niveau der Witzblätter, in denen sie erschienen. Auf den späteren beruht dagegen Tschechows Berühmtheit, und unter ihnen finden sich solche Perlen wie Ein Kunstwerk, Chamäleon, Das Drama, die zu den gelungensten Humoresken der Weltliteratur gehören. Schon in diesen Humoresken fallen zwei für Tschechow charakteristische Eigentümlichkeiten auf: sie spielen sämtlich in der Provinz oder in Moskau (das eigentlich auch nur ein ›großes Dorf‹ ist), und die handelnden Personen sind lauter kleine Leute: niedere Beamte, Lehrer, Kleinbürger und Bauern. Auch Ärzte, Heilgehilfen, Apotheker und Hebammen spielen eine hervorragende Rolle: nicht umsonst war Tschechow selbst Arzt. Die zweite Periode beginnt mit der bereits erwähnten Steppe (1888). Tschechow schrieb auch nach dieser Erzählung noch Humoresken, diese haben aber schon einen ernsten Unterton und stimmen den Leser im Grunde traurig: es ist ein ›Lachen unter Tränen‹. Die Mehrzahl der Werke dieser zweiten Periode ist aber in keiner Weise humoristisch. Es sind längere und kürzere Geschichten aus dem grauen Alltag der russischen Provinz, in denen nichts geschieht, und die ganze Tragik liegt eben darin, daß nichts geschieht, daß kein Gewitter die drückende Atmosphäre reinigt. Die handelnden Personen sind sämtlich gute, doch überflüssige Menschen; in ihrer Jugend haben sie sämtlich Ideale und eine Sehnsucht nach dem symbolischen Moskau der Drei Schwestern. Aber mit den Jahren versumpfen sie im Alltag, verwandeln sich in gefühllose Holzklötze, wie der Arzt Jonytsch. Im trostlosen Grau der Provinz erblühen herrliche, poetische Mädchenblumen, und auch sie welken nutzlos und traurig dahin. Die Liebe ist, wie wir schon sagten, das einzige, was Tschechows grauen Nebel leuchtend durchdringt. Aber auch sie ist bei ihm hoffnungslos und dem Tode geweiht. Man lese die Novelle Die Dame mit dem Hund, eine der schönsten und traurigsten Liebesnovellen der Weltliteratur. Gurow, ein behäbiger Moskauer Bürger, Hausbesitzer und Familienvater lernt in Jalta eine Dame kennen, in die er sich sofort verliebt. Der Gedanke an sie verfolgt ihn später in Moskau und zwingt ihn, mitten im Winter in die öde Provinzstadt, wo sie mit ihrem Mann lebt, zu fahren, nur um sie zu sehen. Gleich am ersten Abend begibt er sich ins Stadttheater und mustert klopfenden Herzens das Publikum. »Nun kam auch Anna Ssergejewna. Sie setzte sich in die dritte Reihe, und als Gurow sie erblickte, krampfte sich sein Herz zusammen, und es wurde ihm vollkommen klar, daß es in der ganzen Welt keinen zweiten Menschen gäbe, der ihm so teuer, nah und notwendig wäre wie sie; diese in der Provinz verlorene, durchaus gewöhnliche kleine Frau, mit dem ordinären Lorgnon in der Hand, erfüllte sein ganzes Leben, war seine Freude, sein Leid und sein einziges Glück, das er sich ersehnte; und zu den Klängen des schlechten Orchesters, der elenden Provinzgeigen dachte er, wie schön sie sei ...« Diese ›elenden Provinzgeigen‹ begleiten das ganze Leben der Tschechowschen Gestalten und lassen keine ihrer Herzensregungen zu einem großen, sieghaften Gefühl erblühen. Jede Ehe ist unter diesen Umständen unglücklich, auch wenn jeder der Gatten für sich noch so gut und edel ist. Während Tolstoi jede Ehe wie alle von der europäischen Kultur gezeugten Formen menschlichen Zusammenlebens im Prinzip verwirft, findet Tschechow überall Poesie und Schönheit und sieht das Übel nur im Staube des Alltags, der alles Leuchtende verhüllt. Wenn bloß dieser Staub hinweggefegt ist, wenn die ›elenden Provinzgeigen‹ verstummen, wird das Leben sofort leuchtend, schön und lebenswert werden. Seine Forderungen waren also viel bescheidener als die Tolstois, der jedes Leben, wie das stille in der Provinz, so das lärmende in der Großstadt, zerstören wollte, um das Gottesreich auf Erden zu errichten, und es wäre verkehrt, Tschechow einen Pessimisten zu nennen: im Grunde war er wohl einer der genügsamsten Optimisten, die je gelebt haben.

Eine eigene Erwähnung verdienen Tschechows Kinder- und Tiergeschichten, namentlich die letzteren. Ihm gelang es wie keinem zweiten Dichter, in die Seele der stummen Kreatur einzudringen und sie überzeugend, dabei aber gar nicht anthropomorph darzustellen. Seine Hunde, Gänse, Wölfe usw. sind ebenso vollendete Individuen wie die Kontoristen, Hebammen und sonstigen menschlichen Helden seiner Erzählungen. Was Tschechow von allen anderen großen russischen Prosadichtern unterscheidet, ist, daß er keinen einzigen Roman hinterließ. Als Student schrieb er wohl eine Art Roman Drama auf der Jagd, der 1884 in einem Moskauer Winkelblättchen erschien; er blieb unbekannt und verdiente auch kein besseres Schicksal. Aus Tschechows Briefen ist wohl zu ersehen, daß er in den Jahren 1887–1889 einen zweiten Roman geschrieben hat; dieser ist aber niemals erschienen, und es sind auch keinerlei Fragmente daraus erhalten geblieben. Es wird angenommen, daß Tschechow das Geschriebene verbrannt oder daß er den vorhandenen Stoff in seinen längeren Novellen Der Zweikampf oder Die drei Jahre verarbeitet hat. Dem Umstand, daß Tschechows Werk keinen einzigen wirklichen, repräsentativen Roman enthält, ist es zum Teil zuzuschreiben, daß er allgemein nicht neben den andern großen Russen genannt wird.

Außer den vier erwähnten Stücken, die keine ›Dramen‹ im landläufigen Sinne des Wortes sind, da in ihnen, wie in den Erzählungen Tschechows, eigentlich nichts vorgeht, schrieb er noch mehrere Possen ( Heiratsantrag, Bär), die zum Teil dramatisierte Humoresken sind; sie erfreuen sich beim breiten russischen Publikum einer großen Beliebtheit, während die literarisch Gebildeten die Drei Schwestern und den Kirschgarten für die besten Werke neuerer russischer Theaterdichtung halten. Wem es je vergönnt gewesen, eines dieser Studie in der Aufführung des Moskauer Künstlertheaters zu sehen, vergißt den Eindruck nie wieder und findet in der westeuropäischen Theaterkunst wirklich nichts Gleichwertiges.

Tschechow schilderte die Dinge mit scheinbarer Teilnahmslosigkeit und verriet mit keinem Wort sein Verhältnis zu ihnen. Sein Innerstes behütete er mit der Keuschheit eines Tjutschew vor fremden Blicken; er ist eine Sphinx. Und doch lasen die älteren Kritiker, die Anhänger der alten realistischen Schule bei ihm auch eine Tendenz heraus. So schreibt einer von ihnen: »Die Gontscharows, Pissemskijs, Ostrowskijs sahen das Leben an und erzählten, was sie gesehen haben. Gogol sah das Leben an und lachte, und nicht alle hörten das Zittern in seinem Lachen. Ssaltykow geriet in Zorn und hob die Hand mit verdammender Gebärde. Turgenjew beweinte die erlöschende Schönheit der letzten Adelsnester. Tschechow sah das russische Leben an und brach in Tränen aus; er beweinte das, was darin am meisten Mitleid verdient: die geschändeten und zerschlagenen Frauenträume, die im Schnaps ersäuften Talente, die Unerreichbarkeit des Ideals und den frühen Verlust der Lebensfreude.« Die Jungen werteten aber Tschechow ganz anders: hinter den realistischen Schilderungen sahen sie Andeutungen und Hinweise auf eine jenseitige, wirklichere, ewige Welt: per realia ad realiora. Einer der ersten russischen ›Dekadenten‹, Andrej Belyj, schrieb unmittelbar nach dem Tode Tschechows: »Mögen seine Helden Unsinn reden, essen, schlafen, in ihren vier Wänden leben und auf schmalen grauen Pfaden wandeln, man fühlt doch in seinem Innersten, daß diese grauen Pfade – die Pfade des ewigen Lebens sind, und daß es dort keine vier Wände gibt, wo ewige, unerforschte Räume liegen ... Man weiß ganz sicher, daß, wenn man diese grauen Pfade immer weiter und weiter verfolgt, dort, wo das Abendrot leuchtet, ein Abglanz des Überirdischen und Ewigen ruht.«

So stand Tschechow an der Schwelle zweier Perioden der russischen Literatur: er gehörte einerseits zu der alten realistischen Schule, in der er in Turgenjew und Tolstoi seine unmittelbaren Vorgänger hatte, und wurde zugleich von den ›Dekadenten‹ oder ›Symbolisten‹, von denen das folgende Kapitel handeln wird, als einer der Ihren angesehen.


 << zurück weiter >>