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Kusmin und Block

Der Aufsatz über Kusmin (mit Ausnahme der Stelle über den Zärtlichen Joseph) stammt von David Eliasberg, dem 1920 verstorbenen Bruder des Verfassers, und wurde zuerst in der Deutschen Allgemeinen Zeitung veröffentlicht.

Diese beiden im Ausland viel zu wenig bekannten Dichter gehören zwar zu der gleichen Generation, die wir im Kapitel von den Dekadenten behandelt haben, fallen aber aus der Entwicklungslinie dermaßen heraus und haben sich im letzten Dezennium zu so selbständigen Polen entwickelt, daß wir ihnen ein eigenes Kapitel widmen müssen.

Michail Alexejewitsch Kusmin ist 1875 zu Jaroslawl geboren, also Altersgenosse der ›Symbolisten›-Generation. Heute sieht er mehr einem alten kleinen Abbé aus einem französischen Lustspiel als dem faszinierenden und etwas unheimlichen Byzantiner, wie ihn Ssomow vor vierzehn Jahren malte, ähnlich. Kusmin hatte das Unglück, zur Zeit der Revolution 1904–1906 statt Tendenzkunst sehr feine, sehr zarte Sachen in einem vollendeten Russisch zu schreiben, und folglich blieb sein Werk nur einer kleinen Petersburger Gemeinde von Freunden bekannt. Doch seine Kunst konnte nicht lange Zeit eine exklusive Kunst für Kenner bleiben; es schlummerten in ihr Kräfte, die ausreichten, um eine Epoche zu befruchten. Kusmin war wie wenige berufen, die Überwindung des Symbolismus anzubahnen, die alte Puschkinsche Tradition aufzunehmen und der neuen Kunst die neue Form zu schaffen. Und so wurde der Dichter 1916 anläßlich seines vierzigsten Geburtstages selbst von dem sehr vorsichtigen, in Sachen der Kunst nationalliberalen Kritiker Wengerow als Vater der zeitgenössischen russischen Dichtkunst gefeiert. (Trotz Balmont und Brjussow!) Seinem Einfluß hat sich kaum einer der Jungen und Jüngsten entzogen, selbst die Keime des Futurismus schlummerten in seiner formvollendeten Kunst.

Der junge Kusmin wollte Musiker werden und ging bei Rimskij-Korssakow in die Lehre. Aber es war ihm beschieden, die Klänge seiner Götter Mozart und Debussy (mit dem ihn persönliche Freundschaft verband) in Verse umzusetzen und als Dichter vielleicht der größte moderne Musiker Rußlands zu bleiben.

Die erste Arbeit Kusmins erschien 1906 in der Waage. Es war die längere Novelle Flügel, die, wie manche spätere Werke Kusmins, homosexuell gefärbt ist und den im Grunde sehr keuschen Dichter in den Ruf eines ›Pornographen‹ brachte. 1907 folgte der Novellenband Erlebnisse des Aimé-Lebeuf, 1908 der erste Gedichtband Netze mit den herrlichen Alexandrinischen Gesängen. Dann kamen noch drei Gedichtbände und mehrere Novellenbände und Romane.

Großen Dichtern ist es nicht nur gegeben, ihren Gestalten eine einzigartige, besondere Seele einhauchen zu können – sie schaffen um sie herum eine einzigartige, besondere Natur, geben ihnen Sonne, Himmel und Erde. Dieser Raum, in dem die Gestalten agieren, ist kein toter, sondern in ihm pulsiert das lebendigste Leben, er ist das Leben selbst. Die Eigenart des Dichters drückt sich in vollem Maße in der Eigenart dieses von ihm geschaffenen Raumes aus. Ja, man kann sich die Gestalten eines Meister, eines Lothario, einer Mignon klar vergegenwärtigen und dabei doch kein Gefühl für die Atmosphäre haben, in der sie alle atmen und handeln. Und man muß zum Buch greifen, um dieses Gefühl, einem verwehten Duft vergleichbar, aufs neue zu wecken.

»Verzerrt, doch ungemein lieblich spiegelte die grüne Glaskugel im Astern- und Flammenblumenbeet alle nächsten Gegenstände wider: den von Sträuchern eingefaßten freien Platz vor der Veranda, die Verandatüre, die beiden Bänke und die Lebewesen, die gerade über den freien Platz gingen. Der Anblick war um so belustigender, als all diese Dinge zierliche Bewegungen ausführten: die Wolken schwammen, die Vögel jagten vorbei – eine ganz eigene Welt schien im ewigen grünlichen Mittag des Glases zu wohnen, an die mechanische Schönheit der sich darin spiegelnden Gegenstände gemahnend ... Eine Kugel ist eben eine Kugel und erinnert stets an einen Globus, folglich an die Welt und alles Existierende.«

Die Welt Michail Kusmins erinnert an die mechanische Schönheit dieses Mikrokosmos, der sich in der grünen, im Zentrum einer ländlichen Komödie prangenden Kugel im Beet spiegelt.

Das neue veronesische Liebespaar der russischen Sommerfrische küßt sich, wird durch einen höchst lächerlichen Familienzwist getrennt, küßt sich aufs neue; ungezogene Rangen und würdige Familienväter ergehen sich in komischen Gemeinheiten – und die grüne Kugel, nein, Kusmins Kunst gibt nach den ihr eigenen optischen Gesetzen das getreue Abbild dieser idyllischen Vorgänge wieder; verzerrt, doch ungemein lieblich.

Im Grunde genommen ist Kusmin der Vollender des Impressionismus und infolgedessen der Vollender der klassischen Tradition. So ist seine Vorliebe für das alexandrinische Griechentum, die Renaissance, für das Rokoko, das Puschkinsche Zeitalter und das moderne Petersburg zu verstehen.

Das Petersburg der letzten Jahre vor der Revolution stellte nämlich so eigentlich den letzten Überrest der Empiretradition im modernen Europa dar. Das Eis des Zarismus hatte die starren Formen des russischen Klassizismus in ihrer kalten Strenge konserviert, um sie von den Blutbächen der Revolution schmelzen zu lassen. Natürlich war von antiker Bürgertugend nicht viel zu spüren. Ihr setzte sich der Geist einer unklugen und korrupten Regierung entgegen. Und doch erstand beim Anblick manches schneebedeckten, zwischen klassizistischen Säulen verlaufenden Petersburger Prospektes, wenn hie und da der Dreimaster eines Lyzeumschülers oder Pagen auftauchte, das erste Viertel des vorigen Jahrhunderts.

Wie wichtig diese Zusammenhänge für Kusmin auch sein mögen – man darf ihn sich keineswegs als einen gesucht stilisierenden Ästheten vorstellen. Hinter dem Maskenplunder ferner Zeiten entdeckte er Menschen: ein liebendes, leichtsinniges, gedankenloses und gläubiges Geschlecht. In dieser Hinsicht lassen sich Beziehungen zu Anatole France konstatieren. Doch dessen Skepsis, die ihn mit den Enzyklopädisten verbindet, geht Kusmin ab. Das religiöse Moment, welches – mit positivem oder negativem Vorzeichen – jedem Russen eigen ist, fehlt auch hier nicht – ein religiöser Impressionismus.

Dostojewskij betont mit Nachdruck, sein Aljoscha Karamasow, dieser ihm liebe und von Gott begnadete Jüngling, sei keineswegs ein ekstatischer und blasser Träumer gewesen; er habe rote Wangen, frische Augen und einen kräftigen Körperbau besessen. Und Aljoscha lebt seinem Gott, auch wenn er die Lisa küßt und an seinem Pater Seraphicus zweifelt. Kusmins Helden gleichen alle, ob im Kaufmannsrock oder Offizierskittel, diesem Aljoscha. Es sind eben Helden des Herzens; aufrechte, blonde, auch im Irren gläubige Slawen mit unerschrockenem liebevollem Gemüt.

Außerordentliche Beachtung verdient Kusmins Roman Der zärtliche Joseph (1909). Der Held, ein echter, unverdorbener Aljoscha, auf dem Lande bei seiner Tante, einer abscheulichen alten Messalina, aufgewachsen, wo er merkwürdige Beziehungen mit dem ›Volke‹ angeknüpft hat, heiratet eine Popentochter, die ihn betrügt, zieht mit ihr nach Petersburg, wendet sich vom Weibe ab und geht, von zwei guten Genien – der buckligen Ssonja und dem mystischen Offizier Andrej Fonwisin, einem strahlenden Erzengel – geleitet, einem neuen Leben entgegen. Was es für ein Leben ist, verschweigt uns der Autor, aber der Roman schließt – wie mit einem ehernen Glockenschlage – mit dem Namen der ewigen Stadt: »Joseph fragte plötzlich: Ssonja, wie heißt auf italienisch Rom? – Roma. – Roma? Das klingt schön: so rund wie die Kuppel.« Kusmin hat, nebenbei bemerkt, eine erstaunliche Fähigkeit, junge, hübsche Frauen, die durchaus nicht aus dem moralischen Durchschnitt herausfallen, so abstoßend darzustellen, daß man – wenigstens während der Lektüre seiner Werke – zu einem grimmigen Weiberfeind wird. Im Zärtlichen Joseph fällt dies besonders auf. Wie in den Brüdern Karamasow dem sündhaften Treiben der Welt das weiße Kloster, in dem Sossima predigt, gegenübergestellt ist, so hat auch der Zärtliche Joseph ein lichtes Refugium: es ist der Kreis der Sektierer mit der jungen Bäuerin Marina im Mittelpunkte. Der Roman ist reich an gewagten Anekdoten, aber auch an Stellen, die an die Predigt Sossimas gemahnen; er ist frivol und religiös, roh und unsagbar zart, ironisch und tiefernst, oberflächlich und tief – wie das russische Leben.

Kusmin schreibt wundervolle Verse. Meist sind es Gesänge, in denen die köstlichen Gegenstände eines feinsinnigen Epikureertums in bezauberndem Glanze strahlen: ein Rosenbusch, ein Notenheft, ein leichter Wein, beseelt und lieblich, wie das Stilleben auf Manets Frühstück. Sein erster Gedichtband Netze fängt mit folgenden Strophen an:

Ich kann – ich weiß! – den Ausflug kaum beschreiben,
Chablis in Eis, des Toasts goldbraune Scheiben,
der drallen Kirschen schwarzachat'ne Pracht!
Fern ist die Nacht, im Meer das laute Treiben
der heißen Leiber tönt wie heitre Schlacht.

Dein lieber Blick, der lockende, verschmitzte,
ist wie ein Trick, der durch ein Lustspiel blitzte
der launenhaften Feder Marivaux's.
Dein Mund Pierrot's, die Nase, die geschnitzte,
berauschen wie die ›Hochzeit Figaros‹.

O Zaubermacht von holden, luftigen Dingen,
der Liebesnacht Versagen und Gelingen,
die Anmut, die nicht in Gedanken fällt!
Ach, ich bin treu – fern der Asketen Ringen –,
treu deinen Blumen, heitre Sonnenwelt! Deutsch von Wolfgang E. Groeger.

In den folgenden Jahren war Kusmins Engel strenger geworden. Der gläubige Dichter streift die schönen Dinge ab, wie man Ringe abstreift, und folgt gehorsam seinem Engel. Die Kerenskijzeit brachte, ganz unerwarteterweise, Revolutionsverse von ihm. So mögen wohl die großen Franzosen nach ihrer Revolution in den zärtlichen Schäfern unvermutet würdige Patriarchen und Familienväter entdeckt haben.

Nun bleibt noch einiges über die Form der Lyrik Kusmins zu sagen. Sie ist schlechthin vollendet. Der klassische, in seiner geläuterten Sinnlichkeit unerreichbare Vers Puschkins scheint eine herrliche Auferstehung zu feiern. Allerdings ist Kusmins Tonfall mit keinem andern zu verwechseln oder zu vergleichen. Ein Meister im Gebiet des straffen Versmaßes, versteht es Kusmin, sich von seinen Fesseln zu befreien. Der freie Vers der Alexandrinischen Gesänge ist süße und bezaubernde Musik. Diese Lockerung des Versbaues ist nicht lediglich eine formale Angelegenheit, sie entspricht einer tiefen seelischen Umwandlung. Der frühe Ästhetizismus Kusmins bevorzugte komplizierte Kunstgriffe, etwa im Sinne eines Theophile Gautier. Die allmählich zur Herrschaft gelangte heitere Religiosität hat eben die Auflösung der meisterhaft beherrschten Form zu einem flüssigen, flimmernden Golde bewirkt.

Wir beschließen diesen Abschnitt mit einer Probe aus den Alexandrinischen Gesängen, welche zeigt, wie heiter der Dichter den Tod hinnimmt, vielleicht auch das Sterben seiner großen Heimat:

Süß ist es zu sterben
auf dem Schlachtfelde,
beim Schwirren der Pfeile und Speere,
wenn die Trompete schmettert
und die Sonne scheint, um die Mittagsstunde
für die Ehre der Heimat,
um sich die Worte hörend: –
Lebe wohl, du Held! –
Süß ist es zu sterben
als ehrwürd'ger Greis
im gleichen Zimmer,
auf dem gleichen Bette,
auf dem die Vorväter zur Welt kamen und starben,
von Kindern umgeben,
die schon zu Männern geworden,
um sich die Worte hörend:
Lebe wohl, Vater! –
Aber noch süßer,
noch weiser ist es,
nach Verlust des ganzen Vermögens,
nach Verkauf der letzten Mühle
für ein Weib,
das man schon morgen vergessen würde,
von einem lustigen Spaziergange
in das schon verkaufte Haus
zurückgekehrt,
zu Abend zu essen,
zum hundertundersten Mal
die Geschichte des Apulejus zu lesen
und in einer duftenden Wanne,
ohne ein Wort des Abschieds zu hören,
sich die Adern zu öffnen.
Durch das längliche Fenster an der Decke
soll aber Levkojenduft ziehen,
das Abendrot leuchten
und eine ferne Flöte tönen.

Michail Kusmin starb 1936 in Leningrad.

Ein strenges, asketisches, auffallend unrussisches Gesicht blickt uns aus der Ssomowschen Zeichnung entgegen; es ist beinahe afrikanisch wie das von Puschkin, obwohl der Dichter behauptete, sein Geschlecht stamme aus Schweden. Auch der Name klingt gar nicht russisch, und doch ist Block in seiner Dichtung ebenso russisch wie der Nachkomme des Leibmohren Peters des Großen. Auf die Frage, wer der repräsentativste und größte unter den russischen Dichtern unserer Zeit sei, würden wir, ohne zu schwanken, seinen Namen nennen.

Alexander Alexandrowitsch Block, 1880 zu Petersburg geboren, wo er dauernd lebte, trat zum ersten Mal 1905 mit dem Gedichtband Verse von der schönen Dame in die Öffentlichkeit. Diese ersten Gedichte fielen sofort dadurch auf, daß sie auch nicht die geringsten fremden Einflüsse verrieten: Block schlug durchaus neue, vor ihm nicht gehörte Töne an. Schon der freie Rhythmus war auffallend: während in der russischen Metrik sonst die Gleichheit der Silbenzahl in den sich reimenden Zeilen Gesetz ist, wagte es Block, nur die Hebungen und Senkungen zu berücksichtigen, was eine ganz neue, berückende Melodie ergab. (Vor ihm hatte dies allerdings schon die Hippius versucht, aber nur gelegentlich und in viel weniger auffallender Form.) Was den Inhalt der ersten Verse betrifft, so sind sie, wie der Titel schon sagt, der ›schönen Dame‹ geweiht. Diese ist aber nicht eine lebenswarme Irdische, nicht ein Turgenjewsches junges Mädchen, sondern eine Abstraktion, eine Madonna, vielleicht dem ›Ewig-Weiblichen‹ Wladimir Ssolowjows verwandt, stumm, unnahbar in ihrem blauen Mantel und vor allem »wie der Schnee so weiß, aber kalt wie Eis«. Eine eigene Kälte, die Kälte ferner sterndurchleuchteter Weltenräume zeichnet die Dichtung Blocks aus. Ein Kritiker verglich seine frühen Gedichte mit »unterentwickelten Photographien«; ein anderer (Balmont) sagte, sie seien unklar und neblig wie langsam fallender Schnee. Andere wieder erklärten, Block sei kein ›Symbolist‹, sondern ›Impressionist‹. Diese letzte Behauptung hat viel für sich: Block ist tatsächlich der Dichter augenblicklicher Eindrücke, die er unter Verschweigung aller Prämissen und Nebenumstände wiedergibt; er läßt die Worte unmittelbar auf die Seele des Lesers einwirken und gibt »Zusammenstellungen von Worten, aus welchen, wie der Funke aus dem geschlagenen dunklen Stein, die Landschaften der Seele hervorbrechen, die unermeßlich sind, wie der gestirnte Himmel ...«

Dieser herrliche Satz Hugo v. Hofmannsthals paßt noch mehr auf die zweite Gedichtsammlung Blocks: Die unerwartete Freude (1907). So heißt ein in Rußland verehrtes Marienbild: ein neuer Hinweis darauf, daß Blocks ›schöne Dame‹ die Himmelskönigin ist. Der den Russen fremde Marienkult findet sich, wie schon gesagt, auch in der Verehrung des ›Ewig-Weiblichen‹ bei Wladimir Ssolowjow (der ja heimlicher Katholik war!). Solch ein eigentümlicher russischer Verehrer der Madonna ist auch der Held des Puschkinschen, dem (katholischen) Philosophen Tschaadajew gewidmeten Gedichts Der arme Ritter. Block schlägt in seinem zweiten Gedichtband zwar männlichere Töne an, und die Photographien sind nicht mehr ›unterentwickelt‹, aber das Grundthema ist dasselbe: immer die gleiche unnennbare ›schöne Dame‹, kalt, stumm und unnahbar, die wie eine Vision an den Trivialitäten des Seins vorübergleitet. Der Dichter liegt bald vor ihr auf den Knien in inbrünstiger Andacht und stürzt sich bald wieder in die Hölle des Alltags; er will »stets wieder sie im Himmel lieben und sie betrügen auf der Welt«. Daraus entsteht eine erschütternde, kaum wiederzugebende Musik von Dissonanzen. Unvergleichlich ist in dieser Beziehung das nicht einmal in Prosa übersetzbare Gedicht Die Unbekannte. Inmitten Betrunkener »mit Kaninchenaugen«, schläfriger Kellner und Alkoholdünste erscheint sie, von einer eigenen Atmosphäre aus »Nebel und Parfüm« umhaucht, in »steifen Seiden, die uralte Mären atmen«, die schmale Hand mit Ringen geschmückt ... Schon rein musikalisch ist das Gedicht eine berückende Symphonie aus Konsonanten und Vokalen, und wer es auch nur einmal gelesen, vergißt es nie wieder.

In den folgenden Gedichtbänden: Schneemaske (1907), Erde in Schnee (1908), Nächtliche Stunden (1911) schlägt Block neue Töne an: die schöne Dame ist auf die Erde gestiegen, und die Wirklichkeit hat das »göttliche Ungeschehnis« gemordet. Sobald sie greifbare Gestalt anzunehmen begann, erschauerte der Dichter vor der unausbleiblichen Wandlung der Himmlischen in eine Irdische:

Ich ahne dich. Vorüber ziehen Jahre,
und immer ahn' ich dich – in einziger Gestalt.
Loh flammt der Horizont – in blendend heller Klare,
ich starre stumm – ganz in des Traums Gewalt.

Loh flammt der Horizont, nah ist die Traumgeschaute,
doch fürchte ich: du wechselst die Gestalt,
und weckst Mißtrauen, daß du, die inniglich Vertraute,
zuletzt erscheinst in anderer Gestalt.

Oh, wie ich fallen werd' – erschütternd tief und wehe,
besiegt von meines Traums verzehrender Gewalt!
Klar ist der Horizont! O Leuchten deiner Nähe!
Doch fürchte ich: du wechselst die Gestalt. Deutsch von Wolfgang E. Groeger.

Um die gleiche Zeit (1907) schrieb Block das kleine Drama Die Unbekannte, in dem die ›schöne Dame‹ erst als schöner Stern am Himmel strahlt, dann als Sternschnuppe dem verliebten Dichter vor die Füße fällt und sich in das sterbliche schöne Mädchen ›Maria‹ verwandelt; in dieser Gestalt begegnet sie dem Dichter noch einmal in der trivialsten aller trivialen Abendgesellschaften, um dann wieder und unwiederbringlich in den Himmel zu entschweben. Davon handelt auch das Gedicht:

In die Felder bist Du entflogen.
Hosianna dem Namen Dein!
Von der Dämmerung purpurnem Bogen
schnellen Pfeile wieder ins Sein.

Nach dem Trost Deiner goldenen Flöte
will ich rufen in letzter Not.
Sind erschöpft meine tiefsten Gebete,
send mir Wehem im Felde den Tod.

Schwebst vorbei Du in goldnen Gewändern?
Meine Augen öffnen sich nicht.
Laß mich hier in schummrigen Ländern,
laß mich küssen die Pfade zum Licht.

O entreiß mir die rostige Seele!
Nimm mich hin, die du Moore und Land,
wie ein Lichtstrahl die bröckelnde Stele,
reglos hältst in der schmalen Hand. Deutsch, wie alle Proben aus diesem Gedicht, von Wolfgang E. Groeger.

Und der Dichter wendet sich irdischen Dingen zu. Vor allem seiner Heimat: seine Liebeslieder an Rußland sind die schönsten und ergreifendsten seit Tjutschews bekanntem Gedicht Diese ärmlichen Gesinde ... Block sucht sein Rußland gar nicht zu idealisieren; im Gegenteil, er unterstreicht sogar seine Sündhaftigkeit. In einem Gedicht zählt er in sechs Strophen alle Häßlichkeiten des modernen Russentums auf, um in den letzten zwei Zeilen unvermutet zu erklären:

Ja, und selbst so bist du, mein Rußland,
mir teurer als die ganze Welt!

Diese Vergöttlichung der in dumpfen Sünden erstickenden Heimat ist fanatisch, und in diesem Fanatismus liegen schon die Keime, die später im Poem Die Zwölf aufgingen.

In seinem Hauptwerk Die Zwölf, einem längeren Gedicht, besingt Block das agonisierende Petersburg zu Beginn der bolschewistischen Revolution. Es sei gleich vorausgeschickt, daß er selbst kein Kommunist war und das Gedicht nicht als Verherrlichung des Bolschewismus aufzufassen ist. Aber er sah in der Katastrophe, die in der Weltgeschichte nicht ihresgleichen hat, den Zusammenbruch einer sündhaften Lebensordnung und die Verheißung neuer strahlender und heiliger Zeiten. Wir wollen uns mit der Tendenz nicht auseinandersetzen und von der Dichtung nur als von einem Kunstwerk sprechen. Als solches erscheint sie uns aber als die stärkste Manifestation russischen Geistes seit Dostojewski). Sie besteht aus zwölf Teilen in wechselnden Rhythmen, voll schriller Dissonanzen und blendender Kontraste: bald hört man eine Ziehharmonika, bald Trompeten und Trommelwirbel, bald die ländliche Balalaika, und dann wieder Orgel, Geigen und Cellos. Bald sind es die Klänge eines Revolutionsmarsches, aufreizender als die der Marseillaise, bald ein Gassenhauer, bald ein rauhes Arbeiterlied, bald Puschkinsche Jamben, bald ein schlichtes Volkslied und zum Schluß ... der Schluß ist Sphärenmusik. Ein Wintertag in Petersburg gleich nach dem bolschewistischen Umsturz: »Schwarzer Abend, weißer Schnee«; über die Straße ist noch ein Leinenplakat gespannt mit der Inschrift: »Die ganze Gewalt der Konstituante«. Verstörte Bürger schleichen durch die Straßen; eine alte Dame, ein Intellektueller, der »Genosse Pope«; der Wind peitscht sie alle ins Gesicht. Eine Straßendirne erzählt, daß auch sie sich organisiert und einen Mindesttarif aufgestellt hätten. Schwarzer Haß. Heiliger Haß. Schwarzer Abend. Weißer Schnee. Das ist die Ouvertüre, und dann beginnt's:

Die Flocken flattern, der Sturmwind lacht,
zwölf Männer ziehen durch die Nacht.
Die Kolben rechts, die Läufe links,
und Feuer, Feuer, Feuer rings.
Die Mütz' im Nacken, im Maul die Pfeif –
sind alle lange fürs Zuchthaus reif ... Deutsch, wie alle Proben aus diesem Gedicht, von Wolfgang E. Groeger.

Sie ziehen durch die Nacht und knallen ziellos in die schneeverwehten Gassen. Sie sind die Revolution:

Genossen, wir pfeffern mit Blei, nur Mut,
dem heiligen Rußland das träge Blut!

Immer kehrt als Leitmotiv wieder: »Die Freiheit, die Freiheit, doch ach! – ohne Gott ...« Aber das Gewehrgeknatter übertönt alle Zweifel: »Tachtararach!« Und sie stimmen ein Soldaten- oder vielmehr Rotgardistenlied an, das mit der Strophe endet:

Fachen an den Weltbrand, Würger
dieser Welt der lieben Bürger, –
Weltbrand in Gehirn und Blut,
Herrgott, segne unsre Wut!

Im Schneegestöber rast ihnen ein eleganter Schlitten entgegen mit elektrischer Laterne an der Deichselstange. Im Schlitten sitzt ihr ehemaliger Kamerad, der Soldat Wanjka mit der ehemaligen Offiziersdirne Katjka; »war der Leutnants kesse Kebse, nu zieht sie Soldaten vor« – denn die Offiziere sind abgeschlachtet ... Die Zwölf schießen nach dem Schlitten: »Tach-tararach!« Des eifersüchtigen Petrucha Kugel trifft das Mädel, Wanjka entkommt. Katjka liegt im Schnee. Im Mörder regt sich die Reue: er hat sie doch geliebt! Aber die Genossen beschämen ihn. Es steht ja eine lustige Nacht bevor:

Schließt die Türen mit Verlaub:
heute gibt es Brand und Raub!
Auf die Keller überall –
Lumpenpack hat Karneval! ...

Nun folgt erst ein Volkslied – Reminiszenz an das heimatliche Dorf –, dann wieder der Revolutionsmarsch und sinnloses Geknatter um jede Straßenecke. Am Kreuzwege steht der Bürger,

er birgt im Kragen Nas' und Kinn ...
und hinter ihm, von Grind entstellt,
steht gleich dem herrenlosen Hunde,
den Schweif geklemmt, die alte Welt ...

So ziehen sie, alles niederknallend, Schrecken verbreitend durch die Petersburger Straßen, die zwölf Rotgardisten, die zwölf Mörder und zugleich Apostel einer neuen Wahrheit ... Ein herrenloser, räudiger Hund folgt ihnen ...

Und voran mit blut'ger Fahne,
unsichtbar im Schneegeleit,
perlumrieselt, todgefeit,
sanften Schritts durch Sturmestosen
geht im Kranz aus weißen Rosen,
lichtdurchwebt gleich einem Stern –
Jesus Christ, der Sohn des Herrn.

Mit dieser Vision schließt das apokalyptische Werk, die letzte große Dichtung, die auf russischem Boden entstanden. Die Bolschewisten erblickten in diesem Gedicht eine Verherrlichung ihres Regimes, während viele Kritiker dem sehr problematischen Werk eine entgegengesetzte Auslegung gaben. Block selbst soll das Gedicht später, als es sich zeigte, wohin seine zwölf Apostel Rußland führten, tief bereut haben. Auch die bolschewistische Regierung traute seiner kommunistischen Gesinnung nicht: als er infolge Unterernährung an Skorbut erkrankte, zu dem sich später eine Lungenentzündung und ein Herzleiden gesellten, und an die Regierung ein Gesuch richtete, nach Finnland gehen zu dürfen, ließ man ihn nicht heraus. So starb er als direktes Opfer des Regimes am 11. August 1921, und mit ihm stieg wohl Rußlands (neben Puschkin, Lermontow, Tjutschew und Feth) größter Dichter ins Grab.


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