Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Teil

Blandinens Opfer

I.

Am zweiten Tage nach dem Einweihungsfest begab sich der Deichgraf nach dem Pilgerhofe. Er kam zu Pferde an mit zwei Gordonsetters, die bellend im Straßenstaube vor ihm her sprangen. Der Großbauer, der gerade auf einem benachbarten Felde ein Stück Land umgrub, warf seinen Spaten weg und hatte gerade nur noch Zeit, seinen Rock über sein rotes Flanellhemd zu ziehen; seine Tochter indes gab sich gar nicht erst Mühe, ihre Ärmel über ihre dicken roten Arme herabzustreifen. Alle beide kamen atemlos angerannt, und nachdem sie den Ankömmling willkommen geheißen, luden sie ihn ein, näher zu treten.

Michael Govaertz hatte nicht zu viel gesagt. Die ganze Besitzung vom Wohnhaus bis zum kleinsten Nebengebäude, die Vieh- und Pferdeställe, die Kellerräume, die Scheunen, der Wirtschaftshof, alles war in peinlichster Ordnung gehalten und reich mit allem Komfort ausgestattet.

Heinrich zeigte sich wieder sehr um Klaudia beschäftigt; er ließ sich von der jungen Bäuerin Auskunft über die Bewirtschaftung des Gutes erteilen, hörte aufmerksam zu und zeigte nicht die geringste Langeweile bei Besichtigung der Vorräte von Kartoffeln, Rüben, Bohnen und Zerealien, die man ihm auf luftigen Speichern oder in feuchten und dunklen Verschlägen zeigte. Mehr als einmal blieb er stehen, um den Arbeiten auf dem Hofe zuzuschauen, so zum Beispiel bei zwei Knechten, die Klee abluden; der eine stand auf dem gefüllten Wagen, der andere am Eingang der Scheune, indem er mit der Heugabel die Bündel rotblühenden Klees auffing, die sein Kamerad ihm zuwarf. Ihr Teint war sonnengebräunt, ihre Augen blau wie Fayence; ein kindlich unschuldiges Lächeln auf ihren üppigen Lippen ließ ihr gesundes Gebiß sehen. Sie arbeiteten mit Feuereifer, und als Klaudia mit ihrer tiefen, rauhen Stimme sie antrieb, verdoppelten sie ihre Anstrengungen, die durch ihre Plastik die Seele des Grafen gefangen nahmen; das große dicke Mädchen spornte sie an, wie man etwa kräftigen Lasttieren zuredet.

Kehlmark erkundigte sich auch nach dem jungen Guido, jedoch ganz obenhin und wie aus einfacher Höflichkeit für die Familie. Der Taugenichts steckte da unten irgendwo, nach Klaarwatsch zu; Klaudia wies nach dem Horizont am anderen Ende der Insel mit einer lässigen Handbewegung, indem sie die Schultern zuckte; dann gab sie dem Gespräch schnell eine andere Wendung.

Klaudia beschäftigte den Besucher vollkommen, und er schien nur für sie Aufmerksamkeit zu haben, beziehungsweise für das, was sie ihm zeigte. Er streichelte ermutigt durch ihr Beispiel den glänzenden Nacken der Kühe; er mußte von der schäumenden Milch kosten, mit der stramme Kuhmägde irdene Näpfe füllten. In einem benachbarten Raum butterten andere Kraftgestalten. Der fade, säuerliche Geruch machte Heinrich übel und er zog es vor, den kräftigen Heuduft in der Scheune einzuatmen, wo sein Reitpferd inmitten der robusten Arbeitsgäule des Gutes sich an dem frischen Klee gütlich that. Im Garten pflückte Klaudia ihm ein Sträußchen von Flieder und Nelken und steckte es ihm, nicht ohne ihn dabei mit ihren Armen zu streifen, in den Ausschnitt seiner Weste.

»Sie müssen einmal wiederkommen, wenn die Erdbeeren reif sind!« sagte sie, indem sie sich bückte, angeblich um ihm die ansetzenden Beeren zu zeigen, in Wahrheit jedoch, um ihn durch ihren üppigen Wuchs und die aufregenden Konturen ihres Fleisches zu reizen.

»Schon Mittag!« rief Kehlmark, indem er seine Uhr zog, als es vom Kirchturm von Zoutbertingen zwölf schlug.

Der Bauer lud ihn lachend ein, ihr ländliches Mahl zu teilen; doch wagte er nicht zu hoffen, daß der Graf annehmen würde.

»Gern!« sagte dieser, »doch unter der Bedingung, daß ich an dem großen Tisch der Leute mitesse und dieselben Gerichte wie sie bekomme!«

»Welcher Einfall!« rief Klaudia; dennoch fühlte sie sich geschmeichelt, daß er so gar keine Umstände machte. Diese Herablassung schien ihr sehr dazu angethan, den Abstand zwischen dem feinen Stadtherren und der einfachen Tochter des Landes zu verringern.

»Alles strotzt von Gesundheit!« bemerkte Kehlmark, indem er seinen Blick über die Tafel schweifen ließ. »Sie sind ebenso lecker als das, was sie sich so brav schmecken lassen, und ihr appetitliches Aussehen unterstützt den gaumenreizenden Duft, der von den Schüsseln aufsteigt.«

Nach dem auf dem Lande dort üblichen Brauch bedienten die Frauen die Männer bei Tische und aßen erst nach jenen. Sie brachten eine Art Suppe mit Speck und Gemüsen, in die Heinrich als der erste seinen Zinnlöffel tauchte. Seine Nachbarn, die beiden Knechte, die den Klee eingefahren hatten, folgten schleunigst seinem Beispiel.

»Kommt Ihr Sohn nicht zum Essen nach Hause?« fragte Kehlmark den Bürgermeister.

»Ach, der!« antwortete Klaudia; »der holt sich jeden Morgen sein Brot und sein Fleisch!«

Nach dem Mittagessen brach Heinrich auf. Klaudia, überzeugt, daß sich ihr jetzt eine günstige Gelegenheit ihn zu fangen biete, begleitete ihn noch über die Ländereien ihres Vaters. So konnte sie ihn ihren Reichtum sehen lassen. Ihre Felder gingen bis da unten hin, viel weiter als die Windmühle dort.

»Sehen Sie dort, wo Sie die weiße Birke sehen!«

Sie gab dem Deichgrafen zu verstehen, daß sie sehr reich seien, schon jetzt ohne das, was sie noch erhofften. Die beiden Schwestern ihres Vaters, zwei alte Frömmlerinnen, die etwas gespannt mit dem Bürgermeister waren, hatten gleichwohl versprochen, seinen Kindern all' ihr Hab und Gut zu vermachen.

Kehlmark trödelte derartig, daß der Abend schon herabzusinken begann, als er sich endlich daran machte, sein Pferd zu besteigen. Der Graf hatte noch immer gehofft, den kleinen Klapphornspieler wiederzusehen, und als er endlich einsah, daß er darauf verzichten müsse, ihn zu treffen, erkundigte er sich noch einmal nach ihm.

»Oft kommt er erst des Nachts nach Hause!« sagte Klaudia, indem sie bei der bloßen Erwähnung des verstoßenen Jungen die Stirne runzelte. »Ja manchmal schläft er sogar draußen. Seine Herumstrolcherei bekümmert uns schon gar nicht mehr, Vater und mich. Wir werden durch nichts mehr von seiner Seite überrascht.«

Des Grafen Herz krampfte sich zusammen, wenn er sich den kleinen Burschen vorstellte, wie ihn in der unsicheren Einöde die Nacht überraschte.

»Ach ja, Bürgermeister« sagte er, als ihm der Großbauer sein Reitpferd vorführte, »ich will mich in Ihren Musikverein aufnehmen lassen.«

»Oder besser, Herr Graf, werden Sie unser Vorsitzender, unser Protektor!«

»Gut! Angenommen.«

In seinem Gedenken an Guido erinnerte sich der Graf auch der Serenade an jenem Abend und er sagte sich, daß es ihm eine innige Freude bereiten würde, öfter die melancholische, herzige Melodie zu hören, die der kleine Hirt so allerliebst blies.

Als er schon einen Fuß im Steigbügel hatte, hielt er noch einmal an; er hatte noch etwas auf dem Herzen. Sollte er sich wieder entfernen, ohne sich über den wahren Zweck seines Besuches ausgesprochen zu haben?

»Es wäre doch möglich«, sagte er schließlich fast scheu zu dem Großbauern, »daß Ihr Sohn wirklich Begabung für die Musik und die Malerei hätte. Schicken Sie ihn mir doch einmal ... Vielleicht kann man doch noch etwas aus ihm machen. Ich möchte versuchen, diesen kleinen Wildfang zu zähmen.«

»Der Herr Graf sind sehr gütig!« stammelte Govaertz, »aber offen gestanden, ich glaube, das ist verlorene Mühe. Der Taugenichts wird Ihnen keine Ehre machen!«

»Im Gegenteil, Herr Graf«, übertrumpfte die Schwester des Jungen ihren Vater, »er wird Ihnen nichts wie Schande bereiten. Auf ihn macht nichts und niemand Eindruck, er hat ganz absonderliche Neigungen und Triebe; was die anständigen Leute für schwarz ansehen, hält er für weiß.«

»Thut nichts, ich will doch einmal den Versuch machen!« beharrte Kehlmark, indem er sich mit seiner Reitpeitsche den Staub von seinen Stiefeln schlug und seiner Stimme einen möglichst gleichgültigen Klang zu geben sich bemühte. »Ich muß Ihnen offen gestehen, ich liebe diese schwierigen Experimente, die einige Ausdauer und selbst einigen Mut erfordern. Ich gestehe auch, – nicht um mich zu rühmen – mitunter hat es schon genügt, daß ich mich an einen Versuch heranwagte, um mich mit Leib und Seele dann dafür zu interessieren. Der Widerstand reizt mich und die Gefahr lockt mich. Es ist das für mich wie eine Wette gegen mich selbst. Wenn Sie mir diesen Brausekopf, diesen Unband anvertrauen wollten, würden Sie mich verpflichten, wahrhaftig ... Doch halt«, fügte er hinzu, »möglicherweise kriege ich das Kerlchen an der Küste von Klaarwatsch selbst zu packen. Ich will dann mit ihm reden und hören, was er dazu sagt ...«

»Wie Sie wollen, Herr Graf!« sagte Klaudia. »Jedenfalls erweisen Sie uns eine große Ehre. Wir werden Ihnen in seinem Namen dankbar sein. Aber seien Sie uns nicht böse, wenn der Schlingel sich Ihre guten Ratschläge und Ihre Sorgfalt nicht zu nutze macht.«

*

Am nächsten Tage dehnte der Deichgraf seinen Streifzug bis in die Haiden von Klaarwatsch aus. Er hatte den kleinen Burschen bald in einer Schaar zerlumpter Bengel entdeckt, die um ein Feuer von trockenem Laubwerk hockten, wo sie sich Kartoffeln brieten. Bei der Annäherung des Grafen rannten alle mit Ausnahme Guidos eiligst davon, um sich hinter Sträucher und Buschwerk zu verstecken. Nur der junge Govaertz blieb sitzen, hielt sich die Hand über die Augen und sah dem Grafen von Kehlmark tapfer ins Gesicht.

»Ach, du bist es, Kleiner!« redete ihn Kehlmark an. »Komm mal her, willst du, und halte mir mal einen Augenblick mein Pferd, während ich die Steigbügel in Ordnung bringe! ...«

Der junge Mensch kam zutraulich näher und ergriff die Zügel. Während Heinrich die Riemen kürzer schnallte, eine Operation, die ihm nur zum Vorwand diente, um sich Haltung zu geben, betrachtete er mit einem Seitenblick den Burschen, während er nicht recht wußte, wie er das Gespräch anfangen sollte; dieser seinerseits fühlte sich seltsam beunruhigt, indem er zwischen Furcht und Sehnsucht abwartete, was sich jetzt zwischen ihnen abspielen würde ... Ihre Augen trafen sich und schienen sich eine dringende Frage vorzulegen. Da trat Kehlmark, um der Situation ein Ende zu machen, nahe an ihn heran und schaute ihm tief in die Augen; dann erzählte er ihm, nicht ohne Verwirrung und Stottern, von dem Vorschlag, den er am Abend vorher seinen Angehörigen gemacht.

»Du verstehst doch ... Du sollst alle Tage zu mir aufs Schloß kommen. Ich selbst werde dich lesen und schreiben lehren, zeichnen, malen, solche großen Bilder herstellen, wie du sie neulich Abend so bewundert hast. Und wir werden auch musizieren, viel musizieren. Du wirst schon sehen, wir werden uns gar nicht langweilen!«

Der Junge hörte ihm zu, ohne ein Wort zu sagen, so verdutzt, daß er ganz verstört aussah; mit offenem Munde, mit weit aufgerissenen Augen starrte er den Grafen an.

Dieser erschrak; er glaubte einen falschen Weg eingeschlagen zu haben, doch sah auch er den Knaben unverwandt an. Plötzlich wechselte Guido die Farbe, sein Gesicht zog sich krampfhaft zusammen, er brach in ein nervöses Lachen aus. Zu gleicher Zeit wich er zurück und versuchte seine Hand aus der des tief erregten Grafen zu reißen; man hätte meinen können, daß er sich sträubte, auf die Worte Kehlmarks einzugehen, daß es ihn verlangte, sich mit seinen kleinen Kameraden wieder zu vereinigen, die von ferne neugierig dem Auftritt zuschauten. Der Graf gab ihn endlich entmutigt frei.

Der kleine Wildfang rannte stürmisch auf die anderen Hirtenjungen zu; doch plötzlich machte er Halt, hörte auf zu lachen, schlug sich beide Hände vors Gesicht und ließ sich jäh ins Gras fallen, während seinen Körper ein Schluchzen erschütterte, seine Zähne in das Haidegras bissen und er mit den nackten Füßen krampfhaft um sich stieß.

Der Graf, mehr und mehr bestürzt, eilte herbei, um ihm aufzuhelfen.

»Um Himmelswillen, so beruhige dich doch, Kleiner! Du hast mich wohl nicht ordentlich verstanden. Du brauchst dich gar nicht so aufzuregen. Ich könnte es mir niemals verzeihen, dir Kummer verursacht zu haben. Im Gegenteil, ich wollte ja nur dein Bestes. Ich schmeichelte mir, dein Vertrauen zu erringen, dein älterer Freund zu werden. Und jetzt gerätst du so ganz außer Fassung! Nimm also an, ich hätte nichts gesagt! Sei nur ganz ruhig ... Ich will dich ja nicht wider deinen Willen zu mir nehmen. Lebe wohl ...«

Und der Graf schickte sich an, wieder auf sein Pferd zu steigen. Doch da richtete sich der junge Govaertz halb auf, schleppte sich auf seinen Knieen zu ihm hin, umklammerte ihn, netzte ihn mit heißen Thränen und brach in eine Flut abgerissener Worte aus, als ob er, nachdem ihm lange Zeit die Kehle wie zugeschnürt gewesen, sich nun endlich habe Luft schaffen und sein Herz erleichtern können.

»O, Herr Graf, Verzeihung, ich bin außer mir, ich weiß nicht, was mich überkommt, was in mir vorgeht; ich sehe wohl traurig aus, aber ich bin überglücklich; ich glaubte vor Seligkeit sterben zu müssen, als Sie so zu mir sprachen. Ich weine nur, weil Sie so gut sind ... Und erst habe ich es nicht glauben wollen ... Sie treiben aber wirklich keinen Spaß mit mir? Es ist also wahr, daß Sie mich zu sich nehmen wollen?«

Der Deichgraf war durch diesen Gefühlsausbruch des kleinen Bauernburschen ganz gerührt; er hatte gar nicht geglaubt, in ihm eine so liebebedürftige und hingebende Natur zu finden. Er redete ihm sanft und freundlich zu, so daß jener sich allmählich an den Gedanken seines großen Glückes zu gewöhnen begann; dann verließ er ihn endlich, entzückt, freudestrahlend, nachdem er ihn für den nächsten Tag nach Escal-Vigor bestellt hatte.


 << zurück weiter >>