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VI.

Ihr intimes Zusammenleben dauerte nicht lange. Als die physischen Bande zwischen ihnen sich lockerten und später ganz lösten, betrübte dies Blandine weiter nicht und überraschte sie kaum. Dennoch liebte sie ihn inniger als je und bewahrte ihm eine abgöttische Erkenntlichkeit für die Ehre, die er ihr hatte zu teil werden lassen; sie war glücklich und stolz auf seine Annäherung.

Die alte Gräfin hatte wohl ihr Einvernehmen geargwohnt, aber sie blieb immer in Unkenntnis darüber, wie weit ihre Liebe gegangen war. Sie lächelte über diese Neigung, denn sie gewöhnte sich mehr und mehr daran, Blandine wie ihre Enkeltochter zu betrachten, wie die Schwester, wenn nicht die Gattin Heinrichs.

Frau von Kehlmark bewunderte auch ihrerseits ihren Enkel, aber ihre Sorge um ihn machte sie hellsichtig, so daß sie in ihm eine Ausnahmenatur, ja fast ein anomales Wesen ahnte; eine innere Stimme sagte ihr, daß der junge Graf einst unglücklich werden würde, – wenn er es nicht schon war. Sie beunruhigte sich über diese Schnelligkeit, oder vielmehr Unstätheit seines Geistes. Er arbeitete ruckweise, schloß sich in sein Zimmer ein, blieb wochenlang dort, ohne herunterzukommen, indem er las, dichtete, komponierte, sich an der Musik Beethovens, Schumanns, Wagners berauschte, die Leinewand vollpinselte oder in alten Scharteken herumkramte; auf diese Zeiten gänzlicher Abgeschlossenheit folgten Perioden, wo ein wildes Bedürfnis nach Betäubung über ihn kam; dann gefiel er sich darin, in den gemeinsten Spelunken sich einzunisten, in die Kneipen der Matrosen und Schiffer zu laufen, sich einem zügellosen Nachtleben zu überlassen; er verschwand tagelang und feierte seinen geheimen Karneval, ohne sein Bett zu berühren. Wenn er dann zusammenbrach, wie ein auf den Strand geschleudertes Wrack oder ein gehetztes und verwundetes Wild, das sich sterbensmüde in seinen Schlupfwinkel schleppt, ging er mehrere Tage nicht aus, um zu schlafen, zu schlafen, immer nur zu schlafen.

Man kann sich denken, wie seine Extravaganzen die beiden Frauen bekümmerten. Meist wußten sie gar nicht, was aus ihm geworden war. Bevor er loszog, sagte er niemals, wo er hin wollte, und wenn er zurückkam, so schwieg er sich aus über die Verwendung seiner Zeit und die Art seines Verkehrs. Wie waren diese Ausschweifungen in Einklang zu bringen mit der zärtlichen kindlichen Liebe, die er seiner Großmutter entgegenbrachte? Wenn er von seinen Streifzügen zurückkehrte, weinte er wie ein Kind und bat die gute alte Dame herzbrechend um Verzeihung; aber das wäre stärker als er, es überwältige ihn, sagte er; er brauchte diese Veränderung, diese lärmende Zerstreuung; er mußte sich betäuben, sich in diesen tollen Strudel stürzen, um weiß der Teufel welche quälenden Gedanken zu verjagen; doch darüber verweigerte er sich näher auszulassen. Oder er schützte Kopfweh und Nervenschmerzen vor, die von seiner schweren Krankheit damals in der Pension zurückgeblieben seien.

So ließ er sich eines Tages, als ihm die alte Gräfin mit ihren Klagen den Kopf heiß gemacht hatte, dazu hinreißen, Blandine in ein ganz verrufenes Tanzlokal zu führen. Gegen Morgen schleppte er sie unter dem Vorwand der Maskenfreiheit in Kneipen niedersten Ranges, brachte sie in Berührung mit liederlichem Gesindel, ließ sie teilnehmen an gemeinen Belustigungen in einer Umgebung, die ihn berauschte wie schlechter Alkohol, die ihr aber kein Vergnügen, nicht einmal eine Illusion von Vergnügen verschaffte. Man bemerkte es mißliebig in der Stadt, daß er nicht mit Leuten seines Standes umging, sondern Verkehr suchte mit Artisten, armen Litteraten, ja mit allerhand ganz verkommenen Subjekten.

Sein Geschmack und seine Neigungen wiesen seltsame Widersprüche auf. So war er ein Sammler von seltenen Drucken und ein Liebhaber von wertvollen Einbänden; dabei stapelte er aber auch die abgelegten Kleider und das Handwerkszeug von armen Leuten auf, Matrosenmesser und schmutzige Einlaßkarten zu Vorstadtbällen.

Oft, nachdem er sich allen Seelenregungen offen gezeigt, gefiel er sich in einer starren Unzugänglichkeit. Sein Frohsinn selbst schien gekünstelt, und eine rauhe Färbung seiner Stimme enthüllte zuweilen die eigentliche düstere Stimmung seines Inneren, so daß Blandine lange Zeit im Zweifel gewesen war, ob er überhaupt so recht von Herzen fröhlich sein könne. Er schnitt Grimassen, wenn er sich vergnügte; er grinste, statt zu lachen. Er sah aus, als ob er jenen beißenden Rauch in sich herumtrüge, von dem Dante spricht: portando dentro accidioso fummo. Er schien ein schreckliches Geheimnis in sich ersticken, irgend welchen Gewissensbissen Schweigen gebieten zu wollen. In seinen großen tiefblauen Augen lag zwar oft etwas Herausforderndes und Angriffsbereites; aber wenn er aufhörte, sich ein Gesicht zurecht zu machen, nahmen seine Augen jenen unbeschreiblich herzzerreißenden Ausdruck an, der Blandine überrascht und fürs ganze Leben ihm zu eigen gemacht hatte, jenen herzzerreißenden Ausdruck wie ein in die Enge getriebenes Tier, wie ein zum Tode Verurteilter, der das Schaffott besteigt, oder vielmehr jenen tiefunglücklichen und doch erhabenen Blick eines Prometheus, der das verbotene Feuer des Himmels geraubt hat.

Freigiebig bis zur Verschwendung, leidenschaftlich für alles Recht und Gerechtigkeit entflammt, empört über alle Niedrigkeit des großen Haufens, reizbar bis zum äußersten konnte er schließlich keinen Widerspruch mehr vertragen und wurde ausfallend gegen jeden, der ihm entgegentrat. So wollte Blandine einst ein reizendes Kind armer Leute von ihm wegholen, die bei der alten Gräfin vorgesprochen hatten; Heinrich hatte für den Jungen eine zärtliche Neigung gefaßt, und als Blandine ihn ihm entreißen wollte, vergaß er sich soweit, seine Freundin mit einem Dolch in der Hand zu verfolgen und sie an der Schulter zu verwunden ... Sogleich war sein Zorn verflogen und voll rasender Verzweiflung, außer sich über sich selbst, drohte er, die Waffe auf seine eigene Brust zu richten, die er gegen Blandine gezückt hatte.

Beunruhigt durch diesen Vorfall ließ die verwitwete Gräfin – ohne daß er es merkte, um ihn nicht aufzuregen – einen berühmten Arzt kommen, der sich zu Heinrich begab, unter dem Vorwande, sich bei ihm Auskunft über eine bibliographische Frage zu holen. Der alte Praktiker studierte den jungen Mann lange und eingehend, während er mit ihm ein wissenschaftliches Gespräch über Litteratur führte.

Als er wieder mit der alten Dame allein war, stellte der Doktor seine Diagnose auf eine nervöse Reizbarkeit, deren Ursache zu entdecken sich beide vergeblich bemühten. Auf jeden Fall verordnete er eine Kaltwasserkur, Reiten, Fechten, Schwimmen, Schlittschuhlaufen; eine organische Verletzung, einen krankhaften Defekt hätte er nicht konstatieren können, im Gegenteil, niemals habe er eine so geschmeidige Intelligenz, ein so sicheres Urteil, einen so umfassenden Blick gefunden bei einem so lebhaften Geiste; er beglückwünschte schließlich Heinrichs Großmutter zu ihrem Enkel, indem er mit der etwas ungeschlachten Biederkeit eines gewiegten Kenners sagte:

»Gnädige Frau, entweder bin ich ein vollkommenes Rindsvieh, oder dieser hochbegabte junge Mann wird ihrem Namen noch Ehre machen. Er ist ein Genie, ihr Großsohn; er ist aus dem Stoff, aus dem die Zukunft sich ihre Künstler, Apostel und Eroberer schnitzen wird!«

»Wenn er doch lieber das Zeug hätte, glücklich zu werden!« seufzte die alte Gräfin, die zwar nicht sehr ehrgeizig war, auf die indessen die Prophezeiungen einer ruhmreichen Zukunft ihres Enkels doch nicht ganz ohne Eindruck geblieben waren.


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