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Der gute Ton in der Unterhaltung

Wenn wir uns mit jemand unterhalten, sei es flüchtig oder eingehend, so erfordert der gute Ton, daß wir ihm unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Es gilt mit Recht als sehr unpassend, ihm auf irgend eine Weise zu bekunden, daß wir uns langweilen und deshalb das Gespräch lieber abbrechen möchten. Wir dürfen während seiner Rede also nicht zu einem Buche oder einer Zeitung greifen und darin lesen, keine Briefe oder sonstige Schriftstücke öffnen und uns nicht in eine unserer täglichen Beschäftigungen vertiefen. Es ist freilich nicht notwendig, unser Gegenüber während des Gespräches beständig und starr anzusehen; wir würden uns aber einer Unhöflichkeit schuldig machen, wenn wir unsere Blicke immerfort umherschweifen ließen, alle möglichen Gegenstände mit Interesse fixierten und dem Sprechenden dabei womöglich den Rücken zukehrten. – Stellt er uns eine Frage, so muß unsere Antwort ihm beweisen, daß wir bei der Sache waren und nicht etwa nur mit halbem Ohre zuhörten; denn nichts pflegt den Erzähler mehr zu beleidigen, als Unachtsamkeit und Zerstreutheit während seiner Rede.

Es gilt auch als unfein, während des Gespräches lebhafte, oft nichtssagende Handbewegungen zu machen, mit dem Taschentuche oder der Uhrkette zu spielen, die Daumen zu drehen oder krampfhaft an den Knöpfen des Rockes zu zupfen. - Wer sich mitten im Gespräch plötzlich erhebt, gibt dadurch das Zeichen zum Aufhören, welches Recht jüngeren Leuten unter keinen Umständen zusteht. Selbst wenn sie bei einem kurzen Pflichtbesuch sich zu verabschieden wünschen, müssen sie immer eine schickliche Gelegenheit etwa eine Pause in der allgemeinen Unterhaltung abwarten.

Wünschen wir mit jemand zu sprechen, der gerade von anderen in Anspruch genommen ist, so dürfen wir ihn nicht mehreremale ungeduldig anrufen, ihn am Ärmel zupfen oder unser Gespräch schon beginnen, bevor er sich von seinem Gegenüber verabschiedet hat; denn dadurch können wir in recht empfindlicher Weise verletzen. Bei etwas gutem Willen seitens der andern wird es uns schon gelingen, uns auf eine weniger aufdringliche Art bemerkbar zu machen.

Junge Leute sollen ältere Personen grundsätzlich niemals unterbrechen, weder um ihre Behauptungen zu bekräftigen, noch um ihnen zu widersprechen. Auch tadelnde Bewegungen des Kopfes sind zu unterlassen. Etwaige Berichtigungen können am Schlusse der Rede vorgenommen werden, und zwar in durchaus bescheidener und zurückhaltender Weise. Es würde ein Verstoß gegen die einfachsten Regeln der Höflichkeit sein, wenn man etwa sagen wollte: »Das ist nicht wahr.« – Man wird stets um Erlaubnis bitten müssen, wenn man eine entgegengesetzte Meinung vorbringen will; und anstatt andere der direkten Unwahrheit zu bezichtigen, macht man sie nur in höflicher und diskreter Weise darauf aufmerksam, daß vielleicht ein Irrtum vorwaltet.

Vor allem darf man sich hierbei nicht ereifern, laut schreien, gestikulieren oder wohl gar mit dem Fuße zu stampfen. Das würde ein Zeichen sein, daß ein heranwachsender Knabe oder ein heranwachsendes Mädchen noch tief in den Kinderschuhen steckt und ein Benehmen hat, das man im gewöhnlichen Leben ungezogen nennt.

Will man die Berichtigung nicht gelten lassen, so dürfen jüngere Leute nur in den allerseltensten Fällen darauf bestehen. Niemand kann beispielsweise verlangen, daß sie unschuldig einer häßlichen Tat angeklagt werden. Aber die Verteidigung darf niemals in Roheit ausarten, sondern muß bescheiden und höflich bleiben.

Zuweilen hört man heranwachsende Knaben und Mädchen über Dinge urteilen, die ihrem Gesichtskreis und ihrer Fassungskraft eigentlich noch fremd sind. Wenn die Knaben die Tertia hinter sich haben, so glauben sie, schon ein gewichtiges Wort in der Politik mitsprechen zu müssen, um die Mitwelt darüber aufzuklären, wie nach ihrer Meinung die soziale Frage zu lösen sei. Und die jungen Mädchen klagen über die Schlechtigkeit der Welt und disputieren und moralisieren über eine eventuelle Besserung derselben. Das alles entspricht wenig dem jugendlichen Ideenkreis, läßt aber eine gute Menge Selbstgefälligkeit und unverdauter Schulweisheit durchblicken. Dürfen junge Leute den ernsten Gesprächen älterer Personen beiwohnen, so ist ein lebhaftes Interesse und eine rege Aufmerksamkeit wohl am Platze. Aber mit ihrem Urteil, namentlich dem unaufgeforderten, sollen sie doch recht sparsam sein.

Eine andere Sorte Jugend treibt es noch weiter. Sie will nicht nur durch ihr sachverständiges Urteil glänzen, sondern auch die Erwachsenen in allen möglichen Dingen übertrumpfen. Das geht nicht nur gegen die Bescheidenheit und Höflichkeit, sondern auch gegen die Klugheit. Denn es bedarf doch nicht der Erwähnung, daß ältere Leute, die schon manche Erfahrungen gesammelt und die Welt mit offenen Augen betrachtet haben, viel eher urteilsfähig und maßgebend sind, als die Jugend, wenn sie auch auf hohen Schulen studiert. – Und zudem setzt sich der Vorlaute leicht der Gefahr einer gründlichen Zurechtweisung oder einer ebenso gründlichen Blamage aus.

Das ewige Streiten und Widersprechen verbittert die Geister. Wir brauchen uns freilich nicht krampfhaft zu bemühen, jeder geäußerten Meinung beizustimmen; aber ebensowenig sollen wir es als Beruf auffassen, alles nach unserer Ansicht Schiefe und Schlechte zurechtzurücken, alles Falsche zu widerlegen, jeden Irrtum aufzuklären, wenn dadurch weiter nichts gewonnen wird, als daß wir eben unsere Meinung sagen. In solchen Fällen ist das Reden noch etwas weniger als Silber, Schweigen dagegen gutes, gediegenes Gold.

Gerade der heranwachsenden Jugend kann das Schweigen nicht genug empfohlen werden; aber auch diese Maßregel hat ihre Ausnahmen. Bekommen wir beispielsweise Besuch oder suchen wir selbst Bekannte auf, dürfen wir ältere und angesehene Personen begleiten, befinden wir uns bei Tisch, so würde es geradezu unhöflich sein, wenn wir unsere Nachbarn auf ihre Fragen mit einem kühlen »Ja« oder »Nein« abspeisen wollten. Wer an einer Unterhaltung teilnimmt, hat auch nach besten Kräften und in taktvoller Weise für ihre Weiterführung Sorge zu tragen. Junge Leute werden zu diesem Zwecke ihre Geisteskräfte ein wenig anspannen und mit Eifer gegen ihre jugendliche Schüchternheit und Blödigkeit ankämpfen müssen. Die Kunst der Konversation will ja ebenso gut gelernt sein, wie jede andere. Sie trägt aber auch reichen Lohn in sich; denn sie vermittelt das Geistes- und Herzensleben der verschiedenen Personen und gehört deshalb auf dieser Welt zu den schönsten geistigen Genüssen.

Allgemein wird es als Beleidigung in der schärfsten Form empfunden, wenn eine Anrede absichtlich überhört oder eine Antwort in auffallender und demonstrativer Weise verweigert wird. Es mag ja vielleicht ein gewichtiger Grund für ein solches Benehmen vorliegen; aber man soll dabei bedenken, daß die schärfsten Mittel nicht immer die besten sind und häufig weit über ihr Ziel hinausschießen. Aus den kleinsten Anlässen sind schon oft die bittersten Feindschaften entstanden; und wir pflegen viel eher ein rücksichtsloses Vorgehen zu bereuen, als Milde und Nachsicht.

Auch neugierigen Fragen entziehen wir uns besser durch eine kurze, bündige Antwort, die uns vor weiteren Belästigungen schützt, als durch verächtliches Stillschweigen. – Die Gabe der Unterhaltung, die wir als eines der hervorragendsten geselligen Talente pflegen sollen, darf aber nie in Schwatzhaftigkeit ausarten. Mit einem staunenswerten Zungenschlag über alles und jedes sprechen, hundert Fragen stellen und keine einzige Antwort abwarten, das heißt seine Sprachorgane zu einer Mühle erniedrigen, die sich nur dreht und immer dreht. Auf Sinn und Verstand kommt es nicht an, wenn es nur klappert. Eine geistreiche Französin sagt von solch schwatzhaften Menschen: »Sie haben auch ihr Gutes; ihr ununterbrochenes, eintöniges Sprechen und Schwätzen ist für mich wie das Geräusch der Glocken, das mich nicht verhindert, zu denken, und zuweilen sogar mich dazu einladet.« Geschwätzige Menschen irren sich also, wenn sie sich für hervorragend interessant halten; denn sie sind in Wirklichkeit eine gesellschaftliche Plage, der jeder vorsichtig aus dem Wege geht.

In der Unterhaltung soll man sich soviel wie möglich bemühen, nur solche Gegenstände zu berühren, die für die andern nicht unangenehm sind. Es wäre unfein, bei Greisen von den Leiden und Beschwerden des Alters zu sprechen und sie deshalb zu bedauern. Kranken Leuten malt man die Wohltat einer guten Gesundheit nicht verführerisch aus. Auch sollen wir nicht zu schwarzseherisch über ihre Krankheit urteilen und uns vor allem hüten, ein Zeichen des Erstaunens von uns zu geben, wenn wir ihren Zustand verschlimmert und sie selbst auffallend matt und bleich finden.

Der Schwerpunkt jeder anregenden Konversation liegt darin, für alle Menschen einen Unterhaltungsstoff zu finden, der ihrem Ideenkreise angepaßt ist und ihnen Gelegenheit gibt, ihre Meinung zu äußern. Es ist schon behauptet worden, daß man gute Gesellschafter nicht allein nach der Art beurteilen könne, wie sie sprechen, sondern auch, wie sie anzuregen und den Mitteilungen anderer zuzuhören verstehen. In dieser Behauptung liegt viel wahres. Denn es ist vielleicht nicht so schwer, selbst geistreich und witzig zu sein, als andere dazu aufzumuntern und in gegebenen Fällen auch gern hinter ihnen zurückzustehen.

Neugierige und aufdringliche Fragen können selbstverständlich niemals erlaubt sein. Was man uns freiwillig mitteilt, hören wir gern und mit Teilnahme an; umgekehrt werden wir vermeiden, viel von uns selbst zu sprechen, unsere täglichen Beschwerden in weitschweifiger Weise zu berichten oder unsere vermeintlichen Vorzüge zum Mittelpunkt der Unterhaltung zu machen. Bei Freunden sind wir natürlich freier. Aber auch hier gilt es, eine festbestimmte Grenzlinie nicht zu überschreiten, wenn wir nicht belästigen oder verletzen wollen.

Der gute Ton erfordert auch, daß wir unsere Muttersprache beherrschen, also ein reines, fehlerfreies Deutsch sprechen und nicht mehr mit den Regeln der Grammatik in Konflikt geraten. – Die groben Fehler des Dialektes sind ebenfalls zu vermeiden; eine leichte, dem heimatlichen Idiom entsprechende Tonfärbung darf freilich bleiben, aber im übrigen soll man hochdeutsche Wörter so aussprechen wie sie geschrieben werden. Die Westfalen machen das g gern zu einem ch, das s zu einem ß, und das sch teilen sie sogar in seine Elemente und halten diese hübsch auseinander. Die Rheinländer und Sachsen verderben die Wörter auf eine andere, vielleicht noch viel gröbere Weise.

Manche junge Leute huldigen nun nicht allein dem heimatlichen Dialekt. Wenn sie sich einige Wochen in einer anderen Gegend aufgehalten haben, so bringen sie die fremde Mundart mit nach Hause, jedenfalls als Beweis ihrer Bildungsfähigkeit. Sie mögen sich merken, daß die rein deutsche Sprache auch die beste ist und ein angelernter Dialekt meistens einen kindischen Eindruck macht.

Während des Gesprächs sollen wir gewisse Ausdrücke und Wendungen, die wir uns vielleicht angewöhnt haben, nicht zu oft wiederkehren lassen; denn gar zu bald können wir dadurch der Lächerlichkeit anheimfallen.

Die Jugend ist für gewöhnlich sehr verschwenderisch im Gebrauch gewisser Schlagwörter, die meistens gründlich übertrieben sind. Eine Wirkung erzielt sie dadurch nicht, aber das war auch in den wenigsten Fällen ihre Absicht. Sie hat eben nur so gedankenlos dahingesprochen. – Junge Mädchen finden beispielsweise alles und jedes »reizend«, ein anspruchsloses Feldblümlein »entzückend«, ein einfaches Volkslied »himmlisch« und einen neuen Hut womöglich sogar »gottvoll«. Das sind lächerlich übertriebene Ausdrücke, die bei allzu häufigem Gebrauch nur abschwächend wirken.

Die männliche Jugend drückt sich im allgemeinen etwas gröber aus, in der Meinung, sich dadurch einen schneidigen und gewichtigen Anstrich zu geben. Im engen Kreise mag es ja erlaubt sein, der Kraftwörter-Wut zu fröhnen; aber im gesellschaftlichen Verkehr, namentlich Damen gegenüber, muß diese Passion bezähmt und schlechtweg das einfache, bürgerliche Deutsch gesprochen werden.

Junge Mädchen dürfen niemals burschikose Ausdrücke gebrauchen. Sie sollen aber auch nicht in das andere Extrem fallen und jede Wendung allzu peinlich auf ihre Salonfähigkeit hin prüfen. Das gesunde Gefühl muß hier allein den Ausschlag geben, niemals eine übertriebene und überfeinerte Empfindlichkeit.

Reden gegen die gute Sitte und die Religion, böswillige Verleumdungen, grobe Schimpf- und Fluchworte sollen niemals unsere Lippen entweihen, an erster Stelle, weil das christliche Gesetz es verbietet. Auch können wir keinen Augenblick gehalten sein, dieselben anzuhören, sei es selbst in Gesellschaft älterer und angesehener Personen. Die letzteren müssen es als ihre heiligste Pflicht auffassen, solche Reden zu verhüten. Jüngere Leute sollen zum wenigsten darauf bedacht sein, niemals durch das kleinste Zeichen des Beifalls oder des Interesses die andern in ihrem Vorgehen zu ermuntern. Namentlich einem jungen Mädchen wird man es hoch anrechnen, wenn es bei jedem unpassenden Scherz, jeder spöttischen Anspielung auf den Glauben und die Sitte seinen Unwillen offen und furchtlos zu erkennen gibt oder in schwereren Fällen die Gesellschaft kurz entschlossen verläßt.

Einige Wörter und Ausdrücke hat der gute Ton verpönt, und deshalb dürfen sie in der Gesellschaft niemals gebraucht werden. Wird an der Tafel eine Schüssel angeboten, so heißt es nicht: »Ich bin satt«, oder »Ich habe genug«, oder »Ich kann nicht mehr«, sondern einfach: »Ich danke«. – Ruft man uns an, so ersetzt das höfliche »Was gefällig?« oder »Wie beliebt?« das barsche »Was?« oder »Was soll ich?« – Von der Unterkleidung und der Wäsche spricht man in Gesellschaft nicht, ebensowenig von den verschiedenen Arten der Krankheiten und den Erscheinungen derselben. Überhaupt muß man in der Unterhaltung alles vermeiden, was in andern ein Gefühl des Ekels oder sonst eine peinliche und unangenehme Empfindung hervorruft. Darüber können wir alle selbst entscheiden; denn das ästhetische Gefühl, der Sinn für das Schöne und gesellschaftlich Zulässige ist uns von Natur eigen. Wir müssen ihn nur durch Aufmerksamkeit und strenge Selbstzucht auszubilden und zu vervollkommnen suchen.

Kranke gehen zu Bett, um zu »transpirieren«, nicht um zu »schwitzen«; wir selbst fühlen uns im Sommer warm, geraten aber niemals in »Schweiß«. Schwindsüchtige leiden am »Blutspeien«, nicht am »Blutspucken«. Nur die Tiere haben ein Maul, einen Schnabel, ein Fell, Pfoten oder Tatzen; sie fressen ihr Futter, brüllen oder grunzen und gehen schließlich ein oder verenden. Diese Ausdrücke auf einen Menschen anzuwenden, wäre mehr als roh. – Die heranwachsende Jugend soll sich überhaupt schon im kleinen Kreise angewöhnen, das gewählte und feinere Wort dem trivialen vorzuziehen.

Herren reden wir stets mit ihrem Titel an, Damen mit dem Titel ihres Mannes. Ob das letztere gerechtfertigt ist, braucht nicht erörtert zu werden; es genügt, daß die Sitte in Deutschland besteht. Es ist aber veraltet, dem Titel die Endsilbe »in« anzuhängen, z. B. Frau Bürgermeisterin. – In Gesellschaft wird einer kurzen Antwort gewöhnlich der Titel der angeredeten Person hinzugefügt, z. B. »Gewiß, Herr Rat.« In längeren Berichten und Erzählungen ist eine gewisse Einschränkung der Titulaturen empfehlenswert.

Hat die angeredete Person keinen Titel, so brauchen wir deshalb nicht bei jeder Antwort ihren Namen zu nennen, denn nichts kann aufdringlicher klingen, als eine solche Häufung. Gebildete Damen und junge Mädchen der besseren Stände werden »gnädige Frau« und »gnädiges Fräulein«, auch wohl »mein Fräulein« angeredet; in der Mehrzahl heißt es »meine Damen« oder »meine Herren«.

Das Prädikat »gnädig« kommt niemals einem Herrn zu, auch nicht einem adligen; »Herr Baron«, »Herr Graf« ohne jeden Zusatz ist das einzige, was er beanspruchen kann. Adlige Damen dagegen werden wohl »gnädige Frau Baronin« oder »gnädige Gräfin« angeredet.

Im Gespräch mit hochstehenden Personen wenden Herren vielfach die dritte Person an, z. B.: »Werden der Herr Präsident meines Gesuches gedenken?« »Haben gnädige Frau den Ausflug mitgemacht?« – Der Verkehr mit Höhergestellten erfordert auch noch andere Rücksichten. Wir müssen es vermeiden, sie vertraulich zu begrüßen, ihnen die Hand zu bieten, uns nach ihrem Befinden oder ihren Angehörigen zu erkundigen oder selbstständig auf ein neues Gesprächsthema überzugehen. Unnötige Fragen dürfen nicht gestellt werden, weil sie vielleicht belästigen. Führt der Höherstehende in unserer Gegenwart eine Unterhaltung mit andern, so werden wir uns unaufgefordert nicht einmischen und niemals eine Frage beantworten, die nicht an uns gerichtet war. Wir dürfen im Laufe des Gesprächs ihn unserer Ergebenheit versichern und im allgemeinen unsere Dienste anbieten, nie aber ein direkt freundschaftliches Anerbieten machen, wie etwa einem Gleichgestellten. Das Gespräch wird, falls der Höherstehende nicht anders verfügt, stehend und unbedeckten Hauptes geführt; wir selbst aber können diese Rücksichten nicht erwarten. Eine Pause in der Unterhaltung, ein leichtes Kopfnicken, eine Handbewegung, auch wohl eine allgemeine Schlußbemerkung ist für uns gewöhnlich das Zeichen der Entlassung, auf welches wir uns augenblicklich zurückziehen müssen.

Spricht man von den Eltern, Geschwistern oder Verwandten der angeredeten Person, so hat man die Bezeichnung »Herr, Frau oder Fräulein« hinzuzufügen, z. B. »Ihr Herr Vater, Ihre Frau Tante, Ihr Fräulein Schwester.« Bei einer verheirateten Frau heißt es: »Ihr Herr Gemahl« und umgekehrt: »Ihre Frau Gemahlin.« Unter guten Freunden kann diese Regel natürlich vereinfacht werden, soviel es dem Taktgefühl angängig erscheint.

Spricht man von sich und einer anderen Person, so nennt man sich selbst immer zuletzt, z. B. »Mein Freund und ich.«

Wenn zwei Bekannte in intimere Beziehungen treten wollen, so bieten sie sich das vertrauliche »Du« an. Der erste Schritt hierzu muß stets von der älteren Person ausgehen, während die jüngere höflich entgegenkommt. Eine scharfe Zurückweisung wird für gewöhnlich als Beleidigung aufgefaßt. – Es hat nicht immer einen Zweck, das »Du« der Kinderjahre auch im späteren Leben fortzusetzen.

Treffen wir nach langer Trennung einen Bekannten aus der Jugendzeit wieder, so sollen wir zum wenigsten erst seine Gesinnung ausforschen, bevor wir die vertrauliche Anrede anwenden; die Art und Weise der ersten Begrüßung wird uns darüber leicht Aufschluß geben. Herren sollen jungen Mädchen gegenüber nicht leicht das »Du« fortsetzen und niemals unaufgefordert.

Es macht einen guten Eindruck, wenn heranwachsende Mädchen und Knaben sich von älteren und angesehenen Personen, namentlich von Vorgesetzten, auch fernerhin das »Du« als besondere Gunst erbitten; sollten dieselben auch unaufgefordert die vertrauliche Anrede fortgesetzt haben, so wäre es unfein, in anspruchsvoller Weise eine Änderung der Anrede zu verlangen.

Nur ungebildete Leute erlauben es sich, alle Untergebenen, Dienstleute, Tagelöhner und Arbeiter zu duzen; denn diese haben ebensowohl ein Recht, mit Achtung behandelt zu werden, wie gesellschaftlich Gleichstehende.

In der Unterhaltung wissen sich verschiedene Laster einzuschleichen; an erster Stelle stehen die Verleumdungen und üblen Nachreden, welche das christliche Gesetz und das menschliche Gefühl in gleich scharfer Weise verurteilen. Es ist ein trauriger Beweis geistiger Armut in gewissen Kreisen, wenn sie keinen anderen Unterhaltungsstoff finden können, als die vermeintlichen Fehler ihrer Mitmenschen. Edle junge Leute sollen dieses Laster weit von sich fernhalten.

Es ist unfein, über eine Person, ihren Anzug, ihr Benehmen, ihre Familienverhältnisse gewissermaßen herzufallen, sobald sie der Gesellschaft den Rücken gekehrt hat. Und ebenso peinlich wirkt es, wenn beim plötzlichen Eintritt eines Gastes wie auf Kommando alle verstummen. Der gute Ton verbietet ihm, eine direkte Frage nach dem Gegenstande der Unterhaltung zu stellen, aber er wird auch ohne dies wissen, von wem die Rede war.

Für gewöhnlich soll einer älteren und angesehenen Person beim Eintritt in eine Gesellschaft von dem Zunächstsitzenden kurz mitgeteilt werden, was soeben verhandelt wurde, damit sie orientiert ist und sich beteiligen kann. Eine heikle Aufgabe, wenn sich die Anwesenden gerade mit Verleumdungen und üblen Nachreden beschäftigten.

Wir sollen auch den Schein der üblen Nachrede vermeiden und deshalb in Gesellschaft niemals mit den Nachbarn flüstern und heimlich kichern, weil andere sich für den Gegenstand unseres Gesprächs halten könnten.

Eine grobe Indiskretion ist es, wenn wir Dinge verbreiten, die wir durch Zufall in Erfahrung brachten, oder die uns im Vertrauen mitgeteilt worden sind. Auch sollen wir uns nie zum Zuträger und Anbringer erniedrigen, der jedes unbedachte Wort, jeden kleinen Argwohn und jedes Gerücht den Beteiligten schleunigst zu Ohren bringt.

Eine strenge Aufrichtigkeit ist die Zier der Jugend. Wenn wir sprechen, so muß es stets die Wahrheit sein; aber wir brauchen nicht stets die Wahrheit auszusprechen, wenn dadurch nichts erreicht und nichts geändert wird. Einige Leute rechnen eine große Freimütigkeit zu den gesellschaftlichen Vorzügen. Sie sagen ihren Freunden ohne jeden Grund, daß sie sterbenskrank aussehen und wahrscheinlich nicht mehr lange leben werden, daß sie furchtbar gealtert haben, daß das neugebaute Wohnhaus geschmacklos ist und die Kinder wenig begabt scheinen. Das sind Unhöflichkeiten, die nur verletzen und nichts erreichen. Eine bittere Wahrheit soll nur mitgeteilt werden, wenn gewichtige Gründe vorliegen.

Zur Übertreibung neigen meistens solche Menschen, die überall dominieren wollen oder die wenig geistvolle Gewohnheit haben, in jeden Satz einen sogenannten Witz, eine grobe Scherzlüge und dgl. einzuflechten. Nichts ist unerträglicher, als ein gewohnheitsmäßiger Spaßmacher. Wir brauchen seinen Fadheiten deshalb auch nicht beständig Beifall zu zollen. Geradezu taktlos würde es sein, wenn wir über einen Witz lachen wollten, der gegen Religion und Sitte ist oder eine anwesende Person grundlos und bitter verletzt.

Spottsüchtige Menschen sind selten gut und großmütig. Es verrät wenig Gemüt, wenn in einer Gesellschaft jede kleine Unbeholfenheit, jedes fehlerhafte Wort, jeder Verstoß gegen die Formen mitleidlos belacht und bespöttelt wird. Gebildete Menschen werden lieber etwas Unpassendes höflich übersehen, als daß sie andere öffentlich und in vielleicht empfindlicher Weise beschämen.

Kleine Neckereien sind unter Gleichgestellten gestattet, vorausgesetzt, daß sie nicht ausarten. Wir müssen schnell zu Ende kommen können, wenn wir merken, daß das Gegenüber zum Übelnehmen neigt und die krankhafte Sucht hat, jedes Wort auf seine wirkliche und mögliche Bedeutung zu prüfen. – Übertriebene Schmeicheleien werden von allen feinfühlenden Menschen mehr oder weniger als Beleidigung empfunden werden, da der Schmeichler voraussetzt, daß sie dumm genug sind, ihm zu glauben. Ein ziemliches Maß von Eitelkeit und Beschränktheit zeigt auch das Selbstlob, namentlich bei der Jugend, die für gewöhnlich noch nicht von hervorragenden Verdiensten sprechen kann.

Es ist jedoch gestattet, einem andern zu einer bedeutenden Leistung Glück zu wünschen oder seinem unbestrittenen Talent Anerkennung zu zollen; das Unterlassen kann sogar als Neid ausgelegt werden. Gerechtfertigte Komplimente müssen wir bescheiden hinnehmen, etwa mit den Worten: »Sie sind zu gütig,« oder »Sie beschämen mich durch Ihre freundliche Anerkennung.« Es würde kindisch sein, das Talent einfach zu leugnen.

Wird von unsern nächsten Angehörigen etwas Gutes erzählt, so dürfen wir das Lob freudig bestätigen; tadelt man sie, so wird es niemand verargen, wenn wir ihre Verteidigung übernehmen und uns bemühen, den anerkannt schlechten Seiten, die wir nicht leugnen können, auch gute entgegenzusetzen.


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