Arthur Conan Doyle
Das Zeichen der Vier
Arthur Conan Doyle

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Die Geschichte des kahlköpfigen Mannes

Wir folgten dem Inder einen einfachen und heruntergekommenen Korridor entlang, der schlecht beleuchtet und noch schlechter möbliert war, bis wir an eine Tür zur Rechten gelangten, die er uns öffnete. Ein gelber Feuerschein fiel auf uns und im Zentrum des blendenden Lichtes stand ein kleiner Mann mit einer sehr hohen Stirn und einem kahlen, glänzenden Kopf, der, umgeben von einem Büschel fransiger roter Haare, wie ein Berggipfel aus einem Fichtenwald herausragte. Er presste seine Hände zusammen während er so stand und sein Gesichtsausdruck war in einem ständigen ruckhaften Wechsel begriffen; mal lächelnd, mal finster blickend, aber nie für einen Augenblick ruhig. Die Natur hatte ihn mit einer frei hängenden Lippe und einer Reihe gelber, unregelmäßiger Zähne ausgestattet. Er bemühte sich ständig, den unteren Teil seines Gesichtes zu verbergen, indem er ihn mit Handbewegungen zu verdecken suchte. Trotz seiner auffälligen Kahlheit erweckte er den Eindruck von Jugend. Tatsächlich war er gerade dreissig geworden.

»Zu Ihren Diensten, Miss Morstan,« wiederholte er in einer dünnen, hohen Stimme. »Zu Ihren Diensten, Gentlemen. Bitte treten Sie in mein kleines Allerheiligstes ein. Ein kleiner Ort, Miss, aber nach meinem eigenen Geschmack eingerichtet. Eine Oase der Kunst in der heulenden Wüste von Süd-London.«

Wir waren alle über das Aussehen der Wohnung erstaunt, in die er uns nun einlud. In diesem traurigen Haus war sie so fehl am Platze wie ein Diamant erster Qualität in einer Fassung aus Messing. Die wertvollsten und glänzendsten Vorhänge und Gobelins drapierten die Wände, hier und da zurückgeschlagen, um irgendein kunstvoll gerahmtes Gemälde oder eine Vase freizulegen. Der Teppich war bernsteinfarben und schwarz gemustert und so dick, daß der Fuß darin angenehm wie in ein Bett von Moos einsank. Zwei große Tigerfelle, die quer darüberlagen, vergrößerten den Eindruck von orientalischem Luxus, ebenso wie eine große Wasserpfeife, die auf einer Matte in der Ecke stand. Eine Lampe in Form einer silbernen Taube hing von einen fast unsichtbaren goldenen Draht in der Mitte des Zimmers. Sie war angezündet und füllte die Luft mit einem feinen und aromatischen Duft.

»Mr. Thaddeus Sholto«, sagte der kleine Mann, immer noch zuckend und lächelnd. »So heiße ich. Sie sind natürlich Miss Morstan. Und diese Gentlemen –«

»Dies ist Mr. Sherlock Holmes, und dies ist Dr. Watson.«

»Ein Arzt, hä?« rief er aufgeregt. »Haben Sie Ihr Stethoskop dabei? Darf ich Sie fragen – würden Sie die Freundlichkeit besitzen? Ich habe ernste Sorgen um meine Herzklappen, wenn Sie daher so freundlich wären. Auf die eine kann ich mich verlassen, aber ich würde Ihre Meinung über die andere gerne hören.«

Ich hörte sein Herz wie gebeten ab, konnte aber nichts Besonderes finden, außer, daß er von außerordentlicher Angst erfüllt war, denn er zitterte von Kopf bis Fuß. »Alles scheint normal zu sein«, sagte ich, »Sie haben keinen Grund zur Besorgnis.«

»Bitte entschuldigen Sie meine Sorge, Miss Morstan,« bemerkte er entschuldigend. »Ich bin stark leidend, und ich habe schon lange die Herzklappe im Verdacht gehabt. Ich bin aber erfreut zu hören, daß dies nicht der Fall ist. Wenn Ihr Vater, Miss Morgan, aufgehört hätte sein Herz so stark zu belasten, könnte er heute noch leben.«

Ich hätte dem Mann gerne ins Gesicht geschlagen, so erzürnt war ich über diese gefühllose offene Erwähnung einer doch Zartgefühl erfordernden Angelegenheit. Miss Morstan setzte sich und ihr Gesicht wurde ebenso weiß wie ihre Lippen. »Ich wußte tief im Herzen, daß er tot ist«, sagte sie.

»Ich kann Ihnen alle Informationen geben,« sagte er, »und mehr noch, ich kann Ihnen zu Ihrem Recht verhelfen. Das werde ich tun, egal was Bruder Bartholomew vielleicht sagen wird. Ich bin so froh, Ihre Freunde hier zu haben, nicht nur als Ihren Geleitschutz, sondern auch als Zeugen dessen, was ich nun tun und sagen werde. Drei von uns können sich gegen Bruder Bartholomew durchsetzen. Aber wir wollen keine Außenstehenden, keine Polizei oder Beamte. Wir können alles unter uns und ohne Einmischung anderer zufriedenstellend regeln. Nichts würde Bruder Bartholomew mehr ärgern als irgendeine Öffentlichkeit.« Er setzte sich auf eine niedrige Couch und blinzelte uns fragend mit seinen schwachen, wäßrigen blauen Augen an.

»Was mich angeht,« sagte Holmes, »was immer sie erzählen, ich werde es nicht weitergeben.«

Ich nickte, um meine Zustimmung zu zeigen.

»Das ist gut! Das ist gut!« sagte er. »Miss Morstan, darf ich Ihnen ein Glas Chianti anbieten? Oder Tokayer? Ich habe keine anderen Weine. Soll ich eine Flasche öffnen? Nein? Nun, dann hoffe ich, daß Sie nichts gegen Tabakrauch einzuwenden haben, gegen den milden balsamischen Duft der orientalischen Tabake. Ich bin ein wenig nervös und halte meine Wasserpfeife für ein unbezahlbares Beruhigungsmittel.« Er nahm eine dünne Wachskerze zum Entzünden des Pfeifenkopfes und der Rauch blubberte fröhlich durch das Rosenwasser.

Wir drei saßen im Halbkreis, die Köpfe vorgeneigt und das Kinn in die Hände gestützt, während der seltsame, zappelige kleine Kerl mit seinem hohen, schimmernden Kopf verlegen in der Mitte paffte.

»Als ich mich entschloß, dieses Gespräch mit Ihnen zu führen,« sagte er, »hätte ich Ihnen meine Adresse geben können, aber ich fürchtete, daß Sie meine Bitte ignorieren und unerfreuliche Leute mit sich bringen könnten. Daher nahm ich mir die Freiheit, die Verabredung dergestalt zu arrangieren, daß mein Mann Williams Sie zuerst treffen konnte. Ich habe volles Vertrauen in seine Diskretion und er hatte den Auftrag, die Sache nicht weiter zu verfolgen, sollte er enttäuscht werden. Sie müssen diese Vorsichtsmaßnahme entschuldigen, aber ich lebe sehr zurückgezogen und habe vielleicht einen seltsamen Geschmack, aber es gibt nichts unästhetischeres als einen Polizisten. Ich habe eine natürliche Abneigung gegen alle Formen von rohem Materialismus. Ich komme selten mit rohen Menschen zusammen. Wie Sie sehen, lebe ich mit einer gewissen Atmosphäre von Eleganz um mich herum. Ich könnte mich als einen Liebhaber der Künste bezeichnen. Das ist meine Schwäche. Das Landschaftsgemälde ist ein echter Corot, und obgleich ein Kenner vielleicht Zweifel an diesem Salvator Rosa haben könnte, es gibt keinen Zweifel über den Bougereau. Ich habe eine Vorliebe für die moderne französische Schule.«

»Bitte entschuldigen Sie, Mr. Sholto,« sagte Miss Morstan, »aber ich bin auf Ihre Bitte hierher gekommen, um etwas zu erfahren, daß Sie mir mitteilen möchten. Es ist sehr spät und ich wünsche, daß das Gespräch so kurz wie möglich wird.«

»Auf jeden Fall braucht es einige Zeit,« antwortete er, »denn wir werden sicherlich nach Norwood fahren müssen, um Bruder Bartholomew zu treffen. Wir werden gemeinsam fahren und sehen, ob wir ihn in guter Laune finden. Er ist sehr verärgert über den von mir eingeschlagenen Kurs, obwohl er mir richtig erscheint. Ich hatte gestern kräftigen Streit mit ihm. Sie können sich nicht vorstellen, was für ein schrecklicher Kerl er ist, wenn er böse ist.«

»Falls wir nach Norwood fahren müssen, sollten wir auch sofort aufbrechen,« wagte ich zu bemerken.

Er lachte und seine Ohren wurden ganz rot. »Das würde kaum gehen«, rief er, »ich weiß nicht, was er sagen würde, wenn ich Sie auf diese abrupte Weise hereinbrächte. Nein, ich muß Sie darauf vorbereiten, indem ich Ihnen erkläre, wie wir alle zueinander stehen. Zuerst muß ich Ihnen sagen, daß es mehrere Punkte in der Geschichte gibt, die ich ausgelassen habe. Ich kann Ihnen nur die Tatsachen erzählen, die ich selber weiß.«

»Wie Sie vermutlich bereits erraten haben, war mein Vater Major Sholto, er war früher in der Armee in Indien. Er ging vor etwa elf Jahren in Pension und wollte bei Pondicherry Lodge in Upper Norwood leben. Er war in Indien wohlhabend geworden und brachte eine beträchtliche Summe Geldes mit zurück, auch eine große Sammlung wertvoller Kostbarkeiten sowie sein Personal von indischen Dienern. Er kaufte sich ein Haus und lebte in großem Luxus. Mein Zwillingsbruder Bartholomew und ich waren die einzigen Kinder.«

»Ich erinnere mich sehr gut an die Aufregung, die das Verschwinden von Kapitän Morstan verursachte. Wir lasen die Einzelheiten in den Zeitungen, und diskutierten den Fall offen in seiner Anwesenheit, da er ein Freund unseres Vaters gewesen war. Gewöhnlich beteiligte er sich an unseren Spekulationen über das, was geschehen sein könnte. In keinster Weise hätten wir vermutet, das er das ganze Geheimnis in seiner Brust versteckt hielt – daß von allen Menschen er allein das Schicksal von Arthur Morstan kannte.«

»Wir wußten jedoch, daß irgendein Rätsel – eine bestimmte Gefahr – unseren Vater beschäftigte. Er war sehr ängstlich, alleine das Haus zu verlassen und er beschäftigte immer zwei Preiskämpfer, die als Pförtner in der Pondicherry Lodge arbeiteten. Williams, der sie heute nacht fuhr, ist einer von ihnen. Er war einmal englischer Leichtgewicht-Meister. Unser Vater hätte uns nie von seinen Ängsten erzählt, aber er hatte eine deutliche Abneigung gegen Männern mit Holzbeinen. Einmal feuerte er seinen Revolver auf einen Mann mit Holzbein ab, der sich später als ein einfacher Händler auf der Suche nach Aufträgen erwies. Wir mußten eine große Summe zahlen, um die Sache zu vertuschen. Mein Bruder und ich haben früher gedacht, dies sei eine bloße Laune meines Vaters, aber die Ereignisse seitdem haben uns dazu gebracht, unsere Meinung zu ändern.«

»Anfang 1882 erhielt mein Vater einen Brief aus Indien, der für ihn ein großer Schock war. Als er ihn öffnete, fiel er beinahe am Frühstückstisch in Ohnmacht und seit diesem Tag kränkelte er, bis zu seinem Tode. Wir konnten nie herausfinden, was in diesem Brief stand. Aber als er ihn in Händen hielt, konnte ich sehen, daß er kurz und in einer kritzeligen Handschrift geschrieben war. Er hatte jahrelang an einer vergrößerten Milz gelitten, aber es ging jetzt schneller mit ihm bergab. Ende April wurden wir informiert, daß er jenseits aller Hoffnung war, und daß er eine letzte Unterredung mit uns führen wollte.«

»Als wir sein Zimmer betraten, lag er von Kissen gestützt und das Atmen fiel ihm schwer. Er flehte uns an, die Tür abzuschließen und an beiden Seite des Bettes Platz zu nehmen. Dann ergriff er unsere Hände und machte er uns eine bemerkenswerte Eröffnung in einer Stimme, die von Emotion wie auch von Schmerz gezeichnet war. Ich werde versuchen, es Ihnen in seinen eigenen Worten zu erzählen.«

›Es gibt nur eine Sache,‹ sagte er, ›die mir in diesem Moment auf der Seele liegt. Es ist die Art, wie ich Morstan's arme Waise behandelt habe. Aus Gier, meiner schlimmsten Sünde im Leben, habe ich ihr den Schatz vorenthalten, der ihr eigentlich mindestens zur Hälfte zusteht. Obwohl ich selbst keinen Gebrauch davon gemacht habe – so blind und dumm ist die Habgier. Das bloße Gefühl von Besitz war mir soviel wert, daß ich es nicht ertragen konnte, mit jemandem zu teilen. Seht ihr den mit Perlen besetzten Rosenkranz neben der Chininflasche. Obwohl ich es nicht ertrug zu teilen, hatte ich ihn mitgebracht, um ihn ihr zu schicken. Ihr, meine Söhne, sollt ihr einen angemessenen Anteil vom Schatz des Agra geben. Aber schickt ihr nichts – auch nicht den Kranz – ehe ich gegangen bin. Denn es sind schon andere so krank gewesen wie ich, und dennoch genesen.‹

›Ich will euch erzählen, wie Morstan starb,‹ fuhr er fort. ›Er hatte jahrelang an einem schwachen Herzen gelitten, aber er verbarg es vor jedem. Ich allein wußte es. Als er und ich in Indien waren, kamen wir durch eine bemerkenswerte Kette von Umständen in den Besitz eines beträchtlichen Schatzes. Ich brachte ihn mit zurück nach England. In der Nacht, in der Morstan zurückkehrte, kam er geradewegs hierher und verlangte seinen Anteil. Er kam direkt vom Bahnhof und wurde von meinem treuen Lal Chowdar empfangen, der jetzt tot ist. Morstan und ich waren unterschiedlicher Meinung über die Teilung des Schatzes und es fielen hitzige Worte. Morstan war gerade in einem Anfall von Ärger aus seinem Stuhl aufgesprungen, als er seine Hand plötzlich an die Seite drückte. Sein Gesicht nahm eine dunkle Farbe an und er fiel rückwärts hin und stieß mit seinem Kopf an die Ecke der Schatzkiste. Als ich mich über ihn beugte, stellte ich zu meinem Schrecken fest, daß er tot war.‹

›Längere Zeit saß ich völlig abwesend da und überlegte, was zu tun sei. Natürlich war mein erster Gedanke, Hilfe zu holen. Aber ich konnte auch klar erkennen, daß es sehr wahrscheinlich war, daß ich des Mordes an ihm angeklagt würde. Sein Tod während eines Streites und die klaffende Wunde an seinem Kopf, beides würde gegen mich sprechen. Zudem könnte eine offizielle Untersuchung nicht angestellt werden, ohne einige Tatsachen über den Schatz ans Licht zu bringen, den ich doch geheim halten wollte. Er hatte mir gesagt, daß kein Mensch auf dieser Welt wüßte, wohin er gegangen sei. So gab es auch keine Notwendigkeit, daß es ein Mensch je erfahren sollte.‹

›Ich dachte immer noch über die Sache nach, als ich beim Hochblicken meinen Diener Lal Chowdar in der Türöffnung sah. Er stahl sich herein und verriegelte die Tür hinter sich. 'Fürchten Sie nichts, Sahib,' sagte er. 'Niemand braucht zu wissen, daß Sie ihn getötet haben. Wir werden ihn verstecken und wer sollte dann etwas erfahren?' 'Ich habe ihn nicht getötet,' sagte ich. Lal Chowdar schüttelte seinen Kopf und lächelte. 'Ich habe alles gehört, Sahib,' sagte er. 'Ich habe Ihren Streit gehört und ich habe den Schlag gehört. Aber meine Lippen sind versiegelt. Alle im Haus schlafen. Wir sollten ihn gemeinsam fortbringen'. Das gab für mich den Ausschlag. Wenn mein eigener Diener nicht an meine Unschuld glaubte, wie konnte ich dann hoffen, es vor zwölf dummen Händlern auf der Geschworenenbank zu schaffen? Lal Chowdar und ich entledigten uns noch in der gleichen Nacht der Leiche und innerhalb weniger Tage waren die Londoner Zeitungen voll vom mysteriösen Verschwinden von Kapitän Morstan. Ihr seht, daß ich kaum Schuld an dieser Sache trage. Mein einziger Fehler war, daß wir nicht nur die Leiche, sondern auch die Schatzkiste verbargen. Und daß ich mich sowohl an Morstans als auch an meinen eigenen Anteil klammerte. Ich möchte daher, daß ihr das wiedergutmacht. Legt eure Ohren an meinen Mund. Der Schatz ist im – –‹ In diesem Moment überkam eine schreckliche Veränderung seinen Gesichtsausdruck, wild starrten seine Augen, sein Unterkiefer fiel herunter und er schrie in einer Stimme, die ich niemals vergessen werde, ›laßt ihn nicht herein! Um Gottes Willen, laßt ihm nicht herein!‹ Wir drehten unsere Köpfe zum Fenster hinter uns, an dem sein Blick hing. Ein Gesicht sah aus der Dunkelheit zu uns hinein. Wir konnten das Weiße auf der Nase sehen, dort wo sie gegen das Glas gepreßt wurde. Es war ein bärtiges, behaartes Gesicht, mit wilden, grausamen Augen und einem Ausdruck geballter Boshaftigkeit. Mein Bruder und ich hetzten zum Fenster, aber der Mann war fort. Als wir zum Vater zurückkamen, war sein Kopf herabgesunken und sein Puls hatte aufgehört zu schlagen.

Wir durchsuchten in der Nacht den Garten, fanden aber kein Zeichen des Eindringlings außer einem einzelnen Fußabdruck, der genau unter dem Fenster im Blumenbeet sichtbar war. Ohne diese Spur hätten wir geglaubt, daß uns unsere Phantasie dieses wilde, grausame Gesicht heraufbeschworen hatte. Wir fanden jedoch bald einen weiteren und schlagkräftigeren Beweis, daß geheime Kräfte um uns herum am Wirken waren. Das Fenster im Zimmer meines Vaters wurde am Morgen offen vorgefunden, seine Schränke und seine Kisten waren geplündert worden, und auf seiner Brust war ein zerrissenes Stück Papier befestigt, mit den Worten ›Das Zeichen der Vier‹ bekritzelt. Was dieser Satz bedeutete oder wer unser geheimer Besucher war, haben wir nie erfahren. Soweit wir es beurteilen können, war nichts vom Besitz meines Vaters gestohlen worden, obwohl alles gründlich durchsucht worden war. Mein Bruder und ich brachten dieses Ereignis natürlich mit seiner Furcht in Verbindung, die ihn sein ganzes Leben lang verfolgt hatte. Aber es ist dennoch ein vollkommenes Rätsel für uns.«

Der kleine Mann hielt inne, um seine Wasserpfeife erneut anzuzünden und paffte einige Momente gedankenvoll. Wir hatten alle vertieft dagesessen und seiner außergewöhnlichen Erzählung gelauscht. Bei der kurzen Beschreibung über den Tod ihres Vaters wurde Miss Morstan totenbleich und für einen Moment dachte ich, sie würde ohnmächtig werden. Sie erholte sich jedoch, nachdem sie ein Glas Wasser trank, das ich vorsichtig für sie aus einer venezianischen Karaffe auf dem Beitisch einfüllte. Sherlock Holmes saß mit gefaßtem Gesicht zurückgelehnt in seinem Stuhl, seine Lider verschlossen fast die Augen. Als ich zu ihm hinüberblickte, konnte ich kaum glauben, daß er sich heute noch bitterlich über das gewöhnliche Leben beklagt hatte. Hier zumindest war ein Problem, das seinen Scharfsinn auf das äußerste forderte. Mr. Thaddeus Sholto schaute jeden von uns mit offensichtlichem Stolz an und freute sich über den Effekt, den die Geschichte bei uns erzeugt hatte. Zwischen zwei Zügen aus seiner übergroßen Pfeife begann er fortzufahren.

»Mein Bruder und ich,« sagte er, »waren sehr erregt über den Schatz, von dem mein Vater gesprochen hatte. Wochen und Monate gruben wir und versuchten uns in jedem Teil des Gartens, ohne aber seinen Verbleib zu entdecken. Es ärgerte uns zu wissen, daß er das Versteck genau in dem Moment auf seinen Lippen hatte, als er starb. Wir konnten die Pracht der vermißten Reichtümer durch den Kranz beurteilen, den er herausgenommen hatte. Über diesen Kranz hatten mein Bruder Bartholomew und ich eine kleine Diskussion. Die Perlen waren augenscheinlich von großem Wert, und er war nicht willens, sich von ihnen zu trennen. Unter Freunden: mein Bruder hatte eine ähnliche Schwäche wie mein Vater. Er meinte auch, daß es Anlaß zu Gerüchten geben und uns schließlich in Schwierigkeiten bringen könnte, wenn wir uns von dem Kranz trennen würden. Alles was ich tun konnte, war ihn zu überreden, mich Miss Morstan's Adresse herausfinden zu lassen und ihr eine einzelne Perle in regelmäßigen Abständen zuzusenden, damit sie wenigstens keine Not leiden müßte.

»Das war ein netter Gedanke,« sagte unsere Begleiterin, »Sie sind sehr gutherzig«.

Der kleine Mann machte eine geringschätzige Handbewegung. »Wir waren Ihre Treuhänder,« sagte er. »Das war der Standpunkt, den ich dabei vertrat, obwohl Bruder Bartholomew es so nicht sehen wollte. Wir selbst hatten viel Geld. Ich wünschte kein weiteres mehr. Außerdem wäre es schlechter Stil gewesen, eine junge Dame so gemein zu behandeln. ›Le mauvais goût mène au crime.‹ Die Franzosen drücken dies sehr schön aus. Unser Meinungsunterschied über das Thema ging so weit, daß ich es für das beste hielt, ein eigenes Zimmer zu beziehen. Deshalb verließ ich Pondicherry Lodge und nahm den alten khitmutgar und Williams mit mir. Gestern aber erfuhr ich, daß etwas äußerst Wichtiges passiert ist. Der Schatz wurde entdeckt. Ich schrieb sofort an Miss Morstan, und es bleibt uns jetzt nur, nach Norwood zu fahren und unseren Anteil zu fordern. Ich habe gestern abend Bruder Bartholomew meine Ansicht dargelegt: wir werden deshalb erwartete, nicht aber willkommene Besucher sein«.

Thaddeus Sholto stoppte und saß zuckend auf seiner luxuriösen Couch. Wir schwiegen alle, mit unseren Gedanken bei der neuen Entwicklung, die nun das mysteriöse Unternehmen genommen hatte. Holmes war der erste, der aufsprang.

»Das haben Sie gut gemacht, Sir, von Anfang bis Ende,« sagte er. »Es ist möglich, daß wir uns revanchieren können, indem wir etwas Licht auf das werfen, was für Sie noch immer im Dunkeln liegt. Aber, wie Fräulein Morstan eben bemerkte, ist es spät, und wir sollten die Sache ohne Aufschub angehen.«

Unser neuer Freund wickelte den Schlauch der Wasserpfeife bedachtsam auf, und holte hinter einem Vorhang einen sehr langen Mantel mit Verschlußkordeln, Astrakhan-Kragen und Manschetten hervor. Er knöpfte ihn trotz der nächtlichen Stunde fest zu und beendete sein Ankleiden mit dem Aufsetzen einer Kaninchenfell-Mütze, deren Klappen die Ohren bedeckten, so daß außer seinem spitzen Gesicht nichts von ihm zu sehen war. »Meine Gesundheit ist etwas angegriffen,« bemerkte er, als er uns den Korridor entlang führte. »Ich bin gezwungen, mich wie ein Hypochonder zu benehmen.«

Die Droschke erwartete uns draußen und unser Vorgehen war augenscheinlich vorher arrangiert worden. Der Fahrer startete sofort und fuhr ein schnelles Tempo. Thaddeus Sholto redete unablässig mit einer Stimme, die sich hoch über dem Rasseln der Räder erhob.

»Bartholomew ist ein kluger Kerl,« sagte er. »Was glauben Sie, wie er den Ort des Schatzes herausgefunden hat? Er war zu der Überzeugung gelangt, daß er sich irgendwo drinnen befinden müsse. Daher berechnete er den gesamten Rauminhalt des Hauses und maß überall nach, damit nicht ein Zoll fehlte. So stellte er unter anderem fest, daß die Höhe des Gebäudes vierundsiebzig Fuß betrug, aber beim Zusammenzählen der Deckenhöhen aller Zimmer und bei Berücksichtigung der Zwischeräume, die er durch Bohrungen ermittelte, kam er in der Summe nicht über siebzig Fuß. Es fehlten vier Fuß in der Rechnung. Diese konnten sich nur im Dachgiebel befinden. Deshalb schlug er ein Loch in die Stroh- und Gipsdecke des höchsten Zimmers und dort endlich fand er eine kleine Dachstube, die versiegelt und niemandem bekannt gewesen war. In der Mitte stand, auf zwei Dachsparren ruhend, die Schatztruhe. Er ließ sie durch das Loch hinab, und dort lag sie. Er schätzt den Wert der Edelsteine auf nicht weniger als eine halbe Million Sterling.«

Bei der Erwähnung dieser gigantischen Summe starrten wir einander mit aufgerissenen Augen an. Falls wir den Anspruch von Miss Morstan sichern konnten, würde aus einer bedürftigen Gouvernante die reichste Erbin in England. Sicher sollte sich ein loyaler Freund über eine solche Nachricht freuen; ich muß aber beschämt sagen, daß mich Selbstsucht packte und daß mir mein Herz so schwer wie Blei wurde. Ich stotterte einige Worte des Glückwunsches, ließ den Kopf hängen und war für das Gebrabbel unseres neuen Freundes taub. Er war eindeutig ein überzeugter Hypochonder und ich vernahm wie im Traum, daß er endlose Reihen von Symptomen hervorbrachte und mich über die Zusammensetzung und Wirkung verschiedener Quacksalbereien befragte, von denen er einige in seiner Ledertasche mit sich führte. Ich hoffe, daß er sich an keinen meiner Ratschläge erinnern kann, die ich ihm in jener Nacht gab. Holmes sagt, er hätte zufällig mitbekommen, wie ich vor der großen Gefahr der Einnahme von mehr als zwei Tropfen Rizinusöl warnte, während ich ihm Strychnin in großen Dosen als ein Beruhigungsmittel empfahl. Wie auch immer, ich war sichtlich erleichtert, als unsere Droschke mit einem Ruck anhielt, und der Kutscher hinuntersprang, um die Tür zu öffnen.

»Dies, Miss Morstan, ist Pondicherry Lodge,« sagte Thaddeus Sholto, als er ihr beim Aussteigen half.


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