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Sechster [später: Fünfter] Abschnitt: Also starb Zarathustra

[später: Der Mode- und Morphium-Doktor von Norderhafen].

Junker hatte einen Teil des Kreises bereist und sich unter den Höfen des Landes umgesehen. Er war ein Vorsichtiger, der sich nicht verhandeln wollte.

Die Mutter lachte ihn an. »Jetzt bist du deinem seligen Vater zum Sprechen ähnlich.«

Er machte nämlich das pfiffige Gesicht. »Siehst du! Es muß ein günstiger und billiger Gelegenheitskauf sein, wo eine Landstelle verkauft werden muß, entweder erbteilungshalber, oder weil der Besitzer wegen seiner dänisch-politischen Agitation lästig gefallen und ausgewiesen ist. Alles hat seine Zeit, wie die Schrift sagt …«

»Auch das Freien, mein Sohn!«

»Daran denke ich nicht.« Der Agrarier-Kandidat, der schriftgeläufig war und einen kleinen theologischen Anstrich nicht verleugnete, fuhr fort. »Der Juni ist die Zeit, wo man Land besehen und unbetrogen kaufen soll, wo der Boden am deutlichsten zeigt, was er zu leisten vermag. Auch kaufe ich nicht über meine Leistungsfähigkeit hinaus – nein besser ein kleiner Bauer als ein überschuldeter Gutsbesitzer! – höchstens die Hälfte der Kaufsumme als Hypothekenschuld!«

Er trat die zweitägige Reise an und küßte sein liebes, weißhaariges Mütterchen, das in diesem Wunderlenze jung geworden war und ein neues Leben lebte. Den kräftigen Agrarierstock in der Hand, den er von allen landwirtschaftlichen Utensilien zuerst sich angeschafft hatte, wanderte Junker in die Norderhafener Landschaft hinaus. An dem Friedhof konnte sein Fuß nicht vorüber, ohne einzutreten und über das Grab sich zu beugen. Schnell begoß er die durstigen, blühenden Rosen und dachte lange an die Toten.

Wenn mein Vater, der immer sparte und nie aus der Armut herauskam, diese Stunde erlebt hätte! Wie stramm und freudig wäre er in den großen Geschmierten mit mir hinausmarschiert, einen Bauernhof zu kaufen, wie hätte er mir geholfen, zu dingen und den Preis zu drücken! Und mein liebes Friedlinchen! Warum durfte sie nicht ein paar glückliche Jahre des Wohlstandes bei mir noch leben und, wie in Arup, das Federvieh füttern? Die Wege Gottes verlieren sich im Nebel der Zeitlichkeit, den erst die Ewigkeitssonne lüften und durchleuchten wird.

Eine Träne schimmerte in seinem Auge, aber sein Angesicht lächelte zum Himmel empor. Wie überhell mein Weg geworden ist! Nun ist der Junius, der Mittsommer meines Lebens gekommen. Gerissen ist der Pfahl aus meinem Fleische und mein Feind gestürzt. Nichts Großes mehr will ich ertrachten, aber im kleinen Kreise Tüchtiges leisten und meinen Platz ausfüllen.

Straff wurde seine Haltung und rasch sein Schritt; die gewölbte Brust herauswerfend, reckte er die sehnigen Arme. Mit der Lerche um die Wette sang seine Seele ein Loblied dem Geber alles Guten, dem Gott, der im fremden Lande ihm in Wahrheit Kraft und Wunder gewesen.

Die demütige Dankbarkeit, welche der notwendige Hemmschuh der ebenso eitlen als dummen Hoffahrt ist, und das tief innere, aber unaufdringliche Vollbewußtsein von seiner eigenen Kraft und seinem eigenen Können, als der unentbehrlichen Triebfeder jeder Tätigkeit – das sind die zwei zuverlässigen Kennzeichen des Edelmenschen.

Junker marschierte zu Fuß und mit dem Agrarierstock in der Hand durch das ostwärts gelegene Aufland Norderhafens, welche die herrlichste Korn- und Grasgegend des nordschleswigschen Ländchens ist, darauf ein Bauernauge ruhen kann. Hoch ragten die Haselhecken mit Weißdorn dazwischen, der grüne Weizen schoß in Ähren, im blühenden Klee standen die roten Kühe bis zu den Knieen. Er verstand nicht, wie er es fünf Jahre lang in der Fremde ertragen. Wo in der alten und neuen Welt war es so schön wie hier in der Heimat? Nimmermehr wollte er sie verlassen, sondern hier in Nordschleswig, in Norderhafens Nähe an der Erfüllung seiner Träume und an treuer, schlichter Pflichterfüllung seine Lust haben, hier leben und, wenn es sein mußte, sein Stück Widrigkeit leiden, hier einmal sterben und begraben sein.

Drei zum Kauf angebotene Höfe wurden besichtigt. Auf allen war der Boden fruchtbar und stand das Getreide schwer und dicht infolge der günstigen Witterung.

Als Kundiger wußte er, daß der Juniregen über die Ernte entscheidet hierzulande, und vor einer Woche hatten reichliche, sanft rieselnde Niederschläge stattgefunden.

Am besten gefiel ihm die dritte Landstelle, die in dem stattlichen Dorfe Kirkeby lag. Ihr Besitzer Ebbesen, der im Jahre 66 für Dänemark optiert hatte und dänischer Untertan geblieben war, hatte vom Landratsamt Befehl erhalten, innerhalb drei Wochen das Land zu verlassen.

»Was ist der Anlaß Ihrer Ausweisung?« fragte Junker. »Die vielen Kaffeepünsche«, erwiderte Ebbesen aufrichtig, »ich bin sonst ein friedfertiger Mann, der keine Politik treibt und keinem das Wasser trübt … aber auf der dänischen Tierschau in Norderhafen hatte ich ein bißchen in Kopf und Krone bekommen und hielt eine dumme dänische Rede, die natürlich mit donnerndem Applaus aufgenommen wurde. Drei Tage später bekam ich den Ausweisungsbescheid. Das verfluchte Trinken, das mit dem Verstande davon geht!«

Amatus, der davon auch ein Klagelied singen konnte, fluchte mit und fühlte Sympathie für Ebbesen, welcher offen zugab: »Ich muß verkaufen und bin gezwungen, meinen guten Hof loszuschlagen … darum will ich gleich den allergeringsten Preis fordern, 75 000 Mark … spottbillig ist es, und Sie, Herr Junker, sehen mir nicht danach aus, daß Sie meine Zwangslage benutzen und ein unzureichendes Angebot [Erg. d. Hg.: im Original: Judenangebot] mir machen werden.«

In dem Augenblick sah Amatus seinem pfiffigen seligen Vater nicht ähnlich und versuchte nichts zu dingen, weil die Forderung eine bescheidene war. Auch hatte er die Folgen der nordschleswigschen Politikerei an seinem eigenen Leibe erfahren. Nachdem er alles noch einmal eingehend in Augenschein genommen, erbat er sich drei Tage Bedenkzeit und kehrte nach der Stadt zurück.

Der Bauernhof, der mit seinem Wohnhause und den drei strohgedeckten Scheunen ein Viereck bildete und eine kleine eingeschlossene Burg war, erfüllte ihn so, daß er von der Gegend nichts mehr sah. In Gedanken ging er über die Felder, [später entfallen: betrachtete] die 24 Milchkühe im Klee und [später entfallen: musterte] die fünf starken Gäule [später entfallen: und die guten Gebäude] [später ergänzt: musternd]. Welch ein Glück war ihm geworden! Der Hof konnte mit Leichtigkeit 35 000 Mark Hypotheken tragen.

Amatus beschrieb der Mutter alles und war entschlossen, den Kauf abzuschließen. »Ich mag den Preis nicht drücken, der für 50 Hektar des besten Weizen- und Kleebodens niedrig ist … oben ein Fuß Humus, darunter zwei Fuß tiefer Lehm. Es ist ein Priesterhandel, wie die Bauern sagen, den der gewesene Kandidat macht.«

Monika sah ihn freudig an. »Nein, gerecht und billig handeln, so wird's gelingen … du bist deiner Mutter Sohn.«

Während Amatus in der Dachstube lag und breit und behaglich erzählte, trat [später entfallen: der Postbote mit einem Telegramm in das Redersche Haus. Silly, an die es gerichtet war, erbrach es schrie und die Worte: »Ihr Bruder schwerkrank – kommen Sie sofort – Rechtsanwalt Brodersen. O, Klarissa, es schwante mir … und nun weiß ich gewiß, daß … das Grausige geschehen ist. Brodersen, mit dem mein Bruder sich nicht vertrug, hat depeschiert. Ich muß reisen.«

»Er ist schwerkrank geworden«, beruhigte die Freundin, »hat vielleicht, weil er so dick war, einen kleinen Schlaganfall bekommen … das liegt in eurer Familie. Soll ich mit dir fahren? Oder wenn wir einen Mann wüßten, der dir beistehen könnte …«

»Vielleicht mein Vetter.«

»Ja, ich will nach dem Pappeltal laufen und ihn bitten.«

Unruhe im Blick, kurzatmig vom Laufe, trat Klarissa in die Dachstube und schreckte die beiden Glücklichen aus ihrem stillvergnügten Bauen von Luftschlössern, d.h. von strohgedeckten Bauernhäusern empor. Das Plötzliche wirkte bestürzend, so daß Monika einen Anfall des alten Herzleidens bekam. Amatus nahm die Mutter in seine Arme, bis sie sich erholte, und rief geängstet: »Was ist das? Wir müssen einen Arzt fragen.«

Monikas Gedanken waren: Das ist der Todesvorbote, der bei mir anklopft. Aber sie flüsterte mit bleichen Lippen: »Der Schwindel ist vorüber … es ist nichts.« Und sie drängte ihren Sohn, mit Silly nach Breitenföhrde zu reisen.

Neben Klarissa schreitend, vermochte er kaum Schritt mit ihr zu halten. Also rannte sie, und ihr Herz klopfte. Seitdem sie Kinder gewesen, waren sie nie zu zweien und zusammen gegangen. Der sonst redegewandte Junker bewegte ein paarmal die Lippen, als suche er nach Worten. Für fade Nichtigkeiten war die Stunde zu ernst, aber auch das Schweigen bedrückte.]

[später ergänzt/anders: … trat Fräulein Reder ins Haus.

Zwei noch junge Herzen klopften. Der sonst redegewandte Amatus redete vom Wetter, von unwichtigen und nichtigen Dingen.]

Mit Mut und mit einem Male brach er [später entfallen: es] [später ergänzt: los]. »Als ich Alstrup verließ … verlassen mußte, nahm ich französischen Abschied von Ihnen, weil ich mich mancher Dinge schämte, die ich begangen, der ärgerlichen Dummheiten.« Von der Seite streifte er ihr Gesicht, doch sie hörte ruhig seine Selbstanklage, ohne zu entschuldigen, ohne zu mildern. Darum richtete er sich wie in Selbstverteidigungsstellung empor, und seine Stimme traf unwillkürlich einen bissigen, selbstbewußten Ton: »Aber ich bin jetzt ein andrer … ein Mann und durch Schaden klüger geworden …«

»Und reicher, was man durch Schaden selten wird«, lispelte Klarissa verlegen lächelnd.

Damit stockte das kaum begonnene Gespräch. Er hatte das scheußliche Gefühl, als wenn er eine neue Dummheit gesagt und begangen. Und sie spürte dasselbe Unbehagen, als ob sie genau das Gegenteil von dem Gewollten gesagt habe. Ihr war ja bekannt, daß der einstige Kandidat von Alstrup sich aus der Scheiterung tapfer und trefflich emporgearbeitet habe, und ein kleines, freundliches Lob hätte Monikas guter Sohn und Sillys stattlich langer Vetter wohl verdient.

Reumütig [später entfallen: , aber stumm ging sie neben ihm her. – –] [später ergänzt: ging Klarissa heim].

[Später entfallen: Der Zug schnaufte und schütterte, klapperte und keuchte von Norderhafen nach Breitenföhrde. Die niedrig engen Wagenabteils, in denen die Passagiere eingezwängt saßen, glichen den »Kaaks«, den kleinen Stockkäfigen des Mittelalters. Schon bei Tage war die Tour eine folternde Tortur der neuen und humanen Zeit. Und nun bei Nacht im schläfrigen Halbdunkel des dösig trüben Lichts, das von den Tranlampen seine Helligkeit entlehnt hatte! Das war eine furchtbare, durch ihre endlose Länge und Langweiligkeit furchtbare Fahrt.

Junker, der an den bequemen Komfort der amerikanischen Bahnen gewöhnt war, brach das Schweigen und schimpfte auf etliche Einrichtungen des geliebten Vaterlandes. Wieder war trotz des geräuschvollen Rädergeklappers tiefe Stille. Silly brütete vor sich hin, voll Ahnung und Entsetzen, und ihre grübelnde Phantasie schuf grauenvolle Gebilde.

Er versuchte die arme Base zu beruhigen. »Fürchte nicht das Ärgste! Asmus ist nicht tot. Wie du dir einbildest, sondern eben schwerkrank.«

»Der Tod ist nicht das Ärgste, davor mir graut«, murmelte Silly und ließ den Kopf auf die Brust sinken, als wenn sie schlummern möchte.

Während der bösen und endlosen Fahrt war tiefes und schlafloses Schweigen.

Der Bahnbeamte in Breitenföhrde betrachtete das ihm bekannte Fräulein Berg mit einem eigentümlichen Blick, der ein Gemisch von Schadenfreude, Bedauern und Neugier war.

Der Kofferträger grüßte und sagte, über die Mütze hinwegschielend: »Jaa, ik kondoleer ook to dat grote Unglück.«

»I–st m–mein Bru–der tot?« Sillys Stimme lallte.

Der Mann wollte möglichst gewählt und gebildet sich ausdrücken und sprach hochdeutsch: »Das wär ja ein gräsiges Malör … eine Stunde danach starb der Amtsrichter.«

Sie vermochte nicht zu sprechen, noch den Mann nach dem Malheur zu fragen und rannte nach der Wohnung, aus der ihr Bruder sie gewiesen, ja geworfen hatte. Amatus nahm ihren Arm, um sie zu stützen, und führte sie die Treppe hinauf.

Im Schlafzimmer stand ein leerer Sarg – und auf dem Bette lag der Tote aufgebahrt im vollen Anzuge, wachsbleich, den Mund halb offen, und den Kopf mit einem weißen Tuch umbunden, das einen talerrunden, blutroten Fleck hatte.

Das Tuch verdeckte das tiefe Schußloch in der Schläfe.

Silly stieß einen gurgelnden Laut aus und fiel ohnmächtig in Amatus Arme. Er trug sie in das Studierzimmer des Amtsrichters hinüber, legte sie aufs Sofa und rief das Mädchen, Wasser und Äther zu bringen.

Sein Auge sah sich um, und sein Haar wollte zu Berge stehen. Da – dort auf dem Tische lag der Zarathustra aufgeschlagen – er warf einen Blick in das Buch – es war die Seite, wo geschrieben stand:

»Hören wir noch nichts vom Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir nichts von der göttlichen Verwesung? Auch Götter verwesen! Gott ist und bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!«

Auf der andern Seite lag ein loses Blatt, aus dem »Antichristen« herausgerissen, und darauf war zu lesen:

»Erster Satz unserer Menschenliebe: Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehen. Und man soll ihnen noch dazu helfen.«

Auf dem Tische neben dem Buche – von irgend jemand aufgehoben und hingeschleudert – lag noch die Pistole, mit der Asmus den selbstmörderischen Schuß auf sich abgegeben hatte.

Amatus erschauerte vom Scheitel bis zur Sohle und stöhnte: »Also starb Zarathustra.«

Sein Blick stierte auf die gotteslästerlichen Worte des antichristlichen Propheten. Der ewige Gott war nicht tot. Sondern lebte und lohnte nach gut oder böse. Freiwillig, da die Schande über ihm zusammenbrach, als ein Schwacher und Mißratener war der unglückliche Vetter in den Tod und die ewige Verwesung gegangen, und die Totengräber lärmten schon, um seinen Leichnam zu holen. Aber der Ewige lebte in heiliger Größe und großer Gerechtigkeit.

Schnell verschloß Amatus das Buch und die Selbstmordwaffe im Schreibtisch, denn Silly regte sich und kehrte zum Bewußtsein zurück.

Brodersen, der Rechtsanwalt, erschien mit einem Aktenbündel und erklärte höflich kalt, daß er vom Gericht mit dieser traurigen Affäre betraut sei.

»Warum hat mein Bruder sich das Leben genommen? Verheimlichen Sie mir nichts … nichts!«

Brodersen berichtete: »Er hat die Depositen zweier seiner Klientinnen angegriffen und eine bedeutende Summe, so weit ich bis jetzt feststellen kann, mehr als 50 000 Mark unterschlagen. Vor dem Gefängnis, vor der Schande floh er aus dem Leben.«

»Feige, feige«, murmelte Silly. Sie konnte um den Toten nicht recht trauern und jetzt alles hören und tragen.

Der Rechtsanwalt fuhr fort: »Ihr sel–, ihr verblichener Bruder hat ein rechtsgültiges Testament hinterlassen, welches in seinem Hauptpunkte besagt: ›Ich habe mein Leben mit 30 000 Mark versichert, welche Summe auch in dem Falle, daß ich freiwillig mein Leben ende, von der Gesellschaft ausgezahlt wird und meiner einzigen Schwester als meiner alleinigen Erbin zufallen soll.‹ Ich glaube, daß Sie die Versicherungssumme für sich retten können, doch muß das Gericht darüber entscheiden, Fräulein Berg.«

»Nein, Herr Rechtsanwalt, ich entscheide … jeder Pfennig soll den zwei Frauen, die durch seine Veruntreuungen geschädigt sind, gehören. Nichts, gar nichts will ich haben, nicht einmal die Mobilien, die für mein mütterliches Erbteil gekauft sind, aber zur Masse gehen.«

Der Rechtsanwalt lachte sarkastisch. »Diese Aufopferung geht doch zu weit; auf Ihr Eigentum müssen Sie Anspruch erheben.«

»Nein, nein und noch einmal nein! Fräulein Weinhold, die Ärmste, hat wahrscheinlich kaum Zinsen genug, um zu leben …« Sillys hochherzige Rede erstarb auf den Lippen.

Da war sie selbst, die alte Jungfer, da stürmte sie, auf dem Flure das Dienstmädchen anschreiend, ins Zimmer mit flatternder Mantille. Und sie faßte Silly an und fauchte: »Der schamlose, elende Betrüger … ich will mein Geld, mein bißchen Geld.«

Amatus beschwichtigte: »Fräulein Weinhold, Sie werden das meiste retten und aus der Masse mindestens zwei Drittel Ihres Vermögens bekommen.«

Aber sie fuhr auf Silly los und schrie: »So eine Verbrecher-Familie! Ich will all mein Geld, mein Geld …«

Der starke Vetter riß das alte Fräulein, das sich wie eine Furie gebärdete, hinweg und führte es hinaus mit Gewalt. Aber in der Tür bog Fräulein Weinhold das Haupt zurück und sprützte mit den Lippen: »Verbrecherbande! Ich spucke noch auf sein Grab.«

Amatus ordnete alles für eine möglichst schnelle Beerdigung.

Nur sechs Menschen folgten dem Sarge des Amtsrichters, der in Breitenföhrde in den besten Familien verkehrt hatte, nach dem Friedhofe hinaus.

Als der Zug in die Süderstraße einbog, fuhr eine elegante Dogcart, in der ein schmächtiger Herr und eine korpulente Dame saßen, an demselben vorüber. Die Frau betrachtete mit den stechenden Simili-Augen den schwarzen Schrein und sagte lachend zu ihrem Kavalier: »Wenn Sie erst so liegen, Herr Doktor.«

Doktor Wieding schüttelte sich: »Puh, ich bin Arzt und weiß mein Leben zu erhalten. Merkwürdig, daß so viele Leute des neuen Philosophen Lumpen sind. Aber es ist eine Tatsache, daß die rabiatesten Zarathustra-Anhänger an Gehirnerweichung, Gift oder, wie dieser da, an einer Kugel vielfach enden.«

Silly schleuderte der davonfahrenden Kleopatra einen Haßblick nach und fluchte dem teuflischen Weibe.

Frau Kleontine Butenblank fuhr [Erg. d. Hg.: offenbar gemeint: war einst gefahren] mit dem neuen Doktor übers Land. Als der schmucke, junge Neuling in Breitenföhrde nicht mehr ihren Lockungen widerstand, ließ sie den dicken Amtsrichter, den sie wie ein Vampyr ausgesaugt und ausgeplündert hatte, mit einem höhnischen Lachen laufen.

O, über die widerliche Macht der eklen Afterminne!

Asmus Berg, von seiner schmutzigen Leidenschaft verzehrt, konnte ohne das Weib nicht sein und geriet in eifersüchtigen Grimm. Der Herrenmensch fühlte sich als der Minderwertige und der Schwächere in dem Kampf um die Dirne und faßte den Entschluß, sein Leben zu enden. Freilich schwankte bereits der Boden unter seinen Füßen, da eine Witwe ihr Deposit zurückverlangt hatte.

Silly und die fünf Männer standen über dem offenen Grabe. Kein Pastor geleitete den Selbstmörder zu seiner letzten Ruhe. Darum zog Amatus seinen Hut und übte seine allerletzte pastorale Tätigkeit. Nachdem er drei Handvoll Erde in die Grube geworfen, sprach er ein lautes Gebet, in dem er Gottes Trost für die Lebende und das Erbarmen der ewigen Gnade für den Toten herabflehte. – – –

Die Mobilien kamen unter den Hammer, und Fräulein Bergs kleines Erbteil ging verloren.

Auf der Heimfahrt, als all das Grauenhafte wie ein vorübergezogenes Unwetter, dahinten lag, wurde ihr immer leichter ums Herz und Amatus hielt die Hand der guten Kousine. »Du bist durch eine edle Handlungsweise arm geworden, Silly, aber ich bin es nicht mehr. Darum sollst du immer wissen, daß mein Haus dir offen steht, und wo du stets ein bescheidenes Heim hast.

Ein langer inniger Blick ihrer blauen Augen dankte ihm, aber sie erklärte, daß sie noch jung und rüstig sei und leicht ihr Brot verdienen könne.

Frau Junker und Klarissa waren benachrichtigt und erwarteten die von der Beerdigung Zurückkehrenden auf dem Norderhafener Bahnhof. Amatus bot seiner Mutter den einen Arm und nahm Silly, die von den Anstrengungen der letzten Tage schwach und engbrüstig war, einfach und ohne zu fragen, unter den andern Arm und führte beide durch die Straßen.

Hinterdrein schritt Fräulein Reder allein und hatte Zeit und ungestörte Ruhe, ihren Gedanken nachzuhängen. Dabei entging ihrem Ohr kein Wort des Gesprochenen, aber ins Gespräch wurde sie nicht gezogen. Ihre Gedanken waren: Wie hoch und stattlich er ist – und wie klein neben ihm Silly erscheint, die in ihrer Trübsal noch mehr in sich zusammengesunken ist. Dennoch gehören sie zu einander, denn er liebt seine Kousine – wie könnte er anders? – und sie hat ihn und keinen andern von Kind an im Herzen getragen.

Erst seine zum Abschied ihr entgegengestreckte Hand störte die Sinnende aus ihren stillen Betrachtungen empor. Darum war das Gesicht, in das Amatus hell hineinschaute, noch etwas düster vom Denken und voll von unbeweglichem Ernst.

Er aber deutete es anders und hing auf dem Wege nach dem Pappeltale seinen tiefsinnigen Erwägungen nach, daß Fräulein Reder ihm unfreundlich, ja mürrisch begegne, woraus er den nahe liegenden Schluß zog, daß sie ihn nicht möge.

»Was machst du für eine Leichenbittermiene!« sagte die Mutter, die jeden leisesten Zug seines Angesichts kannte, »allerdings kommst du von einer Beerdigung, aber so arg wirst du um den Vetter nicht trauern. Hat etwas Unangenehmes dich betroffen?«

»Nein, nichts, nichts!« beteuerte er mit einer gewissen Heftigkeit.

[Später ergänzt/anders: Während Amatus Junker in der sichren Ruhe eines erreichten Ziels fröhlich sich reckte und freudig die Baupläne eines neuen und schönen Heims zu entwerfen begann, befand sich der viel beneidete Arzt Norderhafens, der freilich viele Patienten verloren hatte, in einer unerträglichen Nervenanspannung und seelischen Aufregung. Er fühlte, wie die schwachen Fundamente seines Ansehens, seiner Existenz und Ehre, wie der Boden unter seinen Füßen schwankte, und in schlaflosen Nächten hörte sein Ohr das Krachen der Katastrophe, die ihn und seine Zukunft zermalmte. In seinen Nöten ging Viggo, der als hochangesehener Bürger von der Loge »Ernstes Wollen« mit offnen Armen aufgenommen worden war, zu seinen Freimaurerbrüdern, damit sie dem Untersuchungsrichter, welcher zufällig Meister vom Stuhl [Erg. d. Hg.: »Chef« der Loge] war, einige brüderliche Winke und Fraumaurerzeichen gäben. Jedoch der Richter war ein ehrenhafter Mann, der sich von brüderlicher Liebe nicht beeinflussen, nicht mit sich sprechen noch spaßen ließ, sondern durch den Besuch der Sendboten mehr gegen als für Evers eingenommen wurde. Man hatte nur erfahren, was man schon wußte, daß die Sache für den Doktor sehr bedenklich stünde.

Als die Brüder ihren negativen Bescheid gebracht hatten, ging Evers in Erregung auf und ab, schlug im Strafgesetzbuche nach, wie hoch die Strafe für fahrlässige Tötung sei, und biß sich auf die Lippen. Mit einem halb höhnischen, halb finster trotzigen Gesichtsausdruck nahm er aus einer Schublade eine Browning-Pistole, die er starr betrachtete und dann mit einem Schauder in die Lade zurückfallen ließ. War er auf das Äußerste gefaßt und die Kugel seine ultima ratio? Er fühlte sich wie ein gehetztes, demnächst eingekreistes, umstelltes Tier, auf allen Seiten von dunklen Schicksalsmächten in die Enge getrieben.

Evers wußte, daß er schuldig sei und in jener niederträchtigen Nacht, nachdem er allzu reichlich dem Bacchus geopfert, den unbegreiflichen, satanischen Mißgriff gemacht und eine Null zu wenig geschrieben habe. Das Opium-Rezept, von seiner Hand geschrieben, lag als verhängnisvolles Corpus delicti bei den Akten. Ein wahnsinniger Gedanke schoß ihm durch das überhitzte Gehirn: Könnte es nicht aus dem Gerichtsgebäude entwendet und vernichtet werden?

Viggo lag Tag und Nacht wie auf einer Folter und litt Marterqualen, aber anzumerken war ihm nichts und seine Wangen nur um eine Nüance bleicher geworden. Er hatte seine Mienen unglaublich in der Gewalt und gab sich zuversichtlich, ja keck und frech vor den Leuten und besonders vor den lieben Kollegen, die mit einer heuchlerischen Kondolenzmiene ihn bedauern wollten.

In Norderhafen war ein Mann, ein harmloser, gutmütiger, geschwätziger Mann, vor dem der Doktor einen förmlichen Horror hatte, dessen plötzliches Auftauchen ihm Beklemmung und Übelkeit bereitete und alles Blut aus seinen Wangen trieb. Das war ein unbedeutender, subalterner Mensch, der Nachfolger des alten Hans Junker, der Gerichtsdiener Sörensen, der dem Doktor die gerichtlichen Zustellungen überbrachte. Selbst ein Evers verlor dem gegenüber die Contenance und künstliche Ruhe, und seine Hände zuckten nervös.

Sörensen überreichte mit einer linkischen Verbeugung eine Ladung zum Termin in Sachen der unverehelichten Gastwirtstochter Anne Hansen contra den praktischen Arzt Viggo Evers.

Das Gericht, das sich gegen den angesehenen Mitbürger rücksichtsvoll benahm, verhandelte hinter verschlossenen Türen und schloß die Öffentlichkeit aus. Aber die Öffentlichkeit erfuhr alles, was sich hinter den Türen zugetragen.

Anne Hansen hatte in ihrer Einfalt geglaubt, daß sie durch die Klage den Doktor zur Ehe zwingen werde. Doch Evers hatte mit sittlicher Indignation jede intime Bekanntschaft mit der Klägerin energisch bestritten. Darauf schob das Gericht dem Beklagten den Eid zu.

Eine lautlose Stille trat ein, alle Augen waren starr auf den Einen, der seinen Handschuh mit Eleganz herunterstreifte, gerichtet, die Klägerin knickte zusammen und schien in Ohmacht zu fallen. Erhobenen Hauptes und mit hoch erhobenen Fingern beschwor der Doktor, daß er in der fraglichen Zeit vom 3. bis 6. Oktober nach 10 Uhr nicht außer dem Hause gewesen sei, sondern alle diese Nächte in seiner Wohnung zugebracht habe.

Der Schluß des feierlichen Schwurs war ein kreischender Schrei, der gräßlich klang und durch Mark und Bein ging. Die unverehelichte Anne Hansen gebärdete sich wie eine wütende Megäre, spreizte die Finger wie Krallen und brüllte wie wahnsinnig: »Der Satan! Der meineidige Mensch! Der meineidige Mensch! Ins Zuchthaus, ins Zuchthaus!«

Gerichtsdiener Sörensen versuchte durch gütliches Zureden das verrückte Frauenzimmer zu beschwichtigen. »Still, Anne, still! Sie kommen nicht ins Zuchthaus, aber ins Irrenhaus, wenn Sie sich so unverständig betragen. Still, Anne! Das ist nun einmal Gesetz: Wenn einer schwört, gewinnt er seine Sache.«

Mitten in die Gesetzesbelehrung hinein rief Evers: »Unerhörte Beleidigungen! Doch die Person ist nicht zurechnungsfähig … schon diese unsinnige Klage ist ein Ausfluß ihrer Krankheit gewesen.« – Offenbar bestrebt, der fürchterlichen Situation zu entkommen, verließ er hoch erhobenen Hauptes den Gerichtssaal.

Zu Hause in seinem Zimmer brach er zusammen, sank er hin, wie von einer Schuld niedergeschlagen. Das finstre Fatum verfolge ihn, ein verdammtes Mißgeschick hänge sich an seine Fersen und hetze ihn zu Tode. Verdammt, verdammt! Gegen den satanischen Zufall mit seinen infamen Fußangeln kämpfe der Klügste vergebens. Die flüchtige Hand verschreibt sich um eine nichtige Null – und diese lumpige, lausige Null macht der glänzenden Laufbahn eines gewandten, geriebenen Kopfes ein schnelles, schmähliches Ende. Pfui Teufel! Ein höherer Hohn, eine ewige Ironie regiert die Welt. Hier in Norderhafen ist es aus mit meiner Herrlichkeit. Nicht das Zuchthaus, aber das Gefängnis öffnet mir seine Pforten. Bis nach den Gerichtsferien habe ich eine kurze Galgenfrist. Zum Satan! Ich muß die Frist nutzen und einfach Vabanque spielen. Jedes Mittel, selbst das waghalsigste, muß mir gut und heilig sein. Heilige, ewige Ironie! Hilf mir! Das Rezept muß verschwinden; wenn es fehlt, so fehlt der Beweis, der mich erdrosselt! Va banque! Und müßte ich einen Menschen umbringen, um meinen Hals aus der Schlinge zu ziehen – ich erwürge ihn, um nicht erwürgt zu werden. Aber Ruhe des Bluts, Ruhe der Nerven ist die erste Pflicht.

Um seinen Kopf, der am Zerspringen, um seine Nerven, die am Zerreißen waren, zu beruhigen, nahm Evers von seinen Morphium-Pulvern. Es wirkte und gab Schlaf für einige Stunden. Aber bald nach Mitternacht aufschreckend, wanderte er stundenlang auf Socken hin und her. Sein übernächtigtes, gespenstisches Gesicht beugte sich in den Arzneischrank hinein, er kramte unter den Kruken und nahm zwei große, mit schneeweißem Pulver gefüllte Dosen. Nach langer Überlegung wog er davon drei Gramm genau ab, die er sorgfältig in Papier verpackte und in sein Portemonnaie steckte, Das schneeweiße unschuldige Mehlpulver war Morphium pur., und die abgewogene Dosis genügte, um einen Elefanten umzubringen. Wer Va banque spielt, muß auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Das schneeweiße Pulver war die ultima ratio. Wenn das Spiel aus ist, geht der Mensch schlafen – was macht's, ob ich etwas früher schlafen gehen muß!

Als Evers am Morgen seine Visiten machte, begegnete er dem Gerichtsdiener, der ihm sonst verhaßt gewesen war. Aber heute sprach er sehr leutselig und sehr lange mit dem geringen, subalternen Manne, der die hohe Ehre zu schätzen wußte. Der Doktor scherzte mit Galgenhumor: »Sie bringen mir so viele liebe Briefe, mein lieber Sörensen, wenn Sie wieder zu mir kommen, sollen Sie ein Glas Wein und eine feine Havana haben.« – Sörensen dienerte linkisch und wußte nicht, was ihm geschah. Evers wußte aber wohl, was er wollte, und hoffte durch Bestechung des Gerichtsdieners das verzweifelte Spiel zu gewinnen.

Kaum war der Doktor zehn Schritte weiter gegangen, als er plötzlich auf drei Personen stieß, die ihm ein Entsetzen einflößten, so daß vor Horror das Haar unter seinem Hute sich bewegte. Anne Hansen kam mit ihrem Vater und mit einem jungen Frauenzimmer, das wie ein Dienstmädchen aussah, des Weges. Die Tochter des Wirts richtete einen trotzigen, triumphierenden Blick auf den Doktor, Hansen spuckte im Vorbeigehen kräftig aus und machte eine beleidigende Handgebärde, sofern er drei Finger hob und absichtlich lange hochhielt. Evers hatte in dem Augenblick ein instinktives Angstgefühl, als wenn das Spiel verloren gehen könne.

Es war schon verloren.

Die drei Personen gingen zum Staatsanwalt, um gegen Evers wegen wissentlichen Meineids Anzeige zu erstatten. Das Dienstmädchen, das seit Jahr und Tag bei dem Gastwirt konditionierte, erklärte sich bestimmt, und ohne durch das Kreuzverhör unsicher zu werden, dazu bereit, unter ihrem Eide zu bezeugen und zu beschwören, daß sie in der fraglichen Nacht des dritten und auch des fünften Oktober den Doktor zusammen mit Anne Hansen im Flure des Oberstocks des Hauses gesehen habe.

Woran sie in der Dunkelheit der Nacht den Doktor identifiziert d.h. erkannt habe? Daran, daß der Doktor sich die Zigarre angezündet und sein Gesicht hell beleuchtet habe, war die prompte Antwort. Wie es möglich sei, daß sie nach Jahr und Tag noch genau die Stunde wisse, wo Doktor Evers im Hausflur gestanden habe? Ob ihrem haarscharfen Gedächtnis nicht von Hansen nachgeholfen worden sei? Der Umstand, daß sie just am fünften Oktober ihren Geburtstag habe, der Umstand habe ihrem Gedächtnis geholfen, genau die betreffende Nacht zu behalten und nicht zu vergessen. Sie wolle beeiden, daß Evers am dritten und fünften Oktober im Hause oben gewesen sei und mithin unter seinem Eide etwas Unwahres ausgesagt habe.

Der Staatsanwalt entließ die Leute und überlegte, ob er sofort gegen den Doktor einen Haftbefehl ausstellen müsse.

Die Haft wurde nicht verhängt, aber das Verfahren wurde eingeleitet. Die erdrosselnde Schlinge zog sich immer fester um den Hals des Elenden. Das Spiel schien verloren, nur eine letzte Karte hielt er noch in der Hinterhand. Evers war in seiner Eitelkeit überzeugt, daß die arme, kleine, verwachsene Person mit einer närrischen, abgöttischen, zu jedem Opfer fähigen Liebe ihm zugetan sei, und daß ein verliebtes Weib in der Hand des vergötterten Mannes wie Wachs sei, womit er machen könne, was er wolle.

Evers stürzte in das Zimmer, wo seine Hausdame am Nähtische nachdenklich grüblerisch saß, legte effektvoll die Hand auf die Brust und sich auf den Teppich zu ihren Füßen. Zu der armen, kleinen, verwachsenen Silly sprach er heiße, leidenschaftliche Worte. – – –

In der Abendstunde plauderte Amatus mit seinem Mütterchen, das lachend ein paar Züge aus seiner langen Pfeife tat – das war nämlich ein neues gegen Asthma von einer klugen Frau empfohlenes Hausmittel. Ungeschickt den Rauch verschluckend, bekam Monika einen kleinen Erstickungsanfall. »Pfui Spinne! Das nimmt einem ja das letzte bißchen Luft.«

Da sah Monika empor, und Luft und Atem ging ihr bei dem Anblick aus. Silly, ohne Handschuhe, ohne Hut, nur im Hauskleide und in Hausschuhen taumelte ins Zimmer, im Gesicht weiß wie eine Leiche, und sinnlos vor Angst war der Blick der guten Augen.

Amatus zog sie sanft aufs Sofa nieder und hatte sofort eine instinktive Ahnung. »Evers hat sich an dir vergangen … hat ein Ver … brechen begangen … du bist außer dir … beruhige dich erst!« Er legte schützend den Arm um ihre zitternde Gestalt und fühlte dabei unwillkürlich, wie hoch und spitz der Rücken sei, und wie ein Schluchzen durch ihren Körper stieß. Erst als sie weinen konnte, wurde sie der Sprache mächtig.

»Der Mensch warf sich zu meinen Füßen, um mir mit Ungestüm zu gestehen, daß er mich lange heftig geliebt habe.«

»Das lügt er!« rief Amatus zornig dazwischen, »das lügt er!«

»Ja, es war Lüge, Verstellung, Heuchelei. Als ich wie betäubt saß und nur nein – nein zu stammeln vermochte, hielt er meine Hände fest … und da zeigte der Elende den Pferdekuß, frech und unverhüllt kam er mit seiner teuflischen Zumutung heraus. Ich müsse ihn retten vor dem Untergange, ich müsse ihm beistehen gegen seine Feinde, ich müsse mich darauf besinnen, daß er am 3., 4., 5., 6. Oktober vorigen Jahres am Abend bei mir gewesen und nicht das Haus verlassen habe, ich müsse das bezeugen, beschwören, damit er nicht meineidig werde, damit er nicht dem Zuchthaus, dem Selbstmord verfalle. O der Elende! Er wollte mich mit seinen falschen, erlogenen Liebesbeteuerungen dazu bewegen, einen Meineid zu schwören, um ihn vor den Folgen des Meineids zu beschützen. Wie kann ich wissen, wo er am 3. Oktober vor einem Jahre sich aufhielt! O, o, o! Mir grauset noch … mir war in dem Moment, als wenn der Satan selber, der Lügner von Anfang an, vor mir auf den Knieen läge, meine Hände umklammere und mich festhalte. Ich riß mich los aus den Krallen des Bösen und rannte hierher. Helft mir gegen den Menschen!«

Amatus hielt die Arme um seine Kousine. »Arme Silly! Dein gutes, treues Herz ist am Brechen … der Schurke hat es gebrochen … du hast ihn lieb gehabt.«

Sie nahm die Hände vom verweinten Gesicht und sah ihm groß und offen in die Augen. »Nein, nein, ich liebte ihn nicht, aber ich vertraute ihm ganz, ich glaubte an ihn und an die Lauterkeit seiner Gesinnung. Wie könnte ich leugnen, was ich nicht erklären kann! Er hatte eine magische Macht über mich gewonnen, so daß ich ihn für wahr hielt, wo er heuchelte, für gut, wo er nur aus Berechnung mit Güte sich verkleidete und verstellte … aber nein, ich liebte ihn nicht … das glaube mir, Amatus!«

Ihr Vetter nickte ihr herzlich zu, denn er wußte, daß Silly wahr und aufrichtig bis in den innersten Winkel ihrer Seele war. »Gott sei Dank! Du liebst den Unhold nicht … dann wird dein wackres Herz bald genesen von der bittren Enttäuschung.«

Auch die vorsorgliche Tante nickte, aber traurig vor sich hin. »Dein kleines Vermögen, Silly, deine kleine Versorgung …«

»Das habe ich ihm geliehen in meiner Vertrauensseligkeit. Wie dumm ich bin, wie dumm!«

Amatus lächelte sie an. »Darum, weil du zu gut, zu gläubig bist, kommst du unter meine Kuratel … was ich noch für dich retten und aus der Höhle des Löwen herausholen kann, das kommt in meine Verwaltung.«

Junker handelte sofort, nahm Hut und Stock – es war der dicke Agrarierstock, den er kampflustig in der Faust schwang – und eilte nach der Wohnung des Doktors.

Das Haus war bis auf die Straße hinaus voll von Menschen, besonders von Frauen, welche die neueste, entsetzliche Sensation von Norderhafen herbeigelockt hatte. Einige Spittlerinnen raunten und murmelten gedämpft, der Doktor sei gar nicht zu wecken und habe die Schlafkrankheit bekommen, andre, er habe sich vergiftet.

Viggo Evers lag lang, starr und steif auf der Chaiselongue, auf dem Tische daneben lag eine weiße Papierhülle und stand ein leeres Glas, das von dem herbeigeholten Polizeimeister dicht an die Gurkennase gehalten wurde und beißend-bitter roch.

Ein Kollege des Doktors, der die neugierigen Gaffer grob anschnauzte und dennoch umdrängt wurde, untersuchte Herz und Puls des Schläfers – aber wie lange er auch horchte, da war kein Herzstoß und kein Pulsschlag mehr zu hören.

Gegen diese Schlafkrankheit gab es kein Heilmittel, aus diesem tiefen Schlummer gab es kein Erwachen.

Der Selbstmörder hatte drei Gramm Morphium, eine ungeheure Dosis, genommen, nachdem er klar erkannt, daß sein Vabanque-Spiel, seine Ehre und seine Existenz verloren sei.

Das war das schmähliche Ende des berühmten Modedoktors von Norderhafen. Er war an dem Morphium, das er so gern und so reichlich gab, und dem er seine beneideten Scheinerfolge verdankte, zu Grunde gegangen.

Kaum war die Leiche nach dem Armenhause, wo die anatomische Untersuchung stattfand, geschafft worden, als eine Schar von fluchenden, schreienden, lamentierenden Gläubigern mit dem Gerichtsvollzieher ins Haus und auf das feine Hausgerät sich stürzte, um an sich zu reißen, was nicht niet- und nagelfest war.

Aber Junker war ihnen zuvorgekommen und hatte schon auf das teure Mobiliar, das von Silly Bergs Geld angeschafft war, gerichtlich Beschlag gelegt, um für seine Kousine zu retten, was aus dem Zusammenbruche noch zu retten war.

Jedoch mehr als die Hälfte ihres kleinen Kapitals ging verloren. Und trotzdem sagte Silly: »Das Grauenhafte liegt, wie ein vorüberziehendes gräßliches Gewitter weit dahinten, und jetzt ist mir viel besser und leichter ums Herz, als vor einer Woche.«

Amatus drückte die Hand der guten Kousine, die so groß im Unglück war. »Du bist durch deine Großmut …«

»Durch meine Leichtgläubigkeit und Dummheit.«

»… durch deine vornehme Herzensgüte arm geworden, aber ich bin es nicht mehr. Darum sollst du immer wissen, daß mein Haus dir offen steht, und wo du stets ein bescheidenes Heim hast.«

Ein langer inniger Aufblick ihrer blauen Augen dankte ihm, sie erklärte aber, daß sie noch jung und rüstig sei und leicht ihr Brot verdienen könne.]

Infolge der erschütternden Ereignisse der letzten Tage [später entfallen: und der unvorhergesehenen Reise] war der Hofkauf in Vergessenheit geraten. Die drei Tage Bedenkzeit waren vorgestern verstrichen, ohne daß der Kaufliebhaber, wie er versprochen, etwas von sich hatte hören lasen. Darum war Ebbesen in Kirkeby unruhig geworden und hatte einen Brief geschrieben, der in der Dachwohnung lag.

Wenn der niedrige Preis noch zu hoch erscheine, wolle er, sofern der Verkauf gleich abgemacht und die Anzahlung [später ergänzt: pünktlich] geleistet werde, bis auf 72 000 Mark heruntergehen. Eine ungewollte Verzögerung, des Zufalls Fügung war Amatus günstig. Der Verkäufer hatte sich selbst [später ergänzt: um 3000 Mark] herabgedungen.

In dem Norderhafener Amtsgericht, vor dem die Auflassung stattfand, wurde Junker als Besitzer des Hofes eingetragen. Weil es ein guter Handel war, machte er sich die Not des ausgewiesenen Dänen nicht zu Nutze. Zwar an dem geforderten Preise von 72 000 Mark hielt er fest, aber [später ergänzt: er] übernahm allein die Zahlung sämtlicher Auflassungskosten.

Diese Großmut rührte Frau Ebbesen so sehr, daß sie unter Tränen erklärte, nun habe sie ihren verlorenen Glauben wiedergewonnen, nämlich den Glauben, daß es auch unter den Deutschen gute Menschen gäbe.


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