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Zweiter Teil: Irrfahrt.

Vierter Abschnitt: Das Muttersöhnchen.

Es war ein unverhofftes Wiedersehen mit bangen Fragen und bittren Tränen gewesen; aber die heilende Zeit, die durch das langsam wirkende Medikament der Gewöhnung jeden Schmerz lindert, hatte die Mutterkämpfe zur ergebungsvollen Wehmut gedämpft.

Im Eisenofen knisterte das Torffeuer, und aus dem Zugloche zuckte ein rotleuchtender Streif über die ausgetretene Diele. Wie eine sanfte Ruhebringerin, die alles Laute stillt und jede Sorge bricht, schlich sich von draußen die Dämmerung, die weißgraue Elbin, ans Fenster und in die Dielenstube hinein. Auf die drei Menschen, die einander so lieb hatten, fiel eine große Stille.

Friedlines Stimme flüsterte: »Mutter, mir ist etwas eingefallen … wenn wir nicht in Norderhafen, sondern in der Universitätsstadt wohnten, könnte Amatus immer bei uns sein.«

»Ja, dann hätte ich stets an der Heimat einen Halt … aber leider hat Gott es nicht so gemacht.«

»Könnte Gott es nicht einrichten?« murmelte die Blinde und blickte nach oben, als wenn sie dort etwas sehen könne und [später ergänzt: noch] weiter suche.

Amatus klappte sein Buch zu. »Nicht mehr von fremden Menschen abhängig zu sein, wäre geradezu eine Erlösung. Es ist ein Kreuz und eine kuriose Sache … alles, was die Vorsilbe ›Frei‹ hat, wie Freiplatz, Freitisch, Freizimmer, bringt eine unerträgliche Unfreiheit mit sich.«

Die Mutter verwies ihm die Rede: »Ein geringes Übel ist die äußerliche Rücksichtnahme, aber das schlimmste aller Übel ist die innerliche Unfreiheit.«

»Mutter!« rief er bittend, »habe ich dir nicht alles, auch meine Gebundenheit bekannt? Dagegen wäre die Heimat und die Nähe deiner Hand eine starke Hilfe mir.«

»Eine starke Hilfe«, wiederholte Friedline wie geistesabwesend und doch gedankenvoll, und Monika seufzte: »Es kann nicht sein, mein Sohn, daß wir zusammen sind.«

»Liebe Mutter, es kann dennoch sein!« rief die Blinde, und ihr Lächeln war [später ergänzt: wie] ein plötzlich aufleuchtendes Licht.

»Was kann sein, Friedlinchen?«

»Daß Amatus auf der Universität eine Heimat hat und der Freitische nicht mehr bedarf.«

»Das ist unmöglich.«

»Nein, nein, einfach ist es wie alles, was von Gott kommt … ich bleibe beim Vater und führe ihm den Haushalt … hier kenne ich ja jeden Winkel und finde mich zurecht, auch die Gasse bis zum Krämer hinauf. Du aber, Mutter, ziehst mit Amatus und mietest ein Stübchen, das du ihm zur Heimat machst.«

»Kind, Kind!« rief Monika fassungslos und freudig erschrocken.

Friedline aber fuhr verständig fort: »Das Wirtschaftsgeld wird geteilt, und es gilt eine Wette, daß ich mit meiner Hälfte auskomme … nur sieben Monate seid ihr [später ergänzt: ja] fort und fünfe bei uns.«

Amatus hatte die Mutter umschlungen. »Wenn es möglich wäre …«

»Es ist möglich, und ich glaube, daß Friedlinchen den Gedanken nicht aus sich hat.«

Der kluge und kühne Plan der Blinden wurde hin und her erwogen, und da der Vater sofort seine Zustimmung gab, nach reiflicher Vorbereitung ausgeführt.

Außer der Schiffskiste wurde ein Schloßkorb gepackt und nach der Bahn befördert. Hans schniefte beim Abschied, aber ertrug die Tatsache mit männlicher Würde. Dann ärgerten ihn die Schreiber, welche fragten, ob es wahr sei, daß die Gerichtsdienersche ihrem Manne davon und mit dem eigenen Sohne durchgegangen sei. Zu Hause ging ihm an seinem Essen und seinem Schlaf nichts ab, denn die Tochter führte mit Lust und Geschick den kleinen Hausstand.

Friedline war nicht anzumerken, daß sie die schwerste Last trug, und es [später: das] war nicht die Arbeit, sondern die Einsamkeit und Sehnsucht. Zehn Tagstunden war sie allein, und abends, wenn der Vater sein Nachtmahl verzehrt hatte, begab er sich am liebsten um acht oder halb neun zur Ruhe. Beim trägen Ticken der Uhr beschlich ein krampfendes Weh ihr Herz [später im Satz vor Weh], das sie aber tapfer verbiß und nicht zum Weinen kommen ließ. Ihre Gedanken eilten in die Ferne zu den Ihrigen, und am liebsten philosophierte ihr Köpfchen über die Kürze der Zeit im allgemeinen und der deutschen Universitätssemester im besonderen. – – –

An einem leuchtenden Lenztage hatte Frau Junker ihren Einzug in der Universitätsstadt gehalten und des Tages vor vielen Jahren gedacht, da sie ihr Töchterchen hierher in die Blindenanstalt brachte und der Schrei der vom Mutterherzen Hinweggerissenen sie gellend verfolgte.

Böse Menschen sollen mir meinen einzigen Sohn nicht nehmen, ich will und darf als ein schwacher Schutz bei ihm bleiben.

Amatus führte die Mutter nach der Teichstraße, in der Hoffnung, daß sein altes Quartier leer stehen möge. Die Frau Obermaatin, die statt der staatlichen Unterstützung viele graue Sorgenhaare bekommen hatte, war mit Freuden bereit, beide Norderhafener aufzunehmen. Aber sie hatte nur eine Bettstelle!

»Was nun? Wir müssen eine mieten!« Als aber mit dem Schürzenbande als Meßschnur gemessen wurde, zeigte sich, daß in dem Stübchen kein Raum für ein zweites Bett sei, wenn nicht das Sofa entfernt würde.

Alle machten bedauerliche Gesichter, bis Amatus den Knoten löste. »Ich schlage alle Abende meine Bett auf dem Kanapee auf.«

Und so ist es gemacht worden. Die gefällige Obermaatin half beim Auspacken und beim Einrichten der Wohnung und erzählte traurig, daß die laufende Unterstützung sich jetzt totgelaufen habe, daß sie keine teuren Gesuche mehr schreiben lasse, sondern mit einer Strickmaschine recht und schlecht sich ernähre.

Die Stube lag hoch oben im vierten Stockwerk und war gleichzeitig Wohn- und Schlafgemach und Küche. In dem Ofenwinkel stand der Kochherd, nämlich ein zweiflammiger Petroleumkocher. Die Kommodenplatte diente als Bücherständer, und der Klapptisch, dessen natürliche Halbierung die Grenze ergab, wurde hüben als Eß- und drüben nach dem Fenster zu als Schreibtisch gebraucht.

Während der Studiosus die Vormittagsvorlesungen besuchte, bereitete die Mutter das Mittagessen, sehr erfinderisch im Wechseln des einen Gerichtes, das [später: Ganges, den] es gab. Wenn ihr Sohn heimkam und hungrig zulangte und nach dem Essen sie küßte und sagte: »Das hat besser geschmeckt als der beste Freitischleckerbissen!« dann war sie sehr froh, obgleich ein Kochproblem ihr durch den Kopf ging. »Wie bringe ich es fertig, zwei Gerichte zu bereiten? Ein zweiter Petroleumherd würde zu teuer werden.«

Die Obermaatin, welche sie befragte, gab ihr lachend statt eines guten Rats eine mit Heu gefüllte Kiste. »Hier ist ein billiger Ofen, der niemals raucht und kein Holz braucht.«

Und es war ein vorzüglicher Sparofen, dahinein Monika die ins Kochen gebrachte Vorspeise stellte, welche dann still und unbeachtet weiter brodelte und ohne Feuer gar sich kochte.

Mittags auf dem Flure machte Amatus eine Wahrnehmung, die er seiner Mutter meldete: »Ich glaube, sie [später: die Wirtin] hat seit drei Tagen kein warmes Essen bekommen … man riecht nie, daß sie etwas kocht.«

»Die Armste [später: Ärmste], die auf den kärglichen Strickverdienst angewiesen ist, verheimlicht ihre Not und lebt [später entfallen: jedenfalls] tagelang von Kaffee und Brot.«

Der Sohn schien weniger Appetit als sonst zu haben, und ein mäßiger Rest des Mahls blieb übrig. »Mutter, könntest du das nicht der Obermaatin stillschweigend in die Küche stellen, so lange es warm ist?«

Monika, die einen kurzen, leuchtenden Blick über ihn hingleiten ließ, trug den gefüllten Teller in die Küche hinüber, pochte an die Zwischentür und verschwand ungesehen.

Die Studentenfamilie, wie sie in der vierstöckigen Mietskaserne genannt wurde, hatte vom wenigen noch übrig, weil die Einnahmequellen reichlicher zu fließen begannen. Amatus, der sich auf eine Annonce hin gemeldet und vor der gnädigen Frau Gnade gefunden hatte, gab nämlich dem Sohne des Kontreadmirals gut bezahlte Nachhülfestunden [später: Nachhilfestunden].

Mit eisernem Eifer sein Studium treibend, mied er allen Verkehr als Zeitvergeudung und genoß die Berufsmärsche als Erholungsspaziergänge. Jeweilig [später: Bisweilen] traf er in den Wandelgängen der Universität mit einem Bruder der Norderhafener Blase zusammen und beantwortete unbehaglich die ständigen Fragen, warum er sich ausgemeldet habe, und wo er jetzt wohne. Er nannte die Teichstraße, aber die Nummer nicht.

Eines Tages vernahm er deutlich vor der Tür seines Auditoriums, wie ein Student zu einem andern, der sich setzen wollte, sagte: »Du, nicht da! Das ist der Platz des langen Muttersöhnchens.« Hinterrücks war ihm der Spitzname »Muttersöhnchen« angehängt [später ergänzt: und scheinbar allgemein ge-] worden.

Junker gehörte zu jenen empfindsamen und leicht verletzbaren Naturen, die für das Mienenspiel ihrer Mitmenschen ein viel zu offenes Auge haben, und die jenen zart besaiteten Blumen gleichen, die bei jeder Fingerberührung sich [später entfallen: zusammen] schließen. Gekränkt zog er sich in selbst und in seine Heimat zurück. Im trauten Stübchen hauste er mit seinen ureigensten Schätzen, mit dem Reichtum seiner Gedanken und dem großen Schatze seiner treuen Mutter. Da war sein Genüge und sein Glück.

Zwölf Arbeitsstunden hatte sein Tag, und schneller als irgend einer wollte er sein Studium absolvieren, nicht vom Sporn des Ehrgeizes vorwärts gestachelt, sondern von dem Drange der Befreiung von allem Druck getragen und getrieben. Wollte er Sonntags nach den Büchern greifen, nahm die Mutter sie ihm sanft aus der Hand und sagte: »Nein, was der Sonntag erwirbt, der Montag verdirbt.«

Er lehnte den Kopf an ihre Schulter. »Wenn ich nicht lesen darf, was soll ich in meiner Mußestunde tun? Mütterchen muß wohl mit mir spielen.«

»Bist du wieder mein kleiner Adam?« sagte sie.

»Ja, erzähle mir, wie in meiner Kindheit, ein schönes Märchen!«

»Was könnte ich meinem klugen Sohn erzählen?«

»Aus deinem Leben, deiner Jugend etwas … wie du den Vater kennen lerntest!« Von der Seite streifte er ihr Antlitz, dessen Heiterkeit zu tiefem Ernst geworden war.

Monika sah vor sich hin und in weite Vergangenheitsfernen. Zögernd [später entfallen: und gewogen] kamen ihre Worte. »Dein Großvater Junker war ein fleißiger Mann. Im Meißeln und Schneiden ein Meister, der die schönsten Schränke und Schnitzsachen verfertigte … ach, ach, bei der Versteigerung ist alles um ein Spottgeld verschleudert worden … aber den Pflug nahm er nicht in die Hand und wurde auf seinen Feldern kaum gesehen … drüben in der ›Klüterkammer‹ saß er, wenn der Exekutor [Erg. d. Hg.: Gerichtsvollzieher] kam, der ihn zu finden wußte … im Frühling mußte der alte Junker das Stroh von seinem Scheinen herunterreißen, um das Vieh vor dem Hungertode zu schützen … zu Mittsommer wohnte er in der kleinen Kate, die er von Hab und Hof behalten hatte. Dein Vater zog mit einem Stabe aus und diente als Vorknecht auf der Andersenschen Hufe in Hellebäck, die unser Nachbarhof war. Das war die dritte Landstelle, die schlechteste und sandigste und auch die letzte, die mein Vater hatte, der von Landwirtschaft nichts verstand … die Pferde waren blank und die Kühe mager, der Rahm wurde gegessen statt gebuttert und für den Nachfolger wurde mit schweren Unkosten Mergel gegraben.«

»O, Mutter, Verfall und Verarmung ist mein böses Ahnenerbe … wie würde ich gearbeitet und gewirtschaftet haben, wenn ich meine eigne Ackerscholle besessen hätte! Um ein Bauerngütlein gäbe [später: gebe] ich meine ganze Theologie hin.«

»Amatus versündige dich nicht … freilich, es sind alte und traurige Märchen, die am besten begraben bleiben.«

»Muttchen, erzähle mir [später entfallen: ein Märchen aus deiner Maienzeit] … wie du den Vater lieb gewannst!« [Später entfallen: Sein Blick streifte ihr Gesicht.]

Monika spitzte sinnend den Mund und sprach stockend: »Nun … dein … Vater kam Sonntags oft hinüber … damals war noch keine so große Kluft zwischen Hofbesitzern und Hofleuten.«

Sie gab kurzen oder keinen Aufschluß.

Der Sohn blickte etwas unruhig, aber ohne Argwohn sie an und schwieg. – – –

Blaue Syringen blühten an allen Wegen. Bis über die Mietskasernen der Vorstadt hatte eine neugierige Lerche sich verirrt, und der schwanzlose Kanarienvogel der Obermaatin, der wahrscheinlich ein Weibchen war und sonst nicht sang, mühte sich, das Geschmetter durch sein Gepiepse zu begleiten.

Piep, piep, Mittsommer ist da! Piep, piep, Mittsommer ist da!

Von dem Gesinge und von den Sonnenstrahlen, die ihm ins Gesicht guckten, erwachte Amatus und reckte sich munter: »Heute ist Sonntag … nur der Arbeitsame kennt die Sabbatsfreude … aber meine Sonntagsruhe ist Wandern, Wandern. Mutter, es ist ein Mittsommermirakel! Der Himmel Schleswig-Holsteins hat keine Wolken. Heute wollen wir weit in die Welt hinaus marschieren! Schneide dir die Hühneraugen und ziehe die großen, bequemen Kähne an!«

Monika tat, wie ihr geheißen wurde, und meinte: »Wir nehmen die Hauswirtin, die von früh bis spät mit der Strickmaschine klappert, mit.«

Nachdem ein Eßkörblein [später: Eßkorb] gefüllt war, zogen sie hinaus in die Frühmorgen- und Frühsommerschöne. Die Mutter, jedes Vögleins Schlag kennend, lugte vorsichtig durch die Zweige, um den Sänger nicht zu stören. Der Studiosus der Theologie aber stand vor jedem Hecktor still, mit seinem Kennerauge an den schweren, rotbunten Kühen sich ergötzend, und träumte verstohlen davon, wenn die sein eigen wären.

Im blinkenden Sonnenschein vergaßen alle des Lebens Druck und düstere Schatten, und sogar die Obermaatin scherzte kurzweilig und sagte zu der vor ihr schreitenden, schnellfüßigen Monika: »Frau Junker, wie alt sind Sie?«

»Ich sage es … fünfundfünfzig!«

»Ja, Sie können es sagen … und ich mit meinen grauen Haaren bin zehn Jahre jünger … Sie sind noch eine schöne Frau.«

»Nicht einmal gewesen, gewesen, meine Liebe.«

»Ja, Mütterchen, das bist du!« protestierte der Sohn, »selbst der stockfischtrockene Amtsrichter [später: Justizrat] hat mir gesagt, daß er sich in jungen Jahren ein paar Tage lang in dich verliebt hat.«

»Sie haben gewiß viele Anbeter gehabt?« Die Wirtin bestrebte sich, ihrer Mieterin etwas Angenehmes zu sagen.

Der Sohn nahm das Wort: »Sehr viele! Und sie nahm meinen Vater, obgleich er nichts hatte … hättest du doch einen reichen Hofbesitzer geheiratet! Dann säße ich jetzt im vollen [später ergänzt: , fetten] Bauernglück.«

Frau Junker wehrte dem Gespräch: »Laß das! Ich heiratete deinen Vater, weil ich ihn liebte.«

Ihre Wirre verwirrte ihn, so daß er sprach: [Später: Er ließ das Thema nicht fahren.] »Warum hat Vater nicht den heruntergewirtschafteten Hof übernommen?«

»Habe ich dir nicht gesagt, daß er versteigert wurde? Auch war dein Vater nicht der nächste Erbe, sondern sein älterer Bruder [später ergänzt: Tycho].«

Amatus blieb [später ergänzt: starr und] stutzend stehen. »Aber von einem älteren Bruder meines Vaters weiß ich gar nichts … warum sind die Familienhistorien mir verheimlicht worden?«

»Dein Oheim war ein hübscher Mensch und diente auch in Hellebäck … er war so sparsam, daß man ihm Geiz nachsagte … der Ärmste ist wohl längst tot und vermodert.«

»Wohl? Wie soll ich das verstehen?« Amatus betrachtete seine Mutter in grosser Spannung. [Später ergänzt: »Was sind das für Rätsel?«]

»Als Tycho – so hieß er – hundert Speziestaler sich erspart hatte, brach der schleswig-holsteinische Krieg aus. Weil er sich nicht freigelost [später: frei gelost] hatte, wurde er von den Dänen eingezogen … wie hat er beim Abschiede geweint, als wenn er den bösen Ausgang ahne! In der Osterschlacht bei Schleswig blieb er … so müssen wir glauben, weil keine andere Möglichkeit ist. Als die Dänen bei dem Dorfe Busdorf flohen, bemerkte sein Nebenmann, daß er hinter einem Knick in die Kniee sank und zurückblieb. Seitdem hat keiner seiner Kameraden etwas von ihm gesehen [später ergänzt: oder gehört] … auf den Verlustlisten war Tycho Junker als ›vermißt‹ verzeichnet. Damals wurde die Kontrolle höchst nachlässig geführt … doch wird er gefallen und irgendwo auf der Heide eingescharrt sein.«

Amatus wiegte den Kopf. »Das ist ein tragisches Los … mein Onkel Tycho mußte als guter Deutscher für Dänemark sterben … ist er später für tot erklärt worden?«

»Nein, es hatte keinen Zweck und hätte nur Kosten verursacht … bei seiner ängstlichen Sparsamkeit hatte er seine Ersparnisse keinem anvertraut, sondern sie im Tornister mitgenommen.«

»Mutter, könnte das nicht das Dunkel aufklären? Wenn Hyänen des Schlachtfeldes den Gefallenen ausgeplündert und verscharrt haben, um ihr Verbrechen zu verdecken … oder vielleicht war er nur verwundet …?«

»Mach das Grausige nicht noch grausiger! … Der Allsehende weiß es [später ergänzt: , wir werden es nie aufklären].«

Bald verscheuchte der helle Sonnenschein die Schatten, welche die alten Familiengeschichten aus ihrer längst geschlossenen Gruft geworfen hatten. Man stieg in ein großes Dorf hinab, das in einem lieblichen Tale in stiller, satter Ruhe lag. An allen Hängen zogen die grünen Knicks hin und bildeten unregelmäßige Vielecks von wogenden Getreidefeldern und blühenden Kleeäckern. Hier war einer jener vielen Gärten, die Gott im östlichen Holsteinland geschaffen hat, und dem Theologen dünkte jeder Bauernhof mit seinen breiten Scheunen, dem Baumgärtlein und dem Entenweiher ein Erdenparadies, daraus Adam Amatus durch seiner Ahnen Schuld und Leichtsinn vertrieben worden. Die Kirchenglocken läuteten.

Monika meinte: »Wir könnten den Gottesdienst besuchen, wenn wir nicht den Eßkorb hätten, aber wo lassen wir den?«

»Es wäre keine Kirchenschändung, ihn unter die Bank zu stellen«, sagte er.

Nach ihrer Meinung aber ging das nicht, und sie versteckten den Korb an der Kirchhofsecke, wo er unter hohen Nesseln kühl und ungesehen stand.

Während der Predigt hatten nicht bloß ihre Seelen, sondern auch ihre müden Beine Sabbatsruh gehalten, und nach derselben setzten sie sich unter die uralten Linden des Friedhofshügels, von wo ein feiner und weiter Ausblick war. Alles Grün glänzte, der schimmernde Brennspiegel des Sees funkelte in seinem Schilfrahmen, leise murmelte der Bach, und laut klapperte der Storch auf dem Dache.

Die Obermaatin, die zu sinnieren schien, wurde von Amatus geneckt: »Trauern Sie noch immer um die Laufende?«

»Jaja, der Pastor predigte von der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt … ich kenne die, welche in der Welt und bei der Obrigkeit gilt … daß die Witwen der Maate, die mit dem ›Großen Kurfürsten‹ untergingen, große Pensionen bekommen und ich keinen Pfennig.«

Monika suchte die Verbitterte zu trösten, während ihr Sohn nach dem Eßkorbe lief. Er kam zur rechten und zur letzten Stunde, um ihn zu retten. Eine schnüffelnde Sau, die sich an den Nesseln atzen wollte, hatte ihn aufgestöbert und umgeworfen und stieß ein höchst verblüfftes Uf–uf aus, als ihr der Fund vor dem Rüssel weggenommen wurde.

Nachdem das trockne Mittagsmahl verzehrt war, nickten die Frauen ein wenig, und Amatus, in die Wipfel blickend, träumte einen [später ergänzt: lustigen] Traum. Wenn er in einem solchen Dorfe Pastor wäre und die Mutter und der Vater und Friedline bei hm wohnten …

Zwei dröhnende Schläge der Turmuhr weckten den Träumer und die Schläferinnen. »Auf, auf, Frau Obermaatin!« rief er, »der Hahn auf dem Turme hat gekräht.«

Die frohen Ausflügler wanderten durch das Dorf und standen vor dem lieblichsten von allen Höfen in beschaulicher Betrachtung still. An den flüsternden Bach schmiegte sich ein smaragdener Wiesenstreif, auf dem weiße Enten sich sonnten und flaumgelbe »Göffel« schwerfällig watschelnd die Grashalme gierig rupften. Über den grünen Grund hingen die baumhohen Syringen des Gartens, der ein Tausendschön von allen Farben, von Dornrot, Goldregen und schneeweißen Blüten war. Vom dichten Blatt- und Blütenhag auf drei Seiten umhegt, lugte ein hellgetünchtes, strohgedecktes Haus mit seinen zwei Scheunen hervor.

In dem Hofe stand ein alter, ganz schwarz gekleideter Herr, das Samtkäppchen auf dem kahlen Kopfe und die lange Pfeife im Munde, und neben ihm eine mildblickende, matronenhafte Frau, die eine volle Schale hielt, aus der sie wie ein Säemann die Gerste streute. Husch, husch! Das gackernde Hühnerheer von weißen Italienern flog herbei und pickte und pickte. Von dem Geräusch erwachten die Enten, schrieen ihr Rab-rab [später: Pack-pack] und schossen flügelschlagend über den Grund, um den nimmersatten Hunger zu stillen. Die kleinen, watschelnden Göffel waren die letzten zur Stelle.

Der Herr im Hofe schien schriftbewandert und lachte: »Die letzten sollen die ersten sein«, und abseits von dem großen und gierigen Geflügel warf er den Gänslein ihr Futter.

In Wohlbehagen schritt das würdige Ehepaar durch den Garten, und die gelben Göffel liefen ihnen nach.

»Ist das nicht ein Erdenparadies?« sagte Monika.

»Ja, Mutter, es ist die Pfarre des Dorfes«, antwortete er sinnend.

»Woran denkst du, mein Sohn?«

»Ich träume einen Traum … wenn ich das Glück erreicht hätte und in einem solchen Stilleben säße … du und Vater und Friedline wäret bei mir … die Äcker und Wiesen würde ich natürlich alle behalten und Pferde und Kühe und Kälber haben … o … den lieben, langen Tag über die Felder streifen und Gras und Korn wachsen sehen, welch ein Glück!«

»Aber, Amatus, du wärest doch zunächst Prediger und Seelsorger, müßtest auf der hohen Kanzel reden und in den niedrigen Hütten trösten.«

»Selbstverständlich … das müßte ich auch besorgen.«

Das Lächeln der Mutter verlor sich: »Wäre dir das nicht die Hauptsache und die Hauptarbeit des Lebens?«

»Ich glaube, daß mir der Hof das liebste [später: Liebste] wäre«, antwortete er ehrlich.

»Mein Sohn, mein Sohn! Du willst Pastor werden – um Bauer werden zu können?«

»Kann ich nicht beides sein? Ja, das Bauernblut, das bleibt … die trauteste Musika ist mir das Dengeln der Sensen und das Dröhnen der Dreschflegel … kein Röslein ist meiner Nase so lieb als [später: lieb, wie] der Duft des Heus und der Milchgeruch der Kühe.«

Seine [später ergänzt: helle, heiße] Begeisterung machte die Mutter bedenklich. »Wenn kein Mensch zwei Herren dienen kann, wie viel weniger ein Diener Gottes!«

»O«, erwiderte er, »es sind ja nur törichte Träume.« –

Am Montagnachmittag machte Junker seinen gewöhnlichen Spaziergang nach dem Villenviertel hinaus, um seine Stunde zu erteilen. [Später entfallen: Nach langer Zeit traf er auf der Straße den Vetter, an dem er mit kaltem Gruß vorüberging; aber die Begegnung dünkte ihm eine schlechte Vorbedeutung. Ja,] Da war ihm sein Ärger schon bereitet, und [später: denn] der Quartaner hatte in der Schule eine niederträchtige Zensur bekommen. Als der Kontreadmiral durch den Diener ihn zu sich bitten ließ, räusperte er sich tief. Es kam aber anders, als dem Abergläubischen ahnte.

Der hohe Offizier war ein sehr verständiger Vater und sagte sehr schneidig: »Wenn der Stift faul wird, hauen Sie ihm rechts und links ein paar herunter, die er fühlt … dazu will ich Ihnen Vollmacht geben.«

Der Studiosus, dem eine Zigarre geboten wurde, lenkte das Gespräch auf den Untergang des Großen Kurfürsten, an welcher traurigen Affäre der Offizier, aktiv, aber unverschuldet teilgenommen hatte, und dann auf die Obermaatin, die bei Gibraltar ihren Mann verloren, und wußte geschickt die große Not seiner Wirtin zu erwähnen. Der Admiral versprach nichts, aber notierte sich den Namen der Obermaatswitwe. –

Amatus hatte lange die Sache vergessen. Das Jahr ging bergab, und die langen Sommertage kürzten sich. Der Studiosus saß über die Bücher gebeugt, bis die Dämmerung die Schrift verwischte und die Mutter bat: »Mach Feierabend, mein Sohn!«

Er lehnte sich zurück und strich mit den Fingern über die müden Augenlider, und vom Fenster kam leise Frage: »Was sinnst du? Umschwirrt dich noch der Schmetterling?«

»Nein, Mutter, ich habe ihn verscheucht.«

Frau Junker holte von der Wirtin das neueste Zeitungsblatt, das sie bereits gelesen hatte, und legte es ihm hin, den Zeigefinger auf eine Bekanntmachung haltend: »Fasse dich, Amatus, der lockre Falter hat sein bißchen Glimmerstaub verloren.«

Er las die Anzeige, in welcher der Amtsgerichtsrat [später. Justizrat] die Verlobung seiner Tochter mit dem Doktor [später: Kandidaten] Evers kundgab, und hielt die Hand über die Augen. Nach einer Weile sprang er empor. »Mutter, nun bin ich geheilt, von einem grauenhaften Blödsinn der Einbildung gründlich geheilt.«

Aber in den nächsten Tagen war Amatus nicht wie ein fröhlich Genesender, sondern oft verdrossen, besonders wenn das Durchdenken des dogmatisch-dickflüssigen Stoffes ihm nicht [später ergänzt: gleich] gelang. Monika gab Obacht auf ihn, und nachdem ein häßlicher Nachttraum sie gequält hatte, graute ihr vor einem Anfall und Angriff des alten Feindes. Trotzdem es ein Werkeltag war, sprach sie: »Du mußt dich ausspannen, wir wollen durch eine Wasserfahrt uns erholen.«

Er willigte ein: »Ja, die wehende See ist ein frischer Himmelsbesen, der den dumpfen und alten Staub aus Kopf und Herz herauskehrt.«

Nachdem sie am Kanale gelandet waren, wandte sich Monika durch den Gutspark mit seinen hundertjährigen Rüstern und Rieseneichen. Sie ging voran durch den Laubengang, in dem er einst mit Mirzy Schaffys Liedern den langzöpfigen Backfisch angesungen hatte. Davon wußte die Mutter nichts, und er wurde versonnen, weil ringsum ihn im Sonnenschein die toten und törichten Träume wiedergingen.

»Amatus, woran denkst du?«

»An Sylvia …«

»Sie ist keines Gedankens wert.«

»Nein … aber denke ich, oder denkt ein anderes in mir? Gute Gedanken kann man nicht herbeizwingen und widrige nicht vertreiben … sie kommen, und wer wüßte, von wannen? Eber hier wanderte ich einmal mit ihr.«

Die Mutter nahm hastig seinen Arm und riß ihn hinweg von dem Ort, der ihr nicht mehr geheuer war. Am Kanale, der zwischen Schilfufern wie ein Flüßchen sich schlängelte, und dem zur Seite der Rennsteig [später: Treidelsteig] lief, gingen sie. Hinter ihnen kam ein zweisitziges Gefährt in schnellem Trabe die Straße hinauf.

Ein Aufblick nur! Und Amatus sah, daß sein Vetter die Zügel hielt und die Wohltätige den Bock mit ihm teilte [später anders: die Wohltätige im Wagen saß]. Ein zweiter, noch schnellerer Blick! Das dahinter, das war Sylvias Hut, der wie eine schmachtende Riesenblume sich zu dem glattschimmernden Gesicht des neugebackenen Doktors [später: geölten Evers] hinüberlehnte.

Amatus zog die Mutter, die ein [später ergänzt: heftiges] Zucken seines Arms spürte, auf den Rennsteig [später: Treidelsteig] hinüber. Der Wagen aber fuhr zum Gute hinauf.

»Was hast du?«

»Sie … sie war es.«

Monika fragte nicht mehr, sondern ging eilig den Rennsteig [später: Treidelsteig] hinauf, dessen sandiger Boden brannte.

Amatus warf sich in den Schatten einer Weide und sagte: »Wollen wir hier nicht ruhen?«

Seine Gedanken jedoch ruhten nicht, sondern beschäftigten sich unablässig mit dem Gefährt, etwas sauer-sarkastisch. Der Vetter hatte einmal als Knabe ein Ziegengespann besessen, aber seitdem nie Gelegenheit gehabt, einen Zügel in die Hand zu nehmen. Nun kutschierte der die Lüdemannschen und den geölten Doktor als kühner Rosselenker. Ja, der fand sich mit weltmännischer Würde in das Unvermeidliche [später anders: Der freche und glatte Lump kutschierte großartig mit den Lindemannschen Damen und spielte den flotten, feinen und vornehmen Weltmann] . Dreimal selig sind die Dickhäutigen und die Dummdreisten, denn sie werden vorwärts kommen auf Erden!

[Später entfallen: Nach Bekanntgabe der Verlobung war Asmus Berg der erste Gratulant und sein Glückwunsch herzlicher als irgend eines Hausfreundes gewesen. Nur ein sehr scharfer Mienenkenner hätte sehen können, daß unter seinem Lächeln etwas auf der Lauer zu liegen schien.

Nachdem seine Einladung zur Ausfahrt angenommen war, ging Berg in den Leihstall, um ein Fuhrwerk zu mieten. Der Besitzer, der ihn für einen Sonntagskutschierer hielt, wollte zwei geduldige Droschkenmähren anschirren lassen.

»Nein, nein, die zwei raschesten Gäule, die Sie haben, ich kann fahren.«

»Sehr wohl, mein Herr, ich habe hier ein Gespann, ein schneidiges …«

»Ausrangierte von der Truppe?«

»Ja, es sind Dragonerpferde gewesen, aber junge, feurige Tiere …«

»Her mit den Feurigen!« kommandierte Berg.

»Hm, hm … Herr … wir sind ja haftbar.« Der Fuhrmann kraute sich und kaute an etwas.

»Hat's einen Haken mit den Rennern? Durchgänger? He?«

»Das nicht! Nur der rechte hat eine kleine Unart … kriegt er den Schwanz über die Leine, wird er fuchswild und will davon … wenn Sie bloß dafür aufpassen, ist er militärfromm.«

»So, so!« machte Berg, und unter dem Blick, mit dem er den militärfrommen Fuchs betrachtete, lag etwas auf der Lauer. »Pah, ich habe keine Bange und werde den Durchbrenner schon meistern.«

Als er auf den Bock hüpfte und davonfuhr, schrie der Fuhrherr ihm nach: »Immer stramm die Leine, daß er nicht den Schweif darüberschlägt!« –]

Monika und ihr Sohn mochten eine halbe Stunde unter der Weide gelegen haben, als Rädergerassel sich näherte. Unwillkürlich drückte Amatus sich weiter ins Gebüsch hinein. Aber der Vetter [später anders: Viggo] erkannte ihn und die Tante und grüßte mit einer eleganten Peitschenbewegung [später: Hutschwenkung] [später entfallen: , welche die Gäule zum Hüpfen brachte]. Hinter das [später: dem] Gefährt wirbelte gräulicher Staub und der schallende Klang eines spöttischen Gelächters.

Monikas Sohn hatte bitterböse Lippen. »Sie machen sich über die Zaungäste lustig.«

»Warte nur, mein Sohn! Wenn du einmal Pastor bist, kannst du vielleicht auch vom Bocke fahren.« Kaum hatte die Mutter das tröstende Wort gesprochen, als sie einen Schreckensruf ausstieß: »Da … da … Himmel … ein Unglück … entsetzlich …«

Blitzähnlich, wie jede Katastrophe, brach es herein. Asmus Berg [später anders: Der Kutscher] war langsamer gefahren und ließ die Zügel schlaffer hängen [später entfallen: und beugte sich scherzend nach hinten].

Die Fliegen schwirrten und stachen, die Pferde wehrten sich gegen die Quälgeister und schnauften.

Eine Stechbremse surrte. Da spitzte der Fuchs die Ohren, schlug mit dem Schweif über die hängende Leine, wieherte zornig und hüpfte mit dem Hinterbein über den Strang.

Im Nu warf [später ergänzt: sich der Kutscher] [später entfallen: Asmus Berg dem alten Fräulein die Zügel hin und sprang] aus dem Wagen. [Später entfallen: Das, was in seinen Augen auf der Lauer gelegen hatte, brach in einem glühenden Blicke durch. Er hatte die versengenden Augen und den furchtbaren Willen des verbrecherischen Übermenschen, der alles in den Weg Tretende zertritt.

Welcher Gedanke stürmte in dieser Sekunde durch seine Seele? Ein kaltblütiger Mordwunsch, der dem Zufall die Meuchelwaffe in die Hand drückt! Was war ihm Evers? Ein verhaßter Todfeind! Und das alte, ausgelebte Wesen? Ein unnützer, seine Zinsen verzehrender Schmarotzer! Und Sylvia? Lieber mochte sie tot, als eines anderen Eigentum sein!]

Während er nach vorne lief, um [später entfallen: anscheinend] die Pferde zu beruhigen, rief der dem laut kreischenden Fräulein Lüdemann [später: Lindemann] zu: »Halten Sie fest, fest!«

Der Fuchs, vom Zerren an der Leine ganz rasend geworden, riß den zahmen Genossen mit sich.

Berg sprang geschickt und gesichert zur Seite [später anders: Der Kutscher sprang zur Seite, um sich zu salvieren].

Auf dem schmalen Rennsteige [später: Treidelsteige] schwankte ein zügellos sausendes Gefährt hin und her, wie eine rasselnde, schreiende Staubwolke dahinschwebend.

Dann ein totenstiller Augenblick!

Über die Böschung war der Wagen mit Menschen und Pferden ins Wasser gerollt. Den ersten Laut gaben die Möwen von sich, die erschreckt aufschrillten.

Asmus rührte kein Glied und starrte auf das aufgewühlte Wasser. Die Räder nach oben trieb der Wagen. Seine Stränge waren zerrissen, denn die freigewordenen Pferde stampften und strebten der Böschung zu.

Ein Mensch keuchte den Rennsteig [später: Treidelsteig] hinauf – es war Amatus Junker, der dem Vetter [später anders: Kutscher] einen Stoß gab. »Hinein! Wir müssen sie retten!«

Asmus bewegte nichts als nur die Lippen: »Ich kann nicht schwimmen [später ergänzt: und habe keine Lust zu versaufen].«

Dem Doktor [später: Kandidaten] Evers war es gelungen, die Mähne des linken Pferdes zu ergreifen, daran er sich in der Todesnot klammerte.

Amatus, ein sehr mäßiger Schwimmer, hatte den Rock von sich geschleudert und glitt ins Wasser. Hinter ihm griffen zwei Hände in die leere Luft, und eine atemlose, heisere Mutterstimme schrie: »Du kannst nicht … laß es … eine Barkasse kommt schon.«

Er stieß aber vom Ufergrunde ab und sah über die sich glättende Fläche. Drüben schwamm ein unförmlicher Frauenhut, den er kannte, und nicht weit davon ein Kopf mit glänzendem Braunhaar, das er oft geküßt.

Doch ihm und dem Schilfe am nächsten trieb das alte Fräulein, das auf den geblähten Röcken wie eine breite, schwarze, oben zugespitzte Wasserboje schaukelnd schwamm und gellend kreischte: »Mein Gott! Hilfe! Retten Sie mich zuerst! Ich bin die Älteste.«

Nach der Boje steuerte Amatus – nun war er da – und die Unvernünftige griff in die stoßenden, schwer arbeitenden Arme des Retters.

Der ungeübte Schwimmer erkannte die große Gefahr und keuchte: »Lassen Sie den Arm los!«

Aber in ihrer Todesangst krallte sie die Finger noch fester in [später: um] ihn.

Er hatte bereits viel Wasser geschluckt, hörte ein Sausen und Fauchen und sank. Sein letzter Gedanke war: Gott!

Dann merkte er in dunkel wiederkehrendem [später: im … wiederkehrenden] Bewußtsein, daß sein Körper schwebte und unsanft über einen harten Gegenstand gerollt wurde.

Die Männer der Barkasse hatten ihn und das Fräulein mit zwei Bootshaken herausgefischt und konnten trotz des Unglücks kaum ein Schmunzeln unterdrücken, weil die beiden ein einziges, großes, nasses Bündel bildeten.

Schnell befreite sich Amatus aus der Umarmung und ging nach vorne. Sylvia, die zuerst geborgen war und neben dem Kessel hockte, sah wie ein Häuflein Elend zu ihm empor und schlug die Hände vors Gesicht, um über sich selbst zu weinen.

Das Schiff legte ans Ufer und brachte, nachdem der Doktor [später: Evers] und Frau Junker an Bord genommen waren, die verunglückte Gesellschaft zur Stadt. [Später entfallen: Berg blieb zurück, um den Wagen aufs Trockne schaffen zu lassen. Sein Blick hatte etwas Glotzendes und Grollendes.]

Die Wohltätige, die wie eine Boje geschwommen, glich jetzt einem hölzernen, mit triefenden Kleidern behangenen Kleiderständer und sagte, mit den Zähnen klappernd: »Lieber Doktor [später: Herr Kandidat], gehen Sie hin und danken Sie dem Junker für seinen Beistand … ich würde es ihm nicht vergessen.«

[Später entfallen: Doktor] Evers, dessen geöltes Haar von Wasserperlen funkelte, glänzte förmlich in der Sonne und war glätter als je; nur die Stimme holperte, als er seinen Auftrag ausrichtete.

Ihm wurde ohne Anstoßen eine schnelle und anstößige Antwort: »Es war nicht Fräulein Lüdemanns [später: Lindemanns] Schuld, daß wir beide gerettet wurden … ihr Dank kommt an die unrechte Adresse und gebührt dem Schiffer und dem Herrgott.«

Amatus und seine Mutter blieben auf dem Vorderdeck und kehrten der übrigen Gesellschaft den Rücken zu.

Am Morgen nach dem Bade hatte er einen benommenen Kopf. Trotzdem die Mutter, die alles beobachtete, seine gedrückte Stimmung bemerkte und ihn bat, zu Hause zu bleiben, nahm er seine Mappe, um die Vorlesung zu besuchen. Das Wiedersehen mit Sylvia hatte keinen Schmerz und keine alten Gefühle in ihm erweckt, aber mit einem dumpfen Unbehagen ihn erfüllt. Sein Gemüt war zum Zerspringen mit etwas Schwerem, Stickigem und Explosivem überladen, das Ausbruch und Entladung suchte.

Monika hatte mittags die Karbonade gebraten, die Kartoffeln in der Heukiste warm gestellt und die eine Tischhälfte gedeckt. Als es ein Viertel nach zwölf schlug, stand sie horchend neben dem Petroleumherdlein. Auf die Minute pflegte sie sonst mit einem stillen Lächeln die langen Schritte des sehr pünktlichen und sehr hungrigen Sohnes zu hören, der zwei Stufen auf einmal nahm.

Der Zeiger der Uhr rückte immer weiter. Die Wartende schraubte die Flamme herunter und murmelte: »Er wird sich vielleicht festgeschwatzt haben.«

Tick-tick, tick-tick! Die Uhr schlug einen Schlag.

Monika preßte am Fenster den Kopf an die Scheibe, um auf die tiefliegende Straße hinunter zu sehen. »Wo bleibt er, wo bleibt er? Er sollte sich doch nicht festge–?« Den Gedanken vermochte sie nicht zu vollenden [später: auszudenken], aber ihre Finger legten sich ineinander, als wenn sie bete.

Tick-tick! Die Uhr ging ruhelos. Bei den zwei hart dröhnenden Schlägen schrak Monika zusammen, stand schleppenden Schrittes auf und stellte das Essen, von dem sie keinen Bissen berührt hatte, fort. Bei jedem Stück, das sie hinwegräumte, fühlte sie einen wehen Stich.

In der Dachstube der Teichstraße hockte eine starre Frau am Fenster, hörte die halben und die vollen Stunden schlagen, und immer die Straße hinunter ging ihr suchender und banger Blick.

Es dämmerte. Die Laternen flammten auf. Sie blieb unbeweglich in ihrer Stellung, weit offen die Augen und die Hände gefaltet.

Als gegen 10 Uhr laute Nachtschwärmer unten auf der Gasse lärmten, öffnete sie einen Fensterspalt und steckte den Kopf hinaus. Doch nein!

Nach Mitternacht war die ganze Vorstadt still und schlief.

Plötzlich hörte Monika ein Klappern auf dem Pflaster und einen Schritt, den sie zu kennen meinte, obgleich er etwas Hartes und Fremdes hatte. Mit dem Hausschlüssel die Treppen hinabeilend, schloß sie von innen auf.

»Amatus, wie siehst du aus!«

»Mut–ter!« sprach er unsicher und ging vor ihr, recht fest und sicher tretend; nur die Züge waren blaß und verändert.

Die Mutter schloß kein Auge in der Nacht und hörte ihn atmen und schlafen. In einförmigem Takt gingen die Atemzüge des Schläfers [später ergänzt: die ihr] [später entfallen: und klangen ihr] in der nächtigen Stille [,] wie die schaurig blasende Melodie einer ewig wiederkehrenden Sorge [später ergänzt: klangen].

Der sonst ein Frühaufsteher war, erwachte spät. Die Mutter saß an seinem Bette, reichte ihm den frisch gekochten Kaffee und hielt seine Hand.

»Warum schiltst du mich nicht, Mutter? Ich könnte besser deinen Zorn als deine große Liebe ertragen.«

»Ich glaube, daß du des Trostes bedarfst.«

»Ja, tröste mich, denn ich bin tief, tief elend!«

»Amatus, wenn ich zähle … mehr als vier Monate hast du in Stille [später ergänzt: und in Frieden] gelebt.«

»Gerade darum ist es so entsetzlich«, stöhnte er.

»Ja und auch nein … der böse Feind hat dich gefällt … wir müssen es dulden, daß er seine Anfälle macht und vielleicht kann er nicht mit einem Mal für immer überwunden werden … aber wir müssen weiter kämpfen und siegen, mein Sohn.«

Ihre Milde ermutigte ihn, neue und starke Vorsätze zu fassen.

Am Vormittage trat der Postbote ins Zimmer und begann einen Geldbetrag von 30 Mark hinzuzählen, welchen die Wohltätige sandte, um ihr Wort, daß sie des Dankes nicht vergessen werde, in angemessener Weise einzulösen. Ohne Überlegung schoben Mutter und Sohn das Geld zurück, und kopfschüttelnd schrieb der Briefträger sein »Annahme verweigert«, welches in seiner Praxis bei Postanweisungen selten oder nie vorkam.

Ebenderselbe Postbote hatte der Obermaatswitwe ein portofreies Schreiben überbracht. Freudeschreiend stürzte sie zu ihren Mietern ins Zimmer: »Ich hab's, ich hab's!«

»Was denn? Einen kleinen Raptus?« lachte Amatus.

»Meine laufende, meine laufende Unterstützung von 90 Mark jährlich, die mir aus Gnaden bewilligt worden ist.«

Nichts, gar nichts hatte Junker getan, nur ein geringes, gutes Wort zu gelegener Stunde gesprochen, und das hatte die Wunderwirkung gehabt, daß ein armes, gedrücktes Menschenherz von neuem auflebte.

Wie viele kleine, freundliche, empfehlende Worte bleiben auf Erden ungesprochen – sei es aus Trägheit oder aus falschem Stolz – und könnten doch mühelos Früchte der hellsten Menschenfreude tragen.

Die frohe Botschaft der Witwe hat auch die Betrübnis der Familie Junker erhellt.

Der Studiosus arbeitete wieder mit neuer Lust und Kraft; sogar das Repetieren, das eintönige Wiederkäuen des Gedächtnisses, war ihm keine langweilige Beschäftigung. Zuweilen verfiel er in kurzes Grübeln, ohne die Mutter zur Vertrauten seiner Gedanken zu machen.

Dann suchte er, von der jetzigen Leichtigkeit des Denkens und der Frische seines Geistes in Verwunderung gesetzt, über seinen leiblichen und seelischen Zustand zur Klarheit zu kommen. Sein Selbst befremdete ihn. Abgespannt und reizbar war er gewesen und jetzt nach kurzer Krankheit wie von neuem geboren! War nicht die angesammelte Depression seines Gemüts durch die zufällige Begegnung mit der Lüdemannschen [später: Lindemannschen] Sippe in Gärung und zur Explosion gebracht worden? Hatten nicht die dumpfen Stickstoffe seines Nervenlebens sich in dem Exzesse entladen und ausgetobt? War das Unbegreifliche nicht wie eine notwendige Krisis, die er durchmachen mußte, um unreine, hemmende Affekte auszuscheiden und sich an Leib und Seele wieder frei zu fühlen? Ja, die Wirkung – die Genesung und Geistesfrische – schien eine Erfahrungstatsache. Aber sein Verstand faßte es nicht und fand keine Lösung des furchtbaren Seelenrätsels.

Junker war ein Schnellarbeiter, der beharrlich dem Ziele seines Brotstudiums, welches Examen hieß, zustrebte. Je mehr das Semester seinem Ende sich näherte, desto unruhiger zählte Monika die Tage. Als Schiffskiste und Schloßkorb gepackt wurden, war ihr ganzes Antlitz ein stilles [später ergänzt: Leuchten und] Lachen.

Die Obermaatin aber wischte sich die Augen. »Was wollen Sie mit dem Petroleumkocher sich schleppen? Lassen Sie den doch hier!«

»Als Pfand? Sind wir etwas schuldig geblieben?« scherzte Amatus.

»Nein, als Bürgschaft, daß Sie wiederkommen … jetzt hab' ich ja meine Laufende und will das Zimmer für Sie offen halten.« – – –

Frau Monika war wieder in der Heimat und in ihrem Hause. Ihr sinnender Blick schweifte über das Pappeltal und die Föhrde und den Kirchturm von St. Marien und die roten Ziegeldächer, entdeckte neue Reize an Norderhafen und fand sogar die Gasanstalt, die heute keine Gerüche verbreitete, nicht häßlich. Wie konnten die preußischen Beamten, die von auswärts kamen, den lieblichen Ort ein langweiliges Nest schelten?

Ehe Friedline am Morgen ihr Hausmutteramt abtrat und die Schlüssel ablieferte, kramten ihre Finger in der Schatulle und zählten triumphierend acht blanke Talerstücke auf den Tisch. So viel hatte sie von dem ihr zugewiesenen Wirtschaftsgeld erspart, ohne daß der Vater eine Ahnung davon hatte.

Darum wurde Hans Gerichtsdiener dermaßen ergriffen, daß er die Blinde umschlang und vor Rührung schluchzte; »Ja, du bist meine eigene Tochter … liebe Mutter, das hat sie von mir … das Sparen, das Sparen!«

Am Sonntage wurde von der ganzen Familie ein gemeinsamer Dankgottesdienst gehalten. Lang und breit und erbaulich redete der Propst über das Wort: »Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig.«

[Später entfallen: Hans, der die nach dem Zerwürfnis der Vettern eingestellten Sonntagsbesuche und das gute, warme Abendessen bei dem Onkel Hardesvogt nicht verschmerzen konnte, machte auf dem Heimwege ein sehr christliches Gesicht und predigte seinem Sohne, daß er mit dem Vetter sich versöhnen müsse. »Mußt du nicht als angehender Pastor ihm zuerst die Hand bieten?«

Aber die fromme Frau Monika unterbrach ihres Mannes Predigt und sagte scharf und unchristlich: »Es ist besser für Amatus, daß die beiden Feinde bleiben … wir wollen statt des Besuches heute Nachmittag einen gemeinsamen Ausflug machen.«]

[Später anders/ergänzt: Für den Nachmittag schlug die Mutter einen gemeinsamen Ausflug vor.]

»Jaja, und im Walde Kaffee kochen!« Friedlinchen klatschte wie ein Kind in die Hände.

Hans machte [später ergänzt: aber] bei diesen Worten mit den alternden, ungeschmeidigen Beinen einen hüpfenden Satz wie in früheren Tagen. Die Familienausflüge und das Begucken von Wald und Wasser war nicht sein Geschmack.

[Später entfallen: Der Verkehr zwischen dem Hause des Hardesvogts und der Dachwohnung hatte aufgehört, und Silly trug Kümmernis darum.] Als die Ferien angefangen hatten, ging sie [später: Silly] an drei Tagen nach einander durch das Pappeltal spazieren. Am dritten stand Amatus oben am Fenster und grüßte und winkte. Langsam stieg sie die Treppe hinauf, und der Vetter zog sie mit den ausgestreckten Händen die zwei letzten Stufen empor.

»Liebe Base, bist du mir böse [später ergänzt: , oder bist du unglücklich]?«

[Später entfallen: »Nein, wir haben uns nicht erzürnt und werden uns nie erzürnen. Was hast du mit meinem Bruder gehabt, der freilich ein Schlingel ist und die Hauptschuld tragen wird? Tante Mona, warum kommt ihr nicht mehr zu uns?«

Amatus antwortete nicht, sondern runzelte die Stirn.

»Ja, das ist eine kuriose Sache«, sprach die Tante, »ich kann es aus dem Jungen nicht herausbekommen, warum sie sich überworfen haben.«

»Auch mein Bruder will den Grund nicht sagen … Amatus, rede du doch die Wahrheit, damit wir nicht Ärgeres glauben!«

»Nein, Silly, ich habe mir das Wort gegeben zu schweigen.«

»O Gott«, rief die Mutter, »diese Geheimtuerei! Ich fürchte, da wird ein dunkler Fleck sein, den du verdecken mußt.«

»Nein, Mutter!« sagte der Sohn fest, »ich gebe dir mein Wort … ich … wir sind unbefleckt.«]

Silly erzählte traurig: »Ach, mein armer Vater kränkelt … in der Nacht hat er die fürchterliche Atemnot und steht am offenen Fenster … der Sanitätsrat sagt, daß es Herzschwäche sei … liebe Tante, [später entfallen: wenn auch die zwei Trotzköpfe sich entzweit haben, darf doch kein Streit in der Familie sein …] weil ihr nicht kommen wollt [später: kommt], bringe ich meinen Vater hierher.«

Die kleine, sanftmütige Friedenstifterin [später: Silly] setzte ihren Willen durch. Da der Hardesvogt langsame Spaziergänge machen sollte, führte die Tochter ihn geflissentlich durch das Pappeltal. Die gelben Blätter rieselten herab, die letzten Rosen hingen welk, von Würmern angefressen. Eine Herbstschwermut und Todesahnung beschlich den Sechzigjährigen, der tief atmend stille stand und nach der Herzgegend griff.

»Alles, was im Frühling blühte und im Sommer duftete, wird jetzt stinkende Fäulnis. Silly, riechst du nicht die Verwesung überall?«

»Nein, Vater, was ist heller als ein wolkenloser Herbsttag, der wie des Jahres abgeklärter Feierabend still mich anheimelt?«

Er lächelte hart. »Ja, wenn nicht die schwarze Wolke dahinter aufstiege … der Tod und sein entsetzliches Rätsel. Auch wir sind Moder … pfui, pfui, wie scheußlich ist der Schluß des traurigen Stückes, das wir Leben nennen. Und wohin geht dieser Menschen-Kehricht? Ist er nur der Dung, aus dem neue Geschöpfe und Geschlechter werden und wachsen?«

»Was kümmert mich der Leib!« sagte sie kindisch, »unsere Seele geht ja zu Gott … aber du wirst noch lange bei uns bleiben, mein lieber Vater.«

Er sah in die Ferne, als wenn er unruhig nach der Wolke ausspähe, und murmelte: »Der Tod ist ein unerbittlicher Gläubiger, dem wir mit Sorgen und Plagen und Krankheit alljährlich hohe Zinsen zahlen, und dem auch ich meine Schuld mit dem Leben bezahlen muß. [Später entfallen: Was aus deinem Bruder werden soll, weiß ich nicht, er hat sein bißchen Vermögen verbraucht … aber dein Erbteil, Silly, ist sichergestellt.«]

Leicht ließ sich der nachgiebige [später: weichgestimmte] Vater bewegen, seine Schwester zu besuchen. Monika wandte sich ab, um ihr Erschrecken zu verbergen. Der Bruder schien in den fünf Monaten um fünf Jahre gealtert.

Er war herzlicher als je. »Mona, wie ist denn das? Du mußt die Deinen verlassen, damit dein Sohn auf der Universität leben kann? Das geht [später ergänzt: doch] zu weit und ist anstößig vor den Leuten. Wenn ich auch selbst meine liebe Not habe, will ich doch für ihn gutsagen, so daß die Bank eine größere Summe ihm vorstreckt … Amatus, wie viel Semester brauchst du noch?«

»Zwei!«

»Zwei?« Der Hardesvogt, in dem die alte Natur erwachte, lächelte sarkastisch, »in sechs Semestern willst du dein Studium machen? Dann wärest du ja der ideale Wunderstudent des Trienniums.«

»Gilt es eine Wette, Onkel, daß es mir gelingt?« sagte der Neffe keck.

Der Onkel antwortete ihm nicht, sondern fragte die Schwester: »Was meinst du, Mona? Ich bin bereit, meine Bürgschaft zu geben.«

Sie lehnte das Anerbieten bestimmt ab. »Nein, Leihen und Borgen macht Not und Sorgen. Von unsern Eltern her sitzt mir davor noch ein Grauen in den Gliedern … besten Dank! Wir kommen so durch.«

Hegte sie irgend welche Zweifel an der Unabsichtlichkeit seines Anerbietens? Oder wollte sie bei ihrem Sohne bleiben, um mit ihm weiter zu studieren und weiter zu kämpfen?

Als die Besucher sich entfernt hatten, hob Friedline den lauschenden Kopf und sagte: »Welch eine klare und süße Stimme hat die Kousine! Ist Silly nicht schön, Amatus?«

Er antwortete: »Nein, aber sie hat das beste und schönste Herz, das ich kenne.«

Sinnig kehrte die Blinde das kluge Köpfchen, als wenn sie ihn fest ansehen möchte. »Hast du sie nicht lieb?«

»Gewiß, ich liebe die gute Silly von Kind an als meine beste Freundin.«

Ein lustig-lichtes Lächeln flog über Friedlines Gesicht. »O, Amatus, nun weiß ich etwas … Silly wird einmal deine Frau.«

Er lachte gewaltsam. »Haha, haha! Meine Frau? Nein, Friedline! Mit dem Verlieben und Freien und eine Frau sich nehmen bin ich für immer fertig.«

Die Lippen der Mutter krausten sich. »Fertig? Ja, so hat manch Männlein und Weiblein mit dreiundzwanzig Jahren gemeint … aber, Gott sei Dank, eine törichte Jugendenttäuschung macht ein rechtes Menschenherz nicht fertig noch gefroren.« – – –

Die Professoren hielten ihre alten Vorlesungen, mit Hinzufügung der neu gemachten Forschungen und Entdeckungen, und kamen darum noch weniger zum Ende damit.

Die alten [später entfallen: und] [,] bemoosten Häupter legten mit gutem Gewissen Band und Mütze fort und griffen mit einem [später entfallen: sauer-] schlechten Gewissen nach den Büchern. Die akademische Ehre, auf die sie nichts hatten kommen lassen, war ja in guten Händen. Neue Füchse ließen sich die bartlosen Gesichter auf den Mensuren zerhacken.

Die Universitätsuhr ging mit etlichen kurzen, unvorhergesehenen Stillständen – welche der Pedell ihre Mucken benannte – ein volles Jahr.

Ebenso regelmäßig war Amatus Junkers Leben in rastloser Arbeit verlaufen, nur mit einigen kurzen, kritischen Unterbrechungen, die ihm und der Mutter gleich großen Herzkummer bereiteten. Aber Monika ließ die Hoffnung nicht fahren, daß ihr Sohn mit dem zunehmenden Alter und Verstand der schwachen Unart des Willens und den studentischen Mucken entwachsen werde.

Sehr erfreut und ein wenig eitel drehte Amatus sich vor dem Spiegel hin und her, als der Schneider ihm den ersten Frack mit Schwalbenschwänzen anprobierte. Er gefiel sich selbst darin, der Mutter aber noch mehr und der Obermaatin am meisten, welche die Hände in die Hüften stemmte und ihr Urteil abgab: »Ganz wie der Geheimrat, wenn der zum Diner beim Exzellenz-Grafen geht.«

»Oder wie der Kellner, der mit Bier und Grog die Gäste bedient«, antwortete der Theologe in ärgerlichem Humor, »ja, im Kellnerfrack muß ich vor dem hochwürdigen Konsistorium meine Probepredigt halten.«

Das älteste Mitglied der Norderhafener Blase, das sich keines Präzedenzfalles erinnern konnte, schüttelte das Haupt und sagte: »Eben nur ein Muttersöhnchen kann mit sechs Semestern das Examen machen.«

Junker hatte ohne Mühe die Prüfung bestanden; und auf das Zeugnis, in dem die Prädikate »gut« sich an einander reihten, tropfte aus den Mutteraugen eine [später ergänzt: volle] Dankesträne.


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