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Zweiter Abschnitt: Ein inhaltsschwerer Brief.

Das Gras der Prärie war grau und wieder grün geworden.

Auf der Farm am gelben Flüßchen war ein Jahr hingegangen in viel Arbeit und Schweiß, in fester, vierzehnstündiger Tätigkeit bei Tag, in noch festerem, achtstündigen Schlafe bei Nacht.

Aus dem Stalle, wo die Pferde gefüttert worden und Susy nicht die kleinsten Maiskolben bekommen hatte, trat ein Mann und ging über den Hof dem Hause zu. Rasch, aber etwas schwer war sein Gang, wie bei Leuten, die viel im weichen Pflugacker wandern und waten.

Das Gesicht, obgleich von Sonnenbrand und Winddörrnis [später ergänzt: gebeizt und] rotgebräunt, hatte trotz der reckenhaft langen und überaus breitschultrigen Gestalt etwas zu Feines und Helles für einen Kansasfarmer. In die Breite waren die Schultern gewachsen, und die harten Hände schienen größer geworden, obschon sie für einen richtigen Bauer noch zu unbedeutend waren und blieben.

Der starke und stattliche Mann war Amatus, welcher jetzt keine Zerschlagenheit der Glieder, sondern eine überschüssige Kraft spürte, so daß er sich freiwillig an das härteste Ende stellte und überall die schwerste Last hob, die der Oheim nicht meistern konnte, und an welche der Neger seine robuste Kraft, mit der er sparsam umging, nicht verschwenden wollte.

Tycho schmunzelte in den grauen Bart, wenn sein Neffe eine Kraftprobe ablegte, einen ganzen Heuhaufen auf die Forke spießte und auf den Boden schleuderte. »Ziemlich gut, mein Sohn! Du trägst nicht mehr wie eine Krähe zu Nest.«

Der einstige Kandidat war ein vollkommener Farmer, konnte forken und pflügen, mähen und schneiden und tagelang hinter der Egge im weichen Erdreich storchen, ohne knieschwach zu werden. Er konnte sogar, wenn Tom durch keinen Wasserguß sich wecken ließ, die beiden Kühe melken und das Frühstücks-Schweinerne braten.

Ja, das ewige, amerikanische Schweinefleisch!

Bei dem Geruch stieg ihm ein Ekel in die Nase, und er sagte: »Onkel, wir streiken.«

Der lachte: »Bei Tisch dürft ihr in Gottes Namen streiken … das spart, das spart.«

»Nein, Herr, wir legen die Arbeit nieder«, murmelte der Neger, sein Maisbrot kauend.

Tycho kraute sich hinter dem Ohr. »Beef, beef begehrt ihr? Woher kommt es, daß die Amerikaner so viel am Magen leiden und für Patent- d.h. Schwindelmedizinen Millionen ausgeben, und daß die meisten von ihnen an Magenkrankheiten und -krebs zu Grunde gehen? Vom übermäßigen Rindfleischgenuß!«

Die Furcht vor [später ergänzt: dem] Magenkrebs war geringer als der Abscheu vor dem Schweinefleisch. »Onkel, wir halten es nicht länger aus.«

Nun kramte der Alte im Beutel, bis er ein nicht zu großes Geldstück fand, das er für den Einkauf von Rindfleisch, von Suppenfleisch bestimmte.

»Ja, das ist am billigsten«, sagte der Schwarze. – –

Sie brachen das Weizenfeld um, und jeder ging hinter seinem Pfluge. Der Neger jodelte Alabama-Weisen und heulte ab und an ein Heilsarmeelied dazwischen. »Am Kreuz, am Kreuz, wo ich das Heil gefunden.«

Die böse Hitzzeit war [später ergänzt: jetzt] vorüber. Herbstwarm herrlich leuchtete die Sonne, die schönsten Tage des Kansaslandes hatten begonnen, der Altweibersommer, den die Amerikaner Indianersommer nennen. Ein aufgescheuchtes Völkchen Präriehühner flog kreischend und flügelklatschend empor.

Amatus pfiff vor sich hin und ihm deuchte, daß die Gäule nach der Musik, die er machte, munterer gingen. Ein freudiger Gedanke ging durch seinen Kopf, denn er rechnete und berechnete, nicht wie viel die Farm des Onkels mit ihren Äckern und Weiden und ihren 700 Stück Vieh wert sei, sondern wie lange er gänzlich enthaltsam gewesen. Seit 21 Monaten war keinerlei berauschendes Getränk über seine Lippen gekommen – ja, einmal hatte er einen Schluck in den Mund genommen und sogleich weit von sich geschleudert. Allen Alkohol, in dem mehr Menschen ertrinken als im Meer, hätte er ausspeien und vom Erdboden vertilgen mögen.

Am Ende der Runde, wo die Pferde verschnauften, wölbte sich seine Brust, und er reckte die sehnigen Arme im Bewußtsein seiner Kraft. War er nicht ein Riese, der seinen Tyrannen zertreten hatte? Nein, nein, ein andrer war der Held und Hüne, der den grausigen Vergewaltiger seiner Seele überwältigt – der Held und Hüne war der Herr Zebaoth.

Er lächelte und lachte zum Himmel empor. Ich bin genesen von dem Pfahl in meinem Fleische, und der Feind meines Lebens ist überwunden. Habe ich ihn gebunden und die Kette gebrochen? Nein, mein Gott, dein ist das Werk und das Wunder, daß ich im neuen Lande und in neuer Luft ein neuer Mensch geworden. Was half und nützte mein jahrelanges Ringen? Dein ist der Ruhm und die Ehre und [später ergänzt: die] Anbetung allein.

Durch seine Seele zog ein Lobgesang der Genesung. Die allerlichteste Freude [später ergänzt: , die Freude] der Dankbarkeit [,] schimmerte auf allen seinen Zügen. Um ihn war ein Leuchten, wie vom Himmel über sein Gemüt gegossen, und jeder Schatten der Vergangenheit verschwunden. Keine Ahnung eines Unheils unruhte [später: beunruhigte] seine Seele, die ihr Loblied sang.

Und da, im hellsten Sonnenschein, sprengte das Unglück über das Gefild.

Bertie Frenzen war die Reiterin, die vor dem Pflüger ihr Roß geschickt und plötzlich parierte. Sie war kein Kind mehr, sondern ein Weib, dessen Körper vom raschen Ritte wogte, und, insonderheit wenn sie im Sattel saß, eine rechte, bräunliche Prärieschönheit mit blitzenden Augen. Nicht ohne jene geheime Befriedigung, die jeder Mann fühlen wird, hatte Amatus bemerkt, daß sie keine Gelegenheit unbenutzt ließ, ihm eine kleine Aufmerksamkeit zu erweisen.

Bertie redete den jungen Deutschen an. »Ich war in Bellavista und habe gleich Ihre Post für Sie mitgebracht, die Zeitungen und einen Brief … der ist mal schwer, so daß ich Strafporto bezahlen mußte.«

Er nahm den dicken Brief. »Von meiner Mutter …« Seine Hand riß den Umschlag auf.

»Ja, nun haben Sie keine Zeit, kein Ohr und keine Auge mehr für mich … aber besuchen Sie uns bald!«

Sie ritt von dannen, und er rief ihr nach: »Miß Frenzen, das Porto …«

Ein Cowboy-Kunststück machend, warf sie sich mitten im kurzen Galopp auf dem Sattel herum, so daß sie rücklings ritt und ihm das Gesicht zukehrte. Ohne die Zügel zu halten, winkte sie neckisch mit beiden Händen und [später: neckisch mit beiden Händen winkend,] sprengte über die Prärie. Ihr kurzer Rock flatterte im Winde.

Nun aber warf sie die gelenkigen Beine [später ergänzt: rasch] und [später entfallen: schnurrte] etwas ärgerlich in die richtige Reiterstellung zurück, denn sie bemerkte enttäuscht, daß er ihre Fertigkeit nicht mehr bewunderte.

Nein, die Augen, die ihr einen Augenblick gefolgt waren, richtete er starr und immer starrer auf den erbrochenen Brief, auf die ersten Zeilen. Der schwere Brief entfiel seinen Händen, die er vor das Gesicht schlug. Ein tiefer, seufzender Schluchzer brach aus einer Brust, und er weinte [später: Amatus weinte laut].

Der Farmer brüllte über das Feld: »Was ist los? Mach zu, daß Toms Gespann dir nicht auf die Fersen kommt!«

Der Weinende schrie mit schneidender Stimme zurück: »Onkel, Onkel!« und setzte sich auf den Pflug.

Lang schreitend storchte Tycho hinüber. »Ist ein Unglück passiert … was ist mit dir …? Du bist doch nicht vom Rindfleisch krank geworden?«

Amatus hob den entfallenen Brief aus der Furche und das traurige, wehe Angesicht empor. »Mein guter, guter ist Vater ge–stor–ben.« Seine Stimme brach.

Tychos vornüber geneigter Körper schnellte hüpfend empor. »Das … das geht mich auch an … ich habe ihn seit vierzig Jahren ja nicht gesehen … aber mein Bruder ist tot … es geht mir sehr nahe … wie bald kann der elende Knochenmann einen arglosen Menschen überfallen! Es … es schickt sich wohl nicht, daß wir weiter arbeiten … ich werde deine Pferde abspannen … geh nach Hause! Hallo, Tom, pflüge du nur weiter und faulenze nicht! Ich zähle nachher die Runden, du Racker kannst mich nicht betrügen.«

Amatus aß und trank nicht, saß unter dem Ahorn und trauerte um seinen Vater und war nicht imstande, den Brief weiter zu lesen, weil die Buchstaben verschwammen. Erst am Abend las er das Schreiben ganz durch, das nicht weniger als vierundzwanzig eng geschriebene Seiten umfaßte. Sogleich nach der Beerdigung hatte Monika sich hingesetzt und unter den Tränen ihres frischen Schmerzes dem Sohne geschrieben.

Der einstige Totengräber war in das enge Bett gelegt worden, das er so vielen Menschen mit sauberem Fleiße bereitet hatte.

Oft zog der Leser das Taschentuch und fuhr über die feuchten Augen. Der Tote war ihm ein guter Vater gewesen, der ihm stets nur Liebe, Güte und Nachsicht erwiesen und niemals, trotz seiner Verfehlungen, ihm ein Wort des Vorwurfs gemacht.

Wenn er, Amatus, auch von den Leuten ein Muttersohn genannt worden war mit spöttischem Beigeschmack, wenn er auch in stolzer Liebe sich sagte, daß er in erster Linie seiner Mutter Sohn und der geistige Erbe ihrer mannigfachen Gaben sei, so legte er sich doch in dieser Stunde eine klare Rechenschaft davon ab, wie viel er dem Toten verdankte. Abgesehen von dem klugen Anpassungsvermögen und der weltläufigen Gewandtheit, die ihm manchen Dienst geleistet, hatte er nicht wenig treffliche Eigenschaften vom Vater geerbt: Den hellen, unverzagten Sinn, der selbst im tiefen Dunkel neue Hoffnungssterne sah, dazu den rührigen Arbeitseifer, der erwerben und nichts vergeuden wollte. Und wenn er auch manche kleine unliebsame Eigentümlichkeit als Erbe hatte mit in den Kauf nehmen müssen, war nicht der feste Entschluß, den Erbfeind zu überwinden, und die starke Durchführung desselben, die jetzt mit Gottes Beistand gelungen schien, ein Erbteil des Vaters, der ein leuchtendes und mutmachendes Beispiel ihm gegeben, als er plötzlich seine Kette zerbrach? Ja, das dankte er mit Tränen der Rührung dem Toten in seinem Grabe, und im treuen Sohnesgedächtnis wollte er das Andenken seines guten Vaters bewahren.

Onkel Tycho fragte voll Teilnahme: »Wie ist das mit meinem Bruder so unerwartet schnell zu Ende gegangen?«

Amatus erzählte aus dem Inhalt des Briefes: »Das widerliche Weibsbild, die Brummerhanne, die ihm jahrelang Verdruß und Ärger bereitet hat, ist indirekt schuld [später: Schuld] an seinem Tode.«

»Ein Weibsbild? Hä–äm!« Tycho machte ein langes Gesicht und einen mißtrauisch gespitzten Mund. »Die Brummerhanne?«

»Ja, so wird sie in Norderhafen genannt, weil sie die Hälfte ihres Lebens im Gefängnis hat brummen müssen. Schon als Kind stahl sie … damals war die körperliche Züchtigung noch nicht abgeschafft. Sie wurde vom Gericht abgeurteilt und im Gefängnisse gepeitscht, welcher fürchterlichen Prozedur mein Vater beiwohnen mußte, um die Zahl der Schläge zu kontrollieren. Ich weiß mich zu erinnern, wie er krank von dem Anblick nach Hause kam und keinen Bissen essen konnte. Sehr bald hatte die Brummerhanne wieder lange Finger gemacht. Auf dem Transport entwischte sie meinem Vater, woraus ihm viel Verdrießlichkeit entstand. Seitdem war er sehr vorsichtig und fesselte sie stets, und zwar so, daß er eine Kette an ihrem Handgelenk befestigte und zweimal um die Hand sich schlug. Wenn er so mit der Gefangenen durch die Gassen ging, war er in schlimmster Laune, denn seine Bekannten blieben stehen und machten schlechte Witze: ›Ja, Hans, du und die Brummerhanne macht ein hübsches Gespann.‹ Diese bösen Transporte waren meines Vaters Kummertage. Und nun hat die unverbesserliche Diebin sein Ende herbeigeführt.«

»Was? Wieso? Sie hat ihn niedergeschlagen?«

»Nein, indirekt … als er sie in der üblichen Weise transportierte, machte Brummerhanne beim Krankenhause einen plötzlichen und so gewaltsamen Ruck, daß mein Vater aufs Pflaster hinstürzte und die Kette fahren ließ. Sie warf ihre Holzpantinen von sich und sprang durch den Krankenhausgarten und hinten über den Zaun. Als er sich aufraffte und ihr nachschrie und nachrannte, hatte sie einen großen Vorsprung und niemand war in der Nähe. Aber er lief mit Anspannung all seiner Kräfte bis zur völligen Erschöpfung ihr nach, bis sie über das freie Feld entkam. Mein armer Vater kam verkeucht und triefend naß nach Hause und konnte infolge der Überanstrengung und Aufregung nur einzelne abgerissene Worte sprechen. Am ganzen Leibe zitternd, saß er auf einem Stuhl und glitt plötzlich auf den Fußboden hinunter, wo er wie leblos lag. Der Schlag hatte ihn gerührt.«

Tycho summte. »Hm hm, mein Bruder ist gewissermaßen in Ausübung seines Berufs gestorben und sein Tod eine Folge seiner Pflichterfüllung … da muß die Obrigkeit doch seiner Witwe eine gute Pension geben.«

»Mein Vater ist nicht gleich gestorben, sondern hat noch drei Wochen krank im Bette gelegen, die rechte Seite vom Schlagflusse gelähmt.« Amatus schwieg und teile dem Oheim den folgenden Passus des Briefes nicht mit. Es hätte auf den Toten einen kleinen Schatten werfen können.

Der Gerichtsdiener Hans Junker, der in den dicksohligen, geschmierten Stiefeln ein volles Vierteljahrhundert als allbekannte und -beliebte Persönlichkeit durch die Gassen Norderhafens stapfte, hatte für immer ausgelaufen. Sein letztes Rennen hatte ihm den Todesstoß gegeben.

Die Stelle des Briefes, die Amatus für sich behielt, lautete: »Drei Wochen lag er im Bette, in dem er seit den ersten Zeiten unsrer Ehe, wo er am Wechselfieber litt, bei Tage nicht gelegen hatte. Ach, oft wurde er unwirsch, weil er doch wieder essen könne und darum gesund sein und wieder aufstehen wolle. In seiner Sprechweise, die stammelnd geworden war und mir draußen in der Küche die Tränen in die Augen trieb, schalt er ungehalten: ›Mutter, du hast wohl deine rechte Wonne daran, mich im Bett zu halten.‹ Ich konnte ihm nicht sagen, daß er infolge der rechtsseitigen Lähmung gar nicht aufstehen, geschweige denn gehen könne.

Er [später: Dein Vater] war kein geduldiger Kranker. Bitter weh tat es mir, als ich einmal in bester Absicht zum Frühstück ihm zwei weich gekochte Eier brachte. Aber vorwurfsvoll sah er mich an und stotterte: ›Mutter, du bist wohl unter dem Vollmond geboren? Wie sollen wir Doktor und Apotheker bezahlen, wenn wir so verschwenden?‹

»Ich wurde verzagt. Friedlines blinde Augen brachen in Tränen aus. Unwillig fuhr der Vater sie an: ›Was heulst du? Meinetwegen, Mona, gib mir das eine Ei und das andre morgen!‹ Ich trug das ungegessene Ei in die Küche hinaus, und Friedlinchen setzte sich ans Bett und faßte des Vaters Hand. Durch die angelehnte Tür horchte ich in die Stube hinein. Wie eine kleine, kindliche Predigerin des Herrgotts saß sie bei ihm und redete dem Vater [später: ihm] ins Gewissen. – ›Du darfst die arme Mutti nicht betrüben, die es gut mit dir meint und dich pflegen will.‹ – ›Aber wo soll es herkommen, Friedline?‹ – ›Wir werfen alle unsre Sorge auf ihn, den Vater und Versorger aller Menschen.‹ – Sie streichelte und küßte ihn. ›Wenn du nun stürbest, ich glaube es nicht, aber wenn du scheiden müßtest, hättest du nicht manches zu bereuen?‹ – ›Ja, es geht zu Ende mit mir, mein Kind, ich habe abgelaufen … ich habe oft böse geredet und übel gehandelt und viel zu bereuen … bete mit mir, Friedline, denn mir wird angst und ich muß sterben!‹ – Friedline faltete die Hände und sprach ein kindliches Gebet, innig und ergreifend.

»Der Vater weinte laut und wurde von Stund an stiller, sanftmütig und liebevoll gegen uns beide, als habe das Gebet ihn umgewandelt. Morgens und abends verlangte er von selbst, daß ich ihm eine Andacht vorlese, und betete leise mit. Das ist der große Trost in meinem tiefen Schmerze: Friedline und ich haben gesehen, wie er bei Abnahme seiner Kräfte innerlich wuchs, und wir haben die gewisse Zuversicht, daß dein Vater im Glauben an seinen Herrn von uns geschieden ist. In den letzten Zeiten war er ein sehr geduldiger und gottergebener Kranker.

»Dann, am Tage vor seinem Tode, kam dein Brief, mein einziger Amatus, und das Geld, das er enthielt. O, das war vor dem Sterben für deinen seligen Vater eine überschwängliche Freude. Er war ja immer sehr aufs Sparen bedacht, und das Geld, das sein Sohn verdient hatte und seinen alten Eltern sandte, rührte ihn zu Tränen. Amatus, du bist ein treuer Sohn.

»Nachdem er mit einem Lächeln die Goldstücke durch die Finger hatte gleiten lassen, sagte er zu mir: ›Mutter, das ist ein große Hilfe für Doktor und Apotheker … nun kann ich ruhig sterben. Mein Bruder Tycho wird ihm das meiste von seinem Vermögen hinterlassen, ich erlebe es nicht mehr, aber du wirst noch sehen, daß unser Amatus, wenn auch kein Pastor, so doch in Amerika ein gemachter und wohlhabender Mann wird … jetzt kann ich ruhig meine Augen schließen, mein Sohn wird für seine Mutter und seine blinde Schwester nach meinem Tode sorgen.‹

»Am letzten Morgen bemerkte ich, daß er schwach war und das Sprechen ihm sehr schwer fiel. Noch eine letzte Erdensorge trat an ihn heran und machte ihm Unruhe. Er stammelte die Worte hervor: ›Mona, der Tischler Sörensen – schuldet mir – für Sägebock und Säge, die ich ihm verkauft habe, noch 2 ½ Taler … wenn – wenn ich sterbe, laß ihn den Sarg machen – und ziehe das Geld ab!‹

Ja, in seiner Fürsorge blieb er sich treu bis zum Tode. Gegen Mittag wurden seine Augen plötzlich stier, und er starrte mich angstvoll an und schrie mit brechender Stimme: ›Mutter, Mutter, ich sterbe … in Gottes Namen.‹ Das war sein letztes Wort. In Gottes Namen und im Glauben hat er seinen letzten kurzen und kampflosen Seufzer getan. Nun ruhe er nach seinem Lauf in Frieden! Amen.«

Nach dem Amen kam die Briefschreiberin auf einen andern, etwas unchristlichen Gegenstand. Ob der Onkel noch immer so knickerig und geldlieb sei, daß er schwer den sauer verdienten Lohn herausgäbe? Der Geiz sei doch eine Wurzel alles Übels.

Diesen Passus las Amatus für sich, und Tycho fragte: »Was meldet deine Mutter sonst?«

»Sie schreibt, daß der Geiz die Wurzel alles Übels … mein seliger Vater litt auch an dieser Untugend und hat durch sein unangebrachtes Knausern nicht selten meine Mutter betrübt … ob das Übel in der Familie liegt? Was meinst du, Onkel?«

Der Onkel meinte und hörte nichts und sah wie taub aus dem Schiebefenster. Doch kehrte er sich wieder um, als der Neffe allerlei andres aus dem Inhalt des Briefes, von alten Bekannten und von der Familie [später anders: Silly] Berg, ihm mitteilte.

[Später entfallen: »Der Sohn von Karl Berg ist Amtsrichter in Breitenföhrde geworden? Himmel! Dann ist er ja eine große Kreatur und verdient ein Heidengeld und wird seiner Tante Mona helfen.«

Amatus nickte, und seine Stimme hatte einen bittern und beißenden Klang. »Mein Vetter Asmus ist Amtsrichter geworden … ja, selig sind die dreisten und rücksichtslosen Herrenmenschen, denn sie werden das Erdreich besitzen – und den Himmel verlieren.« So setzte er unwillkürlich hinzu. »Meiner Mutter helfen, meinst du? Ja, beim Bart des Propheten Zarathustra! Höre, wie er ihr geholfen! Zur Beerdigung kam der Amtsrichter, vielleicht um sich in seiner neuen Würde zu zeigen, mit seiner Schwester Silly, die für ihn den Haushalt führt, nach Norderhafen hinüber.«

Er hob den Brief ans Licht des Fensters und las die Worte der Mutter. »Nach dem schweren Gang zum Kirchhofe, wo Asmus einen prachtvollen Kranz – das muß ich ihm lassen – niedergelegt hatte, kamen er und Silly mit mir nach Hause, wo Friedline inzwischen eine Tasse heißen Kaffee gekocht hatte. Dein Vetter hat bereits eine würdevolle Korpulenz und ein Amtsrichterbäuchlein, aber sein Gesicht ist aufgedunsen und ungesund und gefällt mir nicht. Beim Ablegen in der Schlafstube sagte ich zu Silly: ›Ja, jetzt seid ihr im Glücke.‹ Sie verneinte es nicht und wollte offenbar nichts sagen, aber sie machte kein glückliches Gesicht, und das Wort entfuhr ihr: ›Tante, nicht alles, was glänzt, ist rechtes und reines Gold.‹

Beim Kaffeetisch schwatzte Asmus etwas prahlerisch von ihrem gesellschaftlichen Verkehr mit den ersten Familien Breitenföhrdes, und daß er ein großes Haus machen müsse. Dabei blickte ihn die Schwester einmal scharf und so besonders an, daß mir der Argwohn aufstieg: Ob er nicht auch mit andern und nicht den besten Menschen Umgang pflegt?

»Plötzlich fragte Asmus mich, wie hoch wohl die Begräbniskosten sich belaufen würden, und als ich erwiderte: ›Mindestens siebzig Mark‹ , sah er seine Schwester an und zog seinen Geldbeutel, aus dem er, wie mir schien, drei Zwanzigmarkstücke nahm, die er spielend durch die Finger gleiten ließ. Ich dachte natürlich, daß er mir dieselben als Beihilfe zum Begräbnis geben wolle, doch er klimperte weiter mit dem Gelde, als wenn er darauf warte, daß ich meine Not klagen und bitten werde. Aber betteln habe ich nie gekonnt, sein Gebahren verdroß mich, und nicht ohne Stolz erzählte ich, daß es dir in Amerika gut gehe. ›Na, das freut mich‹ , lachte er unangenehm, ›daß Amatus anfängt, sich zu einem nützlichen Mitgliede der menschlichen Gesellschaft zu entwickeln … er ist in die Jahre gekommen, wo die Schwabenstreiche aufhören müssen.‹

»Der spöttische Ton verletzte mich, so daß ich dich in noch höheren Tönen rühmte, daß du ein braver und starker Mann geworden, und daß du als Farmverwalter – die kleine Übertreibung kam mir auf die Zunge, Gott verzeihe mir die Sünde! – als Farmverwalter beim Onkel nicht wenig verdienest und als guter Sohn uns sechzig Mark geschickt habest. Was sagte der Schlingel darauf? ›Das freut mich, Tante, freut mich ganz ungemein, daß Amatus sich seiner Pflichten bewußt wird und für dich und Friedline sorgen kann und sorgen will.‹ Mit einem cynischen Lächeln steckte er ruhig seine Goldstücke in den Beutel zurück, obgleich Silly ihn erschrocken und zornig ansah. Nun bin ich froh, daß ich sein Geld nicht bekommen habe, es hätte mich gebrannt. Wir brauchen seine Hilfe nicht und werden unser tägliches Brot haben.«]

[Später ergänzt/anders im Anschluß an die im Brief erwähnte Silly Berg: Tycho nahm die Pfeife aus dem Munde. »Der Hardesvogt Berg hat ja ein fettes Amt und wird die Schafe nach der Wolle geschoren haben … der muß doch seiner einzigen Tochter ein bedeutendes Vermögen hinterlassen haben. Mache dir um deine Mutter keine Sorgen! Die Silly Berg soll ja eine gute Person sein und wird ihre Tante Junker reichlich unterstützen.«

Dahinaus wollte der Onkel, welcher befürchten mochte, daß unliebsame Bitten und Wünsche an seinen Geldbeutel herantreten könnten, und noch einmal betonte: »Sorge dich nur nicht um deine Mutter, sondern wird alle deine Sorge auf den Herrn!«

»Sorge dich nur nicht, lieber Onkel! Aus Silly werde ich die Sorge für meine Mutter nicht werfen, sondern mit meinen Händen werde ich für sie und Friedlinchen sorgen. Meine Kousine hat von ihrem Vater nichts, aber von ihrer Großmutter ein kleines Kapital von 6 oder 7000 Talern geerbt. Wenn auch die Zinsen nur zum notdürftigen Lebensunterhalt reichen, wäre die arme Silly doch gegen Not und Sorgen gesichert, sofern sie nicht auf dem besten, d.h. auf dem schlimmsten Wege wäre, eine unbegreifliche und unverzeihliche Sottise [Erg. d. Hg.: Fehler] zu machen.«

Amatus hüpfte – nach der Weise seines seligen Vaters – empor und dicht ans Fenster, um die Stelle des Briefes, die ihm Unruhe und Ärgernis bereitete, noch einmal mit finstren Augen zu lesen.

Der Kandidat Viggo Evers war zum Doktor der Medizin avanziert und hatte sogar die Prüfung als praktischer Arzt bestanden. Diese Tatsache erzeugte nicht ordinären Neid, sondern einen sittlichen Zorn in Junkers Gemüt, so daß er sprach: Selig sind die frechen und rücksichtslosen Menschen, denn sie werden das Erdreich besitzen – und den Himmel verlieren!

Dann folgte ein Passus, der seinen Zorn linderte und ein schadenfröhliches Lächeln hervorrief. Der neue Doktor stolziere ohne Ring durch die Straßen Norderhafens und teile jedem mit, daß die Verlobung mit Sylvia Lindemann seinerseits aufgehoben sei. Daraufhin sei zum allgemeinen Gaudium und Gelächter von dem Justizrat Lindemann in der Grenzwacht publiziert worden, das Verhältnis sei von ihm und seiner Tochter gelöst worden. Und das war die Wahrheit, denn die wankelmütige, berechnende Waldfee, die nach einer brillanten Partie trachtete, hatte zwei Wochen nach der Entlobung einen alten, reichen Fabrikbesitzer geheiratet.

Amatus lächelte zu früh, der ethische Zorn stieg ihm wieder in die Schläfen und steigerte sich bis zur sittlichen Wut. Der Doktor Evers hatte die größte und teuerste Wohnung in Norderhafen gemietet und als Spezialist für Nerven- und Frauenkrankheiten sich etabliert. Und nun kam das Tollste, das Monika mit betrübten Worten meldete, und das ihren Sohn zu tollen Verwünschungen hinriß.

»Denke dir«, schrieb die Mutter, »Silly ist bei dem neuen Doktor, der übrigens mit viel Geschick auftritt und großen Zulauf von Patienten hat, Hausdame geworden. Das arme, törichte Mädchen hat auf meine Warnungen nicht gehört, sondern die unglückselige Stellung, die ihr nur Unfrieden und Unheil bringen wird, angenommen. Ich habe den Eindruck, daß die gute Seele eine heimliche Zuneigung zu dem gewandten und gewissenlosen Menschen hegt, der gleichsam ihr böser Geist ist und eine unheimliche, hypnotische Macht auf das arglose, unschuldige Mädchen ausübt. Mit Schrecken habe ich einen Einblick in ihr Inneres getan – sie glaubt seiner glatten Rede, sie kehrt alles, was er sagt und tut, zum besten, sie entschuldigt seine Fehler, sogar seinen krassen, christusfeindlichen Materialismus, sie vertraut ihm, sie liest ihm seine Wünsche von den Augen ab, sie liebt ihn. Ach, wie weh ist mir um unsre Silly! Ich fürchte, ihr reines, edles Herz wird eine unheilbare Wunde davontragen, ihr stilles Leben wird voll Leid und Streit werden. Die arme, kleine Törin ist zu wahr und aufrichtig, um mir irgend etwas zu verhehlen … die Törin hat von ihrem Kapital 12 000 Mark dem Doktor zur standesgemäßen Einrichtung der Wohnung geliehen, ohne Sicherheit und Bürgschaft. Vertrauensselig gibt sie den größten Teil ihres Vermögens ihm hin – das sagt mir alles, und das wird dich entsetzen. Dieser Evers, der skrupellos das Vermögen, die ganzen Existenzmittel einer Waise, genommen hat, zeigt seinen ganzen, frivolen Leichtsinn. Mit verschwenderischem Luxus soll er seine Wohnung ausgestattet haben, mit üppigen Banketten macht er sich gute d.h. faule Freunde. Es heißt, der Doktor läßt zwei Renner, Equipage und ein Reitpferd aus Hamburg sich kommen – natürlich auf Sillys Kosten, mit dem Rest ihres Kapitals. O, ich fühle einen bittren Schmerz um unsere gute Silly, einen ohnmächtigen, zornigen Schmerz, der weder raten noch retten kann.«

Amatus ballte die Faust um den Brief, den er dann wieder behutsam glättete. Eine förmliche Wut wider jenen Elenden tobte in ihm. Der Schurke wollte seine gute, liebe Silly unglücklich machen und um ihr bißchen Hab' und Gut schmählich betrügen. Amatus warf sich in seinem ersten Zorn hin und schrieb einige Zeilen an Evers, er setzte mit kurzen, scharfen Worten dem Frechling das Messer auf die Brust: Entweder zahlst du sofort meiner Kousine das Darlehen zurück, oder ich gebe ihr Aufklärung über den Kirchenraub von St. Marien.

Da entglitt ihm die Feder, er grübelte über die Frage der Moralkasuistik, ob man verpflichtet sei, auch einem Lumpen das Wort zu halten. Unbedingt! Amatus zerfetzte den Brief und schrieb statt dessen einen an Silly. Auf seine vetterliche Liebe sich berufend, warnte er vor dem bösen Viggo, den er einen Menschen ohne Grundsätze, ohne Gott, ohne Treue nannte.

Der Brief ging nach Norderhafen und hatte nicht die gewollte, sondern gerade die entgegengesetzte Wirkung. Silly, die edle Seele, hatte die Gepflogenheit, jeden Menschen, der angegriffen, gescholten und verkleinert wurde, zu entschuldigen und zu verteidigen. Sie hat für den Geschmähten Partei ergriffen und ihren Glauben an den Doktor Evers sich nicht erschüttern lassen. Das ist die Weise der reinen, hohen und erhabenen Frauenherzen.]

In der Blockhausstube war Dämmerung und gedämpfte Stille. Das Zwielicht wurde ausgenutzt, um Licht zu sparen. Der alte Mann sog in kleinen, sparsamen Zügen den Rauch aus der leise singenden Pfeife. Der junge träumte von Norderhafen und der Heimat, und alle Menschen, die im Briefe erwähnt waren, zogen an ihm vorüber, die gute Kousine und – Klarissa, deren Gestalt im Dunkel vor dem geistigen Auge seines Gedächtnisses deutlich stehen blieb. Merkwürdig, wie greifbar und gegenwärtig er sie sah, die durch Weltmeere und tausend Meilen von ihm getrennt war! Seltsam, daß er die Stelle des Briefes, die von Klarissa handelte, nach zweimaligem Lesen auswendig wußte!

In Kürze schrieb Monika: »Nach dem Tode des Zollinspektors ist sie bei der Stiefmutter geblieben, und sie wird nicht leichte Tage haben. Oft sehe ich sie zusammen durch das Pappeltal spazieren, die lange Stine schleicht dahin, auf den Arm der Tochter gestützt, und ist furchtbar mager und ganz quittengelb im Gesicht geworden – böse Zungen behaupten, von Bosheit und Neid – aber [später: jedoch] die Ärmste ist krank und soll Brustkrebs haben, der um sich greift, trotzdem sie einmal operiert worden. Mit grenzenloser Geduld pflegt Klarissa die Stiefmutter, die unleidlich sie behandelt. Ja, das ist ein gutes und edles Mädchen. Sie redete mich neulich auf der Straße an und hörte mit heller und herzlicher Freude, daß es dir wohl geht, und bat mich scherzhaft, dich von der ›Erwachsenen‹ , die sich jetzt zur alten Jungfer auswachse, bestens zu grüßen und dir zu melden, daß bei ihrem Bruder Wilhelm, sintemal es in Argentinien keine Störche gäbe, der Pelikan oder irgend ein andrer Vogel zum zweitenmal Besuch gemacht habe.«

Es war stockfinster in der Stube geworden. Endlich machte Jönker Licht und zündete die kleine, kuppellose Lampe an [später ans Satzende gestellt], die kümmerlich brannte.

Der Neffe schlug die vierzehnte Briefseite um und las: »Mein einzig und innig geliebter Amatus, wir haben große Sehnsucht nach dir. Wärest du doch auf einen Monat, einen Tag, ein Stündchen bei uns! Du mußt nach einem Jahres es möglich machen, uns zu besuchen. Darum sende mir kein Geld mehr, sondern spare für die Reise …«

»Was meinst du davon, Onkel?«

Ein schwerhöriger Aufblick und dann ein beifälliges Nicken! »Ja, spare, mein Sohn, spare!«

Amatus lächelte und las weiter: »In der Dämmerung, wenn wir unsern Gedanken still nachhängen, spricht Friedline zuweilen laut mit sich selber und sagt: ›Ach, wären wir bei ihm!‹ Sie würde auswandern, um bei dir zu sein. Sie stellt oft Fragen, wie viele Meilen lang das Meer sei, und wie viel die Reise koste, und ob alle Menschen, gleichwie die Kinder die Masern, die Seekrankheit bekämen. Ja, das sind die Luftschlösser, die Friedlinchen im träumerischen Zwielicht baut.

»Ich bin zu alt für Amerika. Aber meine Träume bauen auch bei Tag und Nacht und schauen die Stunde, wo du, ein großer, sonnenbrauner Mann, an der Hamburger Landungsbrücke von Bord springst und an meinem Halse hängst. Dann will ich gern sterben, wenn ich dich wieder gesehen habe und weiß, daß es dir wohl geht auf Erden …

»Bei jener Landungsbrücke, als du dich von mir losgerissen, bekam ich zum erstenmal meinen Herzkrampf. Da hat mein Herz etwas wegbekommen und wird mir manchmal wund und übervoll, als wenn es aus der Brust mir quellen wolle. Doch sei ohne Sorge! Ich bin im übrigen rasch und rüstig und kann noch meine 12–14 Stunden arbeiten. Das Können ist allerdings auch ein Muß …«

Onkel Tycho, der des Zimmers Länge auf- und abschritt, wollte vorbeugen und sagte: »Gott sei Dank, daß deine Mutter gesund ist! Hier im wilden Westen würde sie sich höchst unheimisch und unglücklich fühlen.«

Der Leser fuhr fort: »Das Können ist auch ein Muß. Ich bekomme allerdings eine Pension von 288 Mark jährlich. [Später entfallen: Als ich es Asmus Berg erzählte, begann er aufzulachen: ›Tante, zu wenig zum Leben und zu viel zum Verhungern! So viel gebe ich im Jahr für Zigarren aus.‹ –] Friedline und ich könnten allerdings von 288 Mark unsern Unterhalt nicht bestreiten; aber in diesen Trauertagen ist mir ein Wunder widerfahren, eine neue Tür, mein tägliches Brot zu verdienen, mir von Gott aufgetan worden.

»Du erinnerst doch des Schreibers Petersen, der immer mehr dem Trunke sich ergab. Zuletzt hatte er im Bureau die Flasche immer bei sich. Eines Tages brach das Delirium plötzlich bei ihm aus; er raste und tobte, warf einem Assessor, der ihn zur Rede stellte, erst die Branntweinflasche und dann das Tintenfaß an den Kopf. Man mußte ihn binden und nach der Zelle im Armenhause schaffen, wo er starb. So endete der unglückliche Mensch, der ein Verführer zum Trinken war und als Versucher deines Vaters mir vor Jahren viel Kummer bereitet hat. Die bedauernswerte Frau Petersen ging in ihrer bittern Not zu mir, und ich gab ihr drei Taler von dem Gelde, das du uns eben geschickt.

»Die geringe Wohltat ist mir vielfältig vergolten worden. Am Tage nach dem Tode deines Vaters kam Frau Petersen, um mich zu trösten, und erzählte mir, daß sie durch Handschuhnähen sich einen kleinen Verdienst mache. Wenn ich auch nähen wolle, würde sie es mir unentgeltlich zeigen und mir bei dem Handschuhmacher Wiedemann Arbeit genug verschaffen. Die Frau schien mir ein Engel, von Gott gesandt.

»Viel bringt es nicht ein, aber doch etwas. In ein paar Tagen war die leichte Kunst erlernt, und ich nähe jetzt von früh bis spät meine vier bis fünf Paar Handschuhe, für die ich bei Ablieferung 60–75 Pfennige bar bekomme. Welche Aushilfe ist uns dieser Arbeitslohn! Nun sind Friedline und ich geborgen. Immer schneller geht's von der Hand, je länger ich mich hineinarbeite. Wenn ich 12–14 Stunden fleißig am Fenster sitze und mit der Nadel steche, werde ich es auf 80 Pfennige pro Tag bringen können, welches, wie Friedlinchen, die große Kopfrechnerin, schon kalkuliert hat, 240 Mark jährlich macht. Bei einer Einname von 540 Mark werden wir unser gutes Auskommen haben.

»Während ich nähe, besorgt Friedline den ganzen Haushalt. Sie bereitet die Mahlzeiten. Ich prickle am Fenster. Mit ihrem feinen Taktgefühl hält sie alles sauber, kehrt und feudelt [später ergänzt: sie] die Stuben. Ich nähe immerzu am Fenster. Sehe ich einmal ein vergessenes Stäubchen, stehe ich in ihrer Abwesenheit leise auf und fahre mit dem Tuche darüber. Gott sei gepriesen für Arbeit und tägliches Brot!«

Amatus legte den Brief fort. »Meine Mutter muß vierzehn Stunden täglich prickeln und die armen, alten, müden Augen überanstrengen … Onkel!«

»W–a–s?« Der Onkel Tycho war taub.

»Onkel, ich muß sechzig Mark von meinem Lohne haben, ja, ich muß.«

Der Alte krümmte, wie gequält, den Körper, aber sah unter diesen Umständen das Muß doch schließlich ein.

Beim Morgentauen und -tagen sprengte Monikas Sohn auf Susys Rücken im sausenden Galopp nach Bellavista und sandte auf Postanweisung sechzig Mark nach Norderhafen. So große Eile hatte er, daß der Begleitbrief erst später geschrieben wurde.


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