Hans Dominik
Moderne Piraten
Hans Dominik

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7. Der Kampf geht hart auf hart

»Mach's gut, Rudi, und halte schön Haus!« Rübesam sagte es und verließ das Zimmer, um zu seinem Dienst ins Werk zu gehen.

Rudi blieb allein zurück. Mit einem Buch machte er es sich in dem alten braunen Lehnstuhl am Fenster bequem. Jetzt hatte er die Stelle, bei der er gestern stehengeblieben war, und las weiter. Langsam schlug er eine Seite nach der andern um, doch die Lektüre vermochte ihn nicht so wie früher zu fesseln. Immer wieder flogen seine Gedanken zwischen dem, was er auf den Blättern las, und der Wirklichkeit hin und her. Schließlich hielt er es nicht länger aus. Mit einem Ruck sprang er aus dem Sessel und warf das Buch auf den Tisch. Er reckte und dehnte sich. Ah, das waren noch Kerle da in dem Buch! Der braune Winnetou und Old Shatterhand, die alte Schmetterhand, der unscheinbare alte Trapper, der so gigantische, märchenhaft wirkende Backpfeifen auszuteilen verstand. Was waren alle Kinnhaken und Upper-Cuts der Neuzeit im Vergleich mit diesen pyramidalen Maulschellen! Während Rudi seine gesunden Fäuste betrachtete, kam ihm die zuletzt gelesene Szene in Erinnerung. Wie der hagere kleine Trapper da blitzschnell ausholte, wie es auch ohne Revolver knallte und der baumlange Gegner für Viertelstunden betäubt war. Ach, wenn man doch . . .! Er reckte die Arme in die Höhe und führte probeweise einen Hieb. Wenn man doch dem ekelhaften langen Schotten, dem Morton, so eine Knallschote, wie Shatterhand es tat, verpassen könnte, und dem nichtsnutzigen Holländer auch eine und besonders dem schuftigen Griechen, dem natürlich gleich zwei, damit der Kerl nicht schief würde!

Für eine kurze Weile träumte Rudi sich in eine Heldenrolle hinein. Er war Old Shatterhand, und die Mitglieder der Bande hatten dabei nichts zu lachen. Aber – er fuhr sich über die Stirn und kam in die Wirklichkeit zurück – das war ja alles Unsinn. Die Bande trieb ihr Wesen ungestört weiter, und er mußte hier untätig in der Bude sitzen. Unmöglich, das noch länger auszuhalten! Jetzt war Doktor Gransfeld schon seit zwei Tagen in Paris, hatte den schuftigen Griechen hoffentlich bereits gefaßt, und er sollte hier im Lehnstuhl sitzen und sich die Zeit mit Schmökern vertreiben, sollte brav, gesittet und artig sein! »Brav, gesittet und artig«, hatte Herr Rübesam wörtlich gesagt.

Bei seinem Hin- und Herlaufen war Rudi vor dem Spiegel angelangt; nun fing er an, mit seinem Ebenbild zu sprechen. »Sei brav, Rudi! Sei gesittet und artig! Herr Rübesam hat es dir befohlen.« Er lachte, und sein Spiegelbild lachte ihn wieder an. »Was, Bengel, du lachst? Du willst nicht artig sein?« Unwillkürlich schüttelte er den Kopf, und das Spiegelbild tat das gleiche.

»Pfui, Rudi, nimm dich zusammen! Ein großer, erwachsener Mensch von achtzehn Jahren darf nicht mehr so kindisch sein.« Er warf einen ernst verweisenden Blick in den Spiegel und drehte sich kurz um.

Da stand der Tisch, aufgeschlagen lag das Buch darauf. Ein Sonnenstrahl, der breit durch das Fenster fiel, spielte um die leicht vergilbten Seiten. Er griff nach dem Buch und ließ es wieder fallen. Es war unmöglich, bei dem schönen Frühlingswetter hier stillzusitzen und zu lesen. Unwiderstehlich groß war der Drang hinauszustürmen in die sonnige Natur. Aber Rübesam hatte es verboten, Doktor Gransfeld hatte es verboten, und – Rudi sah es ein – sie hatten recht mit diesem Verbot. Er mußte im Hause bleiben. Doch irgendwie und anders als mit Lesen mußte er sich die Zeit vertreiben.

Unruhig lief er durch die Wohnung. Hier war das Herrenzimmer mit den Bücherregalen, dort das Eßzimmer, da die Schlafzimmer. Längst kannte er alle Räume bis in die letzten Winkel. Dort am Ende des Flurs lag noch ein Raum, die Spindenstube. In der war er noch nicht gewesen. Die Langeweile trieb ihn hinein.

Es war ein mittelgroßes Zimmer, an den Wänden standen mehrere geräumige Schränke. Einer davon in der Fensterecke, alt, ehrwürdig und schon ein wenig wacklig, erinnerte ihn an das Möbel von Tarantola in Port Said. Was mochte Herr Rübesam in diesem Schrankungetüm aufbewahren? Der Schlüssel steckte. Also war's wohl nicht verboten, einmal nachzusehen.

Er öffnete die Schranktür. Ein scharfes Aroma schlug ihm entgegen. Offenbar benutzte der Chemiker besondere Mittel, um seine Kleider vor Motten zu schützen. Ein paarmal mußte Rudi kräftig niesen, dann hatte er sich daran gewöhnt.

»Wollen doch mal sehen, was Onkel Rübesam hier eigentlich hat! Hm – alte Röcke und Hosen. Da muß er aber noch jung und schlank gewesen sein, als er die getragen hat. Heute würde ihm das Zeug nicht mehr passen. Alle Wetter, ist das eine lange Tabakspfeife! Die geht ja knapp in den Schrank hinein! Hm, in der Ecke ist nichts mehr! Wollen mal in der andern nachsehen! – Ein Jagdanzug. Aha, deswegen der Büchsenschrank im Herrenzimmer! Der Anzug ist auch viel zu eng für ihn; der müßte mir ja ungefähr passen. Wollen's doch mal versuchen!«

Schon während des Selbstgespräches begann er sich seiner Kleider zu entledigen und zog sich dafür die graugrüne Montur an.

»Großartig! Sitzt ja wie angegossen! Jetzt noch den richtigen Hut dazu! – Da hängt er ja. – So, Rudi, jetzt wollen wir uns einmal im Spiegel begucken!«

Er ging in das Herrenzimmer zurück und stellte sich vor den Spiegel. »Ah, gratuliere, Herr Forsteleve! Sie sehen ja vorzüglich aus! Andere Stiefel müßten eigentlich auch dazu da sein, hohe, gelbe Schaftstiefel, dann wäre die Sache erst richtig in Butter. Wollen noch mal nachsehen, Herr Oberförster!«

Mit militärischem Gruß verabschiedete er sich von dem Spiegel und ging zu dem Schrank zurück. Doch vergeblich suchte er nach Stiefeln von der Art, wie sie ihm vorschwebten. Dafür stieß er auf etwas anderes, das ihn sofort sehr interessierte.

»Oh, oh, Rudi, was mußt du hier sehen! Onkel Rübesam scheint ja früher mächtig auf Maskenbälle gegangen zu sein!« Er zog einen seidenen Domino und ein Türkenkostüm aus dem unerschöpflichen Schrank, betrachtete sie eine Weile und legte sie dann über eine Stuhllehne.

»Das müssen wir mal später probieren, wie uns das zu Gesicht steht. – Aber hier! Was hat er hier noch? Masken? Schnurr- und andere Bärte? Bartwachs, Kämme? Alle Wetter, das muß doch gleich mal vor dem Spiegel ausprobiert werden!«

Mit einem Frisierbeutel unter dem Arm, der sich unter Brüdern sehen lassen konnte, kehrte er in das Herrenzimmer zurück. Mit Wachs und Kamm und Schere begann er wie ein Barbier von Beruf zu arbeiten. –

Die Suppe in der Schüssel wurde kalt. Das Mundtuch in der Hand, lief Rübesam in größter Unruhe in der Wohnung hin und her. Besorgnis und Ärger zugleich malten sich in seinen Zügen.

Unbegreiflich, unerklärlich, wo der Junge geblieben war! Vergeblich hatte er in jedem Zimmer, in jedem Winkel nach ihm gesucht, als er aus dem Werk zurückkam. In der Wohnung war Rudi jedenfalls nicht, das stand nun einmal fest. Die einzig mögliche Erklärung war nur die, daß er das Haus trotz dem strengen Verbot verlassen hatte. Dagegen sprach aber wieder etwas anderes. Rudis ganze Garderobe war in der Wohnung; auch der Anzug, den er heute früh getragen hatte, lag im Schlafzimmer auf seinem Bett.

Verzweifelt fuhr sich Rübesam an den Kopf. In des Kuckucks Namen, was war denn geschehen? Im Hemd konnte der Bengel doch unmöglich ins Werk gelaufen sein. Erschöpft von der Aufregung warf sich der Chemiker in den Lehnstuhl am Fenster. Da lag noch aufgeschlagen ein Buch auf dem Tisch, in dem Rudi wohl gelesen hatte. Rübesam nahm es in die Hand. Während er die Blätter durch die Finger gleiten ließ, begann seine Einbildungskraft zu arbeiten und malte ihm die dunkelsten Möglichkeiten aus. Waren vielleicht in seiner Abwesenheit Mitglieder der Bande in das Haus eingedrungen? Hatten sie den Jungen überfallen und weggeschleppt? Denkbar war das immerhin. Die alte, halbtaube Wirtschafterin, die den lieben langen Tag über in ihrer Küche herumhantierte, war gewiß kein hinreichender Schutz. In diesem Augenblick bedauerte es Rübesam, daß er keinen scharfen Hund in seinem Haushalt hatte.

Aber wenn sie den Jungen weggeschleppt hatten, warum hatten sie ihm dann vorher seine Kleider ausgezogen? Er sprang auf und lief – er wußte nicht, zum wievielten Male schon – in Rudis Schlafzimmer. Da lag der Anzug von heute früh, in Unordnung und, wie es schien, in Eile auf das Bett geworfen. Er öffnete den Kleiderschrank und fing an, die Garderobe noch einmal nachzuzählen.

Ein Geräusch ließ ihn seine Beschäftigung unterbrechen. Er horchte auf. Unten wurde die Haustür geschlossen. Wer konnte das sein? Außer ihm besaß nur die Wirtschafterin einen Schlüssel, aber die hatte er ja eben noch in der Küche poltern hören. Ein dritter hing an dem Schlüsselbrett neben dem Büfett im Eßzimmer. Ja, hing er noch da? Darauf hatte er vorhin gar nicht geachtet.

Er eilte die Treppe hinab, um sich davon zu überzeugen. Auf dem letzten Absatz stutzte er und hielt plötzlich inne, starrte wie versteinert auf den Flur. Wie war's möglich, daß ein wildfremder Mensch sich in sein Haus schloß, gemütlich die Treppe herauf kam und ganz so tat, als ob er hier daheim wäre?

Jetzt stand der Fremde vor ihm. Der Kleidung nach schien es irgendein Forstmann zu sein. Ein dunkelblonder Vollbart bedeckte Kinn und Wangen. Zusammen mit der großen Hornbrille gab er dem Gesicht einen professoralen Anstrich, der zu der Försterkleidung nicht recht passen wollte. Unwillkürlich mußte Rübesam einen Augenblick an seinen alten Mathematikprofessor aus der Obersekunda denken. Aber nein, sie hatten doch vor kurzem einen Feldmesser im Werk gehabt, der fast genau so aussah. War es am Ende der? Doch zum Kuckuck, wie kam der zu seinem Schlüssel und in seine Wohnung? Er raffte sich auf und schrie den Fremdling an: »Herr, was wollen Sie hier? Wer sind Sie überhaupt?«

Auch der Fremde war beim Anblick Rübesams stehen geblieben und schien fast noch erschrockener als dieser zu sein. »Ach bitte, entschuldigen Sie, Herr Rübesam! Ich wußte nicht, daß Sie schon so früh zum Essen kommen würden.«

Der Chemiker sperrte Mund und Nase auf. Für kurze Zeit erinnerte er an einen Karpfen, der auf dem Trockenen nach Luft schnappt. »Rudi! Junge! Bengel, du bist es?«

Trotz allen Anstrengungen gelang es ihm nicht, ernst zu bleiben. Er mußte lachen, lachte, daß es ihn schüttelte, daß er sich schließlich am Geländer festhalten mußte, um nicht die Treppe hinunterzufallen. Erst nach Minuten konnte er wieder einigermaßen sprechen: »Rudi! Menschenskind! Bist ja doch aus dem Hause gewesen, trotzdem ich dir's verboten hatte! Jungchen, darüber werden wir noch einen ernsten Ton zusammen reden! – Aber gut ist die Maske.« Er mußte wieder lachen. »Erkannt wird dich darin keiner haben. Du hast eine fabelhafte Ähnlichkeit mit unserm verflossenen Feldmesser. Nun mal raus mit der Sprache, wo du dich rumgetrieben hast! Doch halt! Erst muß ich die Wirtschafterin rufen, daß sie die Suppe noch einmal aufwärmt.«

»Aber ich kann ja selbst hingehen, Herr Rübesam.«

»Nein, mein Junge. Damit die Alte einen Mordsschreck kriegt und mir das Geschirr zerschmeißt! Das geht nicht.«

Die Alte kam herauf, warf einen erstaunten Blick auf den fremden Herrn, mit dem Rübesam am Fenster saß, und verschwand mit der Suppenschüssel.

»So, Junge, jetzt beichte! Was hast du da wieder ausgefressen?«

»Ach, Herr Rübesam, Sie dürfen mir nicht böse sein! Die Sonne schien so schön, da hielt ich's mit dem Buch nicht länger aus, und da ging ich an Ihren Schrank.«

»Aha, mein Sohn! Darum kam mir doch der Anzug so bekannt vor. Man hat in meinen Schränken nachgeforscht und allerhand gefunden. Daher diese fabelhafte Verwandlung. Junge, nimm doch bloß mal die Brille ab! Man denkt ja wirklich, man hat es mit einem Fremden zu tun. – So, jetzt kann man dich zur Not doch wenigstens wiedererkennen. – Man hat also eine kleine Maskerade gemacht, und dann? Was dann?«

»Ja, Herr Rübesam, als ich mich dann im Spiegel sah, da habe ich mir gedacht, so könnte ich's doch am Ende wagen, und bin in das Werk gegangen.«

»Was streng verboten war, du Stromer! Sind dir etwa Leute begegnet, die dich von früher her kennen? Das wäre trotz der Maske gefährlich gewesen.«

»Nein, Herr Rübesam, eigentliche Bekannte nicht.«

»Doch uneigentliche. Wer war's denn? Wen oder was hast du gesehen?«

»Etwas ganz Merkwürdiges, Herr Rübesam. Ich hielt mich da in dem Gang neben dem Heroinsaal auf.«

»Bei dem Heroinsaal? Junge, bist du denn ganz und gar des Teufels? Hast du von dieser Gegend die Nase noch nicht voll? Die Herren Henke und Altmüller sind dir doch wahrhaftig nicht grün.«

»Ach, Herr Rübesam, in der Maske fühlte ich mich ganz sicher! Da stand ich nun und sah, wie der Fritz, der kleine Junge von dem Altmüller, kam, um seinem Vater das Essen zu bringen. Er hatte das Geschirr in einem Henkelkorb und – Sie müssen wissen, Herr Rübesam, es ist ein schwächlicher Junge, noch so ein richtiger Knirps – er trug ziemlich schwer an dem Korb.«

»Kann ich mir vorstellen, Rudi. Die Leute schlagen sich je zu jeder Mahlzeit einen halben Scheffel Kartoffeln in den Leib.«

»Ja, aber nun kommt das Merkwürdige. Als der Fritz Altmüller nach einer halben Stunde wieder aus dem Saal kam da schien er mir immer noch so schwer zu schleppen, und das Geschirr hätte doch jetzt leer sein müssen. Die Sache ist mir aufgefallen.«

Rübesam pfiff durch die Zähne und dachte eine Weile nach. »Hm, Junge, die Geschichte ist in der Tat wert, daß man ihr weiter nachgeht! Bringt der Junge dem Alten das Essen alle Tage ins Werk?«

»Soviel ich mich erinnern kann, ja, Herr Rübesam. Ich habe ihn jedenfalls früher schon öfter mit dem Eßkorb kommen sehen. Nur das, was ich da heute sah, ist mir früher nicht aufgefallen.«

»Hm, hm! Um zwei Uhr mittags ist die Frühschicht zu Ende. Um zwölf läßt sich Altmüller noch einmal warmes Essen von seinem Jungen bringen. Ist ja eigentümlich. Welchen Weg nimmt denn dieser Fritz, wenn er aus dem Heroinsaal kommt? Ich meine, da müßte er doch über den zweiten Gang an meinem Zimmer vorbeikommen.«

»Stimmt, Herr Rübesam; den Weg ist er auch heute gegangen. Das ist ganz richtig. An Ihrem Zimmer vorbei, bis zum dritten Treppenhaus und dann den Weg zum Hauptportal. Ich bin ihm bis dahin nachgegangen.«

»Der Pförtner hat ihn natürlich ohne weiteres durchgelassen?«

»Ja, selbstverständlich, Herr Rübesam. Der hatte ihn ja mit dem Eßkorb hineingehen sehen und sah ihn jetzt wieder herauskommen. Er hat kaum hingeguckt.«

»Setz die Brille auf!« unterbrach ihn Rübesam.

Kaum hatte Rudi die Hornbrille auf der Nase, als die Wirtschafterin mit der heißen Suppenschüssel ins Zimmer kam. »Wo bleibt denn der junge Herr heute, Herr Rübesam?« fragte sie verwundert.

»Der kommt heute später, Frau Schmidt.«

Die Alte machte sich daran, das zweite Gedeck abzuräumen.

»Lassen Sie nur, Frau Schmidt! Der Herr hier wird heute mit mir speisen.«

Kopfschüttelnd ging die Alte aus der Tür. Kaum war sie draußen, als Rudi losplatzte. »Sehen Sie, Herr Rübesam, nicht einmal Frau Schmidt hat mich wiedererkannt!«

Rübesam winkte ab. »Nicht zu voreilig, mein Jungchen! Während des Mittagessens mußt du die Maske nun schon beibehalten. Die Alte würde sich wundern, wenn der fremde Herr plötzlich verschwunden wäre und dafür ein gewisser Rudi hier am Tisch säße. Binde dir ordentlich das Mundtuch um, damit Frau Schmidt nachher möglichst wenig von dem Anzug sieht! Den kennt sie nämlich sehr genau.« Er schob Rudi den gefüllten Suppenteller hin. »Guten Appetit! Jetzt kannst du ja mal versuchen, wie man mit so einem alten Germanenbart Suppe ißt.« –

Am nächsten Mittag blieb Rübesam länger in seinem Arbeitszimmer im Werk. In seiner Gesellschaft befand sich ein Herr mit Brille und dunkelblondem Vollbart. Das Interesse der beiden erstreckte sich ausschließlich auf die große Wanduhr, deren Minutenzeiger sie nicht aus den Augen ließen.

»Fünfundzwanzig Minuten nach zwölf, Herr Rübesam. Um die Zeit ist der Fritz gestern aus dem Saal gekommen.«

Rübesam stand auf. Einen adressierten und frankierten Brief in der Hand, trat er auf den Flur hinaus und blickte sich suchend im Gang um. Vom andern Ende her kam irgendwer. Das Klappern von Blechgeschirr klang durch den hohen, leeren Gang. Ein schmächtiger, schwächlicher Junge war's, der einen Eßkorb trug.

Rübesam rief ihn an. »He, mein Junge, halt mal!«

Der Knirps blieb stehen und sah den Chemiker scheu an. Dieser zog einen Groschen aus der Westentasche. »Hör mal, mein Jungchen, du kannst mir schnell einen Gefallen tun. Der Brief hier muß schleunigst in den Postkasten vorn beim Pförtner. In drei, nein, in zwei Minuten ist schon Abholung. Lauf schnell hin, damit der Brief noch zur rechten Zeit in den Kasten kommt! Hier!« Er drückte ihm den Brief und ein Zehnpfennigstück in die freie Hand. »Deinen Korb kannst du so lange hierlassen.« Er nahm den Korb, den der Junge nur widerstrebend losließ. »Schnell, schnell, tummle dich, damit du noch zurecht kommst!« Er schob ihn ein Stück im Gang vorwärts. »Fix, mach! Den Korb stelle ich so lange bei mir hin.«

Während der Junge davonsprang, ging Rübesam mit dem Korb ins Zimmer zurück. »Hast recht, Rudi, das Zeug ist verdächtig schwer.« Schon hatte er eine große Thermosflasche herausgenommen und den Verschluß aufgeschraubt. »Natürlich, da haben wir ja die Bescherung! Bis an den Rand mit Heroinpulver vollgestopft.« Er schraubte den Verschluß wieder fest auf die Flasche.

Freund Rudi, der hier die Rolle des blondbärtigen Herrn spielte, hatte inzwischen mit größter Fixigkeit das Geschirr aus dem Korb genommen und die Wachstuchdecke, die auf seinem Boden lag, gelüftet. »Zwei große Leinenbeutel, Herr Rübesam! Irgend etwas Pulverartiges darin.«

»Gut! Ich habe schon genug gesehen. Schnell, bringe alles wieder in Ordnung! Das Geschirr muß genau so wie vorher liegen. Du hast dir doch gemerkt, wie es war? Fix, fix! Der Junge kann gleich zurückkommen.«

Wenige Sekunden später stand der Korb wieder friedlich und harmlos, als ob ihn niemand berührt hätte, in der Zimmerecke neben der Tür. Kurz darauf kam der Junge zurück.

»Na, hast du's noch geschafft?«

»Jawohl, Herr – Herr Doktor.«

Rübesam schüttelte den Kopf. »Nicht Doktor! Einfach Herr Rübesam! Und du, du bist doch der Fritz, der Junge von unserm Altmüller?«

»Jawohl, Herr Rübesam. Das mit dem Brief hat noch fein geklappt. Ich sah den Postboten auf seinem gelben Dreirad da hinten an der Kirchstraße erst ankommen.«

»Das ist ja schön, Fritz. Da will ich dir zur Aufmunterung noch einen Groschen schenken. Da, hier, nimm!«

Vergnügt steckte der Junge das Geld ein, griff nach seinem Korb und sprang davon.

Nachdenklich ging Rübesam im Zimmer hin und her. Erwartungsvoll schaute Rudi ihn an.

»Ja, Junge, Zeit wär's eigentlich, die Herrschaften einsperren zu lassen. Die Herren Henke und Altmüller sind nachgerade fürs Kittchen reif. Aber die Kerle müssen noch irgendwelche Helfershelfer hier am Platze haben. Lasse ich die beiden ins Loch stecken, dann ist die ganze Bande sofort gewarnt. Wahrscheinlich würden wir die Pläne unseres Freundes Gransfeld in Paris dadurch stören.« Er ließ sich in seinen Stuhl nieder. »Ein paar Glieder in der Kette fehlen uns noch. Wir können noch nicht zugreifen. Im Augenblick würden wir damit mehr verderben als gewinnen.« –

In Altmüllers Küche war Henke beschäftigt, das gestohlene Heroin aus der Thermosflasche in Leinenbeutel überzufüllen. »Feiner Gedanke das mit dem Freßkorb! Ein dickes Kilo geht jedesmal in die Flasche. Das schafft. Tut aber auch not; unsere Abnehmer schreien nach Ware.«

Er pfiff vergnügt vor sich hin, während er den letzten Beutel zuband und zu den übrigen in den Rucksack tat. Dann blickte er auf Altmüller. »Na, du altes Tränentier! Sitzt mal wieder so bedeppt da, als wenn dir alle Felle weggeschwommen wären. Mensch, sei doch fidel! Unser Geschäft blüht ja. Läßt mich hier alles machen und sagst keinen Ton. So, die Flasche ist leer. Da, bitte! – Willst du nicht? Na, dann werde ich das auch noch machen.« Er ging an die Wasserleitung und spülte die Flasche ein paarmal kräftig aus. »Das könnte uns gerade noch fehlen, daß ihr hier in eurer verbummelten Wirtschaft den schwarzen Kaffee einfach wieder in die ungespülte Flasche gießt! Könntest dir dabei am Ende noch allerlei angewöhnen.«

Altmüller fuhr auf. »Sprich nicht so über unsere Wirtschaft, Henke! Du weißt, daß meine Frau schon so lange krank ist. Wenn's nicht darum wäre, hätte ich schon längst Schluß gemacht.« Mit einem Seufzer ließ er sich auf den Küchenstuhl fallen und stützte den Kopf in beide Fäuste. »Von Schritt zu Schritt hast du mich weitergetrieben, Henke. Erst mich; jetzt muß auch noch der Fritz mitmachen. Ich will's aber nicht mehr! Ich sage dir, Henke, ich mache nicht mehr mit! Der Fritz wenigstens, der soll nicht mehr mit dem Korb in das Werk kommen.«

»Quatsch, Altmüller! Deine Redensarten hängen mir zum Halse heraus. Wir sitzen an der Quelle, Mensch! Erzdumm wären wir, wenn wir das nicht ausnutzen wollten, solange es geht.«

»Solange es geht, Henke! Siehst du, da sagst du es schon selber. Ewig wird's nicht gehen. Einmal kommen uns die andern doch auf die Schliche. Der Meister hat mich heute wieder so angesehen, so, als ob – als ob er etwas wüßte. Wenn die Sache rauskommt, wenn sie mich einsperren – meine arme Frau, meine Kinder!«

Henke schlug dem Zusammengesunkenen auf die Schulter. »Dummheiten, Altmüller! Bist ja verrückt! Hast doch gesehen, wie ich's dem einen besorgt habe, der uns nachschnüffeln wollte. Brauchst wirklich keine Angst zu haben. Wenn's mal brenzlig werden sollte, werde ich's dir schon beizeiten stecken. Da verduften wir einfach vorher und lassen den klugen Herren hier das Nachsehen. Durch unsere Freunde steht uns die ganze Welt offen. Die sorgen schon dafür, daß keiner von ihren Leuten verschütt geht. Klappt's hier nicht mehr, dann machen wir unsern Laden irgendwo anders auf.«

»Du vielleicht, Henke; du hast nicht Kind und Kegel. Ich aber – meine Familie – ich kann ja doch überhaupt nicht fort von den Meinen.«

»Unsinn, Altmüller! Wenn du anderswo gut verdienst, kannst du deinen Leuten was schicken. Dann geht's auch, aber . . .« Er sprang zur Tür und schob den Riegel zurück. »So, jetzt können die Gören wieder herein. Die brauchen gar nicht erst zu merken, daß wir hier zugeriegelt hatten.«

Bald darauf wurde die Tür geöffnet und Fritz Altmüller kam herein. »Grüß Gott, Vater! Grüß Gott, Herr Henke! Vater, ich habe Hunger.«

Altmüller wies auf den Brotkasten und den Marmeladetopf.

»Darf ich, Vater?«

»Gewiß, Fritz, nimm dir eine ordentliche Musschnitte!«

Schleunigst machte der Junge sich über das Brot her. Mit beiden Backen kauend, setzte er sich auf das Fensterbrett. Henke wechselte noch ein paar belanglose Worte mit Altmüller und hängte sich den Rucksack um. Er wollte sich verabschieden, als Fritz auf die Straße zeigte. »Sieh mal, Vater! Da geht der Herr, der heute bei Herrn Rübesam war.«

Henke drehte sich um und sah ihn erstaunt an. »Woher weißt du denn das, Junge?«

»Ja, Herr Henke, ich war doch bei Herrn Rübesam im Zimmer.«

»Was? Wie? Du bist bei Rübesam im Zimmer gewesen? Wie bist du denn dazu gekommen?«

»Heute mittag. Als ich gerade aus dem Werk gehen wollte, da hielt mich Herr Rübesam an. Ich sollte ihm einen Brief zum Kasten bringen. Ich mußte springen, damit ich noch richtig zur Abholung hinkam.«

»So? Und dabei hast du den fremden Kerl mit dem Vollbart, der hier eben vorbeikommt, gesehen?«

»Ja, Herr Henke. Ich mußte ja nachher wieder in sein Zimmer kommen und meinen Korb holen.«

»Deinen Korb holen? Wieso denn? Den hattest du doch am Arm.«

»Nein. Weil es so schnell gehen mußte, hat Herr Rübesam mir den Korb abgenommen und so lange bei sich ins Zimmer gestellt«, erklärte Fritz ganz harmlos.

»Lümmel, verdammter! Dir den Korb wegnehmen zu lassen! Ich will dir helfen!« Henke stürzte sich auf den schwächlichen Jungen und wollte auf ihn einschlagen.

Doch ebenso schnell war Altmüller aufgesprungen und fiel dem Kollegen erregt in den Arm. »Laß das, Henke! Faß meinen Jungen nicht an oder . . .!« Er griff nach dem Küchenbeil auf dem Herd. »Zurück, Henke, oder . . .«

Henke wich vor dem Wütenden zurück. »Ist schon gut, Altmüller. Brauchst dich nicht weiter aufzuregen. Ich tue deinem Bengel nichts.«

Ohne Gruß verließ er den Raum. Er warf die Tür hinter sich ins Schloß, daß die Scheiben klirrten, und pfiff durch die Zähne. Die Sache kam ihm höchst verdächtig vor.

War der Fremde bei Rübesam vielleicht wieder ein neuer Detektiv, den die Herren da oben ins Werk gesetzt hatten? Vielleicht einer, der's schlauer anfing als die andern? Hatte der am Ende seine Briefe abgeholt?

Er beschleunigte seine Schritte. Wenn irgend möglich, wollte er diesen verdächtigen Fremden einholen und ihn sich etwas genauer besehen. –

»Wir könnten die Pläne unseres Freundes Gransfeld in Paris stören«, hatte Rübesam gesagt, als er sich entschloß, Henke und Altmüller vorläufig auf freiem Fuße zu belassen. Doch leider ließ die Ausführung dieser Pläne noch sehr viel zu wünschen übrig. Gleich am Morgen nach seiner Ankunft in Paris war Gransfeld in das Ritz-Carlton-Hotel gegangen, um John Hawkins aufzusuchen, jenen amerikanischen Finanzmagnaten, den Megastopoulos in seinem Brief an van Holsten genannt hatte.

Mister Evans, der Privatsekretär, empfing ihn. »Sie wünschen Mister Hawkins zu sprechen. In welcher Angelegenheit, bitte?«

»Das möchte ich Mister Hawkins selber sagen.«

»Das wollen viele, Herr Doktor. Mister Hawkins' Zeit ist außerordentlich besetzt. Wenn Sie mir Ihr Anliegen mitteilen und wenn sich Mister Hawkins entschließen sollte, Sie zu empfangen, so würde er . . .« Der Sekretär griff nach einem Terminkalender und blätterte darin. ». . . so würde er frühestens Sonnabend, also heute in fünf Tagen, von elf Uhr fünfundzwanzig bis elf Uhr fünfunddreißig für Sie Zeit haben. Ich setze dabei voraus, Herr Doktor, daß es eine wichtige Angelegenheit ist, die Mister Hawkins wirklich interessiert.«

»Gestatten Sie mir eine Frage, Mister Evans!«

»Bitte sehr, Herr Doktor.«

»Steht in Ihrem Kalender auch der Name Megastopoulos?«

Evans zuckte die Achseln. »Ich bedaure, Herr Doktor, darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben.«

Während der Sekretär die Antwort gab, behielt Gransfeld ihn scharf im Auge. Er sah, wie dessen Blicke über die Seiten des Kalenders glitten und an einer Stelle haften blieben. »Das tut mir außerordentlich leid, Mister Evans. Ich hätte Ihren Herrn gern davor bewahrt, von einem Dieb gestohlene Sachen zu kaufen.«

Mister Evans fuhr auf. »Ich verstehe nicht, Herr Doktor, was Ihre Worte bedeuten sollen.«

»Dann will ich mich noch deutlicher ausdrücken, Mister Evans. Dieser Megastopoulos hat mir ein wertvolles ägyptisches Kunstwerk, eine Statuette des Sethos, gestohlen und will sie jetzt an Mister Hawkins verkaufen. Ich bin nach Paris gekommen, um den Dieb zu fassen und mein Eigentum zurückzubekommen. Ich glaube, Mister Hawkins wird nicht sehr erfreut sein, wenn die Pariser Polizei sich in den Handel mischt.«

»Ich begreife nicht, Herr Doktor, wie Sie solche Behauptungen aufstellen können. Monsieur Megastopoulos ist ein angesehener Kunsthändler. Er ist . . .«

». . . genau so ein Gauner, Mister Evans, wie der Mynheer van Holsten oder van der Meeren, der ihn an Mister Hawkins empfohlen hat. Die beiden sind seit langem für das Zuchthaus reif.«

Gransfelds Worte verfehlten ihren Eindruck nicht. Eine kurze Weile überlegte der Sekretär. Dann sprach er: »Sie bringen Ihre Behauptungen mit großer Bestimmtheit vor, Herr Doktor. Es ist nicht meine Aufgabe, die Herren Megastopoulos und van der Meeren gegen Ihre Angriffe zu verteidigen. Haben Sie irgendeinen Beweis dafür, daß Sie der Eigentümer des Kunstwerkes sind, das uns angeboten wurde?«

Gransfeld zog ein paar Photos aus der Brusttasche und schob sie dem Sekretär hin.

»Diese Bilder, Mister Evans, wurden im Hause meines verstorbenen Oheims aufgenommen. Er war der Vorbesitzer der Statuette.«

Der Sekretär griff nach den Photographien und betrachtete sie. Dann zog er eine Schublade auf, nahm andere Bilder heraus und legte sie daneben. Kopfschüttelnd blickte er bald auf die einen, bald auf die andern. »Das ist in der Tat merkwürdig, Herr Doktor. Es scheint sich in beiden Fällen um das gleiche Werk zu handeln. Trotzdem – ich bin sicher, daß Monsieur Megastopoulos sich über den rechtmäßigen Erwerb des Kunstwerkes ausweisen kann. Nach Ihren Mitteilungen werden wir doppelten Wert auf einen solchen Nachweis legen.«

»Das wird er niemals können, Mister Evans. Hier« – Gransfeld legte ein Schriftstück auf den Tisch – »ist der Kaufvertrag zwischen meinem Oheim und dem ägyptischen Händler, von dem dieser die Statuette vor Jahren erworben hat. Mit diesem Schriftstück in der Hand beabsichtige ich Megastopoulos verhaften zu lassen, sobald er mit der Statuette zu Ihnen kommt.«

Längere Zeit schwieg der Sekretär. Er schien mit Zweifeln zu kämpfen. Dann raffte er sich zu einem Entschluß auf. »Well, Herr Doktor, ich will ganz offen sprechen. Monsieur Megastopoulos steht für heute von zehn Uhr dreißig bis zehn Uhr fünfundvierzig auf der Liste.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Es ist bereits zehn Uhr sechsunddreißig. Es ist mir unverständlich, daß er nicht längst hier ist. Mister Hawkins ist nicht gewohnt, auch nur eine Minute auf jemand zu warten. Einen Augenblick, bitte! Ich muß sofort nach Monsieur Megastopoulos fragen lassen.«

Er klingelte und bat nachzusehen, ob Monsieur Megastopoulos etwa im Empfangsraum des Hotels sei. »Ganz unbegreiflich ist das«, wandte er sich wieder an Gransfeld; »ein Geschäftsmann wie Monsieur Megastopoulos sollte doch Bescheid wissen, wie er . . .«

»Ich fürchte, Mister Evans, er weiß nur zu gut Bescheid. Schon einmal, in Genf, war ich ihm auf den Fersen. Auch da hat er die Verhandlungen abgebrochen und ist unter nichtigen Vorwänden weggeblieben. Es wäre schade, wenn er mir auch diesmal entschlüpfte. Aber leider – ich muß befürchten, daß er auch jetzt wieder irgendwie gewarnt wurde.«

Der Sekretär warf einen Blick auf die Uhr. »Zehn Uhr fünfundvierzig. Seine Zeit ist vorbei. Nach solcher Unpünktlichkeit wird ihn Mister Hawkins nicht mehr empfangen. Allenfalls könnte er noch mit mir verhandeln.«

Gransfeld hatte sich erheben. »Ich glaube, Mister Evans, daß damit die Angelegenheit im Augenblick erledigt ist. Für alle Fälle will ich noch einige Tage in Paris bleiben. Würden Sie mich vertraulich benachrichtigen, wenn Megastopoulos ein Lebenszeichen von sich gibt?«

»Well, Herr Doktor, unter den obwaltenden Umständen will ich das tun.«

»Dann darf ich Ihnen meine Adresse hierlassen.« Gransfeld empfahl sich.

Mißmutig schritt er in sein Hotel zurück. Wieder dieselbe Geschichte wie in Genf! Hatte der Grieche Verdacht geschöpft? Hatte er andere Gründe, um nicht zu kommen? Warum ließ er den reichen Amerikaner, zu dem er sich die Verbindung mit so viel Umständen geschaffen hatte, warten? Warum verscherzte er sich die gute Gelegenheit? All das waren Fragen, auf die Gransfeld keine Antwort fand. Hatte es überhaupt noch Zweck, länger hierzubleiben? Möglich war es schließlich immer noch, daß der Grieche kam. Jetzt, im Einverständnis mit Mister Evans, würde er ihn dann sicher fassen können. So entschloß er sich, für die nächsten Tage noch in Paris zu bleiben.

Zufällig sah Gransfeld am folgenden Abend in der Empfangshalle des Waldorf-Astoria-Hotels die Ankündigung, daß in der Großen Oper »Margarete« von Gounod gegeben wurde. Er fragte den Portier, ob noch Karten zu haben seien.

»Karten für die Große Oper? O gewiß, Monsieur! Hier habe ich noch einen vorzüglichen Platz in der sechsten Loge.«

So kam es, daß Gransfeld an diesem Abend in die Oper fuhr. Hervorragend waren Gesang und Spiel der Darsteller, berückend schön die Bühnenbilder. Beinahe interessanter noch war das erlesene Publikum, das Parterre und Logen des großen Theaterraumes füllte, die Herren fast ausnahmslos im Frack – fast unbehaglich fühlte sich Gransfeld hier im einfachen Smoking – die Damen in großer Gesellschaftstoilette. Überall ein Funkeln und Blitzen von reichem Schmuck.

Nach dem ersten Fallen des Vorhanges musterte Gransfeld die gegenüberliegenden Logen durch das Opernglas. Greifbar nahe brachte das starke Glas ihm die einzelnen Personen. Typen der verschiedensten Nationen glitten an seinen Augen vorüber. Neben lebhaften, dunkelhaarigen Romanen saß auch viel amerikanisches und englisches Publikum in den Logen. Der Reichtum dreier Weltteile fand sich hier an der Seine zusammen.

Plötzlich stutzte Gransfeld und hielt das Glas länger auf einen Punkt gerichtet. Da drüben saß ja Mister Evans, der Sekretär von Mister Hawkins. Neben ihm stand eine Dame und sprach mit ihm. Jetzt hob sie den Kopf. Gransfeld preßte das Glas dichter an die Augen. War das nicht die Rumänin, seine alte Bekannte aus Hamburg und Genf? Nur einen Augenblick konnte er sie betrachten. Schon hatte sie sich umgewandt und die Loge verlassen. Zu kurz war die Zeit, um volle Sicherheit zu gewinnen, doch Gransfeld glaubte sich nicht getäuscht zu haben.

Die Dimitriescu bei Mister Evans! Was hatte das zu bedeuten? Zog es Monsieur Megastopoulos vor, im Hintergrund zu bleiben, und schickte er seine Bundesgenossen ins Feuer? Da war es am Ende doch Zeit, dem Amerikaner auch über diese fragwürdige Dame die Augen zu öffnen. Wenn – ja, wenn sie's wirklich war. Davon mußte er sich freilich erst überzeugen.

Er verließ seinen Platz und ging durch den breiten Wandelgang in das Foyer. Ein großer Teil des Publikums benutzte die Pause, um sich hier zu ergehen. Nur langsam kam er in dem Gedränge voran. Plötzlich stutzte er wieder und verhielt den Schritt. »Fräulein Susanne – Verzeihung, Fräulein Rasmussen! Sie hier in Paris, gnädiges Fräulein?«

»Ah, Herr Doktor, Sie auch in Paris?« Freude über das unvermutete Wiedersehen sprach aus ihren Augen. »Das nenne ich einen glücklichen Zufall, daß wir uns hier in der Großen Oper treffen! Ich glaubte, Sie seien von Genf geradeswegs nach Deutschland zurückgefahren.«

»Das bin ich auch, Fräulein Rasmussen, doch gleich nach meiner Ankunft riefen mich dringende Geschäfte nach Paris.«

Susanne lachte. »Mir scheint, Herr Doktor, Sie entwickeln sich zu einem richtigen Globetrotter. Ägypten, Hamburg, andere deutsche Städte, die Schweiz, wieder Deutschland, jetzt Paris – vielleicht sieht man Sie nächstens auch in London oder Moskau.«

»Wäre nicht ausgeschlossen, Fräulein Susanne. Man kann nicht wissen, wohin die Geschäfte einen noch führen. Vorläufig gedenke ich einige Tage hierzubleiben. Es würde mich aufrichtig freuen, wenn ich Gelegenheit hätte, Sie noch einmal zu sehen.«

Einen kurzen Augenblick überlegte Susanne Rasmussen. Dann nickte sie. »Ich denke, das wird möglich sein, Herr Doktor. Wir wollen auch noch einige Zeit in Paris bleiben. Mein Vater ist ja hier in der Behandlung von Professor Morelle.«

»Professor Morelle, der berühmte Herzspezialist? Oh, Fräulein Susanne, ist Ihr Herr Vater krank?«

Ein Schatten flog bei Gransfelds Frage über ihre Züge. »Leider ja, Herr Doktor. Ich fürchte, mein armer Vater ist viel kränker, als er selber glaubt. Ich bin neulich bei dem Professor gewesen. Er hat mir natürlich nichts Bestimmtes gesagt, aber Sie müssen es ja am besten wissen, Herr Doktor, wie derartige Auskünfte beschaffen sind. Wer sich ein bißchen auf die Sprache der Ärzte versteht, der kann auch aus einer unbestimmten Mitteilung mancherlei heraushören.«

Auch Gransfeld war ernst geworden. »Fräulein Susanne, wenn Sie es wünschen, will ich gern einmal selbst zu Professor Morelle gehen und den Fall als Arzt mit ihm besprechen. Jedenfalls – das möchte ich Ihnen zu Ihrem Trost schon heute sagen – ist Ihr Herr Vater dort in den besten Händen. Morelle hat Kuren vollbracht, die an das Wunderbare grenzen.«

»Ach ja, Herr Doktor, ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie das tun wollten! Wenn ich wieder hoffen könnte, daß mein armes Väterchen doch noch gesund wird!«

Ein Klingelzeichen kündete den Wiederbeginn der Vorstellung an. Susanne konnte Gransfeld nur noch mitteilen, daß sie mit ihrem Vater im Savoyhotel wohne. Morgen vormittag um elf Uhr wollte sie dort in der Empfangshalle sein. Ein Händedruck zum Abschied, und sie trennten sich.

Über dem Zusammentreffen mit Susanne Rasmussen hatte Gransfeld die Dimitriescu vergessen. Die Rumänin aber hatte ihn im Foyer mit Susanne zusammen gesehen und sehr genau beobachtet; dann hatte sie noch während der Pause die Oper verlassen. –

Der letzte Akt war vorüber, der Beifall verhallt. Gransfeld warf sich den Mantel über und trat auf die Straße hinaus. Es war eine herrliche Frühlingsnacht, zu schade, um sofort in das Hotel zurückzukehren, auch viel zu schade, um sich in einen dumpfen, geschlossenen Wagen zu setzen. Er beschloß, zu Fuß in sein Hotel zurückzugehen und einen kleinen Umweg am Seineufer entlang zu machen.

Wie wundervoll dies Wandern in der lauen Nacht durch Straßen und Plätze, wo auf Schritt und Tritt geschichtliche Erinnerungen wach wurden! Hier der Vendômeplatz mit der Napoleonsäule. Die hatte 1871 die Kommune umgestürzt. Dann war die Kommune gestürzt und die Säule wieder aufgerichtet worden. Jetzt lag weiter vor ihm die Place de la Concorde. Da hatte in der großen Revolution fünf Jahre lang die Guillotine gestanden. Welche Hekatomben waren hier unter dem Fallmesser einer Idee zum Opfer gebracht worden! Welche Leiden hatten diese Steine gesehen, welche Ströme von Blut getrunken!

Doch wer dachte wohl heute beim Lichterglanz der elektrischen Lampen, beim Getümmel und Lärm über den Platz jagender Automobile noch an jene düsteren Zeiten? Gransfeld bog von der Place de la Concorde zur Seine ab. Hier zwischen dem Tuileriengarten und dem Fluß war die Straße dunkler und fast unbelebt. Langsam schlenderte er am Rande des Gartens entlang. Wo das Licht der Laternen in die Parkanlagen fiel, hoben sich reich blühende Gruppen von Rhododendren und Azaleen leuchtend vom Hintergrunde der immergrünen Boskette ab. Bewundernd blickte er auf den Blütenflor und bemerkte es kaum, daß hinter ihm ein Kraftwagen in langsamer Fahrt die Straße entlang kam. Jetzt hatte der Wagen ihn erreicht. Im nächsten Augenblick mußte er ihn überholen, als er plötzlich hielt. Die Tür sprang auf, zwei Fäuste ergriffen Gransfeld und rissen ihn, bevor er noch recht begriff, was geschah, bevor er einen Schrei ausstoßen konnte, in den Wagen hinein. Die Tür fiel ins Schloß, das Auto fuhr weiter.

Am Palais de Justice mußte der Wagen kurze Zeit halten, bis das Verkehrslicht ihm freie Fahrt zum Boul Miche gab. Dann kam er ohne weiteren Aufenthalt schnell weiter und erreichte gegen halb zwei Uhr morgens den Vorort Palaisou. Dort bog er auf einen Feldweg ab und fuhr auf ein abgelegenes Gehöft zu. Vor einem alten Wohnhaus machte er halt. Die Tür des Gebäudes wurde geöffnet, das Licht einer elektrischen Lampe leuchtete auf, zwei Männer und eine Frau traten ins Freie.

»Hallo, Jacques! Habt ihr ihn?« Es war die Rumänin, die die Frage an den Chauffeur stellte.

»J'en suis sûr, Madame. Pierre hat ihn drin.«

»Ah, Pierre! Das ist eine gute Wahl!« rief die Dimitriescu befriedigt.

Pierre mit dem Beinamen »le mur rouge« war ein hünenhafter Apache. Als Raufbold und Totschläger war »die rote Mauer« in ihren Kreisen berichtigt und gefürchtet. Wer dem in die Hände fiel, der machte am besten vorher sein Testament.

Der Chauffeur sprang vom Wagen und ging zur Tür. Die beiden anderen Männer eilten ebenfalls hinzu. »Pierre wird Frikassee aus ihm gemacht haben«, rief der eine und riß die dem Haus zugewandte Wagentür auf. »Hallo, Pierre!«

Das Licht fiel voll in das Wageninnere. Da lag halb am Boden, halb noch auf den Kissen regungslos eine menschliche Gestalt.

Jetzt öffnete der Chauffeur auch die andere Wagentür. »Hallo, Pierre!« rief er ungeduldig hinein.

Nur ein dumpfes Stöhnen kam als Antwort aus dem Wagen.

Erschrocken wich er einen Schritt zurück, faßte sich dann und trat wieder heran. »Olala, olala! Was ist das? Mon Dieu!«

Sie trugen den Bewußtlosen in das Haus. Übel sah er aus. Verquollen, blutig, mit blauen Flecken bedeckt das Gesicht. Vorsichtig legten sie ihn auf ein Bett, wuschen ihm das Blut aus dem Gesicht und flößten ihm Stärkungsmittel ein.

Nur langsam kam er wieder zu sich. Jedes Wort schien ihm Schmerzen zu bereiten. »Mon Dieu! Sont-ils des bêtes féroces?« Stöhnend versuchte er sich aufzurichten. »Sont-ils de bêtes féroces, ces Allemands?«

»Hallo, Pierre, was hat's gegeben?« Der Chauffeur beugte sich über ihn. »Da, trink erst noch mal!« Er goß ihm ein Wasserglas voll Kognak durch die aufgeschwollenen Lippen und fragte ihn dabei: »Ich denke, du hattest ihn, Pierre?«

»Non, Jaques, er hatte mich. Ja, erst hatte ich ihn, hatte ihn bei den Schultern gepackt und riß ihn in den Wagen. Seine Arme waren frei. Sacré nom d'un chien! Ehe ich's mich versah, ehe ich was tun konnte, fuhr er mir mit der flachen Hand von unten nach oben durchs Gesicht, riß mir die Lippe nach oben, die Nase – ich sah und hörte nichts mehr.«

Er brauchte es kaum zu erklären; man konnte es ihm am Gesicht ablesen, was geschehen war. Mit einem höchst wirksamen Jiu-Jitsu-Griff war der Doktor ihm durch das Gesicht gefahren. Die Oberlippe war aufgerissen, zweimal gespalten, die Nase nach oben gestoßen.

Seine Genossen musterten ihn mit Kennerblicken. »Kannst froh sein, Pierre, daß er dir seine Finger nicht noch in die Augen gestoßen hat. Das pflegt sonst das Ende von dem Griff zu sein. Sacré bleu, der Kerl versteht sein Handwerk! Wirst ein paar Wochen brauchen, ehe du dich wieder unter deinen Leuten sehen lassen kannst.«

Während sie hier versuchten, den zerschundenen Apachen mit viel Kognak und gutem Zuspruch wieder auf die Beine zu bringen, lag Gransfeld längst in seinem Bett im Waldorf-Astoria-Hotel. Er hatte das Auto bereits am Palais de Justice verlassen. –

Am nächsten Vormittag war Gransfeld im Savoyhotel. Er hatte sich einen Sessel gewählt, von dem aus er den ganzen Empfangsraum gut überblicken konnte. Zerstreut blätterte er in der Morgenzeitung, die er sich auf dem Wege hierher von einem Straßenhändler gekauft hatte. Häufig ließ er sie sinken und schaute bald nach der Uhr, bald nach der Treppe, die zu den oberen Stockwerken führte. Auf dem ersten Treppenabsatz hing ein breiter Wandspiegel, in dem er auch den höheren Teil der Treppe überblicken konnte.

Jetzt kam Susanne. Er sah es im Spiegel. Doch sie kam nicht allein, sondern mit einer andern Dame. Einen kurzen Blick nur warf er auf diese, dann hob er die Zeitung empor und verbarg sein Gesicht dahinter.

Susanne Rasmussen in Begleitung der Dimitriescu? War das junge Mädchen gleichfalls in das dunkle Treiben der Bande eingeweiht? Wußte sie um die üblen Machenschaften der Rumänin? Er konnte, wollte es nicht glauben. Und doch – wie war dieses Zusammensein anders zu deuten? Wie anders war die Tatsache zu erklären, daß Susanne allem Anschein nach sogar in ein freundschaftliches Gespräch mit der Dimitriescu verwickelt war? Verstohlen beobachtete er sie, während er sich selbst so gut wie möglich durch die Zeitung deckte. Jetzt hatten die beiden Frauen den Empfangsraum erreicht. Wie suchend sah sich Susanne um und schien nicht zu finden, was sie erwartete. Um so besser, dachte Gransfeld, wenn Susanne mich nicht sieht, dann wird mich die andere hoffentlich auch nicht entdecken.

Die Rumänin hatte sich inzwischen von Susanne verabschiedet und trat auf die Straße hinaus. Jetzt ließ Gransfeld die Zeitung sinken. »Guten Morgen, Fräulein Susanne. Wie freue ich mich, Sie wiederzusehen!«

»Ah, guten Morgen, Herr Doktor! In die ›Opinion‹ haben Sie sich eingewickelt? Da kann ich freilich lange nach Ihnen suchen.«

»Entschuldigen Sie, Fräulein Susanne! Das Versteckspiel hatte seine Gründe. Gestatten Sie mir eine Frage?«

Verwundert sah Susanne ihn an. »Sie reden in Geheimnissen, Herr Doktor Gransfeld. Ein Versteckspiel? Haben Sie sich etwa vor Frau Dimitriescu versteckt? Bitte, was wollten Sie fragen?«

»Gerade nach Ihrer Begleiterin wollte ich Sie einmal fragen, Fräulein Susanne. Sie nannten Sie ja wohl Frau Dimitriescu. Kennen Sie diese Dame eigentlich schon längere Zeit? Sind Sie gut bekannt mit ihr?«

Seine Frage schien Susanne zu verstimmen. Gemessen kam ihre Antwort. »Ich kenne Frau Dimitriescu erst seit kurzem und nur oberflächlich. Wenn ich es Ihnen offen sagen soll – sie ist mir wenig angenehm. Schon vom ersten Tage unserer Bekanntschaft an habe ich sie nicht recht leiden können, obwohl sie mir ja eigentlich nie etwas getan hat.«

»Oh, Fräulein Susanne, so etwas gibt es oft im Leben! Ein Mensch ist einem vom ersten Augenblick an angenehm oder unangenehm, ohne daß man die Gründe für diese Gefühle angeben könnte. Warum lassen Sie sich aber die Gesellschaft der Dame gefallen, wenn sie Ihnen unwillkommen ist?«

»Ja, Herr Doktor« – die Antwort Susannes kam in einem halb ärgerlichen, halb weinerlichen Tone – »die Dame ist die Witwe eines früheren Geschäftsfreundes meines Vaters. Mein Vater ist ihr jetzt bei ihrer Vermögensverwaltung behilflich, und deswegen ist sie in letzter Zeit häufig in unser Haus gekommen. Ich habe mich ihr gegenüber lange ablehnend verhalten, habe mich auch geweigert, Einladungen von ihr anzunehmen; aber man kann leider nicht immer so, wie man möchte.«

Armes Kind! dachte Gransfeld. Ein Glück für dich, daß du die Geschäfte dieser Dame nicht kennst. »Ich danke Ihnen für die freundliche Bereitwilligkeit, Fräulein Rasmussen, mit der Sie meine Frage beantwortet haben.«

»Jetzt habe ich aber auch etwas zu fragen, Herr Doktor. Warum haben Sie sich denn vorhin versteckt?«

Ihre Frage brachte Gransfeld in Verlegenheit. »Mein liebes Fräulein Susanne, nehmen wir einmal an, daß ich den begründeten Wunsch hatte, von Ihrer Begleiterin nicht gesehen zu werden.«

»Aber ich verstehe nicht, Herr Doktor. Welchen Grund könnten Sie haben, sich zu verstecken? Sie haben doch nichts zu verbergen?«

»Ich nicht, Fräulein Susanne, eher andere Leute. Ich bitte Sie, lassen Sie sich für heute daran genügen, wenn ich Ihnen sage, daß Ihre Abneigung gegen diese Rumänin nur allzu berechtigt ist.«

Der ernste Ton, in dem er die letzten Worte sprach, stimmte auch Susanne ernst. »Herr Doktor, Ihre Worte erschrecken mich. Seit ich diese Frau kenne, habe ich ein dumpfes Gefühl, daß sie einmal Unglück über unser Haus bringen könnte.«

»Hoffen wir, daß Ihre Ahnung Sie täuscht, Fräulein Susanne! Doch gehen wir zu etwas Erfreulicherem über! Ich bin heute früh bei Professor Morelle gewesen.«

»Ah, Herr Doktor, wie lieb von Ihnen! Sie waren bei ihm? Und Sie sagen, es ist etwas Erfreuliches?«

Gransfeld nickte. »Gewiß, soweit man es unter den obwaltenden Umständen verlangen kann. Ihr Herr Vater hat allerdings ein ziemlich weit vorgeschrittenes organisches Herzleiden – darüber dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben – aber Professor Morelle glaubt bestimmt, das Leiden zum Stillstand bringen zu können, und dann kann Ihr Vater steinalt damit werden.«

Susanne vermochte einen leichten Freudenschrei nicht zu unterdrücken. »Oh, mein Gott, wie danke ich dir! Dank auch Ihnen, mein lieber Herr Doktor, daß Sie mir diese Hoffnung bringen!«

Gransfeld sprach weiter: »Doch eins ist dabei notwendig: jede heftige Gemütsbewegung ist Gift für Ihren Vater und muß ihm ferngehalten werden. Wenn Ihnen das gelingt, Fräulein Susanne, dürfen Sie hoffen, ihn noch lange zu haben.« –

Während Susanne mit Gransfeld plauderte, war die Dimitriescu durch einen zweiten Eingang wieder in das Hotel zurückgekommen.

C. F. Rasmussen saß in seinem Zimmer am Schreibtisch, mit der Erledigung von Briefen beschäftigt, als es klopfte. »Herein!« Er wandte sich zur Tür. »Sie, Frau Dimitriescu? Ich glaubte Sie längst im Bon Marché. Was führt Sie noch einmal zurück?«

»Eine Sache, die Sie, Rasmussen, interessieren dürfte. Wissen Sie, mit wem Ihre Tochter Susanne seit einer Viertelstunde unten in der Empfangshalle zusammensitzt und – ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage: sich recht angeregt unterhält?«

Rasmussen schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, Frau Dimitriescu. Woher sollte ich das wissen?«

»Sie können es in der Tat nicht ahnen; aber eine nette Überraschung ist es, das kann man wohl sagen.«

Rasmussen war ungeduldig aufgestanden. »So sprechen Sie doch! Warum die lange Vorrede?«

»Weil – es Sie möglicherweise aufregen könnte. Mit Rücksicht auf Ihre Gesundheit habe ich es Ihnen bisher verschwiegen, daß Susanne bereits gestern abend im Foyer der Großen Oper mit diesem Doktor Gransfeld zusammen war.«

»Mit Gransfeld? Sie scherzen wohl, Frau Dimitriescu? Gransfeld steckt irgendwo in der Schweiz!« Er atmete schwer und ließ sich wieder in den Stuhl fallen.

»Leider nicht, Rasmussen; er ist hier. Er war gestern auch in der Oper und hat dort Susanne getroffen. Augenblicklich sitzt er unten in der Empfangshalle mit ihr zusammen.«

»Himmel!« Rasmussen war blaß geworden. Er griff nach dem Taschentuch und tupfte sich die Stirn ab.

»Es war meine Pflicht, ihnen das zu sagen, Rasmussen. Sie müssen ein Machtwort sprechen. Susanne Rasmussen und Doktor Gransfeld! Das wäre eine unmögliche Zusammenstellung. Reden Sie ernsthaft mit Susanne! Nötigenfalls müssen Sie Paris schnell verlassen.«

Sie war gegangen, ehe Rasmussen antworten konnte. Dieser preßte die Hände gegen das wild schlagende Herz. »Sollen meine Qualen nie ein Ende haben? Sollen sich die Sünden der Väter an den Kindern rächen? Himmel, was bin ich? Vor den Augen der Welt ein ehrbarer Kaufmann und in Wirklichkeit – das Mitglied einer Verbrecherbande, selbst ein Verbrecher.« Stöhnend schlug er die Hände vor das Gesicht. »Herr Gott im Himmel! Gibt es denn keinen Ausweg aus dieser Not? Mein Kind könnte vielleicht glücklich werden, mein einziges, liebes Kind. Ob der Doktor es ehrlich meint? Ein anständiger Mensch scheint er zu sein. Susanne, mein armes Kind, ich ahne es, ich weiß es, daß er dir nicht gleichgültig ist, und ich – meine Lage – es ist zum Verzweifeln.«

Die Erregung übermannte ihn. Er spürte einen neuen Anfall seines Leidens. Mit letzter Kraft griff er zu dem Fläschchen mit der heilkräftigen Arznei.

 


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