Hans Dominik
Moderne Piraten
Hans Dominik

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4. Von Gorla nach Genf

Ein ansehnliches Paket mit belegten Brotschnitten an der einen, die Kaffeeflasche an der andern Seite, stand Rudi zum Abmarsch bereit. »Auf Wiedersehen, Mutter Federsen!«

»Adjes ooch, Herr Wagner! Machen Se's gut und grüßen Se mir ooch den Herrn Rübesam recht scheene, wenn Se ihn sehen! Un kommen Se pünktlich heeme! Heut gibt's Thüringer Klöße und Schweinebraten zu Mittag.«

»Fein, Mutter Federsen! Da bin ich pünktlich.«

Rudi wollte gehen, aber die biedere Alte, die Witwe eines Werkarbeiters, bei der Rübesam Rudi eingemietet hatte, war mit ihrem Erguß noch nicht zu Ende. »Seien Se ooch recht vorsichtig, Herr Wagner, daß Ihnen nichts zustößt! Man hört alle Oogenblicke, daß wieder eener im Werk zu Tode gekommen is. 's muß doch recht gefährlich für Se sein, immer an die elektrischen Leitungen rumzuwürgen. Un in die Frühschicht hat man Se ooch noch gesteckt. In der soll gerade das meiste vorkommen, und bei Nacht und Nebel müssen Se schon aus den Federn.«

Lachend unterbrach Rudi den Wortschwall der Alten. »Ist ja alles nur halb so schlimm, Mutter Federsen. Heben Sie mir bloß ein ordentliches Stück Schweinebraten auf! Auf Wiedersehen! Ich muß machen, damit ich nicht zu spät komme.«

Er schritt in den nebligen Märzmorgen hinaus und ging die Landstraße entlang, über der in weiten Zwischenräumen die elektrischen Lampen schimmerten. Es war eben erst halb sechs. Noch lag volle Dunkelheit über der Landschaft. Kaum waren die kahlen Kronen der mächtigen Kastanien, die die Landstraße säumten, zu erkennen. Je weiter er voran kam, umso belebter wurde die Straße. Aus all den vielen Häuschen, die zu beiden Seiten lagen, kamen Leute der Frühschicht heraus und eilten ihrer Arbeitsstelle zu. In geschlossenem Strom floß die Menschenmenge schließlich durch das große Portal. Mit Argusaugen musterten die Pförtner jeden einzelnen der vielen Hunderte. Ein allgemeines Drängen und Stauen herrschte am den Kontrolluhren, wo jeder seine Arbeitskarte mit dem Zeitstempel versehen mußte. Dann verliefen sich die Massen in die verschiedenen Werkbauten.

Während Rudi sich den blauen Monteurkittel überstreifte, überlegte er, wie er mit seiner Beobachtung weiterkommen könnte. Auf die beiden Leute im Heroinsaal hatte er es besonders abgesehen. Er war überzeugt, daß es mit denen nicht stimmte. Aber wie sollte er ihnen auf die Schliche kommen? Das Versteck im Kessel – schade, daß Rübesam ihm dieses verboten hatte! Was er seitdem von andern Beobachtungsstellen aus erspäht hatte, war nicht allzu viel.

Mehrfach war eine der Lampen im Heroinsaal erloschen, so daß die Saalecke mit der Tablettier- und Packmaschine im Dunkeln lag. Das erstemal hatte Rudi es für eine zufällige Störung gehalten. Als sich dies jedoch auch an den folgenden Tagen wiederholte, hatte er es Rübesam gemeldet. Dieser schien jedoch keinen besonderen Wert darauf zu legen. »Das kann hunderterlei Gründe haben, Rudi. Vielleicht ist es ein wackliger Schalter oder ein schlechter Kontakt.«

»Ich kann die Schalter und Fassungen in dem Saal ja einmal überholen, Herr Rübesam.«

»Ach so, mein Junge, damit die beiden Leutchen dich da auf deiner Leiter recht gründlich betrachten können? Nein, mein Lieber, das laß gefälligst bleiben! Deine Aufgabe ist es, so unsichtbar wie möglich zu bleiben. Deine Erkundungen mußt du so machen, daß du dabei nicht gesehen wirst. Die Leitung werde ich durch jemand anders nachsehen lassen.«

Im stillen mußte Rudi sich eingestehen, daß Rübesam recht hatte, aber es wurmte ihn, daß er dabei nicht recht weiter kam.

Beobachten, ohne selbst gesehen zu werden! Das war leicht gesagt, doch schwer getan. Die verschiedensten Möglichkeiten gingen ihm durch den Kopf. Immer wieder kam er auf den Kessel zurück. Angenehm war der Aufenthalt in dem Schlammloch ja nicht, aber man konnte in diesem Versteck wenigstens mit großer Deutlichkeit jedes Wort und jedes Geräusch hören, das im Saal aufkam. Ein Fehler nur, daß er dabei nichts sehen konnte. Wenn's das gäbe, einen Platz, an dem er beides könnte; das wäre noch besser. Aber wie? Man würde etwas Neues suchen müssen. Wenn sich nichts Besseres fand, blieb immer noch der Kessel. Rübesams Verbot? Abah! Wenn's doch durchaus nicht anders zu machen war! Rudis Logik begann sich auf krummlinigen Bahnen zu bewegen. Verbote sind dazu da, um übertreten zu werden. Der Zweck heiligt die Mittel. Hauptsache, daß er mit seinen Beobachtungen voran kam. Allerdings, der Chemiker konnte so unbequem scharf blicken und fragen. Aber Doktor Gransfeld? Der würde sich freuen, wenn er nun bald zurückkam und Rudi ihm dann Neues und Wichtiges erzählen konnte. Gransfeld würde nicht viel danach fragen, wie er's erkundet habe. Nur eine gute Gelegenheit abgepaßt und dann: auf zur Tat! –

Im Heroinsaal waren Henke und Altmüller bei ihrer Arbeit. Henke ging zur Tür.

»Wohin willst du, Henke?«

»Nachsehen, ob der Bengel nicht rumschnüffelt.«

»Bengel? Rumschnüffelt? Was soll das heißen?«

»Soll heißen, daß die da eben es diesmal andersrum angestellt haben. Voriges Jahr haben sie einen ausgewachsenen Detektiv ins Werk gesteckt. Diesmal haben sie sich einen Säugling rangeholt.«

»Wen? – Was? – Wie?« stotterte Altmüller.

»Mensch, sei doch nicht so schwerfällig! Die Sache ist einfach die: Sie haben einen verdächtigen Bengel als Elektromonteur rausgeputzt und auf diese Art in das Werk gebracht. Der soll nun rauskriegen, was dem Detektiv aus Berlin vorbeigelungen ist. Na, der Lümmel ist uns von London sofort gemeldet worden; wir werden ihm sein Fett schon besorgen.«

Henke verschwand auf den Flur und zog die Tür hinter sich ins Schloß. Nach einer Weile kam er zurück. »So, Altmüller! Der Grünschnabel treibt sich anderswo rum. Die Luft ist rein. Ran an das Geschäft!«

Altmüller war totenblaß geworden. »Um's Himmels willen, Henke, du wirst doch nicht? Ein Detektiv im Werk! Man wird uns kappen. Meine arme Frau, meine Kinder!«

»Quatsch!« unterbrach Henke seinen schlotternden Kumpan grob und zog ihn am Ärmel mit sich. »Altes Tränentier, los jetzt!«

Vor dem Stahlrohr, das zur Tablettiermaschine führte, kniete Henke nieder und drückte Altmüller einen Leinenbeutel in die Hand. Er selbst fuhr mit einem Steckschlüssel an der untern Seite des Rohres entlang, bekam eine verborgene Schraube damit zu fassen und begann sie herauszudrehen. »Schnell den Beutel drunter!« zischte er.

Mit zittrigen Fingern hielt Altmüller den Beutel, während Henke mit einer letzten Drehung die Schraube entfernte. Das Heroinpulver fiel in den Beutel, anstatt weiter der Tablettiermaschine zuzufließen. Zusehends füllte sich der Beutel, wurde dick und straff.

»Genug, Altmüller!« Mit treffsicherem Griff hatte Henke die Schraube wieder in das Gewinde gebracht und drehte sie mit dem Steckschlüssel fest hinein.

Altmüller, den vollen Beutel in der Hand, blieb bei ihm stehen. Henke sah es, während er dabei war, den Fußboden von geringen Spuren des danebengefallenen Pulvers zu säubern. »Bist du verrückt, Mensch? Bleibst wie ein Ölgötze mit dem Beutel in voller Beleuchtung stehen! Dumm genug, daß wir das Licht nicht ausdrehen können. Seitdem sie die Leitung nachgesehen haben, können wir's nicht mehr wagen. Marsch, schnell, scher dich! Du weißt doch, wohin.«

Unter dem Zwange von Henkes Worten band Altmüller den Beutel zu und ging damit in die andere Saalecke hinter den leeren Kessel. Dort hatten sie unter einer lockeren Bodenfliese ihr Versteck für den entwendeten Stoff. Sorgfältig überputzte Henke mit einem Öllappen noch einmal die Umgebung der geheimen Zapfstelle. Dann ging er in die andere Saalecke zu Altmüller.

Da lag die Fliese herausgenommen auf dem Boden, der Heroinbeutel lässig hingeworfen daneben. Eine ungeheure Wut packte Henke, seine Fäuste ballten sich. Wollte der Schuft ihn verraten? War das eine abgekartete Sache? Sich auf ihn stürzen und ihn niederschlagen, das war sein erster Gedanke. Da traf sein Blick Altmüller. Zitternd vor Aufregung kniete dieser dicht neben dem leeren Kessel, das Ohr gegen die Kesselwand gepreßt.

Henke stutzte. Im Augenblick hatte er sich wieder in der Gewalt. Schnell brachte er den Beutel in das Versteck und legte die Fliese darüber. Dann wandte er sich zu Altmüller. Dieser preßte die Finger der einen Hand auf die Lippen und winkte ihm mit der andern, näher heranzukommen. Henke tat es. Jetzt! Was war das? Man vernahm ein Geräusch in dem Kessel. Im nächsten Augenblick lag auch sein Ohr an der Kesselwand. Mit verhaltenem. Atem lauschten beide. Ein scharrendes Geräusch ertönte darin, als ob sich jemand zwischen der Kesselwand und dem Rohrsystem im Kesselinnern bewegte. Jetzt erklang ein metallisches Dröhnen, wie wenn der Körper stärker gegen die Röhre angestoßen hätte. Nun verzog sich das Geräusch mehr nach der andern Kesselseite hin. Henke biß sich auf die Lippen, bis sie bluteten. Die andere Seite, dort war das Mannloch!

Mit einem Sprung war er auf den Füßen und lief um den Kesse! herum. Lautlos hob er den schweren Mannlochdeckel auf und schob ihn über die Befestigungsbolzen am Mannlochrand. Die Schraubenmuttern lagen in Griffweite, sechzehn Muttern für die sechzehn Bolzen. So schnell wie jetzt hatte Henke in seinem ganzen Leben noch nicht gearbeitet. Erst zwei Muttern auf zwei gegenüberstehende Bolzen! So, die saßen. Raus konnte das, was da drin war, nicht mehr. Und nun zwei andere Muttern auf einen andern Lochdurchmesser rechtwinklig zu dem ersten. Dann noch zwei und nochmal zwei, und nun saßen alle sechzehn. Er griff nach einem Schraubenschlüssel und zog sie fest an.

Klirrend ließ er den Schlüssel auf die Fliesen fallen und lief wieder zur andern Kesselseite hin. Dort war ein Rohr mit einem Ventil daran. Beim Klang des eben fallenden Schlüssels war Altmüller zusammengefahren. Er richtete sich auf, als die Ventilspindel unter Henkes Fäusten sich zu drehen begann, als Wasser rauschend in den Kessel fiel. »Henke, was tust du? Um's Himmels willen!« Er versuchte Henke in den Arm zu fallen.

Mit jähem Stoß schleuderte der ihn zurück, daß er taumelte. »Pack dich! Sonst . . .« Er griff nach einer Brechstange. Drohend schwang er sie empor, bereit, den andern niederzuschlagen. Dieser wich zurück, entsetzt vor dem Gesichtsausdruck Henkes. Wie versteinert waren dessen Züge, alles Menschliche schien aus ihnen gewichen. Ein finsterer, zu allem entschlossener Fanatismus sprach aus diesen Augen, Augen, die die Augen – eines Mörders waren.

Das Wasser stieg; schon hatte es im Wasserstandsglas die rote Marke erreicht. Mechanisch wie ein Automat drehte Henke das Ventil mit der Linken zu, während er, die Brechstange in der Rechten, Altmüller nicht aus den Augen ließ. Das Rauschen des strömenden Wassers ließ nach. An Henkes Ohr, der dicht bei dem Kessel stand, drang ein anderes Geräusch, ein Plätschern, ein Kratzen und Scharren, als ob da drinnen sich jemand vor dem Wasser nach oben retten wollte. Henke horchte. Er schien zu zögern. Dann verzerrten sich seine Züge zur Grimasse. Ein schneller Sprung zu einem andern Ventil, und Dampf strömte in den Kessel. Ein Pfeifen, Gurgeln und Rauschen, wo Heißdampf und kaltes Wasser sich trafen. Schon begann das Kesselmanometer steigenden Druck zu zeigen. Da, hatte es nicht wie ein Schrei aus dem Kessel geklungen, wie der Schrei eines lebenden Wesens in höchster Todesnot? Einen Augenblick schien Henke zu wanken, sich an dem Ventil festhalten zu müssen. Dann stand er wieder aufrecht und regungslos wie eine Statue. Nur die Augen in dem bleichen, starren Gesicht folgten dem Manometerzeiger, der schnell und immer schneller stieg. Acht Atmosphären! – Zehn Atmosphären! Seine Hand ließ den Ventilgriff fahren. Immer noch die schwere Stange in der Rechten, ging er auf Altmüller zu, der ihn wie geistesabwesend anstarrte, Schritt für Schritt vor ihm zurückwich, weiter, immer weiter, bis die Saalwand ihn zum Halten zwang. »Laß mich, Henke! Laß mich! Ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr!«

»Narr, verdammter Narr, du! Was weichst du mir aus?«

»Der Kessel, Henke!« Mit bebenden Fingern wies Altmüller dorthin.

»Der Kessel? Bist du denn ganz toll geworden? Was ist los mit dem Kessel?«

»Der Kessel! Du hast . . .« Drohend schwebte die Brechstange über Altmüllers Kopf. »Was habe ich? Nichts habe ich! Oder . . .!«

Wie zum Schlage hob sich die Stange.

Abwehrend streckte Altmüller die Hände aus. »Nicht schlagen, Henke, nicht schlagen!«

»Hast du etwas gesehen?«

Altmüller flimmerte es vor den Augen. In tausend Spiegelungen brach sich das Licht der Lampen an den scharfen Kanten der stählernen Brechstange. »Nein, Henke, ich habe nichts gesehen.«

Die Stange senkte sich, stieß hart auf die tönenden Fliesen. Ein heiseres Lachen kam aus Henkes Kehle. »Nichts gesehen, Altmüller? Recht so, alter Junge! Das ist vernünftig von dir. 's ist nicht gesund, wenn man hier zu viel sehen will – oder hören.«

Henke ging an einen Schrank und kam mit einer Flasche zurück. Er riß den Pfropfen heraus und tat einen kräftigen Zug. »Nimm auch mal einen ordentlichen, Altmüller, damit du auf vernünftige Gedanken kommst!« Er drückte dem Widerstrebenden die Flasche an die Lippen. »Nimm, Mensch! Wirst du schlucken?«

Erst nachdem der andere kräftig getrunken hatte, ließ Henke von ihm ab. Der scharfe Branntwein machte Altmüllers Augen tränen und trieb ihm das Blut in die Wangen.

»So, Altmüller, nun gefällst du mir besser. Jetzt bist du wieder ein ganz anderer Mensch.«

Erst nach mehrfachem Räuspern und Husten konnte Altmüller wieder reden. »Aber, Henke . . .«

»Was denn, Altmüller?«

»Henke, wenn man den Kessel demnächst wieder aufmacht, dann wird . . .«

»Schafskopf! Vor drei Wochen wird der nicht wieder geöffnet.«

»Aber dann, Henke? In drei Wochen, dann wird man . . .«

»Dämlicher Schafskopf! Wände kann man mit dir einrennen. Hier! Trink erst noch mal! So! Laß dir erzählen! Bei Blohm & Voß in Hamburg, da hat mal ein Monteur seine Tasche mit Werkzeug und Frühstück im Kessel liegen lassen. Als er sie vermißte, war der Kessel schon wieder unter Dampf. Erst vierzehn Tage später wurde der Kessel stillgesetzt, und der Mann konnte nach seiner Tasche suchen. Das eiserne Werkzeug hat er auf dem Kesselboden auch gefunden, aber die schwere rindslederne Tasche, Altmüller, und das Frühstück, einschließlich der Karbonadeknochen, Altmüller, davon war nicht mehr so viel« – er schnippte mit Daumen und Zeigefinger – »nicht mehr so viel vorhanden. Dampf und Heißwasser von zehn Atmosphären vierzehn Tage lang, das reicht, Junge! Da bleibt nichts übrig.«

Henke stellte die Flasche in den Schrank zurück und regulierte an dem Teil der Anlage, für den er verantwortlich war. Altmüller fühlte sich unter dem Einfluß des starken Alkohols angenehm duselig und gleichgültig. Was ging's ihn an, was Henke machte oder gemacht hatte? Er versuchte sich um seine Maschinen zu kümmern. Ein Glück, daß die auch ohne seine Hilfe liefen! Bei Beendigung der Frühschicht mußte Henke den Schnarchenden erst wecken. –

Als Henke gegen Abend am Konsumverein vorbeikam, lief ihm die alte Federsen über den Weg.

»Na, Mutter Federsen, immer noch rüstig zu Wege? Wie geht's denn?«

»Schlecht, Herr Henke, ach, so schlecht!« Die Alte sah vergrämt aus.

»Nanu, Mutter Federsen, was habt Ihr denn für einen Kummer?«

»Ach, Herr Henke, der junge Wagner, der bei mir wohnte, so'n netter junger Mensch, immer so fidel, der is nu wohl ooch zu Schaden gekommen!«

Henke schüttelte den Kopf. »Zu Schaden gekommen? Glaube ich nicht, Mutter Federsen, sonst hätte man doch im Werk irgend etwas gehört. Wer weiß, wo der Bengel sich rumtreibt!«

»Nee, nee, Herr Henke« – die Alte fuhr sich mit einem Taschentuch über die Augen –, »des war een solider junger Mensch. Und grad heute, wo's Schweinebraten bei mir gab und Thüringer Klöße, Herr Henke – nee, nee, da wäre er bestimmt nach Hause gekommen.«

Henke überlegte ein Weilchen. »Habt Ihr Euch denn schon im Werk erkundigt, Mutter Federsen?«

»Ja freilich, Herr Henke! Beim Herrn Rübesam bin ich gewesen.«

»So, bei Rübesam? Was hat denn der gesagt?«

»Der hat immer bloß den Kopp geschüttelt und hat een sehr ernstes Gesicht gemacht. Un denn hat er gemeint, man müsse abwarten.«

»Na also, Mutter Federsen, da sehen Sie's ja! Der Bengel treibt sich irgendwo rum. Wenn ihm was zugestoßen wäre, müßte es Rübesam wissen. Warten Sie nur ab! Wer an Schweinebraten gewöhnt ist, kommt wieder.«

Die Alte seufzte. »Ich gloob's nich mehr, Herr Henke. Bis heute abend um achte hab ich's ja ooch noch gegloobt. Aber da is der Herr Rübesam selber noch mal zu mir gekommen un hat in dem Rudi seinen Sachen gekramt. Un als er denn weggegangen is, da hat er gesagt: ›Mutter Federsen‹, hat er gesagt, ›'s kann vielleicht ne Zeit dauern, bis der Junge wiederkommt.‹ Nu gloob ich's nich mehr, Herr Henke; 's muß wohl doch was vorgekommen sein. Adjes ooch, Herr Henke!«

Die Alte ging die Straße weiter. Henke pfiff nachdenklich durch die Zähne. Hatte das was zu bedeuten? Möglicherweise war das Fehlen Wagners schon um zwei Uhr beim Schichtwechsel an der Kontrolluhr aufgefallen. Auf jeden Fall hatte Rübesam durch die Erkundigung der alten Federsen davon erfahren und nun zweifellos an der Kontrolluhr festgestellt, daß Wagner nicht aus dem Werk gegangen war. Bis dahin war alles klar. Aber warum war Rübesam jetzt noch einmal gekommen und hatte Wagners Sachen durchsucht? Vielleicht hatte das eine ganz harmlose Ursache. Aber Henke vermochte sie nicht zu finden. In Gedanken verloren ging er weiter. Plötzlich blieb er stehen und schlug sich vor die Stirn. Warum war er nicht gleich darauf gekommen? Das war doch das Einfachste, und Nächstliegende. Natürlich mußte Rübesam annehmen, daß die Gegenseite etwas gegen den Spion unternommen hatte. Selbstverständlich mußte Rübesam damit rechnen, daß die Gegenseite versuchen könnte, die Sachen Wagners auf irgendwelche Aufzeichnungen hin zu durchsuchen. Dem war Rübesam eben einfach zuvorgekommen und hatte selbst in der Sachen »gekramt«, wie die alte Federsen sich ausdrückte.

Erleichtert ging Henke weiter. Überflüssige Mühe, Herr Rübesam! Die Gegenseite hat an den Lumpen dieses Bengels kein Interesse mehr.

*

Monsieur Duprès, der Direktor des Musée des Arts in Genf, kam mit einem ansehnlichen Folianten an den Tisch zurück. »Ich sehe mit Vergnügen, Herr Doktor, daß ich in Ihnen einen hervorragenden Kenner der altägyptischen Kunst vor mir habe. Es ist mir eine Ehre, Ihnen dieses Album vorzulegen. Hier haben wir die Photos aller Stücke aus unserm Besitz.« Er schob das aufgeschlagene Buch zu Gransfeld hin.

Dieser ließ die Seiten durch die Finger gleiten und blätterte, als suche er etwas. »Vorzüglich, Herr Direktor! Manches größere Museum kann Ihr Institut um diesen Besitz beneiden. Indes, ich vermisse – suche vergeblich . . . Ich las vor längerer Zeit in Deutschland von Ihrer neuesten Erwerbung. Wenn ich mich recht erinnere, sollte es eine Statuette des Sethos sein.«

»Das eilt den Tatsachen voraus, Herr Doktor«, unterbrach ihn der Direktor. »Eine solche Statuette wurde uns in der Tat angeboten, aber der Preis, der ungewöhnlich hohe Preis! Die Mittel unseres Institutes sind nicht unbeschränkt. Wir konnten nicht sofort handelseinig werden und haben uns Bedenkzeit ausgebeten.«

»Schade, Herr Direktor! Gerade die Statuette – soviel ich darüber weiß, muß sie ein hervorragendes Kunstwerk sein – gerade diese Statuette hätte ich gern gesehen.«

Der Direktor erhob sich. »Einen Augenblick, mein Herr! Wenigstens im Bild kann ich sie Ihnen zeigen. Wir haben sie während der ersten Verhandlungen photographiert.« Er kehrte mit einigen Photos zurück, die er vor Gransfeld ausbreitete.

Aufmerksam betrachtete der Doktor die Bilder. Dann sprach er, während er langsam den Kopf wiegte: »In der Tat, das ist die Statuette.«

»Wie meinen Sie, Herr Doktor? Sie kennen das Kunstwerk?«

Gransfeld zog seine Brieftasche, aus der er zwei kleinere Photos entnahm und vor den Direktor hinlegte.

Nach einem Blick darauf sprang Monsieur Duprès mit der Lebhaftigkeit des Franzosen auf. »Rätselhaft, Herr Doktor, unerklärlich! Sie besitzen ebenfalls Photographien? Gar kein Zweifel, es ist dieselbe Statuette wie auf unsern Photos. Wie der Händler versicherte, hat er die Statuette geradeswegs aus Ägypten gebracht.«

»Man kann auch in Ägypten photographieren, Herr Direktor«, unterbrach ihn Gransfeld. »Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, daß meine beiden Photos in Syut in Ägypten aufgenommen worden sind.«

»In Syut, Herr Doktor? Merkwürdig! Der Händler, eine ernstzunehmende Persönlichkeit, erzählte, daß er sie in Assuan erworben und auf schnellstem Wege nach Europa gebracht habe.«

»Ganz so schnell dürfte es nicht gegangen sein, Monsieur Duprès, denn die Bilder in Syut wurden bereits vor längerer Zeit gemacht. Doch lassen wir das! Für mich ist es besonders wichtig, daß auch Sie die Bilder für identisch halten.«

»Für identisch? Es sind doch verschiedene Aufnahmen der Statuette.«

»Sie mißverstehen mich; ich meine, daß alle diese Bilder ein und dasselbe Kunstwerk zeigen. Oder würden Sie es für möglich halten, daß zwei Statuetten der gleichen Art von solcher Ähnlichkeit, um nicht zu sagen Gleichheit, vorhanden sein können?«

Der Direktor schüttelte den Kopf. »Das halte ich für ausgeschlossen. Es müßte denn geradezu sein, daß Ihre Photos nach einer Kopie oder, sagen wir deutlicher, einer Fälschung aufgenommen sind, denn die Statuette, die uns hier gezeigt wurde, war zweifellos echt.«

Onkel Georg hat sicherlich auch keine Fälschungen gekauft, dachte Gransfeld bei sich. Laut fuhr er fort: »Ich glaube gute Gründe zu haben, daß auch meine Bilder ein echtes Kunstwerk darstellen. Darüber würde ich mich gern mit Monsieur Megastopoulos unterhalten, wenn er wieder hierher kommt.«

»Megastopoulos? Ah, Herr Doktor, Sie kennen den Herrn? Doch woher wissen Sie, daß er es war, der uns die Statuette anbot? Er legte Wert darauf, daß sein Name in den Pressenachrichten über diesen Handel nicht genannt würde.«

»Ich kenne ihn von Ägypten her, Herr Direktor. Meine Vermutung, daß er Ihnen das Angebot machte, trifft also zu. Darf ich fragen, wann Sie ihn wieder erwarten?«

Duprès blätterte in einem Kalender. »Heute haben wir Donnerstag.« Er zählte an den Fingern. »Sonntag – Montag; er müßte nach der Verabredung am Montag wieder hier sein. Hoffentlich hat er sich die Sache inzwischen überlegt und läßt vom Preise etwas ab. Seine Forderung ist für unser Institut unerschwinglich.«

Gransfeld schrieb seine Hoteladresse auf und gab sie Duprès. »Ich wäre Ihnen für eine Benachrichtigung dankbar, Herr Direktor, wenn Monsieur Megastopoulos wieder hier ist.« Als Gransfeld ein leichtes Zögern bei dem andern bemerkte, fügte er hinzu: »Sie brauchen in mir keinen Nebenbuhler zu wittern, Herr Direktor, der Ihnen das Kunstwerk abspenstig machen will. Lediglich der Wunsch, Herrn Megastopoulos wiederzusehen, veranlaßt mich zu der Bitte.«

Ein kurzer Abschied noch, und der Doktor kehrte in seinen Gasthof zurück. Wie vor kurzem Monsieur Duprès, zählte er jetzt an den Fingern. Vier lange Tage waren es noch bis zur Rückkehr dieses verdächtigen Griechen. Er hatte wenig Lust, diese Zeit über untätig in Genf zu sitzen.

Von allen Seiten her winkten und lockten ja die schneeigen Gipfel der Alpenwelt. In Rudeln zogen die Touristen mit ihren Skiern in die Berge. Warum sollte er's nicht ebenso machen? Der Plan für einen dreitägigen Ausflug war schnell zusammengestellt. Mit dem Dampfboot wollte er von Genf nach Nyon und von dort eine Wanderung über die Berge unternehmen. In zwei Tagen konnte er das neue Almhotel am Hange des Mont Tendre bequem erreichen, am dritten Tag dann zu Tal bis nach Ouchy marschieren und von da mit dem Dampfboot nach Genf zurückkehren. Kurz entschlossen besorgte er sich Skier. Schon mit dem ersten Boot, das am Freitagmorgen abging, verließ Gransfeld Genf.

Am Sonnabendnachmittag zog er auf den Schneehängen des Mont Tendre in nordwestlicher Richtung dahin. Auf die winterliche Landschaft brannte die Sonne mit fast tropischer Kraft vom stahlblauen Himmel herab. Ein blendendes Flimmern und Schimmern herrschte auf der weiten, weißen Fläche, das nur die dunkle Schneebrille erträglich machte. Gransfeld wurde es warm, während er Kilometer um Kilometer auf den langen Brettern über die glatte Bahn dahinglitt.

Bei diesem flotten Tempo war es höchstens noch eine Stunde bis zum Hotel de Montagne, überreichlich Zeit also. Er beschloß, eine Rast zu machen, und sah sich nach einem passenden Ruhepunkt um. Schräg vor ihm lag eine mächtige Schneewächte, darunter, soweit er erkennen konnte, ein größerer, schneefreier Fleck. Das war ein idealer windgeschützter Platz, um sich zu strecken und zu sonnen. Er steuerte darauf zu.

Je näher er kam, desto deutlicher traten die Einzelheiten hervor. Kleine Steine wuchsen zu großen Blöcken, und dort . . . Er schob die Schneebrille auf die Stirn und schloß einen Augenblick, von der Helligkeit geblendet, die Augen. Dann schaute er schärfer hin. Saß da nicht schon jemand, irgendein anderer Tourist, der schon vor ihm die vorzüglichen Eigenschaften des Ortes als Raststelle erkannt hatte? Nun, der Platz war groß genug, um mehreren Raum zu bieten.

Jetzt hatte er die Schneegrenze erreicht und löste die Skier von den Füßen. Langsam trat er näher. Ein junges Mädchen, etwa zwanzigjährig, saß dort allein. Ihr Gesicht war bleich, und nur schwach erwiderte sie seinen Gruß. Ihre Skier lagen neben ihr, der eine davon war zerbrochen. Gransfeld sah, daß das Mädchen Schmerzen litt. In kurzen Worten stellte er sich als Arzt vor und erfuhr, was geschehen war.

Die junge Dame, Susanne Rasmussen aus Hamburg, hatte mit einer Pensionsfreundin eine Skitour auf den Mont Tendre unternommen. Plötzlich war sie auf ein unsichtbares Hindernis gestoßen, einen unter dem Schnee verborgenen Stein. Der eine Ski zerbrach daran. Sie selbst war gestürzt. Vor zwei Stunden war dies geschehen. Mit Mühe hatte die Freundin sie bis hierher gebracht und war dann nach dem Hotel de Montagne geeilt, um Hilfe zu holen.

Gransfeld bot Susanne Rasmussen seinen ärztlichen Beistand an. Mit größter Vorsicht entfernte er den Stiefel von dem verletzten Fuß und fand den Knöchel stark geschwollen. Als er ihn abtastete und ein paarmal kräftig bewegte, konnte sie einen Schrei nicht unterdrücken.

»Mut, gnädiges Fräulein!« tröstete er. »Ich mußte Ihnen bei der Untersuchung weh tun. Dafür wissen wir jetzt, daß nichts gebrochen ist; es ist nur eine Muskelzerrung. Sie brauchen vollkommene Schonung, und in acht Tagen kann alles wieder gut sein. Aber kühlen wollen wir sofort.« Er ging und brachte seine Mütze mit Schnee gefüllt zurück. Mit einigen Tüchern, die er seinem Rucksack entnahm, legte er einen Schneeverband um das verletzte Glied.

»Keine unnützen Sorgen, gnädiges Fräulein!« suchte Gransfeld seine Patientin zu beruhigen, die immer noch recht schwach schien. »Ich werde selbstverständlich bei Ihnen bleiben, bis die Träger kommen.«

Wohltuend spürte Susanne die Kälte des schmelzenden Schnees, die den Schmerz allmählich betäubte. Ein Stärkungsmittel, das Gransfeld aus seinem Rucksack hervorholte, tat das übrige. Das Blut kehrte ihr in die Wangen zurück, die Schwäche wich, und bald war ein angeregtes Gespräch zwischen beiden im Gang. Von ihrer früheren Pensionszeit in Lausanne erzählte sie; daß sie von Hamburg hierher gekommen sei, um an der Hochzeit einer Freundin teilzunehmen. Dann sprang die Unterhaltung auf Hamburg über, wo ihr Vater ein großes Ausfuhrgeschäft hatte. Wie im Fluge verstrich die Zeit darüber. Ehe beide es sich versahen, kam die Freundin mit den Trägern vom Hotel zurück.

Gransfeld griff kräftig mit zu. Er half die Patientin auf die Bahre betten und erneuerte den kühlenden Schneeverband. Dann brachen sie auf. Viel langsamer ging es als auf den Skiern, und erst bei einfallender Dämmerung erreichten sie das Hotel. Hier sorgte Gransfeld für eine zweckmäßige Lagerung seiner Patientin und gab Vorschriften für die Behandlung, bevor er sich auf sein Zimmer zurückzog.

Mancherlei Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er allein war. Rasmussen? Ausfuhrgeschäft? Hamburg? In Susannes Gegenwart hatte er nicht daran gedacht. Erst jetzt kam ihm die Erinnerung, daß der Name Rasmussen in Hamburg schon einmal sein Interesse erregt hatte. Sein Interesse? Nein, seinen Verdacht! Rasmussen? Ein Name, der an der Wasserkante hundertmal vorkam. Es war nicht sicher, ja nicht einmal wahrscheinlich, daß jener Rasmussen in Hamburg der Vater seiner Patientin war. Susanne die Tochter eines Mannes, der vielleicht zu dieser internationalen Bande gehörte? Das war doch ganz unmöglich! Als unsinnig verwarf er den Gedanken.

*

Ein Brief mit dem Poststempel Gorla kam in der Picadilly-Street in London an. Er war in einer Chiffre geschrieben. Nur die Wissenden der Organisation, die den Schlüssel dazu besaßen, konnten ihn lesen. X. C. 17 – neben dieser Chiffre stand der Name Henke im Schlüssel – meldete in diesem Brief: »Der Fall des früheren Stewards Wagner ist erledigt. Doktor Gransfeld ist nach Genf gefahren und wohnt im Hotel du Lac.«

Ein anderer Brief in der gleichen Chiffre ging von der Picadilly-Street nach Harvestehude in Hamburg. Er enthielt einen Befehl des Chefs an Rasmussen. »Fahren Sie sofort unauffällig, unter dem Vorwand, Ihre Tochter zu besuchen, nach Genf! Steigen Sie im Hotel du Lac ab! Behalten Sie den dort wohnenden Doktor Gransfeld im Auge! Warten Sie neue Weisungen ab!«

Als C. F. Rasmussen den Brief gelesen hatte, setzte er sich unverzüglich auf die Bahn.

Am Montagmittag telephonierte Gransfeld Duprès an, ob Monsieur Megastopoulos sich bereits angesagt habe.

Die Antwort des Direktors enttäuschte ihn. Von Monsieur Megastopoulos war ein Brief aus Paris gekommen, in dem er sich mit ziemlich nichtssagenden Gründen und auf ungewisse Zeit entschuldigte. Das einzige Ergebnis dieser Telephonunterhaltung war die Pariser Adresse des Griechen, die Gransfeld sich in sein Notizbuch schrieb.

Verstimmt ging er in den Speisesaal. Während die Suppe vor ihm stand, begann er zu überlegen. Sollte er hierbleiben? Das war zwecklos. Sollte er nach Paris fahren und den Griechen dort zu fassen versuchen? Das war ein Weg, der vielleicht zum Erfolg führen konnte. Oder sollte er nach Gorla zurückkehren und dort zusammen mit Rübesam von der Bande fassen, was zu fassen war? Auch dies wäre eine Möglichkeit gewesen. Doch die Frucht schien ihm noch nicht reif zum Pflücken. Als das Essen mit Kaffee zu Ende ging, hatte er immer noch keinen Entschluß gefaßt.

»Monsieur le docteur Gransfeld!« Der Ruf riß ihn aus seinem Sinnen. Ein Hotelpage legte ein Telegramm vor ihn hin. Gransfeld öffnete es. Es war von Rübesam aus Gorla. Gransfeld las, schüttelte den Kopf, las zum zweiten, zum dritten Male und steckte das Telegramm endlich kopfschüttelnd in die Tasche.

Um drei Uhr ging Gransfeld zum Bahnhof. Seine Unruhe hatte ihn viel zu früh auf der Weg getrieben. Eine gute halbe Stunde blieb noch bis zur Ankunft des Schaffhausener Zuges. Ungeduldig lief er auf dem Bahnsteig hin und her. Unendlich langsam schien ihm der Minutenzeiger der Bahnuhr über das Zifferblatt zu schleichen. Schon zum zehnten Male besah er sich die Auslagen am Zeitungsständer, um die Zeit totzuschlagen.

Lärm von dem übernächsten Bahnsteig her rief ihn aus dieser Beschäftigung. Dort fuhr soeben der Pariser Schnellzug ein. Bremsen knirschten, Türen wurden aufgerissen, Rufe nach Gepäckträgern erfüllten die Halle. Im Augenblick war der Bahnsteig schwarz von Menschen. Ohne besonderes Interesse schaute Gransfeld auf das Gewimmel. Doch plötzlich wurden seine Augen weit. In der Menge dort sah er eine Dame, die ihm bekannt vorkam. War das nicht die verdächtige Rumänin aus Hamburg, diese Madame Dimitriescu? Jetzt war sie schon wieder in der Menge untergetaucht. Umsonst blieb Gransfelds Bemühen, sie wieder zu entdecken. Doch er glaubte seiner Sache ganz sicher zu sein.

Die Dimitriescu in Genf? Der Grieche war hier gewesen, würde vielleicht bald wiederkommen. War's Zufall, war's Verabredung? Unsinn! Du siehst Gespenster am lichten Tage, suchte er sich selbst zu widerlegen. Und Rasmussen? fuhr's ihm im gleichen Augenblick durch den Kopf. Unsinn! Was hat das Mädchen mit den andern zu tun? Nichts! In halblautem Selbstgespräch waren ihm die Worte über die Lippen gekommen.

Die Reisenden des Pariser Zuges hatten sich allmählich verlaufen, und die Zeit war darüber verstrichen. Noch fünf Minuten. Gransfeld verglich seine Taschenuhr mit der Bahnuhr und besah sich zum elften Male die Ansichtspostkarten am Zeitungsstand. Endlich! Der deutsche Zug rollte in die Halle. Gransfeld stellte sich am Ausgang auf und schaute nach rechts und nach links. Vergebens! Er konnte in der vorbeiwogenden Menge nicht entdecken, was er suchte.

Da hörte er plötzlich eine bekannte Stimme dicht neben sich. »Herr Doktor, Herr Doktor, da bin ich!«

Gransfeld schüttelte dem Sprecher beide Hände. »Rudi! Junge, warum kommst du nach Genf? Was ist denn los? Aus Rübesams Telegramm bin ich nicht klug geworden.«

»Herr Rübesam hat mich hierher geschickt, Herr Doktor. Er hat mir einen Brief mitgegeben.« Rudi schlug sich auf die Brusttasche, in der es knisterte.

»Nicht hier, Rudi. Komm erst mit zum Hotel! Da mußt du mir alles erzählen, und ich werde den Brief lesen.«

Doch wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Schon während sie den Bahnhof verließen, begann Rudi zu erzählen. »Ja, so war's, Herr Doktor. Ich hatte mir überlegt, ob ich nicht doch noch einmal in den Kessel kriechen sollte.«

»Junge! Herr Rübesam hat es dir doch streng verboten!«

»Ich hab's ja auch nicht getan, Herr Doktor. In dem Flur nebenan, wo ich die Isolatoren für die neue Leitung in die Wand zu setzen hatte, habe ich den einen Isolator ein bißchen tief hineingeschraubt, und das hat dann ein Loch gegeben. Ich merkte es erst, als ich ihn wieder herausschraubte. Leider war's nur klein. Ich konnte bloß einen geringen Teil des Heroinsaales übersehen, aber ich konnte doch wenigstens etwas sehen und außerdem hören.«

»Weiter, Rudi! Was ist dann weiter geschehen?«

»Etwas ganz Merkwürdiges, Herr Doktor. Ich konnte durch das Loch nur die Saalecke mit dem leeren Kessel beobachten, in dem ich damals gesteckt hatte. Da kommt plötzlich Altmüller, kniet vor dem Kessel hin, horcht daran und fängt an, sich wie ein Verrückter zu benehmen. Dann kam Henke nach, und der trieb es noch viel blödsinniger. Er schraubte plötzlich den Mannlochdeckel an und ließ Wasser und Dampf in den Kessel.«

Gransfeld war blaß geworden. »Rudi, Junge, die haben dich in dem Kessel vermutet! Wenn du da drin gesteckt wärest, nichts wäre von dir übriggeblieben.«

»So etwas Ähnliches habe ich mir ja auch schon gedacht, Herr Doktor, und Herr Rübesam meinte es ebenfalls. Aber«, Rudi versuchte zu lachen, »die haben sich eben geirrt, und ich weiß auch, was es gewesen ist.«

»Was es gewesen ist? Rudi. Mensch, sprich doch! Du kannst einen mit deiner Art zu erzählen auf die Folter spannen.«

»Hahaha, Herr Doktor!« Jetzt lachte Rudi wirklich laut und herzlich. »Eine Ratte muß es gewesen sein, die sich da in den Kessel verirrt hat. Von den Viechern gibt's mehr als genug in den Werken, obwohl überall Fallen gestellt sind. Eine ganz gemeine Ratte muß es gewesen sein, die da in den Kessel geraten ist und Lärm gemacht hat.«

»Weiter, Rudi, weiter!« drängte Gransfeld. »Was hast du danach gemacht?«

»Ja, Herr Doktor, ich konnte ja nicht bloß sehen, sondern auch hören, und da hatte ich schon gleich zu Anfang gehört, daß die beiden in dem Saal genau über mich Bescheid wußten.«

»Also doch wieder verpfiffen!« rief Gransfeld.

»Verpfiffen, Herr Doktor. Die Leute wußten genau über mich Bescheid und über den Berliner Detektiv vom vorigen Jahr auch. Da bin ich denn gleich in die Wohnung von Herrn Rübesam gegangen und habe ihm die ganze Geschichte erzählt.«

»Und was hat Herr Rübesam getan?«

»Herr Rübesam hat den Kopf geschüttelt und mich gar nicht mehr aus dem Zimmer gelassen. Ich mußte in seiner Wohnung bleiben. Er selbst ist am Abend noch einmal fortgegangen und hat meinen Paß und meine Papiere bei Frau Federsen geholt. Dann haben wir zusammen Abendbrot gegessen.«

»Weiter, weiter! Das Abendbrot interessiert mich nicht.«

»Als es dann Nacht geworden war, ist Herr Rübesam mit mir durch das Werk bis zum Nordtor gegangen. Das ist das Tor, durch das die Geleise vom Bahnhof her ins Werk laufen. Herr Rübesam hatte die Schlüssel dazu. Er hat aufgeschlossen und ist mit mir immer an den Geleisen entlang bis zum Bahnhof gegangen. Da hat er mir gleich die Fahrkarte nach Genf gekauft, mir noch Reisegeld und den Bericht für Sie mitgegeben. Dann kam der Zug schon. Er rief mir noch nach, er werde an Sie telegraphieren. Ja, das ist alles. Und da bin ich nun eben hier, Herr Doktor.«

Sie hatten während der letzten Worte das Hotel erreicht und waren auf Gransfelds Zimmer gegangen. Der Doktor klingelte und ließ für Rudi erst einmal Abendbrot bringen, über das sich dieser wie ein ausgehungerter Wolf hermachte. Währenddessen las Gransfeld den Brief Rübesams. Er enthielt die Bestätigung alles dessen, was Rudi ihm soeben erzählt hatte. Es konnte danach keinem Zweifel mehr unterliegen, daß die Bande über jeden gegen sie geplanten Schritt genau unterrichtet war und daß ihre Mitglieder offenbar vor keinem Mittel zurückschreckten. Nachdenklich faltete Gransfeld den Brief wieder zusammen.

Am nächsten Tage wurde Gransfeld ans Telephon gerufen. »Hallo! Hier Duprès. Monsieur Megastopoulos hat heute geschrieben, daß ich ihn im Laufe der nächsten Woche bestimmt erwarten darf.«

Gransfeld bedankte sich für die Mitteilung und hängte den Hörer wieder an.

Zu derselben Zeit saß der Grieche keine hundert Meter von Gransfeld entfernt im »Hotel des Etrangers«, einem bescheidenen Hause dritten Ranges, und mit ihm zusammen saßen Mister Morton, Herr C. F. Rasmussen und Frau Dimitriescu. Vier Mitglieder der Organisation waren beisammen, um Entschlüsse zu fassen.

»Daß der Doktor hinter uns her spioniert, steht außer Zweifel«, begann der Grieche. »Er ist auch bei Duprès gewesen. Mein Mittelsmann, einer der Museumsbeamten, hat mich darüber genau unterrichtet. Doktor Gransfeld hat bei dieser Unterredung ein auffälliges Interesse für meine Person an den Tag gelegt.«

»Das haben Sie sich selber zuzuschreiben«, rief Morton knurrend dazwischen. »Die ganze Geschichte haben wir Ihrer Vorliebe für überflüssige Privatgeschäfte zu verdanken.«

»Ihre Vorwürfe haben keinen Zweck, Mister Morton«, warf die Dimitriescu ein.

»Immerhin, mein lieber Morton«, verteidigte sich der Grieche, »sind wir durch dieses Privatgeschäft in der Lage, Gransfeld hier festzuhalten. Auf meinen zweiten Brief an Duprès hat er seinen Entschluß, Genf zu verlassen, vorläufig aufgegeben. Für wenigstens acht Tage haben wir ihn hier sicher. Es wird unsere Aufgabe sein, diese Zeit zu nutzen.«

»Allright«, stimmte Morton bei, »der Mann muß weg! Der Genfer See ist groß. Ein solider Messerstich, und dann ins Wasser mit ihm! Der Teufel soll später sagen, wer's gewesen ist!«

Rasmussen schüttelte abweisend den Kopf. »Es handelt sich aber um zwei«, warf die Dimitriescu ein; »der Doktor steckt ja mit dem Wagner zusammen.«

»Sie sind im Irrtum, Madame«, widersprach Morton; »Wagner ist in Gorla und soll dort erledigt werden. Hoffentlich ist es schon geschehen.«

»Der Irrtum ist auf Ihrer Seite, Morton«, erwiderte die Rumänin. »Der Junge ist hier. Ich habe ihn gestern abend mit dem Doktor zusammen gesehen.«

»Undenkbar!« murmelte Morton. »Nach unsern Londoner Nachrichten haben sie sich getrennt. Van Holsten ist eigens deswegen nach Gorla gefahren und soll da mit Henke zusammen alles Nötige veranlassen. Der Bengel kann nicht hier sein.«

Die Rumänin machte eine schnippische Bewegung. »Ich kann mich auf meine Augen verlassen, Mister Morton. Der Junge ist hier.«

Morton stützte das Kinn auf die Faust. »Well, dann müssen wir die beiden hier erledigen. Fragt sich nur, wie und wo.«

»Nach meinen Nachrichten«, sagte Megastopoulos, »ist Gransfeld ein Freund von Bergtouren. Ein gefährlicher und bisweilen recht ungesunder Sport, meine Herren. Man kann dabei in Gletscherspalten fallen, mit einer Schneewächte abbrechen oder von einem Grat abstürzen. Es braucht nur der richtige Mann im rechten Augenblick dabei zu sein.«

Zum ersten Male mischte sich jetzt Rasmussen in die Beratung. »Das nicht, meine Herren! Das mache ich nicht mit. Überlegen Sie irgend einen andern Weg, die beiden unschädlich zu machen, aber unternehmen Sie keinen Mord! Ich kann nicht mehr – ich will nicht mehr . . .« Er erblaßte plötzlich und sank zusammen. Sein Herzleiden hatte ihn wieder überfallen. Es bedurfte geraumer Zeit, bis er den Anfall mit kaltem Wasser und Digitalistropfen einigermaßen überwunden hatte. Hinfällig lag er in seinem Stuhl. Minuten verstrichen, bevor er wieder sprechen konnte. Abgebrochen und stoßweise kamen die Worte von seinen Lippen. »Ich kann nicht mehr – Sie müssen mich entschuldigen . . .« Er erhob sich und ging mit schwankenden Schritten zur Tür. »Beraten Sie ohne mich, aber – keinen Mord mehr!« Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

Morton brach zuerst das Schweigen. »Well, der Mann ist krank. Fürchte, er macht's nicht mehr lange. Müssen versuchen, ohne ihn zu einem Entschluß zu kommen. – Ihr Plan wäre gut«, fuhr er, zu Megastopoulos gewendet, fort, »wenn wir es nur mit einem einzigen zu tun hätten. Daß der Junge dabei ist, erschwert den Fall. Das Gelingen wird dadurch in Frage gestellt. Ich glaube, wir werden auf das Wasser zurückkommen müssen. Das ist besser. Die weite Fläche des Lac Léman – da kann auch ein Boot mit zweien unauffällig verschwinden. Man müßte sie dahin bringen, eine Bootspartie zu unternehmen. Haben wir sie erst einmal auf dem Wasser, dann erledigt sich alles andere von selbst.«

»Besonderer Bemühungen wird es dazu kaum bedürfen«, warf die Dimitriescu ein. »Ich hörte nämlich, daß Gransfeld sich bei dem Pförtner des ›Hotel du Lac‹ nach Segelbooten erkundigt hat. Es scheint, als ob er eine Bootstour vorhabe.«

»Nach Segelbooten? Glänzend!« Morton sprang auf. »Dann haben wir sie. Segelboot – Abendflaute. Abends wird es auf dem See immer etwas neblig. Ein ungeschicktes Motorboot rammt ihnen den Kahn, und die Sache ist erledigt.«

Der Grieche schüttelte den Kopf. »Ihr Plan ist nicht sicher, Morton. Es gibt zuviel andere Boote auf dem See. Man könnte den Unfall doch bemerken und zu Hilfe kommen. Dann wäre alles umsonst gewesen. Wir hätten mehr Schaden als Nutzen von der Sache.« Er kniff die Lippen zusammen und dachte nach. Dann sprach er weiter: »Ich habe einen ganz andern Gedanken, einen besseren Plan, der« – das Gesicht des Griechen verzog sich zu einem schmierigen Lächeln – »der außerdem den Wünschen unseres Freundes Rasmussen Rechnung trägt.«

Während die andern gespannt auf ihn blickten, drehte er sich gelassen eine Zigarette und weidete sich an ihrer Erwartung.

»Schießen Sie endlich los!« brummte Morton.

»Eh bien! Meine verehrten Herrschaften, Sie wissen alle, wie scharf die französische Polizei und Justiz hinter den Geschäftsleuten her sind, die mit der ›Ware‹ handeln.«

Kalt und abweisend wurden die Gesichter um ihn herum. Man liebte es nicht, an die Gefahren des dunkeln Gewerbes erinnert zu werden.

Megastopoulos tat, als merke er's nicht, und fuhr ruhig fort: »Stellen Sie sich vor, zwei deutsche Händler versuchen es, die verbotene ›Ware‹ über den See in die geheiligten Gefilde Frankreichs einzuführen, natürlich ohne die Zollwache unnötig zu bemühen. Aber die Zollbeamten haben durch gute Freunde Wind von der Sache bekommen. Man nimmt sie am Ufer in Empfang. Das Boot und ihr Gepäck werden durchsucht, und man findet – man findet ›Ware‹ massenhaft bei ihnen. Jahre können vergehen, ehe diese beiden wieder aus der Maison d'arrêt kommen. Das französische Zuchthaus, meine Herrschaften . . .« Megastopoulos pfiff leise vor sich hin. Er schien auf diesem Gebiete persönliche Erfahrungen zu besitzen. »Zuchthaus? Wenn wir's richtig machen, kommen die beiden nach Cayenne. Dann sind wir sie für immer los.«

Morton nahm das Wort. »Der Plan sieht ganz verlockend aus. Wie wollen Sie es aber anstellen, Megastopoulos?«

»Ziemlich einfach, Morton. Einer unserer Genfer Freunde, Monsieur Bouton, besitzt ein Segelboot, das für diese Zwecke besonders geeignet ist.« Er kniff das linke Auge zu und guckte Morton an. Dieser wußte im Augenblick Bescheid. Das Boot war also für den Schmuggel mit der »Ware« eingerichtet und besaß verborgene Hohlräume. Megastopoulos fuhr fort: »Monsieur Bouton wird die Rolle eines Bootsverleihers zu spielen haben. Billigste Bootsmiete, außergewöhnlich günstiges Angebot. Seine Aufgabe ist es, den Doktor zum Mieten seines Bootes zu bewegen. Das übrige – wir werden leider nicht umhin können, eine reichliche Menge unserer Ware zu opfern, denn das Boot und – das ist besonders wichtig – auch das Gepäck der beiden müssen gehörig gesalzen werden. Die Sache mit den Zollbeamten würde ich selbst durch meine Freunde auf der französischen Seite besorgen lassen. Und dann – viel Vergnügen im Zuchthause, Herr Doktor Gransfeld!« Er stieß ein paar Rauchwolken aus und sah sich triumphierend um.

»Sie sind ein Satan, Megastopoulos!« rief die Dimitriescu.

»Well, der Plan ist gut!« unterbrach Morton sie. »Ich denke, wir nehmen ihn an.«

In längerer Sitzung wurden alle Einzelheiten des Anschlages genau besprochen und die Rollen verteilt. Dann trennten sie sich. –

Rasmussen war unmittelbar nach seiner Ankunft in Genf zu der Beratung der Wissenden gegangen und hatte danach eine schlechte Nacht verbracht. Erst am nächsten Morgen kam er dazu, sich nach Susanne, die bei einer befreundeten Familie abgestiegen war, zu erkundigen. Die Auskunft, die er am Telephon erhielt, erschreckte ihn. Susanne verletzt – im Hotel de Montagne auf dem Krankenlager! Der nächste Zug brachte ihn nach Lausanne. Die wundervolle Bahnfahrt am Ufer entlang, der blinkende See, die Alpenriesen ringsherum – er sah kaum etwas von alledem. Seine Gedanken waren bei seinem Kinde. Viel zu groß war seine Sehnsucht, um in Lausanne die Abfahrt des Autobus abzuwarten. Schon wenige Minuten nach Ankunft des Zuges trug ihn ein schneller Kraftwagen über die Serpentinen der Bergstraße zum Hotel de Montagne.

Als der Wagen an der Südseite des Hauses vorbeifuhr, erblickte er Susanne. Sie saß dort im vollen Sonnenschein auf der Terrasse, Zeitungen und eine Erfrischung vor sich. Erleichtert sprang er aus dem Wagen und begab sich nach oben. »Susanne, mein Kind, du warst krank? Hast du dich verletzt? Ist wieder alles gut?«

Susanne ließ die Zeitungen sinken. »Väterchen, du hier? Ist's möglich? Ja, du bist es wirklich? Keine Ahnung hatte ich, daß du nach Genf fahren wolltest. Was hat dich denn hierher geführt?«

Ein Schatten flog über Rasmussens Züge. »Geschäfte, Kind, die ewigen Geschäfte. Ach, wenn ich doch endlich einmal ausspannen könnte! Aber sprich von dir! War der Unfall schlimm?«

Susanne schüttelte den Kopf. »Nicht so schlimm, Väterchen.« Sie bewegte den Fuß, der noch bandagiert war. »Der Knöchel ist schon wieder ganz heil. Nur noch etwas schonen soll ich den Fuß. Gewiß bist du unnötig erschrocken, als du davon hörtest. Das ist aber wirklich eine überflüssige Sorge, Väterchen. Morgen oder übermorgen wäre ich unter allen Umständen nach Genf zurückgekommen.«

Rasmussen hatte sich inzwischen an dem Tisch niedergelassen. »Aber erzähle doch, Kind! Wie konnte das geschehen?«

»Du lieber Gott! Wie eben so etwas beim Skilaufen vorkommt. Ein dummer Stein war schuld daran. Ich lief dagegen und lag im nächsten Augenblick im Schnee. Dabei hatte ich mir den Fuß vertreten. Herr Doktor Gransfeld sagte nachher, es sei eine Muskelzerrung.«

»Gransfeld? Doktor Gransfeld?« Rasmussen stieß den Namen erregt hervor. »Ist das der Arzt im Hotel de Montagne?«

»Nein, Väterchen. Das muß ich dir ausführlich erzählen. Alice hatte mich mit Mühe und Not bis unter eine Schneewächte geschafft und war dann zum Hotel geeilt, um Hilfe zu holen. Da lag ich nun allein, und der Knöchel tat sehr weh. Mir war recht übel zumute, aber da kam ein Tourist auf Skiern heran, und das war eben Herr Doktor Gransfeld. Er kühlte den Knöchel mit Schnee, dann hat er mir auch eine Arznei gegeben, nach der mir gleich viel besser wurde. Das ist ein Arzt, Väterchen, wie er sein muß: so ruhig und freundlich und doch so bestimmt in seinen Anordnungen! Man ist schon wieder halb gesund, wenn er einen nur ansieht.«

Während Susanne erzählte, arbeitete Rasmussens Gehirn wie im Fieber. Gransfeld? Ein deutscher Arzt Doktor Gransfeld hier am Genfer See? Es konnte nur derselbe sein, um dessentwillen er selber hier war. Der war mit Susanne bekannt geworden und hatte ihr Hilfe geleistet? Ein böser Zufall, der Rasmussen das Schwere, zu dem die Organisation ihn zwang, noch schwerer empfinden ließ.

Susanne erzählte weiter: »Dann kam Alice mit den Trägern zurück. Herr Doktor Gransfeld half mich auf die Bahre legen und ging mit zum Hotel. Da hat er mir auch noch Hilfe geleistet und genaue Vorschriften gegeben, ehe er am nächsten Tage nach Genf . . . Väterchen, was ist dir? O Gott, wieder ein Anfall!«

Schon während der Erzählung Susannes hatte Rasmussen gefühlt, wie die Erregung ihm ans Herz griff, wie es wilder und immer wilder zu pochen begann, um dann plötzlich auszusetzen. Schwer atmend lag er im Stuhl. »Wasser, Susanne! Meine Tropfen!«

Sie nahm das Digitalisfläschchen aus seiner Tasche, schenkte frisches Wasser ein und gab ihm die Tropfen.

Das Digitalin, das Alkaloid des Fingerhutes, ein tödliches Gift in der Hand des Unkundigen, ein heilkräftiges Mittel in der des Arztes, tat seine Wirkung. Allmählich wurde Rasmussens Herzschlag stärker und regelmäßiger. Langsam erholte er sich.

Sorgenvoll blickte Susanne ihn an. »Liebes Väterchen, willst du mir einen Gefallen tun, einen ganz großen Gefallen?«

Rasmussen nickte. »Gern, mein liebes Kind, wenn dein Wunsch erfüllbar ist.«

»Er ist erfüllbar, Väterchen. Du sollst mit mir nach Paris fahren.«

Rasmussen blickte sie erstaunt an. »Nach Paris, Susanne? Was willst du in Paris?«

»Ich? Gar nichts, Väterchen. Aber du, du sollst dort zu Professor Morelle gehen. Er ist Facharzt für Herzleiden und besitzt Weltruf. Tausenden hat er geholfen. Schon lange hatte ich mir vorgenommen, dich darum zu bitten.«

»Aber nach Paris, Kind? Wir haben doch in Hamburg auch gute Ärzte.«

»Mag sein, Väterchen; doch bis jetzt haben sie dir nicht helfen können, und, offen herausgesagt, ich habe das Vertrauen zu ihnen verloren. Tu mir den Gefallen! Versprich mir, daß du mit mir nach Paris fährst! Von hier ist's ja gar nicht so weit. Und denke doch, Väterchen, wie schön das wäre, wenn Professor Morelle dir helfen könnte, wenn du wieder ganz gesund würdest!«

Als Rasmussen sich an diesem Abend im Hotel de Montagne zur Ruhe begab, hatte Susanne ihm das Versprechen abgerungen. Er hatte eingewilligt, mit ihr zusammen nach Paris zu fahren, sobald seine Genfer Geschäfte erledigt seien.

 


 << zurück weiter >>