Hans Dominik
Moderne Piraten
Hans Dominik

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3. Die »Organisation«

Kurz nach Tisch empfing Rasmussen den Besuch der Dimitriescu. »Ich bin überrascht, Sie noch hier zu sehen. Ich vermutete Sie schon seit Stunden auf der Bahn.« Er schwieg, als er ihre ernste Miene sah, und lud sie mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen.

Aufgeregt zog sie die Handschuhe von den Fingern und knüllte sie nervös zusammen. »Ein Zwischenfall, Herr Rasmussen. Oh, es ist allerlei geschehen!«

Gespannt fragte Rasmussen: »Hoffentlich nichts Ernstes, Frau Dimitriescu? Aber doch, es muß ernsthaft sein, denn sonst hätten Sie Ihre Reise nach Gorla nicht verschoben.«

»Es ist so ernsthaft, Herr Rasmussen, daß der Chef deswegen aus England gekommen ist. Sitzung findet heute abend um zehn Uhr am bekannten Orte statt. Sie müssen selbstverständlich kommen.«

Während die Dimitriescu sprach, schien ihre Nervosität auch auf Rasmussen überzugehen. »Wissen Sie etwas Näheres, Frau Dimitriescu? Können Sie mir sagen, um was es sich handelt?«

Sie zuckte die Achseln. »Nichts Bestimmtes. Mehrere Sendungen sollen entdeckt und angehalten worden sein.«

Rasmussen wurde ruhiger. »Sendungen angehalten? Du lieber Himmel, das ist schon öfter geschehen! Deshalb braucht doch der Chef nicht selber herzukommen.«

»Es ist nicht nur das, Herr Rasmussen. Die Schweigsamkeit der Polizei ist beunruhigend. Sonst posaunen die Leute jeden kleinen Erfolg aus, diesmal aber – es heißt, daß die gleichzeitigen Beschlagnahmungen in Port Said, Bombay und Schanghai ziemlich bedeutend gewesen sein sollen – diesmal ist kein Wörtchen darüber in den Zeitungen zu lesen.«

»Hm, hm!« Rasmussen schüttelte nachdenklich den Kopf. »Das allerdings – das ist eine merkwürdige Sache.«

Die Dimitriescu fuhr fort: »Die Geschichte kommt dem Chef nicht geheuer vor. Er fürchtet, glaube ich, daß die Polizei einen großen Schlag vorbereitet, und ist hierher gekommen, um neue Verhaltungsmaßregeln zu geben. Sie wissen, daß in solchen Fällen unsere alte Taktik . . .«

Näher rückten die beiden jetzt zusammen und sprachen nur noch mit gedämpfter Stimme. Erst nach einer Stunde verabschiedete sich die Dimitriescu.

Als Rasmussen sie in den Vorraum geleitete, trat ihm seine zwanzigjährige Tochter Susanne in den Weg. »Väterchen, wir wollten doch einen Ausflug mit dem Wagen machen. Hast du jetzt Zeit?« Sie stockte, als sie die Fremde in der Gesellschaft ihres Vaters erblickte. »Verzeihung! Ich hatte nicht gesehen . . .«

Rasmussen half ihr über die Verlegenheitspause. »Ja, gewiß, mein Kind, ja, wir wollen eine Fahrt ins Freie machen. – Wollen Sie vielleicht mitfahren, gnädige Frau?« wandte er sich an die Dimitriescu.

»Danke, nein, Herr Rasmussen. Sehr liebenswürdig von Ihnen. Ich habe noch Besorgungen in der Stadt zu erledigen. Auf Wiedersehen!« Sie verließ die Wohnung.

Susanne zog ihren Vater in das Wohnzimmer zurück. »Sage, Väterchen, was ist das für eine unsympathische Person, die Fremde, die eben fortging?«

»Mein Kind, die Dame ist die Witwe eines alten Geschäftsfreundes aus Konstantinopel. Ich bin ihr bei ihrer Vermögensverwaltung behilflich. Du kannst dir wohl denken, wie es bei solch einem Todesfall und noch dazu da unten auf dem Balkan zugeht. Ohne meinen Beistand wäre sie kaum durchgekommen.«

»Aber warum kommt sie so oft in unser Haus?«

»Ja, sie wohnt jetzt in Deutschland.«

»So, deswegen? Vielleicht tue ich ihr unrecht, aber ich kann sie nun einmal nicht leiden. Auch der Holländer, der gestern mit ihr hier war – nimm mir's nicht übel, ich finde, das ist ein widerlicher Mensch.«

Rasmussen zwang sich zu einem Lächeln. »Mein liebes Kind, du redest, wie du's verstehst. Im Leben kann man sich seine Leute nicht nach ihren Gesichtern aussuchen. Da heißt es zuallererst: Geschäft ist Geschäft.«

Susanne schlang ihre Arme um Rasmussens Hals. »Du bist so klug, Väterchen, und hast gewiß recht. Aber ich bin doch heilfroh, daß die Dame nicht mitkommen konnte. Jetzt sind wir unter uns und wollen unsern Ausflug machen.«

Kurze Zeit später rollte ihr Kraftwagen durch Wälder und Anlagen elbabwärts auf Blankenese zu. –

Nach dem Abendessen verließ Rasmussen sein Haus zu Fuß und ging in der Richtung nach Elmsbüttel zu. Ein weites, dunkles Cape und eine englische Schirmmütze machten ihn in den wenig beleuchteten Vorstadtstraßen nahezu unkenntlich.

Ein einfacher Vorstadtgasthof an der Grenze nach Langfelde zu war sein Ziel. Als die Uhr einer nahen Kirche anhub zehn Schläge zu tun, trat er in die Gaststube und weiter durch einen Flur. An der letzten Tür hing ein einfaches Pappschild. Mit Blaustift stand darauf: »Lotterieverein Konkordia«. Er trat ein. An verschiedenen Tischen saßen bereits kleinere Gruppen, alles in allem etwa ein Dutzend Personen. Im Laufe der nächsten zehn Minuten kamen noch andere hinzu. Merkwürdig international war dieser Lotterieverein. Da saßen ein Kaufmann aus Lodz, bei Rasmussen die Dame aus Rumänien; am nächsten Tische saßen mehrere Engländer, Franzosen und Italiener. Mit gedämpfter Stimme, bald in dieser, bald in jener Sprache, wurde die Unterhaltung geführt und sprang sofort auf harmlose Gegenstände über, wenn die Bedienung ins Zimmer gerufen wurde.

Um viertel elf kam als letzter Mac Andrew, der Chef der Organisation. Schweigend ließ er sich an dem großen Mitteltisch nieder. Von allen Seiten rückten die andern hinzu. Der Bund der Wissenden war beisammen und hielt seine Sitzung. Mac Andrew leitete die Versammlung und gab Bericht.

Böse Nachrichten kamen aus drei Weltteilen. In aller Stille hatten die Zollbehörden ein neues Röntgenverfahren in Gebrauch genommen und ganz unerwartet in verschiedenen Häfen benutzt; ein geistvolles, aber für die Geschäfte der Organisation äußerst gefährliches Verfahren. Schon früher hatte man verdächtige Sendungen mit Röntgenstrahlen durchleuchtet und etwa vorhandene Metallteile, Brillanten und dergleichen schnell entdeckt. Jetzt aber war die Härte der Strahlen so genau dosiert, daß sich auch geringe Dichtigkeitsunterschiede im Inhalt der Sendungen auf dem Leuchtschirm abzeichneten.

Je weiter der Chef in seinem Bericht fortfuhr, umso verdrossener wurden die Mienen seiner Zuhörer. Vorbei war es also mit dem bequemen Verfahren, Beutelchen mit der »Ware« einfach in andere Chemikalien zu packen. Man konnte keine Büchsen mehr verschicken, die eine gehörige Menge der »Ware«, etwa in kohlensaurem Natron oder ähnlichen harmlosen Chemikalien verborgen, enthielten.

»Vorbei, Myladies and Gentlemen!« bestätigte der Chef. »Man hat uns in drei Häfen beträchtliche Sendungen beschlagnahmt. Was wir noch irgendwie aufhalten konnten, haben wir sofort funktelegraphisch aufgehalten. Leider war es unmöglich, alle Sendungen abzustoppen. Der Weg ist uns verbaut. Suchen Sie etwas Neues ausfindig zu machen!«

Die Teilnehmer der Gesellschaft steckten die Köpfe zusammen. Eine schlecht unterdrückte Verwünschung wurde hier und da hörbar. Der Mann aus Lodz begann halblaut auf die Zöllner und die Röntgenstrahlen zu schimpfen. Vor Jahren hatten sie ihm schon seinen Möbeltrick damit verdorben. Wie schön war's damals noch, als man in präparierten Möbeln – Klaviere waren besonders bevorzugt – Dutzende von Kilogrammen des verbotenen Stoffes unterbringen und unauffällig über die Grenze paschen konnte.

»Warum nehmen Sie nicht Automobile?« fiel ihm ein Agent aus Chikago ins Wort. »Damit geht's auch heute noch. Was Sie in die stählernen Rohre stecken, können die Röntgenstrahlen nicht finden. Ein feiner Job war das neulich. Habe aus U.S.A. fünfzig Fordwagen nach Brasilien geschafft, jeden einzelnen geladen mit Ware. Jeder Hohlraum war bis zum Platzen vollgepfropft. Großartiges Geschäft, Gentlemen! Unser brasilianischer Mann ist die Ware natürlich gleich los geworden. Dann aber« – er lachte laut auf – »smarter Junge, der Bursche. Geht hin, verkauft auch die Wagen mit gutem Nutzen und verlangt von der Gesellschaft den ganzen Gewinn als seinen Anteil. Bin neugierig, wie die Sache ausgehen wird.«

Der Chef unterbrach ihn. »Die Angelegenheit mit Antonio Pereira ist geregelt. Er hat den Gewinn an die Gesellschaft abgeführt. – Ich muß Ihre Aufmerksamkeit noch auf einen andern Punkt lenken. Gentlemen, ich ersuche um die größte Vorsicht und Sorgfalt bei der Anwerbung neuer Leute. Der Vorfall in Rom hätte sich vermeiden lassen.«

Gespannt horchten die Versammelten auf. Was war in Rom geschehen?

Der Chef fuhr fort: »Der Händler Giuseppe Moltani bei den Thermen des Caracalla hat den bedenklichen Einfall gehabt, seine Lieferanten an die Polizei zu verraten. Zwei unserer Leute sind verhaftet worden.«

Das Stimmengewirr im Zimmer schwoll an. Ausdrücke des Abscheus, Rufe nach Rache wurden laut. Mit einer Handbewegung beschwichtigte Mac Andrew die Versammlung. »Myladies and Gentlemen, die Gesellschaft hat den Verhafteten die besten und teuersten Verteidiger besorgt.«

»Aber der Verräter, der Hund, der Schuft!« klang es aus der Runde.

»Ist erledigt«, fuhr Mac Andrew fort. »Er wurde mit einem Messer zwischen den Rippen aus dem Tiber gefischt.«

Die Besprechung ging weiter. Der Chef gab neue Richtlinien für den Vertrieb der Ware. Spezialkoffer sollten angefertigt werden. Auch eine stärkere Zuhilfenahme von Schiffspersonal für das Anlandbringen wurde erwogen. Man würde große Bestechungssummen aufwenden müssen. Doch dafür hatte man dann auch eine größere Sicherheit, und die Kundschaft zahlte ja jeden Preis.

Mitternacht hatte längst geschlagen, als der »Lotterieverein Konkordia« seine Sitzung schloß.

»Sie war nicht dabei, Herr Doktor«, meldete Rudi, als die letzten Reisenden des Hamburger D-Zuges den Bahnhof in Gorla verlassen hatten.

Gransfeld biß sich verärgert auf die Lippen. »Dumme Geschichte, Rudi! Du hast aber doch ganz deutlich gesehen, daß sie eine Fahrkarte nach Gorla kaufte?«

»Nun, dann . . . Wahrscheinlich ist sie aufgehalten worden und kommt mit einem späteren Zug.« Von einem Wandfahrplan schrieb er sich die Ankunftzeiten der Hamburger Züge ab und gab das Blatt dem Jungen. »Hier ist deine nächste Aufgabe, Rudi. Du wirst dir die Leute, die mit diesen Zügen kommen, genau ansehen. Jetzt zum Gasthof!« –

Am nächsten Morgen ging Rudi zum Bahnhof, um auftragsgemäß die ankommenden Reisenden zu beobachten. Gegen zwei Uhr mittags sollte er seinen Herrn vor dem Hauptportal der Gorla-Werke erwarten.

Gransfeld selbst hatte sich etwas anderes vorgenommen. Erich Rübesam, ein alter Freund aus seiner Studienzeit, war als Chemiker in den Werken tätig. Diesen wollte er aufsuchen. Wie weit er ihm etwa seine bisherigen Entdeckungen mitteilen sollte, mußte sich im Verlauf der Unterhaltung ergeben.

»Die Herren sind bei der Direktion«, sagte der Pförtner, als Gransfeld sich im Werk melden ließ. »Sie werden etwas warten müssen.« Es dauerte auch eine halbe Stunde, bevor Gransfeld Rübesam in dessen Zimmer gegenüber saß.

»Nett von dir, alter Freund, daß du den Weg zu mir gefunden hast!« begrüßte ihn der Chemiker. »Entschuldige, daß ich dich so lange warten ließ.«

Gransfeld wehrte ab. »Keine Ursache! Der Dienst geht vor. Ich hörte, daß ihr bei der Direktion wart.«

»Direktion? Beim Geheimrat Scheffer, unserm Generaldirektor, waren wir. Der Alte hat mächtig gewettert und uns allen eins auf den Hut gegeben.«

Der Chemiker steckte sich eine Zigarre an und tat ein paar lange Züge daraus. »Ah! Nach so einer unverdienten Standpauke tut eine solche Anregung gut.«

»Ich will nicht neugierig sein, Rübesam. Darf man wissen, was ihr versiebt habt?«

»Wir? Gar nichts. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit will ich dir es erzählen. Der deutsche Konsul in Port Said hat an seine Behörde einen Bericht geschickt. Er hegt den Verdacht, daß Rauschgifte deutscher Herkunft auf deutschen Dampfern nach Ägypten eingeschmuggelt werden. Na, noch mit einigen Randbemerkungen versehen, kam der Bericht vom Ministerium des Innern an unsern Alten, und der hat ihn uns dann zu kosten gegeben, natürlich nicht ohne ihn noch mit einigen Zutaten auszuschmücken. Er ließ Ausdrücke fallen wie ›Verantwortlichkeit der deutschen Industrie‹, ›deutsches Pflichtgefühl‹ und ›deutsche Organisation‹. Die halbe Stunde da oben war einfach scheußlich schön. Als ob wir dafür können, wenn internationale Banden sich irgendwo die Gifte verschaffen und unter die Leute bringen! Schärfer, als die Überwachung bei uns ist, kann sie überhaupt nicht sein.« Rübesam warf sich in seinen Stuhl zurück und gab seinem Ärger durch dicke Rauchwolken Ausdruck. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Es ist geradezu eine fixe Idee von unserm Alten. Wenn irgendwo in der Welt Rauschgifte unbekannter Herkunft auftauchen, sollen sie aus unserm Werk stammen. Vor einem Jahre hatte er einen Privatdetektiv im Werk untergebracht. Über zwei Monate hindurch hat der Mann hier herumgeschnüffelt, aber nicht das Geringste entdeckt.«

»Vielleicht war die Sache verpfiffen?« unterbrach ihn Gransfeld.

»Ganz unmöglich! Nur ein kleiner Kreis wußte um die Aufgabe des Mannes. Wenn wirklich etwas zu entdecken war, hätte er's auch herausbekommen müssen.«

»Wenn's nicht doch verraten wurde, Rübesam.«

Der Chemiker strich mit einer ungeduldigen Bewegung die Asche von seiner Zigarre. »Mein Lieber, du siehst Gespenster.«

»Gespenster, die da sind, alter Freund. Ich kann dir versichern, daß Herr Konsul Perbrandt bestimmt sehr triftige Gründe für seinen Bericht hat.«

»Perbrandt?« Der Chemiker blickte Gransfeld verwundert an. »Woher weißt denn du, daß der Mann Perbrandt heißt?«

»Weil ich noch vor vier Wochen in Port Said mit ihm zusammengesessen bin.«

»Du kommst von daher, Gransfeld? Du meinst, daß . . .?«

»Ich meine, Rübesam, daß der Konsul und euer Generaldirektor bestimmt recht haben. Nach meinen Beobachtungen wird dieser Handel von gut organisierten Banden betrieben, denen man alles zutrauen kann.«

Rübesam richtete sich in seinem Sessel auf. »Nach deinen Beobachtungen, Gransfeld? Du machst mich neugierig; sprich, bitte, weiter!«

Gransfeld zögerte kurze Zeit. Dann sagte er: »Es wird am besten sein, wenn ich dir reinen Wein einschenke. Es ist kein Zufall, daß ich in Gorla bin. Auf der Spur einer solchen Bande bin ich hierher gekommen.«

Der Chemiker sprang auf. »Alle Wetter, Gransfeld, jetzt wird's dramatisch! Du verfolgst eine Spur, und die hat dich nach Gorla geführt?«

»Bis nach Gorla, Rübesam. Von Syut und Port Said geradeswegs bis nach Gorla.«

Der Chemiker setzte sich wieder, und Gransfeld begann zu sprechen. Schritt für Schritt erzählte er, was er erlebt hatte, das Schicksal seines Onkels in Syut, die Entdeckungen Rudis, die Mitteilung Perbrandts. Er berichtete von den Mitgliedern der Bande, die er bisher entdeckt zu haben meinte.

Mit gespannter Aufmerksamkeit folgte Rübesam seiner Erzählung. »Das – das allerdings, Gransfeld . . . Wenn mir ein anderer dies alles erzählt hätte, würde ich es für ein Märchen halten. Dir will ich es, muß ich es glauben. Aber was nun weiter?«

»Vor allen Dingen möchte ich dich bitten, verliere kein Wort über unsere Unterhaltung zu irgend einem Menschen, weder draußen noch hier im Werk! Ein einziges unbedachtes Wort könnte alles verderben.«

»Gewiß! Aber irgend etwas muß doch geschehen.«

»Darüber sprechen wir später. Vorerst würde ich gern einmal durch euern Betrieb gehen, soweit er für die Herstellung der bewußten Stoffe in Betracht kommt. Könntest du mir das ermöglichen?«

Der Chemiker nickte. »Ich gehöre selbst zu dieser Abteilung. In meiner Begleitung kannst du sie besichtigen.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Es ist eben erst eins. Die Frühschicht arbeitet noch eine Stunde. Wenn es dir recht ist, gehen wir gleich.«

In Begleitung Rübesams verließ Gransfeld das Verwaltungsgebäude. Sie gingen über ausgedehnte Werkhöfe und überschritten Dutzende von Eisenbahngleisen. An Tanks und Bergen von Korbflaschen vorbei führte ihr Weg zu einem vielstöckigen Fabrikgebäude. Sie durchquerten große, lichtdurchflutete Räume. Ein Gewirr von Rohrleitungen, Kesseln, Pressen und Pumpen aller Art sahen sie darin, aber nur sehr wenige Leute bei den Maschinen und Apparaten.

»Die Leere des modernen Schlachtfeldes«, erklärte der Chemiker. »Zu neunzig vom Hundert geht der ganze Betrieb automatisch. Die Arbeiter haben in der Hauptsache nur Instrumente zu beobachten und danach Temperaturen, Drücke, Zuflüsse und so weiter in den verschiedenen Retorten und Kesseln zu regulieren. Ich glaube nicht, daß du viel daran sehen kannst.«

»Hier noch nicht, Rübesam. Mich interessieren besonders die letzten Stationen, in denen die Fabrikate fertig werden und zur Verpackung kommen.«

Der Chemiker lachte. »Du scheinst immer noch zu glauben, daß aus unsern Werken etwas abhanden kommen könnte, ohne daß wir es merken. Wir wollen gleich einmal hier in den Heroinsaal gehen. Da kannst du dich selber überzeugen, wie unmöglich das ist.«

Sie traten in einen andern Saal. Auch hier fanden sie eine Anzahl von stählernen Kesseln und Tanks, in denen die chemischen Prozesse sich abspielten. Vor einem übermannshohen zylindrischen Kessel blieb der Chemiker stehen. »Hier ist die letzte Etappe, Gransfeld. Durch Chloranlagerung entsteht hier das Diazetylmorphinchlorid, in der Rezeptur kurzweg Heroin genannt, und wird getrocknet.«

Gransfeld betrachtete alles genau, ging um den Apparat herum und fragte: »Was geschieht nun weiter?«

Der Chemiker deutete auf ein armstarkes Rohr, das von dem Kessel horizontal abging. »Ein Schneckenwerk, das in den Kessel eingebaut ist, schafft den fertigen Stoff durch dies Rohr zur Tablettiermaschine.« Er führte Gransfeld zu einer Maschine, deren blinkende Glieder sich in schnellem Spiel bewegten, und öffnete eine eiserne Klappe daran.

Gransfeld sah in einen durch eine starke Glasscheibe abgeschlossenen Raum, in dem stählerne Stempel in sinnverwirrender Schnelligkeit eine zufließende weiße Masse in Tablettenform preßten. In stetem Strom fielen die fertigen Tabletten in ein schräges Stahlrohr, das zur nächsten Maschine führte.

Rübesam deutete dorthin. »Das da drüben ist die Packmaschine. Hier in der ersten Maschine wird der Stoff zu Tabletten gepreßt, und die Tabletten werden gezählt.« Er wies auf das plombierte Zählwerk, dessen Ziffernräder in schneller Bewegung waren. »Im geschlossenen Stahlrohr rollen die Tabletten zur Packmaschine; dort werden sie automatisch zu je zwanzig Stück in Glastuben gepackt, die Tuben werden verschlossen, und jede fertige Tube wird ebenfalls von einem plombierten Werk gezählt. Doppelte Kontrolle also, Gransfeld. Der Stand des Zählwerkes an der Tablettiermaschine, durch zwanzig geteilt, muß immer den zugehörigen Stand des Zählwerkes an der Packmaschine ergeben. Du mußt zugeben, daß hier nichts wegkommen kann.«

Gransfeld besah sich die Einrichtung sehr gründlich. Hier schien in der Tat jeder Unterschleif mit den besten Mitteln modernster Technik unmöglich gemacht zu sein.

»Na, Gransfeld, ungläubiger Thomas, bist du endlich überzeugt?«

Der Doktor ging noch einmal von den Maschinen bis zum letzten Kessel zurück. Jede Einzelheit der Anlage, jede Schraube, jedes Krümmerstück schien er mit den Augen verschlingen zu wollen. Dann blickte er sich in dem Raum um. »Bloß zwei Leute in dem ganzen Saal, Rübesam? Das ist wenig für die große Anlage.«

»Weil alles automatisiert ist, Gransfeld. Wir brauchen in der Tat für jede Schicht nur zwei Mann, natürlich erprobte und zuverlässige Leute, die wir sorgfältig ausgesucht haben.«

Gransfeld zog seine Uhr. »Ich danke dir für die Führung und deine Erklärungen, lieber Rübesam. Jetzt muß ich gehen. Willst du so gut sein, mir auch deine Privatadresse zu geben?«

Rübesam lachte. »Meine Privatadresse und meine Geschäftsadresse sind ein und dieselbe. Ich wohne auch hier. Die Direktion hat mir ein nettes Häuschen mit einem hübschen Garten mitten im Werk zur Verfügung gestellt. Wenn du mich da besuchen willst, brauchst du nur beim Pförtner am Hauptportal nach mir zu fragen.« –

Rudi hatte sich den Vormittag über auf dem Bahnhof vergeblich die Augen ausgeguckt. Unter den vielen, die den Wagen entquollen, war die Dimitriescu nicht gewesen. Etwas enttäuscht verließ er zur verabredeten Zeit seinen Posten und ging zum Werk. Schon von weitem hörte er die Sirenen heulen, die den Schichtwechsel verkündeten. Als er vor dem Hauptportal anlangte, strömten die Arbeitermassen der abgelösten Schicht ins Freie. Er geriet in die Menge und wurde ein Stück von ihr mitgerissen.

An der nächsten Straßenecke stand ein Bananenhändler mit seinem Wagen. Hier gelang es Rudi, aus dem Strom herauszukommen. Er trat an den Wagen und kaufte sich ein paar Bananen, in der Absicht, im Schutze des Wagens das Gedränge abflauen zu lassen und danach zum Portal zurückzugehen.

Gemächlich schälte er sich eine der Früchte und war gerade im Begriff hineinzubeißen. Da – der Bissen blieb ihm im Munde stecken. Den Mann da, der kaum dreißig Schritt von ihm entfernt an der Bordschwelle stand, den kannte er doch! Unwillkürlich trat er ganz hinter den Wagen und beobachtete, durch die Leinwandplane gedeckt, weiter.

Der Mann an der Bordschwelle war wie die übrigen Fabrikarbeiter einfach und unauffällig gekleidet. Aber trotzdem – auf seine Augen konnte Rudi sich verlassen. Damals als Fahrgast der ersten Klasse im feinen Abendanzug, hier in Gorla im einfachen Kleide eines Werkmannes – trotz alledem, es konnte niemand anders sein als Mr. Morton von der »Usakama«.

Jetzt mischte sich der Beobachtete unter die Menge auf dem Bürgersteig und gesellte sich zu einem andern, dem er leicht zunickte. Nebeneinander gingen die beiden weiter und kamen dicht an dem Bananenwagen vorüber.

Von seinem Platz aus sah Rudi, wie der Werkarbeiter in seine Rocktasche griff. Er schien die Absicht zu haben, Morton etwas zu geben. Auf einen Wink des Engländers schob er es jedoch wieder zurück. Dann waren die beiden vorbei, tauchten in der Menge unter und kamen Rudi aus den Augen.

Einen Augenblick lang überlegte der Junge. Sollte er ihnen vorsichtig folgen und feststellen, wohin sie gingen? Da sah er Gransfeld aus dem Werkportal kommen und nach allen Seiten Ausschau halten. Schnell ging er ihm entgegen und erzählte, was er soeben gesehen hatte.

Verwundert schüttelte der Doktor den Kopf. »Komische Geschichte, Rudi. Da haben wir an Stelle der Rumänin plötzlich den Engländer hier. Die Herrschaften scheinen ein bißchen ›Verwechsle das Bäumelein!‹ zu spielen. Sollte mich nicht wundern, wenn wir noch mehr alte Bekannte hier . . .« Er hielt plötzlich inne. Während des Gesprächs waren sie wieder bis zu dem Bananenwagen gekommen. ». . . noch mehr alte Bekannte hier träfen«, wollte Gransfeld sagen, als Rudi ihn beim Ärmel faßte. »Herr Doktor! Sehen Sie da in der Querstraße den Mann vor dem Schaufenster stehen? Der ist's, mit dem Morton eben zusammen war.«

»Alle Wetter, Rudi! Ich habe doch auch gute Augen, aber auf diese Entfernung? Täuschst du dich nicht?«

»Bestimmt nicht, Herr Doktor. Ich habe mir den Mann hier vom Wagen her aus nächster Nähe angesehen.«

»Hm! Weißt du was, Rudi? Bleibe du hier! Kaufe dir meinetwegen noch einmal Bananen! Ich will mir den Mann auch einmal ansehen.«

Während Rudi tat, wie ihm geheißen, ging Gransfeld allein weiter. Aber der Mann vor dem Schaufenster schien jetzt mit der Betrachtung der Auslagen zu Ende zu sein. Er setzte sich ebenfalls in Bewegung und schlug dabei ein Tempo an, daß ihm Gransfeld, ohne aufzufallen, nicht näher kommen konnte. Nach hundert Meter gab er die Verfolgung als zwecklos auf.

*

In einem Betrieb von der Größe der Gorla-Werke laufen Hunderte von Menschen nebeneinander her, ohne daß einer den andern näher kennt oder sich viel um ihn kümmert. Was ging zum Beispiel die andern, die an Kesseln, Retorten und Pressen ihre Arbeit verrichteten, der junge Elektromonteur im blauen Kittel an, der sich, einen Korb mit Glühlampen am rechten Arm, eine Leiter unter dem andern, auf einem Flurgang vor dem Heroinsaal zu schaffen machte!

Jetzt stellte er seine Leiter auf und stieg darauf empor. Gemächlich drehte er eine der alten, verschmutzten Lampen aus der Fassung und ersetzte sie durch eine neue. Zweifellos war es irgendeiner der vielen Hilfsmonteure, den die Hausverwaltung hierhin geschickt hatte, um die Beleuchtungsanlage zu überholen. Übereilen tat sich der junge Mann bei seiner Arbeit nicht. Nach einem Blick auf seine Uhr kletterte er die Leiter sehr gemütlich wieder hinab und schob sie ein Stück weiter, bis dicht an die Saaltür.

In diesem Augenblick kündete die Werkglocke den Schichtwechsel an. Türen wurden aufgerissen, schwere Schritte polterten über den Zementboden, die alte Schicht zog ab. Auch der Monteur schien Feierabend machen zu wollen. Er klappte seine Leiter zusammen und legte sie an die Flurwand, stellte den Lampenkorb daneben und stand einen Augenblick wie zaudernd.

Dann kam plötzlich Leben in die Gestalt. Schnell schlüpfte er in den Saal und lief an Tanks und Pressen vorbei auf einen großen Kessel in der Saalecke zu. Das geöffnete Mannloch verriet, daß der Kessel außer Betrieb war. Der losgeschraubte Deckel lag daneben am Boden. Gewandt schwang der Eindringling sich auf den Kessel, tauchte durch das Loch unter und war gerade verschwunden, als die beiden Leute der Frühschicht den Saal betraten.

Eine drückende Luft, von den Ausdünstungen der Kesselrückstände durchsetzt, umfing ihn in seinem Verlies. Auf das äußerste war der Raum im Kessel durch die zahlreichen, ihn der Länge nach durchziehenden Heizrohre beschränkt. Nur mit Mühe fand Rudi schließlich eine Lage, in der er, das Ohr dicht gegen die Kesselwand gepreßt, ausharren konnte. Dabei wirkte der eiserne Behälter wie ein Schallfänger. Greifbar nahe vernahm er die Schläge einer arbeitenden Pumpe, die die andern Kessel im Saal speiste. Deutlich klangen Schritte und Worte aus dem Saal an sein Ohr. Nur zu sehen vermochte er nicht, was sie dort taten und trieben.

Die beiden Leute der Frühschicht, Henke und Altmüller, hatten inzwischen ihre Arbeitskleidung übergezogen und begannen die Apparate und Maschinen zu überprüfen. Am Trockner trafen sie auf ihrem Rundgang wieder zusammen. Rudi im Kessel hörte ihre Stimmen.

»Hm, hör mal, Henke, die Sache gefällt mir nicht mehr!«

»Was gefällt dir nicht mehr?«

»Na, die Sache. Du weißt schon, was ich meine.«

»Nanu! Warum denn auf einmal? Was ist mir dir los?«

»Weil – ja, weil . . . Einmal muß die Geschichte ja doch herauskommen, und dann fliegen wir alle ins Loch.«

Henke lachte kurz auf. »Herauskommen? Wie soll denn das herauskommen? Bis jetzt klappt das Geschäft. Unsere Freunde geben einen blauen Lappen für jedes Pfund. So leicht kannst du anderswo das Geld nicht verdienen.«

»Ja, aber wenn's herauskommt?« wiederholte Altmüller.

Der andere begann sich über diese Hartnäckigkeit zu ärgern. »Menschenskind, was ist denn mit dir los? Hast du vergessen, wie dreckig es dir früher gegangen ist? Deine Frau war krank, überall hattest du Schulden. Kein Kaufmann wollte euch mehr borgen. Betteln könntest du gehen, Altmüller, wenn ich dich nicht an unserm Geschäft beteiligt hätte.«

Altmüller stieß einen Seufzer aus. »Ich hab's nicht vergessen, Henke. Ich war in Not, und du hast mir mit deinen Ersparnissen geholfen.«

»Geholfen, bis auch die verbraucht waren. Nur das Geschäft hat uns beide wieder rausgerissen. Jetzt aber willst du dich zurückziehen? Gibt's nicht, Altmüller. Du mußt mitmachen, oder die Organisation wird dir . . .«

»Du bist verrückt«, knurrte Henke. »Laß dich krank schreiben oder in den Ruhestand versetzen! Ist ja lächerlich. Wie sollte einer auf unsern Dreh kommen! Mensch, kneif mich nicht, sonst . . .«

Gewaltsam umpreßte Altmüller den Arm von Henke und zog ihn auf den Gang hinaus. Leise sprach er dort weiter.

Als die Tür ging und es danach still im Saal wurde, zog der Monteur im Kessel seinen Körper behutsam durch das Gewirr der Heizrohre und kroch nach dem Mannloch hin. Vorsichtig streckte er den Kopf heraus und blickte sich um. Augenblicklich war niemand im Saal. Schnell huschte er zu der Tür an der andern Saalwand, zog sie leise hinter sich ins Schloß und verschwand durch den Flur. –

Gransfeld saß mit Rübesam in dessen Wohnung.

»Eine mächtig gewagte Geschichte, Gransfeld. Der verdächtige Engländer in Gorla zusammen mit einem von unsern Werkleuten? Wenn die Bande nur halb so gefährlich ist, wie du sie mir geschildert hast, dann . . . Je mehr ich über die Sache nachdenke, desto schwerer werden meine Bedenken. Ich weiß nicht, ob wir das Richtige getan haben. Am liebsten möchte ich die Sache rückgängig machen. Wer übernimmt die Verantwortung, wenn dem Jungen etwas zustößt? Ich möchte sie nicht tragen.«

»Rübesam, deine Besorgnisse . . .« Ein Klopfen an der Tür unterbrach Gransfeld. In einem blauen Monteurkittel, der mit Schlammflecken reichlich besät war, trat Rudi in das Zimmer.

»Da ist er ja!« Mit einem Gefühl der Erleichterung stieß der Chemiker diese Worte hervor.

Gransfeld lächelte. »Du siehst lieblich aus, Rudi! In welchem Schlammloch bist du denn gesteckt?«

»In einem leeren Kessel im Heroinsaal, Herr Doktor. Sehen konnte ich nichts, aber allerlei hören. Das wollte ich Ihnen melden.«

»Nachher, Rudi, nachher! Erst mach dich einmal einigermaßen menschlich, damit man dich ohne Gefahr für die Möbel auf einen Stuhl setzen kann!«

Von Rübesam geführt, verschwand Rudi im Waschraum, wo er sich gründlich säuberte.

»So, mein Junge«, sagte Gransfeld, als Rudi zurückkam, »jetzt siehst du besser aus. Setz dich und schieß los! Was weißt du Neues?«

Beinahe wortgetreu berichtete Rudi, was er in seinem Versteck erlauscht hatte, während seine beiden Zuhörer sich vielsagende Blicke zuwarfen. Als er zu Ende war, schlug Rübesam mit der Faust auf den Tisch: »Das genügt, Gransfeld. Das genügt, denke ich, um die beiden Männer sofort verhaften zu lassen.«

Gransfeld schüttelte den Kopf. »Zu gar nichts genügt das, Rübesam. Was ist denn geschehen? Unser Junge hat ein, wie ich zugeben will, reichlich verdächtiges Gespräch belauscht. Als Zeuge dafür kommt nur er selber in Betracht, ein jugendlicher Zeuge, nebenbei bemerkt, dem die Unschuldsbeteuerungen der beiden andern entgegenstehen würden. Ehe wir zufassen können, müssen wir zum mindesten wissen, auf welche Weise sich die beiden den Stoff verschaffen. Selbst dann würde ich es noch vorziehen zu warten.«

»Auch dann noch warten? Ja, worauf denn, wie lange denn, Gransfeld?«

»So lange, bis wir einen wirksamen Schlag gegen die ganze Bande führen können. Wenn wir nur das eine oder andere Mitglied hinter Schloß und Riegel setzen, ist die ganze Gesellschaft gewarnt. Falls ich das wollte, hätte ich schon in Port Said damit anfangen können. Die Herren Rasati und Tarantola waren im juristischen Sinne für eine Verhaftung reif.«

Rübesam machte ein bedenkliches Gesicht. »Die Sache ist mir aber zu gefährlich für den Jungen, Gransfeld.«

Ein vergnügtes Schmunzeln lief über Rudis Gesicht. »Es ist gar nicht gefährlich, Herr Rübesam. Im Gegenteil, die Sache macht mir mächtigen Spaß. Es war ein feiner Gedanke von Ihnen, mich als Hilfsmonteur im Werk unterzubringen. Da kann ich überall ganz unauffällig beobachten und hören.«

»Aber, bitte, nicht wieder aus einem Kessel heraus, mein Jungchen!« unterbrach ihn Rübesam. »Wenn die Männer Unrat wittern und das Mannloch zuschrauben, mußt du elendiglich ersticken.«

»Aber das ist der schönste Beobachtungsposten, Herr Rübesam! In einem leeren Kessel vermutet einen niemand, und man kann jedes Wort verstehen, das im Saal gesprochen wird.«

»Ich bitte dich, Rudi, die Weisungen meines Freundes ebenso zu befolgen, als ob sie von mir kämen«, sagte Gransfeld in bestimmtem Tone. »Ich selbst muß morgen nach Genf reisen. Herr Rübesam hat mir versprochen, dich während dieser Zeit in seine Obhut zu nehmen.«

Rudi zog ein schiefes Gesicht. »Ach, Herr Doktor! Sie wollen weg und mich nicht mitnehmen?«

»Nur für kurze Zeit, Rudi. Du kannst dir denken, weshalb.«

»Wegen der Statuette?«

Gransfeld nickte. »Deswegen, mein Junge. Vielleicht ist die ganze Sache in ein paar Tagen erledigt. Auf jeden Fall lasse ich dir meine Genfer Adresse hier. Du bist mir hier nützlicher als in Genf. Während meiner Abwesenheit mußt du dich in allen Sachen an Herrn Rübesam wenden und seine Weisungen unbedingt befolgen. Das mußt du mir versprechen, Rudi, damit ich beruhigt abreisen kann. Deine Hand darauf, Junge!«

Rudi schlug in die dargebotene Rechte.

*

Eine vornehme Wohnung in der Picadilly-Street in London. Von dem Inhaber dieser Wohnung, dem ehrenwerten Mister C. B. Morton, hatte der Besitzer des Hauses die beste Meinung. Auch wenn Mister Morton auf Reisen war – und er reiste viel – wurde die Miete von seiner Bank auf die Minute pünktlich überwiesen. Im Hause wußte man nur, daß der Gentleman bedeutende Geschäfte mit dem Ausland machte, durch die sich seine häufige Abwesenheit zwanglos erklärte. Erst vor wenigen Tagen war er nach England zurückgekehrt.

Heute abend empfing Mister Morton Gäste. In dem hellerleuchteten Parlour room waren bereits mehrere Herren bei Soda und Whisky zusammen. Gegen acht Uhr meldete der Butler seinem Herrn noch einen Gast. »Einen Augenblick, van Holsten!« entschuldigte sich Morton bei seinem Nachbar und ging auf den Flur, um den Ankömmling zu empfangen. In der Begleitung Mac Andrews kehrte er in den Raum zurück. Der Chef war da, die Besprechung konnte beginnen.

Mac Andrew schien sein Programm nach dem Grundsatz der Steigerung aufgestellt zu haben. Er begann mit verhältnismäßig harmlosen Mitteilungen und kam allmählich zu ernsteren Dingen. »Gentlemen, unser Kommanditist Jefferson droht eine Gefahr für die Gesellschaft zu werden. Ich darf die bedauerliche Tatsache nicht verschweigen, daß Jefferson dem Kokain verfallen ist.«

Mac Andrew hielt inne, und drückendes Schweigen herrschte im Raum. Ein unheimliches Gefühl war bei den Worten des Chefs über die Zuhörer gekommen. Einer der Ihrigen, der den gefährlichen Stoff unter die Leute brachte, selbst dem Gift verfallen! War dies die vergeltende Gerechtigkeit? War's eine Mahnung des Schicksals? Beklommen blickten sie vor sich hin.

Mac Andrew sprach weiter: »Zur Entschuldigung Jeffersons läßt sich nur sagen, daß er durch ein schmerzhaftes Gallenleiden dazu gekommen ist. Trotzdem, so darf es nicht weitergehen. Vor acht Tagen wurde er im Kokainrausch von der Polizei auf der Straße aufgegriffen. Nur ein glücklicher Zufall hat Schlimmes verhütet. Unser Mitglied Simpson war in der Nähe und griff sofort mit großer Geistesgegenwart ein. Er stellte Bürgschaft für den Verhafteten und brachte ihn im Auto fort, bevor er auf der Polizeistation in seinem Rausch plaudern konnte.«

Die Zuhörer steckten die Köpfe zusammen. Bemerkungen wurden ausgetauscht. Kaum auszudenken, ein Wissender im Kokainrausch auf der Polizeiwache! Nie wieder gutzumachendes Unheil hätte der anrichten können.

»Gentlemen, nach Ihren Bemerkungen glaube ich Ihrer Zustimmung zu der von mir getroffenen Maßregel sicher zu sein. Ich habe Jefferson in Duncan-Castle internieren lassen. Dort muß er unter scharfer Beaufsichtigung eine Entziehungskur durchmachen. Es ist ihm bedeutet worden, daß jeder Versuch der Auflehnung oder Flucht nach den Gesetzen der Gesellschaft bestraft wird.«

Rufe der Zustimmung wurden laut. Duncan-Castle? Sehr gut! Sie wußten, daß das alte Tudorschloß, einem ihrer Mitglieder gehörig, in einer fast menschenleeren Gegend lag. Da sollte es Jefferson schwerfallen, unter die Leute zu kommen und zu plaudern. Außerdem hinderte ihn die angedrohte Strafe. Die Gesellschaft strafte rücksichtslos, wo es ihr notwendig schien. Das Schicksal des Verräters Giuseppe Moltani war noch in aller Erinnerung. Das war keine leere Drohung. So oder so würde Jefferson unschädlich gemacht; entweder wurde er geheilt oder beseitigt.

Mac Andrew fuhr fort: »Ich bekam Ihren Bericht aus Gorla, Morton. Sie schrieben, daß Sie den früheren Steward Wagner von der ›Usakama‹ vor dem Werkportal gesehen haben.«

»Steward Wagner ist bei den Haifischen«, unterbrach ihn der Holländer.

»Leider nicht, Sir«, wies Mac Andrew den Zwischenruf ab. »Sie schrieben weiter, Morton, daß der Steward Wagner sich in Gesellschaft eines Mannes namens Gransfeld befindet, den er auf der ›Usakama‹ kennengelernt hat. Dieser Mensch ist unserm Mitglied Henke bei einem Besuch im Werke aufgefallen. Henke hat bestätigt, daß die beiden dauernd zusammenstecken. Auf Ihren Brief hin haben wir uns in Ägypten erkundigt und folgendes festgestellt. Jener Gransfeld war nach Syut gereist, wo er seinen Onkel tot vorfand. Wichtige Mitteilungen erhielten unsere Agenten von dem indischen Besitzer einer Garküche in Alexandria. Demnach hat Gransfeld den Verdacht ausgesprochen, daß es beim Tod seines Oheims nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Auch hat er Stücke aus dessen Nachlaß, unter anderm eine ägyptische Statuette, vermißt.«

»Megastopoulos, natürlich! Die alte Geschichte wieder! Der kann's nun einmal nicht lassen!« brauste van Holsten auf.

Der Chef wies ihn mit einer Handbewegung zur Ruhe. »Über Megastopoulos werden wir später beschließen. Unsere Erkundung besagt weiter: Gransfeld ist von Syut nach Port Said zurückgekehrt. Dort hat er beim deutschen Konsul den genannten Wagner getroffen, der unserer Gesellschaft schon seit längerer Zeit verdächtig ist. Auf der ›Warana‹ sind die beiden zusammen nach Hamburg und weiter nach Gorla gefahren. Beide sind dort wiederholt im Werk gesehen worden. Gentlemen, wenn das alles Zufall ist, dann ist es ein merkwürdiger Zufall.«

Stimmengewirr erhob sich, als Mac Andrew geendet. »Zufall?« – »Ausgeschlossen! Hier hört jeder Zufall auf.« – »Gemeine Spione sind's!«

Von allen Seiten kam die gleiche Meinung. Der Holländer nahm das Wort. »Gentlemen! Der Steward Wagner ist nicht verdächtig, sondern überführt. Unbegreiflich, daß er vor Port Said heil davongekommen ist. An unserm Agenten Rasati hat's bestimmt nicht gelegen. Daß auch der andere hinter uns her schnüffelt, haben wir nur dem Griechen zu verdanken. Megastopoulos hat uns durch seine Privatgeschäfte schon öfter Scherereien gemacht. Er hat von der Gesellschaft den Auftrag, in der Öffentlichkeit als Altertumshändler aufzutreten, als Altertumshändler, Gentlemen, nicht als Dieb von Altertümern. Aber der Bursche kann's nicht lassen. Ich war erschrocken, als er mir in Port Said eine Statuette des Sethos zeigte, die er in Syut gestohlen hat, ein Kunstwerk im Werte von Tausenden. Den Verdacht Gransfelds hat er dadurch schon erregt. Wenn er versucht, die Statuette zu verkaufen, ist der Teufel los. Unter allen Umständen muß das verhindert werden.«

Mac Andrew hatte ein Buch ergriffen und blätterte darin. Jetzt hatte er die Adresse gefunden. »Megastopoulos ist augenblicklich in Genf, Hotel Bellevue. Schicken Sie eine Depesche an ihn, van Holsten! Er darf die Statuette unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit bringen.«

Während der Holländer die Depesche schrieb, fuhr Mac Andrew fort: »Es besteht der Verdacht, daß Gransfeld und Wagner versuchen werden, in Gorla weiterzuspionieren. Ich habe unserm Agenten Henke, der die beiden von Aussehen kennt, Weisung gegeben, sie zu überwachen und mit allen Mitteln unschädlich zu machen. Ich fürchte, daß Henke den Auftrag allein nicht erledigen kann.«

Gleichzeitig sprangen Morton und van Holsten auf. »Schicken Sie uns, Mac Andrew! Es ist ein Vergnügen für uns, den beiden den Hals umzudrehen.«

Der Chef schüttelte den Kopf. »Unmöglich, Gentlemen. Sie vergessen, daß Sie den beiden genau bekannt sind.«

Morton sank auf seinen Stuhl zurück, van Holsten dagegen blieb stehen. »Bekannt? Den möchte ich doch sehen, der mich wiedererkennt, wenn ich's nicht will!«

Mac Andrew überlegte. »Ich wollte eigentlich eines unserer deutschen Mitglieder nach Gorla schicken; aber Sie haben den Vorteil, van Holsten, daß Sie die beiden genau kennen. Reisen Sie sofort und erledigen Sie die Angelegenheit im Sinne der Gesellschaft!«

Van Holsten warf einen Blick auf die Uhr. »Brauchen Sie mich noch hier, Mac Andrew?«

Dieser schüttelte den Kopf. »No, Sir.«

»Well! Das nächste Flugzeug nach Deutschland startet in einer Stunde. Es ist also höchste Zeit. Auf Wiedersehen!« Er verließ das Zimmer.

Nur noch eine kurze Viertelstunde blieben die andern. Bald lagen die Räume Mister Mortons in der Picadilly-Street im Dunkeln.

 


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