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Antiochia

 

Die Seltschuk

Der ehrwürdige Konzilienort Nicäa, von den Seltschuk zur Hauptstadt ihres Emirats von Roum gemacht, war nun zurückerobert worden. Nicht ohne diplomatische und kriegstechnische Hilfe durch Byzanz; denn die Grenzen lagen noch sehr nahe. Zuerst recht nachlässig, in Abständen vorrückend, hatten die vier Kreuzheere die Einkreisung begonnen.

Saint Gilles und der Papstlegat Adhemer de Monteil mit den Provençalen kamen ganz zuletzt, um ihren Sektor zu besetzen; das traf sich so gut. Eben hatte der junge Seltschuksultan Quilij-Arslan von Cappadocien aus, wo er mit seinem Rivalen, dem Emir Ghazi ibn Danischmend, im Hader lag, Verstärkungen geschickt nach seiner Heimatstadt, ehe sie völlig eingeschlossen würde. Saint Gilles schnitt diesen nun den Weg ab und überfiel sie unversehens. Der Überraschungssieg war vollständig. Als dann die Türkenköpfe, aus Katapulten abgeschossen, hundertweise in Nicäa eintrafen, statt der ganzen Türken, wie erwartet, sank die Stimmung der Belagerten merklich.

Das benützte Butumites, der Statthalter-Diplomat. In Briefen wies er auf diese bestialischen Manieren des neuen Feindes hin. Statt schließlich doch einem Sturmangriff der »Franken« zu erliegen, wäre es nicht viel gescheiter, sich schon vorher in die gute byzantinische Hut zu geben. Der Kaiser garantiere in diesem Falle Leben und Besitz. Die fremden Barbaren sollten gar nicht einziehen dürfen; so war Nicäa vor Plünderung beschützt.

Noch aber blieb die Verbindung der Garnison durch den See Ascanios im Südosten des Stadtgebietes mit der Außenwelt bestehen. Auf dem Wasserweg kamen nachts in Barken von dem gebirgigen Hochland Holz, Nahrungsmittel, Waffen. Um dies abzustellen, verlangten die Kreuzherren Hilfe durch Alexios. Der schickte eine Flottille an das Südende des Nicomedischen Golfes. Auf Ochsenkarren kamen dann leichte, mit griechischem Feuer versehene Schiffchen, kriegsbemannt, heimlich bis zum See. Anderen Tages sahen die Belagerten ein kleines feindliches Geschwader auf seiner Mitte manövrieren. Von da an suchten die Bewohner mit oder ohne Zustimmung der türkischen Garnison die Stadt zu übergeben. Butumites persönlich wurde eingelassen, verhandelte mit den Verteidigern und zeigte anschaulich, daß die weit überlegenen Frankenheere eben einen Generalsturm vorbereiten.

Zu dem es aber nicht mehr kam. Gerade begann man die gewaltigen, von Byzanz gelieferten Kriegsmaschinen gegen die Mauern auszuproben, legte Sturmleitern an, da gingen an den Festungstürmen bereits die byzantinischen Standarten hoch. Butumites hatte genügend Fahnentuch mit den kaiserlichen Truppen schon zur Verhandlung mitgebracht, denn ihm lag als künftigem Gouverneur daran, keine heroische Ruine, sondern eine ertragreiche Stadt zu übernehmen. Auch vom Armeekorps Tatikios zog augenblicklich militärische Besatzung ein. Die Kreuzfahrer selber wurden nur in kleinen Trupps zugelassen, um Zwischenfälle zu verhüten.

Nun gehörte nach fünfzehn Jahren Unterbrechung Nicäa wieder den Bestimmungen gemäß zum Reich. Auch die gefangene Frau des jungen Sultans mit zwei kleinen Kindern und dem erbeuteten Schatz schickte Butumites seinem Kaiser. Die Sultana war Tochter des Emirs von Smyrna, darum gab sie Alexios gleich dem Generalissimus Johann Dukas mit, auf seinem Kriegszug gegen dieses Emirat, das würde auf dem ganzen Wege als Symbol des Sieges über Nicäa Eindruck machen. Nach der Einnahme von Smyrna hieß er seinen Schwager jedoch, die junge Familie des Quilij-Arslan diesem unverletzt, ganz ohne Lösegeld, zurückzustellen. Wie empfänglich für ritterliche Gesten die Türken waren, wußte das Barbarenbüro genau.

Tancred und Saint Gilles, die Eidesverweigerer, schrien unterdessen laut, teils der Beute wegen, teils aus Prinzip, die Machenschaften dieses Butumites, letztlich seines allerhöchsten Herrn natürlich, hätten sie um den Preis ihrer Mühen gebracht. Doch sie lärmten im Leeren. Alle übrigen waren es zufrieden, daß ihnen der Sturmangriff auf eine Stadt erspart geblieben, die dann zu behalten doch aussichtslos gewesen wäre nach dem klaren Wortlaut des Vertrages.

Die Führer der vier Heere ritten sogar nach Pelekan, um sich von Alexios zu verabschieden, ehe sie zum heiligen Abenteuer aufbrachen, während er, in Auswertung des Sieges von Nicäa, die Wiedereroberung seiner Provinzen Mysien, Jonien und Lydien begann, denn Kreuzfahrer und Byzantiner hatten sich vernünftigerweise in den Kampf gegen die Türken Anatoliens geteilt. Hier konnte man einander eine Weile gut ergänzen, wenn es auch der Kaiser von vornherein abgelehnt hatte, selbst bis nach Jerusalem zu ziehen.

Noch einmal erklärte er den Baronen eingehend die Strategie der Seltschuk. Warnte sie, daß diese die besten Kundschafter besäßen und die Gabe, mit ganzen Heeren ungehört und ungesehen tagelang ihre Feinde zu begleiten. Dann im günstigsten Moment warfen sie sich auf die Ahnungslosen.

Hochgemut, in bester Form, zahlenmäßig fast noch ungemindert, drangen bald darauf die Kreuzfahrer durch das alte Phrygien bis zum Geck-su, dem Blauen Fluß. Dort teilten sie sich, Schwierigkeiten der Verpflegung halber; denn die Nachschübe aus dem Golf von Nicomedien hatten aufgehört. Als erste Abteilung zogen italienische und französische Normannen gemeinsam unter Bohemund und Robert von der Normandie voraus, die Hauptmacht folgte auf etwas anderen Wegen.

Gemächlich, wie zu Hause, ritt man in einen Talkessel des Hügellandes um Dorylea ein, als Schakalschreie durch die Luft fetzten; plötzlich wogten rundum alle Höhen von feindlicher Kavallerie. Gerade das, wovor Alexios so gewarnt, war nun geschehen. Sofort nach dem Fall von Nicäa hatten sich Quilij-Arslan und die Danischmenditen geeinigt, vorläufig wenigstens, um den neuen Eindringling gemeinsam zu vernichten. Tagelang fast an seiner Seite, trotzdem unbemerkt, lauerte die gesamte Streitmacht Anatoliens nur auf rechten Ort und Augenblick zum Überfall.

Jetzt, da die Armeen sich gespalten hatten, stürzte sie über die schwächere erste Abteilung her. An freie Schlacht war für diese nicht zu denken. Eilends ließ Bohemund die Leute absitzen, Zelte aufrichten, maßte das Fußvolk zum Widerstand, während die Ritterschaft, jene Zeltbarrikade im Rücken, sich dem Angriff stellte.

Nicht eine Minute zu früh.

Schon schwirrten wie Insektenschwärme die Seltschuk von allen Seiten nieder, wogten vor, schossen ihre Köcher leer, schlugen einen Haken, wogten rhythmisch zurück, um anderen, schon Bereiten, ihren Platz zu lassen, so daß die Pfeilwolke nie zerriß. Aus unglaublicher Entfernung trafen sie, wohin sie wollten, wichen aber selbst auf ihren ruppigen Pferdchen, dressiert wie Poloponys, jedem Vorstoß der gewichtigen Ritter aus. Erst als deren Reihen sich bei der ungewohnten Kampfweise gelichtet hatten, gingen sie zum nahen Angriff über, unter Zähneknirschen und schnatterndem Geheul, so außermenschlich scheußlich für europäische Ohren, als ginge es vom Teufel und seinen schwärzesten Engeln selber aus.

Für die Bedrängten hieß es halten, bis zum letzten Mann, um jeden Preis. Und das taten sie auch durch sechs volle Stunden, in der Hoffnung, einer der Boten hätte doch die rückwärtigen Armeen erreicht.

Schon war hoher Nachmittag, da kam als erster in Karriere der Herzog von Bouillon zu Hilfe, wenn auch nur vorerst mit fünfzig Rittern, doch bald gefolgt von der ganzen lotharingischen Kavallerie. Fast gleichzeitig trafen Hugo von Vermandois und der Papstlegat Adhemar von Monteil ein, schließlich Saint Gilles.

Während der letzten, bösesten Viertelstunde flog es Bohemund öfter durch den Sinn: gut, daß die goldene Ankunftsmahlszeit zu Byzanz bekömmlich war, jetzt ist jeder einzelne unentbehrlich, denn um ihn her schlugen sich Richard von Salerno, Aubrè von Cognano, Rolf der Rote, Humpherey, selbst Grandemesnil, die früher Aufsässigen, löwenhaft. Welcher von ihnen hatte ihm da eben eine Seltschukklinge mit dem Schilde aufgefangen? Nein, kein Normanne, einer von Gottfrieds Eliterittern, die schon durchgebrochen waren. Er erkannte Pferd und Rüstung des jungen Fulbert von Bouillon, Gottfrieds Verwandten. Dann trennte das Gewühl sie wieder, denn Neues hatte sich begeben.

Der angaloppierende Papstlegat begann mit seinen Leuten ein großangelegtes Umfassungsmanöver auf einer höheren Ebene, als jene der eigentlichen Schlacht zwischen Türken und Normannen. Er unterstützte Bohemund, indem er den linken Flügel der Seltschuk umritt. Diese Bewegung ahmten auf der gegenüberliegenden Seite andere Abteilungen nach, so daß sich Quilij-Arslan bald von der Einkreisung durch die völlig entwickelten Armeen des Feindes bedroht sah. Jetzt kämpften am linken Flügel Bohemund, Tancred und Robert von der Normandie, durch die Hilfe neu belebt, links operierte noch Saint Gilles, der dem Manöver des Papstlegaten gefolgt war, und dieser selbst, rechts endlich überflügelten die Lotharinger und Franzosen unter Gottfried von Bouillon, dem Grafen von Flandern und Hugo, Vermandois die türkische Armee.

Damit war die Schlacht von Dorylea entschieden. Quilij-Arslans gesamte anatolische Streitmacht stäubte erst bis zu ihren Zelten zurück, um aber über diese noch hinaus einen ganzen Tag verfolgt zu werden. So verlor der junge Sultan binnen kurzem nicht nur Frau und Kinder, sondern den gesamten Kriegsschatz, den er als Halbnomade im Lager mit sich führte.

Nun hatten die beiden größten Kriegerrassen der damaligen Welt sich zum erstenmal getroffen, und ihre erstaunte Hochachtung voreinander war grenzenlos, soweit dies bei den Glaubensgegensätzen zulässig. »Zwar kann natürlich niemand, der die unreinen Franken kennt, etwas anderes als Tiere in ihnen sehen, doch eben mit dem überlegenen Mut und der Angriffslust von solchen«, meinte ein muselmanischer Beobachter. Dem Anonymus wieder hatte sein Herr in das Schreibrohr diktiert: »Wer wäre gelehrt genug, um Klugheit, kriegerische Gaben und Tapferkeit dieser ungläubigen Türkenschweine zu beschreiben. Sie selber sagen, niemand auf der Welt hätte das Recht, sich Ritter zu nennen, außer uns und ihnen.«

Während der zwei Ruhetage in Dorylea traf Bohemund beiläufig auf den jungen Fulbert von Bouillon. Zwischen Kissen lag er im Garten seines Quartiers, sehr bleich, den Arm verbunden.

»So habt Ihr doch noch etwas abbekommen bei der Hilfe, für die ich Euch noch sehr zu Dank verpflichtet bin!«

»Hilfe! Nicht, daß ich wüßte. Meine Armwunde – der Biß eines Skorpions. Fiebernd, bewußtlos auf einer Tragbahre, mußte ich die Schlacht versäumen – leider.«

»Ich erkannte aber Rüstung, Schild, sogar das Pferd. Als einer der ersten von des Herzogs Rittern pariertet Ihr einen Seltschukhieb für mich.«

»Ihr irrt gewiß, nicht wahr, Plaisance?« Er wandte sich dem schmalen Mädchen im Garten um Bestätigung zu. Hochschenkelig kam sie näher. War das ein »fahrendes Fräulein«, von den Wirrsalen der Zeit zum Troß gespült, oder doch wohl eine Edeldame? Es ergab sich bald, sie sei des Kranken kinderjunge Frau.

»Ja, Ihr irrt, Prinz von Tarent, es war gewiß nicht Fulbert.«

Etwas im aufgeschossenen Schwung der Haltung gemahnte ihn an Emma, mehr noch an Judith von Grandemesnil, seines Onkel Roger von Sizilien Gattin, auch die Stimme:

»Verzeiht, ich muß noch an ein anderes Krankenlager zu Besuch.«

Ihr Jünglinggemahl nickte.

»Wollt Ihr sie nicht begleiten«, bat er dann, »Plaisance ist unvorsichtig in diesem fremden Land, nie in der Sänfte, immer zu Pferd und jedem Schutz voraus, das ängstigt mich, während ich hier liege.«

Herrlich saß sie in dem plumpen Sattel. Ihre Augen grau, das Weiße ungewöhnlich bläulich, standen wie kleine Granite in zwei Schalen, aus dem Mittelmeer geschöpft. Die ganze Haltung war gespanntes Warten.

»Schade, daß ich meinen Helfer nun nicht weiß, um ihm Erkenntlichkeit zu zeigen.«

Ja, darauf hatte sie gewartet.

»Doch, das könnt Ihr. Gebt ihm eine jener fischschuppenleichten Sarazenenrüstungen, wie nur Eure Armee sie mitführt, wenn auch noch nicht trägt, zum Staunen unserer Ritter. Denn unter Fulberts Panzer brach er fast zusammen.«

Wie das Kind an Emma und Judith von Grandemesnil erinnerte.

»Mein Helfer aber hat ihn doch bewundernswert getragen. Wie kommt das?«

»Durch Zähigkeit, daheim geübt bei harter Jagd auf Wölfe, Bären, Eber.«

»Und der Onkel Herzog hat vor dem Abritt nichts bemerkt?«

»Nein, Ohm Gottfried merkt nie etwas.« Sie jubelte. »Auch sah er diesmal bei jedem nur auf Schnelligkeit.«

»Sehr edle Dame, Eure Kinderfrau scheint unverläßlich. Ich werde dem Sieur von Bouillon da einen Wink zu geben haben.«

»Nein, Ihr werdet mir statt dessen einen sarazenischen Schuppenpanzer zu geben haben. Ich will nicht mehr in Zelten sitzen, während draußen so viel geschieht. Wozu wären sonst die Szenen und das Geflenne gut gewesen, bis mich Fulbert endlich mitnahm. Die arme Gräfin Godvere, zu der wir eben reiten, flehte und flennte wieder, damit Onkel Balduin sie zu Hause lassen möge. Der aber in seiner schwärzesten Laune erklärte, wozu hätte man denn eine angetraute Frau. Vor Angst und Heimweh stirbt sie schon beinahe. Dabei fangen wir doch kaum erst an, nicht wahr? So wie vorige Woche wird es Monate und Monate jetzt weitergehen?«

Er stärkte ihre Hoffnung auf dauerhafte Lebensgefahr.

»Oh, noch viel ärger, wenn zu den Seltschuken noch Mameluken, Tartaren, Sarazenen kommen. Dann werde ich Euch zur Vorsicht außer dem seidenleichten Schuppenpanzer auch das schnellste Pferdchen schenken, damit Ihr rechtzeitig entfliehen könnt.«

»Oder Euch heraushauen.«

Sie lachten schon, wie beste Freunde.

Bei ihrer Ankunft schleppte sich Godvere von Toëny ruhelos zwischen ihrem Lager und der Türe hin und her. Sie begrüßte die beiden wie Retter. Was es schon wieder gäbe, in diesem schrecklichen Lager. Griffen die Türken aufs neue an? Wo der Graf sei? Am Tage, bekäme sie ihn kaum zu sehen.

Vor kurzem galt sie noch für schön, denn Balduin von Bouillon verlangte von Frauen sowohl Geld als gutes Aussehen. Jetzt war sie abgemagert, was Müßige altert, nur Beweglichen steht, auch wirkten die europäischen Kleider fehl am Ort in ihrer Schwere. Sie litt an Einsamkeit; außer Plaisance von Bouillon war kaum eine Dame bei den Kreuzheeren, nur »fahrende Fräulein«, und was eben an Weibern zu Armeen stößt.

Die Gräfin klagte: Hätte Balduin sie wenigstens nach Byzanz gelassen, an jenen zwar ketzerischen, aber weltberühmten Hof. Doch nur die Kreuzherren selber kamen nach Blachernae. Bohemund solle ihr berichten. Er sei von allen ja am längsten dort gewesen. Welche Kleiderschnitte trügen die »Porphyrgeborenen«. Ob es wahr sei, daß sie für ihre überirdische Haut nur junges Reh äßen mit zartesten Gemüsen, nie Wein tränken, nur parfümiertes Wasser und badeten in einer Mischung aus Säuglings- und Kaninchenblut?

Ihn langweilte dies tödlich. Da Plaisance zu bleiben schien, die Wache Balduins würde sie dann heimgeleiten, empfahl er sich so bald wie möglich. Suchte im Normannenlager den leichtesten, dabei dichtesten Schuppenpanzer aus, passende Waffen und ein Gebirgspony mit besonders langen, elastischen Fesseln. Sandte alles der jungen Amazonenschwester ins Quartier.

 

Dornen

Jene sanften, fast europäischen Hügel um Dorylea waren längst im Rücken der Kreuzfahrer verblaßt und jetzt, zum erstenmal, drohte sie Asien an: das Fremde.

Steppen grellten, Licht peitschte ihre Augen rot. Dann schob das Massiv des Keshir-Dagh ihnen die zerfressene Schulter in den Weg. Sie mußte in tagelanger Mühsal überklettert werden. Jenseits traten die Keuchenden in das geschlossene Becken der großen Salzwüste ein.

Hier starben die Pferde. Sanken einfach um, unter der zweifachen Last der Julihitze und viel zu schwer gerüsteter Ritter, Bohemunds zähe Gebirgsponys ausgenommen. Doppelt so viele als zum Reiten nötig, führte er mit sich. Eine Hälfte trug jetzt die Normannen, nur in leichte Schuppenpanzer eingekleidet, die zweite, jene alten, massiven Rüstungen, doch leer, für spätere Gelegenheit, denn bei Kämpfen, wo es wieder auf die Wucht des Anpralls ankam, verbürgten nur sie die Überlegenheit. Nach Umgehung eines weiteren Gebirgsstockes, des Sultan-Dagh, kamen Salzsümpfe, dahinter wieder Steppen, eine Öde, die weder Nahrung noch Wasser gab.

Unter der Geißel des Lichtes rissen sie Kakteen aus, zerrieben die graue Masse in den Händen, bissen Dornen auf, um Reste Feuchtigkeit herauszusaugen, oder preßten sie fest ins Fleisch, das eigene Blut zu trinken. Dornen – das einzig Lebendige; hier bekam die Heilandskrone einen völlig neuen Sinn.

Mehr aus Übermut hatten die Sieger aus dem Lager Quilij-Arslans auch Ochsen, Schafe und Ziegen weggetrieben, die Wachhunde liefen dann von selber mit. Das alles einfach schlachten aber wagte niemand, trotz der Not, wie hätte man, jetzt ohne Pferde, sonst auch nur die wichtigste Habe retten sollen.

So trottete, Wochen später, aus der kargen Zone eine sonderbare Prozession heraus: Von Rindern abwärts über Ziegen, Schafen, bis hinab zu Hunden wurden die Tragtiere immer kleiner; schleppte eine Kuh noch Rüstung oder Waffen als Gepäck, so der schwächste Köter aufgebunden nur noch einen Helm.

Die Truppen aber hatten von Hemden abgerissene Fetzen über Kopf und Schultern hängen, erster Ansatz eines Turbans. Lebenslange Sonnensehnsucht verkehrte sich in Sonnenangst, denn vieles gab es umzulernen. Wer das am raschesten vermochte, ohne eigenen Substanzverlust, dem standen allerdings dann Räume eines grenzenlos gesteigerten Daseins offen. Vorläufig irrten auch die Begabtesten noch. So erwarteten sie vor Iconium Feinde, dafür auch Hilfsquellen, fanden nichts als Leere. Die Stadt verlassen, nirgends Mensch, Vieh oder Vorräte rings im Land. Das war Seltschuktaktik: alles als jene Steppe zu hinterlassen, aus der sie selbst hervorgebrochen waren. Schließlich tauchten doch türkenfeindliche Armenier aus ihren Schlupfwinkeln, zeigten Verborgenes auf, brachten Eigenes zu unverschämten Preisen, gaben aber den guten Rat, so viele Wasserbeutel wie möglich zwischen Iconium und Heraklea mitzuführen, denn dort schob sich wieder eine Wüste ein.

Endlich in Heraklea wälzten sich dann Ritter und Fußvolk im frischen Gras wie Tiere, gruben die Hände in das feuchte Erdreich, schrien auf vor Glück. Hier kauften sie auch neue Pferde, doch noch immer von der schweren Art.

Zwei der Ehrgeizigsten, ein Reif-Berechnender, ein Einfach-Junger, waren jetzt nicht mehr zu halten und sprengten in eigene Unternehmungen hinaus, wenn auch scheinbar noch im Sinne des gesamten Kreuzzuges: Balduin, des Herzogs Bruder, und Tancred. Bohemund ließ ihn los, wie einen Jagdfalken von der Faust. Er taumelte, berauscht von Weite. Schrie:

»Das ist doch etwas anderes, als monatelang nichtige Felsennester bei Sizilien belagern helfen, für irgendeinen Onkel. Gar den ›Borsa‹, der immer nur die Münzen in der Börse zählt, sie nie herausgibt.«

Sein Vetter von Salerno ging natürlich auch mit ihm. Sie wußten nicht so recht, was machen; Nochnichtdagewesenes womöglich, das auch reiche Beute brachte, nun, es würde sich schon finden.

Anders Balduin von Boulogne. Sein Ziel war vorläufig Edessa, besonders aber jene Teile von Zilizien, die zum halbfreien, kleinarmenischen Reich gehörten, noch nicht ganz den Seltschuk, nicht mehr ganz Byzanz, locker gefügt und zwiespältig. Unklare Lagen paßten ihm. Wenn die christliche Bevölkerung dieses, von Byzanz tolerierten Pufferstaates, ihm freiwillig die Herrschaft übertrug, war es ein Grenzfall, ob auch hier der »Eid« zu gelten habe und mit ihm die Ablieferungspflicht; man konnte es zum mindesten bestreiten. Die undankbare Aufgabe vor Antiochia, später die nebelhaft-riskante vor Jerusalem, überließ Balduin, wie es sich für einen jüngeren Bruder ziemt, mit allen Ehrenstellen, gern dem Herzog von Bouillon.

Den anderen Eid als Kreuzherr, das Heilige Grab betreffend, würde er erfüllen, doch erst später. Der einstige Mönch von Cambrai wollte sicher nicht sein Heil gefährden, doch ein jegliches zu seiner Zeit.

War es nicht wichtiger, jenes bedrohte Christentum erst wieder zu befestigen, das längs des Weges lag, indem er es in seine eiserne Hut nahm? Der Papstlegat schien einverstanden. Ihm war Gottfrieds weiches Schwanken im Heiligen Lande lieber als des anderen knochige Hoffart.

Unterdessen trieb Bohemund Tancreds und seiner Kameraden leeren Furor ebenfalls Zilizien zu, diese zweite beweglichere Schar, auch an Zahl geringer, überholte dabei Balduin, der sich drei Tage in den Klüften des Bulghar-Dagh verirrt hatte. Wie beflügelt stieß sie auf Tarsos nieder, mit seinen schwachen, türkischen Kräften und überwältigend großer armenischer Bevölkerung. Die hielt es gleich von Anfang mit den Neuen, denn Türken wie Byzantiner waren ihr gleich verhaßt. Diesen Normannen aber traute sie es zu, mit beiden aufzuräumen, und selber blieben solche Schweifende ja nirgends allzulange.

Schon war unter dem Druck der Einkreisung die Garnison bereit, mit Tancred zu verhandeln, da erschien auch Balduin vor den Mauern mit seinem Vetter du Bourg, Reinhard von Toul, Peter von Staney und viel mehr Truppen, als sein jüngerer Rivale besaß. In der Nacht flohen dann die Seltschuk. Gleich wollten die Armenier ihre Stadt den Kreuzherren öffnen und hißten Tancreds Banner, denn mit ihm als ersten hatten sie verhandelt.

Balduin aber bestritt diese Priorität, nahm Tarsos für sich selbst in Anspruch. Knirschend vor Wut mußte Tancred sich dem weitaus Überlegenen fügen, jagte wieder fort nach neuer Beute, ohne etwa hundert seiner Nachzügler erst abzuwarten. Als diese kamen, ließ der Graf sie nicht mehr ein, trotz ihrer flehentlichen Bitten. Draußen, vor den Mauern von Tarsos, schlachteten zurückgekehrte Türken in der Nacht dann alle ab. Die Empörung gegen Balduin unter seinen eigenen Leuten aber stieg fast zu Meuterei, er mußte, was ihm am schwersten fiel – bitten, um zu beschwichtigen.

Tancred, in umweltzersprengendem Zorn, war unterdessen nach Mamistra geraten, erstürmte nach vierundzwanzig Stunden diese starke Stadt, um dann vor Balduin, als der erschien, nun seinerseits die Tore zu verschließen. Damit stieg jedoch die Situation den Jünglingen zu Kopf. »Jetzt sich rächen«, hetzte der tolle Salerno und wies auf die verstreuten Lotharinger.

Sie fielen aus. Doch nach erstem Vorteil, wie ihn Frechheit oft mit sich bringt, ging es den Angreifern gar übel. Kaum, daß sie vor der Übermacht das Tor noch rechtzeitig erreichten. Hinter den silberblinkenden Flanken von Tancreds Pferd, dem letzten, fiel es zu. Salerno war schon früher gefangen worden.

In der Nacht überstürzte alle eine jähe Scham. Die weiße Seele des Mittelalters stand aufs neue groß in ihnen.

Weggerissen in einem Reuesturm fiel von Balduin Berechnung ab, von Tancred Ungestüm. Wie weit hatte Weltgier sie, die geweihten Ritter des Kreuzes, aus Gottes Blickfeld wieder fortgespült, obgleich sie wußten: nur, wen er ansieht, der hat Wirklichkeit.

Still, auf getrennten Wegen, kehrten sie zur großen Armee zurück, um ihre Herzen zu reinigen vor Adhemar de Monteil, dem Papstlegaten. Es war Oktober, rot und klar. Als Balduin ankam, lag der Herzog, sein Bruder, von einer Bärin im Gebirge arg zerfleischt. Und eben starb Godvere. Er nahm ihr den blasigen Riesensmaragd ab, ein magisches Erbstück, das er lange schon begehrt, ohne daß sie es ihm hätte geben mögen, und trug den Stein des Ehrgeizes von nun an auf der bloßen Haut, damit er besser wirke. Schon nach zwei Tagen wieder in seinem Krampf von Nüchternheit erstarrt, wandte er sich nach Edessa, knüpfte das Truggespinst von neuem und genau dort an, wo es der Reuesturm zerrissen hatte.

Tancred blieb. Er ließ sich schweigend an die Leine nehmen, doch Bohemund staunte über sein wildgereiftes Gesicht.

 

Vor Antiochia

Die große Armee war in der Zwischenzeit ein wenig gemindert worden, während jene zwei Ehrgeizigen sich von ihr getrennt hatten, zu rivalisierendem Tun.

Nach vielen, doch politisch notwendigen Umwegen stand gerade die rauheste Kette des Anti-Taurus zwischen ihr und dem Orontesbecken. Auf schrägen Saumpfaden, von Wildbächen überstürzt, glitschten die plumpen Pferde, scheuten zurück, stürzten, eines riß das andere samt den Panzerreitern in die Schründe. Seitdem hatte Godvere von Toëni ihr Herz gespürt, was dann zu ihrem raschen Tode führte, nach Balduins Rückkehr. Sie erholte sich nicht wieder von der Angst, obwohl Plaisance ihr Bohemunds Pony überließ für schlimmste Strecken, und selber, schuppenglitzernd, glatt wie ein Fisch im Mondlicht, durch Wasserfälle sprang.

Den Anti-Taurus einmal im Rücken, ließ sich die Kreuzfahrerlawine breit in die Ebene los. Syrien, das silberlichtige, nahm sie auf mit blumigen Gärten; fruchtbar war es von Korn, schwarz von Trauben, Oliven, Feigen, farbig mit Pistazien und Zitronen. Geruch von Orangen und Föhrenwald lag in der Luft, geruhsam lärmten Wasserräder längs des Flusses, Obstgärten zu bespülen. Und mitten inne ragte weiß die vierhunderttürmige Antiochia. Auf einer Seite fällt sie ab bis zum Orontes, steigt auf der anderen zum Berg Silpios mit der höchsten Zitadelle. Nach Byzanz die stolzeste Stadt. Im Heidentum berühmt für ihre Orgien, im Christentum für ihre Häresien. Roms Kaiser lud sie ein zu ihrem Fest »Majuma« in die nie beschnittenen Myrtenhaine am Orontes, den Kaisern von Byzanz sandte sie ihre ketzerischen Patriarchen.

Auf der Linie des Alexanderzuges gelegen, von vielen Lebenskreisen überschnitten, herrscht Antiochia, heilig – panisch über Syrien. Antiochia herrscht, ganz gleich, wer gerade in ihr schaltet. Jetzt trägt sie eben Turkomanen wie Affen auf dem Rücken. Kommandant ist Yaghî Siyân. Er wurde es, als vor zehn Jahren der letzte byzantinische Gouverneur, ein Armenier Philaretos, die Metropole dem Seltschukiden Suleiman ausgeliefert hatte, denn sie kann nur fallen durch Hunger oder Verrat. Ihre musterhafte byzantinische Befestigung, ebenbürtig jener der »gottbeschützten Stadt«, ist uneinnehmbar, oder gilt dafür.

Nicht nur die Masse der vierhundert Türme, auf drei Seiten schützt sie überdies noch die Natur: im Westen der Orontes, im Südosten das Silpiosmassiv mit der Zitadelle, im Norden gärender Sumpf.

Aushungern wäre gleichfalls schwierig. Nie konnten noch Armeen vereinigt werden, groß genug, um solch ein ungeheures Areal auf allen Seiten völlig abzudichten.

Trotzdem sieht Yaghî Siyân die Kreuzfahrerlawine mit schwerer Sorge auf sich zustürzen. Ihm gefällt die Haltung der syrischen Bevölkerung nicht, und wenn auch seine Garnison Ausfälle machen kann, um Vorräte zu holen, er ist doch auf den guten Willen des flachen Landes angewiesen damit, durch Lücken der Zernierung, nachts der regelmäßige Nachschub über den Silpios nicht gefährdet wird.

Mit diesen »Franken«, weil sie Christen waren, aber hatten Syrier, Armenier und Griechen sich verbrüdert.

Überdies stand Yaghî Siyân schlecht mit seinem nächsten Souzerän, dem Malik Rîdwan von Aleppo. Als dieser mit seinem Bruder, dem Malik von Damaskus haderte, war er letzterem beigesprungen. Vielleicht ließ ihn Rîdwan jetzt im Stich. Doch nicht ihn nur hatte er um Hilfe angerufen, gleich bei der Nachricht, das Kreuzheer habe den Anti-Taurus überschritten, auch den Emir von Damaskus, wie den Atabeg von Mossul, Kerboga, und was an Macht noch hinter diesem stand, den Kalifen von Bagdad und den Sultan Persiens, Barkiyaruk. Doch die waren fern. Ihre Heere konnten noch nicht hier sein, und Rîdwan von Aleppo, der Nahe, tat wie taub.

Die Straße vom Anti-Taurus auf Antiochia zu führte über den Orontes. Dort stand eine Eisenbrücke, von zwei Türmen gut bewacht. Der Papstlegat, jetzt ganz Stratege, stürmte sie, so war das letzte Hindernis beseitigt. Am hellen Mittag des 21. Oktober 1097 gossen die vier Heere, Bohemund in der Vorhut, sich berauscht um Antiochia aus.

Nie noch begann eine Belagerung so fröhlich. Hier war ein Paradies voll Abenteuer, also ein recht irdisches Paradies; wozu auch Engel werden vor der Zeit. Sie schwelgten in Trank und Nahrung nach der langen Mühsal, auch noch anders. Frauen liefen mit heißen Schenkeln von allen Seiten herbei, fremdartige, liebeskundige, und was nicht kam, das holte man. Es ließ sich holen.

Von Antiochia besaßen die Kreuzfahrer noch nicht das kleinste Vorwerk. Antiochia aber hatte sie schon ganz.

In gärenden Gärten barsten schwarzgeschwollene Feigen über ihren Köpfen, panisch wisperte es ihnen aus Gebüschen zu. Binsenknaben stiegen aus dem Röhricht mit zärtlichen Brustwarzen, vor denen diese bärtigen Männer wie unerfahrene Kinder standen, nicht wußten, war das vom Weib Geborenes oder Heidenspuk. Die Orgie wuchs. Nicht mehr heimlich und zu zweien, gruppenweise lief man zu den feuchten Hainen, wo in heilig-unheiligen Grotten, fast, doch niemals völlig verborgen, Stücke glatter Götter unnatürlich lagen: wohl Standbilder – früher ganz und aufrecht –, jetzt als Gliedmaßen verstreut, lockend verdreht, wie um sich mit Lebendigem zu mischen, auch grün vor Schlamm.

Später, im Silbermorgen, zog über die süßlichen Sümpfe dann eine klare Welle aus Orangenduft, zu feinerer Entrückung in andere Räume orientalischer Zauberei.

Nur Saint Gilles, immun durch Gallensteine, und Herzog Gottfried, noch immer siech an der Umarmung seiner Bärin, mahnten gegen den Verderb an Zeit, der Winter nahe! Was Winter, meinten andere, sei man nicht in Syrien. Noch jemand mißbilligte das Treiben, ein schmales glitzerndes Fischlein: Plaisance. Trotzig gegen allgemeine Gier, traf man sie höchstens mit einer Zitronenscheibe im Munde. Dann schaute sie aus zwei grauen Graniten, versenkt in blauen Tau, stumm den maßlosen Freund an, wurde dabei unaufhaltsam rosiger. Breitbeinig stand er, prachtvoll unter seinem lasziven Gestirn, sah ohne Scham und Mitleid zu, wie weit die Tönung noch hinter ihre winzigen Ohren laufen würde, ging dann seine eigenen Wege sehr zufrieden. Das war recht so. Junge Amazonenschwestern sollten eifersüchtig sein.

Kaum kam der Winter, hatte man die Ernte schon verschwelgt, und wenn Armenier aus der Umgegend auch das Nötigste brachten, so doch zu hohen Preisen. Die Rasse war hier einfach unentbehrlich. Zum Dank für ihre Dienste nahm man auch viele von Yaghî Siyân aus der Stadt Vertriebene ins Lager; sie gingen aus und ein, besorgten alles.

Sowie sich aber kleine Truppenteile der Kreuzfahrer vom Lager ablösten, um selbst zu requirieren, fiel sofort Besatzung aus und machte sie nieder oder nahm sie in die Zange von Hârim, der frei gelegenen Festung her. Darum baute Bohemund am Nordtor seines Sektors eine normannische Wachtburg und nannte sie Malregard: den bösen Blick. Für Tancred eine zweite im Süden am Sankt-Georgs-Tor, die waren gleich zwei Blöcken Kraft, und kleinere Türme am Tor des Hundes und am Tor der Gärten. In der Mitte errichtete Saint Gilles beim Mohammedanischen Friedhof das Raimundsfort aus vielen Grabsteinen, der Herzog Gottfried schließlich ließ bei seinem Lager eine Schiffsbrücke über den Orontes legen; damit wurde die Verbindung zum Meer hin frei, um Notwendigstes von einer kleinen Genueser Hilfsflottille zu holen, die in den Hafen von Sankt Simeon, den nächsten, eingelaufen war.

Trotzdem stockte die Belagerung. Regen fiel. Der Hunger stieg. Es hieß etwas voranbringen. Dreißigtausend erlesene Reiter aus allen Lagern erbat sich Bohemund, längst der starke Mann des ganzen Kreuzzuges, vom Kriegsrat, um Verproviantierung großen Stils aus der Gegend am oberen Orontes zu versuchen. Robert von Flandern, sein Bewunderer, ging mit ihm.

Wenige Stunden nach dem Abritt führte der Gouverneur von Antiochia persönlich gegen die schwächste Lagerstelle einen Nachtangriff. Saint Gilles, der Schlaflose, schlug ihn nicht nur zurück, verfolgte sogar die Türken bis in das offene Tor; fast wären die Provençalen in die Festung eingedrungen. Da scheuten Pferde, stürzten, Wirrwarr entstand, in den dann Yaghî Siyân seine Seltschuken, so geschickt im Wenden, stoßen ließ. Es war das Mißgeschick Saint Gilles', beinahe schon als erster in Antiochia, wieder zurückgejagt zu werden, ein halb Geschlagener, über den Orontes.

Unterdessen hatte Yaghî Siyâns Sohn ein Bündnis des Malik von Damaskus mit dem arabischen Emir von Hôms gegen die Kreuzfahrer zustande gebracht. Ihre vereinigten Armeen beschlossen auf die Nachricht von dem Sonderunternehmen einer Gruppe Franken, diese, ganz wie Quilij-Arslan bei Dorylea es getan, zu überraschen. Das schlug fehl, man kannte die Methode schon. Robert von Flandern durchbrach so bravourös die feindlichen Massen, gestützt auf Bohemund, daß Seldschukide wie Araberprinz nach dieser Niederlage kehrtmachten. Sie gaben den Entsatz von Antiochia, ehe er begonnen hatte, auf. Dafür scheiterte den anderen der Verproviantierungsfeldzug. Siegreich, doch mit leeren Händen, kamen sie zurück in ein völlig verlottertes Lager. Balduin, der stärkste, war in Edessa, Saint Gilles durch die letzte Niederlage vergrämt, der Herzog noch krank, Stefan Blois zu weich, Monseigneur mehr in den Hafenkabaretts von Laodicea als im Heer, Tancred trotzend, mit Gott und seiner Welt zerfallen.

Bohemund und Robert von Flandern machten nach der Heimkehr furchtbar Ordnung: Die fremden Weiber mußten hinaus, Schenkbuden, Spielhöllen wurden geschlossen. Als der Viconte de Melun, selbst Peter der Eremit auf Abwegen ertappt wurden, schleppte Tancred sie vor Bohemund; dort erging es ihnen öffentlich und schandbar übel. Auf jede Art von Unzucht stand von nun an Todesstrafe, was wieder halbwegs Disziplin erzwang.

Nur was immer die Belagerer auch unternehmen mochten, bei Tag oder Nacht, in Antiochia wußte man es stets voraus, war vorbereitet.

Das Lager mußte einfach von Spionen wimmeln. Der Verdacht fiel bald auf jene armen, von Yaghî Siyân vertriebenen »Armenier«, die hier so zwanglos sich bewegten. Welche von ihnen aber brachten wirklich nur Vorräte hinein, ohne Nachrichten mit hinauszunehmen; diese waren kaum entbehrlich. Doch wer kannte sich denn überhaupt je mit Armeniern aus? Es gab blonde, es gab schwarze, solche gradäugig wie Skandinaven, andere schrägäugig wie Mongolen. Bisher hatten die Kreuzherren vermeint, ein Merkmal wenigstens sei sicher: daß sie alle Christen seien. Keine Spur. Die aus Antiochia waren meistens Renegaten, wie sie versicherten – aus Zwang. Vor diesem Menschengemengsel standen die Fremden noch wie rassenblind.

»Sehr edle Herren, bitte diese Pest ganz mir zu überlassen«, meinte Bohemund eines Tages. »Ich weiß ein treffliches Mittel. Ab morgen wird sie ausgetilgt sein. Doch ist Bedingung, daß niemand Staunen zeige oder Abscheu.«

Als es Abend werden wollte, ließ er große Holzstöße entzünden, dann ein paar türkische Gefangene gleich, statt erst am nächsten Morgen, töten. Köche kamen, brieten sie an jenen Feuern, weithin sichtbar. Dann wurden die Teile wie zur Abendmahlzeit in den Führerzelten aufgetragen. Plötzlich hieß es überall im Lager, dies eben sei die fränkische Sitte, im Krieg Spione zu vertilgen; von nun an würde es der Tagesbrauch. Die Schauermär flog nur so durch das gesamte Morgenland, die Bazare gaben sie einander weiter; nicht allein Yaghî Siyân, kein Emir zwischen den kirgisischen Steppen und dem Ägäischen Meer fand noch Leute, um zu spionieren gegen solche Ungeheuer. Dieser gigantische Barbarenscherz war wohlberechnet.

»Solange wir für gräßlicher als wilde Bestien gelten, merkt niemand, wie oft wir ratloser als Kinder sind auf dieser fremden Erde«, sagte der Erfinder solcher Selbstvergreulung zu Fulbert und Plaisance. Die aber waren für derartige Erwägungen noch viel zu jung und eitel.

 

Tatikios

Immer mehr vereinsamt blieb der große Tatikios in diesen Zeitläuften. Alles ließ man seine gelbliche Respektsperson entgelten: daß der syrische Winter so kalt, der Himmel so wässerig war, die Ernte so rasch aufgebraucht, Ärger mit den Spionen. Sein Armeekorps beteiligte sich angeblich nicht genug an der Belagerung, er selber sollte wieder mehr durch Landeskenntnis nützen; wies er den Kreuzherren aber ihre Irrtümer, empfanden sie das als unerträgliche Hofmeisterei. Man lud ihn nicht einmal mehr regelmäßig zur Beratung. Er verkörperte eben die byzantinische Hypothek, das war sein Fehler.

So hielt sich der große Tatikios fast ausschließlich an Bohemund. Der war reizend gegen ihn gewesen schon im Heiligen Palast. Wie klug hatte dieser Bekehrte aus eigenem gleich den Eid geleistet. Vom göttlichsten Gebieter besonders dafür ausgezeichnet, brachte er es sicher ungewöhnlich weit bei Hof, wenn erst die anderen Rüpel in ihre Höhlen wieder heimzogen, denn dazu war der prinzliche Barbar zu schade. Zwar auch ein Ahnenloser, wie all die westlichen Emporkömmlinge, verglichen mit griechischem Uradel; doch die Substanz war ersten Ranges. Wie alles an ihm rhythmisch schwang, bis zum Atem in der dunkeln Stimme. Geschmeidig wie der beste Jagdgepard, weitblickend, erfinderisch, zähe, reichte die Spannweite seines Wesens von gerad hinstürzender Urkraft bis zum olympisch waagrechten Gehaben byzantinischer Diplomatie.

Besonders die politische Begabung schätzte Tatikios an seinem Schüler sehr. Auch sein gutes Aussehen. Wie der höflich Lauschende so im Zelt auf einem Hocker saß, wikingerhell, in ruhiger Sicherheit, ein Bein gestreckt, träumerische Hände um das gebogene zweite Knie gefaltet, glich er einem ruhenden Ares des Lysipp. Der große Kriegseunuch war auch ein großer Schönheitskenner, ehrte Männer- wie Frauenanmut, wenn er sie auch nicht besonders lebhaft unterschied. In mehr als einer Hinsicht waren diese Zwiegespräche also eine Wohltat; nur wenn der Normanne bei ihm erschien, stieg in seine etwas schweren Züge wieder das breite rosa Lächeln aus dem Heiligen Palast. Bald gewöhnte er sich auch, auf ihn zu horchen, wenn der andere durch Zusammenschau von Mensch und Ding mit Ort und Zeit Geschehnisse im Kreuzheer und noch sonst voraussagte, denn sie trafen meistens zu. Tatikios war nun Wachs in seinen Händen.

Im Januar, als es schon sehr schlecht um die Belagerer stand und alle sich daran gewöhnt hatten, in ihm die Seele der Armee zu sehen, kam eine Generalprobe an Macht. Bohemund erklärte eines Tages im Rat, er müsse heim, sei zu arm, die Kosten dieses langen Feldzuges zu tragen; Pferde und Mannschaften schmölzen ihm dahin, mindestens zeitweise Rückkehr nach Apulien geböte sich, um neue Mittel zu beschaffen. An den entsetzten Augen sah er seine Unentbehrlichkeit, ließ sich scheinbar überreden, blieb, lehnte jede Entschädigung ab. Die eigentliche Forderung zu präsentieren, das kam später, wenn die Zinseszinsen aufgelaufen wären. Sie lautete auf nicht weniger als: ganz Antiochia, und das hieß zugleich ganz Syrien. Dazu aber mußte erst Tatikios entfernt, dann die gesamte byzantinische Hypothek gelöscht werden. Seit der Abschiedsaudienz im Heiligen Palast war die Musterknabenrolle ausgespielt für immer.

Eines Tages erschienen zwei grelle Flammenbärte längs der syrischen Küste, ihre Besitzer, die Engländer Eadgard Ätheling und Robert Godwinson, halb Kreuzfahrer, halb Korsaren, kommandierten eine kleine Flotte. Um sich Bewegung zu verschaffen nach der langen Fahrt, eroberten sie gleich den Hafen, in den sie eingelaufen waren: Laodicea. Vielmehr, sie nahmen ihn dem etwas früher erschienenen Seeräuber Guynemer mit seinen Vlamen, Friesen, Dänen ab, angeblich sogar als Beauftragter des Kaisers von Byzanz. Solche Besetzungen waren mehr sportliche Zwischenspiele, die der Bevölkerung ein Weniges an Tribut kosteten, sonst aber folgenlos; denn um genügend Leute nach der Ausfahrt im Hafen zu belassen, dazu reichte die Bemannung selten.

Die Korsarenfirma Ätheling und Godwinson hatte nun genau an Bord, was den Rittern bitter fehlte, um Antiochia halbwegs wirksam einzukreisen: Facharbeiter, Werkzeuge, Baumaterial. Jetzt stand ihnen alles zur Verfügung gegen bar; ja, die jovialen Flammenbärte brachten es zum nahegelegenen Hafen von Sankt Simeon. Sofort machten sich Saint Gilles und Bohemund dorthin auf den Weg, zur Sicherung des Transportes, mit Truppen. Bei der Rückkehr wurden diese jedoch so heftig aus der Festung überfallen, daß unter den schweren Lastwagen Verwirrung entstand; schließlich ganz sinnlos, eine allgemeine Panik, nicht mehr zu meistern. So jagten die Führer zum Kreuzheer um Verstärkung. Dort hieß es schon, nicht nur die Materialien seien verloren, auch Saint Gilles und Bohemund wären massakriert.

Das gab Gottfried von Bouillon nach langer Zeit die Spannkraft wieder. Endlich herausgeschwärt war jenes Leichengift, das ihm die Bärin mit den verpesteten Krallen in sein Fleisch geschlagen.

»Wenn es wahr ist«, rief er seinen Rittern zu, »daß als Strafe für unsere Sündenlast jene Herrlichen fallen mußten, so sehe ich nur zweierlei voraus: entweder wir sterben ihnen nach wie Christen, würdig, im Vertrauen auf die Gnade unseres Heilandes, dem wir gehorchen bis zum Tod, oder der Herr Jesu Christ wünscht noch weiter unsere Dienste, dann wollen wir hohe Vergeltung an jenem Abschaum nehmen, als welcher die Christenheit dieser zwei Besten beraubt hat. Ich, bei meiner Seele, schwöre, daß mir kein Leben süßer sein könnte als der Tod, es sei denn, wir hätten sie gerächt.«

In den Beifall sprengten dann die angeblich Ermordeten herein, während hinter ihnen, aus linker Ferne, vom Haupttor an der Steinbrücke her Lärm aufquoll, überschrillt von Klirren und Geschrei. Yaghî Siyân mit Firuz, einem seiner Unterführer, bestürmte persönlich das Lager, wohl als Ablenkung, damit unterdessen der abgefangene Transport nach Antiochia hineingelangen könne. Doch die Kreuzherren, im Schwung des Augenblicks, schleuderten die Ausfallenden wieder brückenwärts zurück, wo jetzt ein Getümmel ohnegleichen raste, denn längs des Orontes herauf hasteten schon die Begleiter der Beute, um das rettende Tor zu erreichen, wo der Kommandant und Firuz sie erwarteten. Der Herzog aber, beim Brückenkopf postiert, schnitt ihnen den Weg ab, während Normannen und Franzosen sie aus der Flanke und von rückwärts her bedrängten.

Um Gottfried von Bouillon an seiner exponierten Stellung vor den Geschossen aus der Festung herab zu verteidigen, waren hinter ihm die Byzantiner des Tatikios aufgestellt, als Pfeilschützen berühmt wie Seltschuk. Sie schossen anfangs ab, was sich nur auf den Wällen zeigte, stockten dann plötzlich, ihre Bogen entspannt. Die oben hielten den griechischen Patriarchen Johann IV. in vollem Ornat gefesselt vor sich hin wie einen Schild. Obwohl er deutete, ihn nicht zu schonen, verweigerte das Korps Tatikios hinauf zur Festung jeden weiteren Schuß.

Dafür rasten die Ritter, von heiliger Dämonie getrieben, entrissen den Türken ihre Beute, hieben ein, jagten sie in den hoch geschwollenen Fluß; was sich schwimmend retten wollte oder an die Pfeiler klammern, wurde abgetan, vor der Brücke stauten sich die Leichen, auf ihr quoll es über von drängenden Leibern, sich bäumenden Pferden, weithin aufgewühlt floß schaumig-blutig der Orontes.

Gegen Abend dieses Tages, als fast alles vorüber war, tat Gottfried von Bouillon noch jenen Schlag, von dem dann alle Lager sangen. Riesenhaft gereckt aus schmalen Lenden, gradschulterig wie ein Pharao, hob er sein Zweihänderschwert und spaltete einen Emir vom Schädel bis zum Nabel. Die beiden Hälften sanken seitlich ab, das Pferd, durch den Tod über ihm nicht aus der Ordnung seines Galoppsprunges zu bringen, kehrte mit einem seltsamen Rest von Reiter in die Festung heim.

 

Turm der beiden Schwestern

Mehrere tausend Türken fielen bei der Brückenschlacht, darunter zwölf Emire. Firuz, der armenische Unterkommandant, war an der Seite Yaghî Siyâns in die rechte Schulter getroffen worden, wehrlos jetzt, wies ihn der Gouverneur aus dem Getümmel. Wie ausgestorben stand Antiochia, Türken kämpften draußen, verkrochene Christen hockten in den Kellern. Taumelnd erreichte er seinen Palast, ließ sich lautlos ein, erstaunte: keine Dienerschaft zu sehen, ein einziger verstörter Sklave nahm ihm, der längst Mohammedaner geworden war, die Stiefel an der Schwelle ab nach Türkensitte. Firuz lehnte die zitternde Stirne an das Wandgehänge, aus seiner Schulter tropfte Blut in einen Seidenteppich, dessen Persischgrün jetzt dunkel glitschig anlief. Er tappte weiter. Es zog ihn zu dem Duft des tulpengelben Frauenhauses, seinen Granatblüten, seinen Kissen und Fontänen, zu Morphia. Würde er, der Wunde, sie nun endlich anders sehen als nur kühl? Zum erstenmal sah er sie anders: Die Augen glückgebrochen in der letzten Offenbarung ihres Weibwesens, schmucklos-nymphenglatt, völlig hingegeben an Schams al-Dawla, Yaghî Siyâns Lieblingssohn und Herrn der Zitadelle.

Firuz war kein junger Mann, ersten Impulsen nicht mehr hörig, doch durch seine starken Adern trieb jetzt glühender Gram und immer glühendere Besessenheit sie so, gerade so, und sei es nur ein einziges Mal, in seine eigene Lust gepreßt zu fühlen. Wer seine beste Perle aus dem Schatzhaus am Halse eines Diebes hängen findet, rächt sich am Dieb, nicht an der Perle; in Seide gewickelt hält er, behutsam wie nur je, das Kleinod, nur künftig sorglicher verwahrt.

Dann hatte hinter den Portieren ihn wohl Ohnmacht überkommen durch den Blutverlust. Als er erwachte, war der Palast in sorgender Erregung, alle Sklavenschaft zu Diensten, sein arabischer Arzt am Lager, nur Morphia fehlte. Sie blieb unauffindbar. Wohl aus Angst geflüchtet zu Schams al-Dawla auf das höchste Fort.

Gehoben von der leichten Steigerung des Fiebers, lag der Kranke Tag und Nacht verschaut in jene Szene duftiger Inbrunst, doch sich selbst sah er an Stelle des nichtigen Knaben, wie seine tierische Eifersucht ihn nannte; in echteren Tiefen, wo die Wahrheit wohnt, wußte er es freilich anders: Prachtvoll war der Lieblingssohn Yaghî Siyâns, ein echter Herr, nicht nur der Zitadelle. Würde ihn sein Vater zwingen wollen, auch nur zwingen können, dort oben auf dem Silpios zum Verzicht der Frau. Der Wunde wartete vorerst auf eine Gunstbezeigung des Gouverneurs nach den gemeinsam durchgekämpften Stunden an der Brücke. Statt dessen kam ein Strafauftrag. Sein verheimlichtes Getreide war entdeckt, beschlagnahmt, zwanzigtausend Solidi in barem Gold die vorgeschriebene Buße. Er litt und zahlte. Schwieg auch weislich von dem tieferen Verlust als Korn und Geld, um das Stück Macht nicht zu verlieren, das er als Kommandant des Turms »der beiden Schwestern« noch besaß. Zu großes Unrecht angetan bekommen, macht verdächtig. Lieber zeigte Firuz sich daher beschämt wegen des verborgenen Gutes und behielt dafür sein Amt.

Jener mächtige Fünfeckturm der »beiden Schwestern« lag dem normannischen Sektor gerade gegenüber. Wie gestirnbestimmt konnte sein Kommandant nur an den Prinzen von Tarent den Antrag stellen, ihm das Fort zu öffnen, keinem andern. Sie verhandelten: Firuz begehrte jene Summe, die Yaghî Siyân ihm für das verheimlichte Getreide abgenommen hatte. Doch als Wichtigstes das Anrecht auf Schams al-Dawla mit all seinem Gefolge aus der Zitadelle, falls die Kreuzherren sie erstürmen sollten.

Nun wurde es auch nachgerade Zeit, Tatikios zu entfernen, der, wenn Antiochia fiel, es für den Kaiser fordern durfte. Wundergut, wie Zaubervögel flogen die Ereignisse zusammen und schmiegten sich in Bohemunds Hand. Gerade jetzt erfuhr der byzantinische Vertreter offenen Haß von allen Seiten, weil sein Armeekorps im kritischen Augenblick nicht auf den Patriarchen schießen wollte, »oder den Herzog von Bouillon nicht decken wollte«, zischten die Barone.

»Eure Gipfelhaftigkeit ist in Gefahr«, meinte Bohemund sehr düster. Daß er plötzlich dem großen Kriegseunuchen den offiziellen Titel gab, entsprach durchaus dem Ernst der Lage.

»Man spricht ganz offen von byzantinischem Verrat, wegen jenes peinlichen Versagens an der Brücke. Mag der Verdacht auch Irrwitz sein, Irrwitzige denken eben so. Vielmehr, sie denken nicht, sie toben los. Nicht nur Ihr selbst, das ganze griechische Armeekorps wird eines Nachts noch überfallen. Gewiß, es kann sich wehren, doch wie der Kampf auch ausgehen mag, was Euer Heiligster Gebieter so weise zu Byzanz beschwichtigen konnte zwischen Ost und West, bricht jetzt vor Antiochia los: die offene Feindschaft.«

Der Großprimiscenius Tatikios vergilbte sichtlich vor Verantwortung. Sein Bauch sank vor, ihm ward entsetzlich.

»Wollt Ihr nicht den Berg Eurer Verdienste noch erhöhen und zur Warnung auch den Rat fügen«, flehte er. »Wie rette ich die Situation?«

»Indem Ihr dem Kaiser nach Kleinasien entgegenzieht, um ihn an die versprochene Hilfsarmee zu mahnen. Dieses Verweilen in Lydien, Mysien, Phrygien zu eigenem Zweck erbittert unsere Leute. Man muß gerecht sein. Schließlich bluten wir bis jetzt nur für Byzanz. Das ließe uns ganz gern zu Ende bluten, meinen die Barone, nachdem es alles, was ihm nützt, durch den Kreuzzug erreicht hat. Sind nach der Rückeroberung Kleinasiens und großer Teile Syriens fränkische Sieger wie türkische Besiegte gleicherweise außer Atem, gibt man ihren Resten, wenn sie keuchend auf dem Boden liegen, leicht den letzten Stoß und nimmt allein Antiochia.«

»Würde eine Botschaft an den Kaiser nicht genügen?«

»Inzwischen kann das Unglück hier ausgebrochen sein. Die Mission ist auch zu wichtig, sie fordert Eure eigene bewährte Überredungskunst.«

»Ich könnte ja allein gehen.«

»Ohne Oberbefehl bleibt dann das anvertraute Korps zurück. Bedenkt, gerade der tägliche Anblick so wenig schußfreudiger Meisterschützen reizt auf. Doch ich begreife, ein Entschluß fällt schwer. Nun, Ihr braucht Euch noch nicht zu entscheiden; vielleicht kommt Nachricht, der Kaiser sei schon auf dem Wege. Unterdessen halte ich hier Wacht.«

Ohne die Tiefe der eigenen Hörigkeit zu ahnen, dankte der Verschreckte dem Berater.

Der hatte nun schon wieder einen losen Faden in den Fingern. Einzuknüpfen war er etwas später in das Gesamtgespinst. Den Kaiser in Kleinasien durfte Tatikios nicht zu früh erreichen, keinesfalls, ehe er nicht selber Herr Antiochias war. Auch weiterhin mußte ja Alexios von hier ferngehalten werden um jeden Preis, wie, wußte er noch nicht. Doch seine Sterne würden es ihm strahlen.

Vorläufig drängte eine nähere Gefahr. Aus des Kriegseunuchen Zelt wurde er geholt in das des Papstlegaten. Man hielt erregten Rat. Syrische Christen waren heimlich hergeeilt, brachten Botschaft, daß drei Armeen aus Aleppo, Schâizar und Hôms, geführt von Ridwan, sich heimlich bei Harîm vereinigt hätten, einer starken Festung jenseits des Orontes. Sie wollten von dort dem Kreuzheer überraschend in den Rücken fallen, während dieses frontal im Kampf lag mit der gesamten, gleichzeitig ausgeschwärmten Garnison.

Für Rivalitäten war jetzt keine Zeit; so folgten diesmal alle Bohemunds Plan und Führung ohne Widerrede. Zum Schutz des Lagers blieb die Infanterie zurück, während sämtliche Reiter in größter Heimlichkeit, die Hufe ihrer Pferde gut umwickelt, nachts über die Schiffsbrücke zogen, an das andere Ufer. Lautlos eilten sie dann stromaufwärts, um die enge Stelle zu besetzen zwischen dem Fluß und einem ziemlich großen See.

Wasser rechts und links vereitelte hier jede Flankendrehung, auch jenes breite Vorschwärmen und wieder Wenden, gleich einer an- und abbrausenden Insektenwolke, das schwerer Bewegliche stets aus der Fassung brachte und dann dezimierte.

Als um Morgengrauen die vereinigten Armeen sich von Harîm her der Eisenbrücke nähern wollten, trafen sie auf unvorhersehbaren Widerstand und konnten trotz zahlenmäßiger Übermacht weder ihre Eskadronen in voller Breite vorwärts treiben noch den Feind umfassen. Raum fehlte. Hier galt nur taktische Überlegenheit. Die lag aber bei den schwerbewaffneten Rittern, fähig, ihre Gegner zu erdrücken im Ringen Mann an Mann. Wohl wichen die Vordersten zuerst dem ungeheuren Ansturm, wurden aber bald von Bohemund mit den Normannen an rechter Stelle, etwas weiter rückwärts, aufgefangen. Neu gesammelt, warfen alle Kreuzherren vereinigt dann die fremden Reihen eine in die andere zurück. Es wurden regellose Haufen, die sich bald lösten, um nach allen Richtungen zu fliehen.

Die Besatzung Harîms, angesteckt von der Verwirrung, gab gleichfalls ihre Stellung preis, aufständische Bevölkerung in Waffen übernahm sie für die Franken, denn abgetan war Rîdwan von Aleppo samt seinen Hilfsarmeen. Die Sieger aber eilten nach Antiochia, mitten in den Kampf des Lagers mit der Garnison.

Als Yaghî Siyân statt neuer Hilfe, wie erwartet, die alten Feinde kommen sah, ließ er sofort vom Angriff, enttäuscht zwar über den mißlungenen Entsatz, im tiefsten aber siegessicher – er wußte, daß Kerboga von Mossul aus mit einem Riesenheer bereits den Euphrat überschritten habe. Barkiyaruk, der Sultan Persiens, schickte ihn, die freche Störung im islamitischen Raum jetzt ein für allemal zu enden.

»Der gesamte Iran kommt über uns, wo bleibt Byzanz indessen?« Wohlmeinend-vorwurfsvoll sah Bohemund Tatikios in die unterschwollenen Augen. Er fand es nunmehr an der Zeit, die »traurige Kamelkuh« auf den Trab zu bringen, denn auch Firuz drängte.

»Ihr geht am besten heute nacht mit dem Armeekorps, da wir noch todmüde von den Kämpfen sind, so hört Euch niemand, und wenn, so hat doch niemand Lust, Euch nachzulaufen. Nein, vorher keine Unterredung mit den Führern! Man hielte Euch in der Erbitterung vielleicht als Geisel fest. Jetzt braucht es Taten, nicht Erläuterungen. Also eilt und bringt den Kaiser her; er steht, soviel man weiß, bei Philomelion. Laßt mir ein Schreiben hier für die Barone, nur wenige Zeilen, ich werde Eure Handlungsweise selbst erklären, wer kennt in ihrer Lauterkeit sie besser.«

Die ganze Magie des Nordens, das Magnetische und blitzend Bannende warf er über den Schwerfällig-Zarten. Tatikios ging auf alles ein. Als Dank für so viel Dienste schenkte er zum Abschied dem genialen Rater noch verbrieft auf Purpurpergament mit Goldschrift und im Namen seines Kaisers, schwer gesiegelt mit der dicken Bulle, drei schöne Städte in Zilizien.

Bohemund sah ihn lange nicht wieder. Er fiel in Ungnade, wenn auch nicht eben abgründig, davor bewahrte ihn sein früheres Verdienst.

»Tatic«, »Tetigus«, der Hämling, ist natürlich vor Kerboga durchgebrannt, hieß es bei den Kreuzfahrern am nächsten Morgen, und mit ihm war ganz Byzanz entehrt, denn seinen Abschiedsbrief dem Großen Kriegsrat vorzulegen, hatte Bohemund sich wohl gehütet. Anderes kam dafür zur Sprache.

»Bedenkt, sehr weise Herren«, begann er ernst, »wie ganz verzweifelt unsere Lage durch den byzantinischen Verrat geworden ist. Weder können wir mit unseren geschwächten Kräften auf freiem Feld der riesigen Armee Kerbogas widerstehen, im Rücken obendrein das feindliche Antiochia, noch weniger die geringen Bestände teilen, um einerseits den Anmarsch abzuhalten, andererseits den Ausfall der Garnison. Zweimal gelingt ein Glücksstreich nicht wie jener am Antiochiasee, gegen einen solchen wird auch Kerboga jetzt auf seiner Hut sein. Unsere einzige Rettung in letzter Stunde bleibt eben die Eroberung der Stadt. Können wir uns in die Festung werfen mit ihren Vorräten, so sind wir, wenn auch belagert, doch vorderhand beschützt. Sollte es Euch da nicht recht und ehrenvoll erscheinen, edle Herren, daß, wer immer und auf welche Weise es auch sei, den Eingang sich und damit auch den anderen öffnet, zum Lohn Antiochia ganz besetzen dürfe?«

»Nein«, riefen alle, und Saint Gilles am lautesten. »Antiochia hat Gemeinbesitz zu bleiben bis zur endgültigen Regelung mit dem Kaiser.«

»Da Eure Weisheit einen besseren Ausweg offenbar zu kennen scheint, soll es mir recht sein.« Sein Normannenlächeln wurde schwer erträglich. »Ich selbst bin aber jederzeit bereit, auf meinen Anteil zu verzichten, wenn ein anderer von den edlen Sieurs zuwege bringt, wovon ich eben sprach.«

Und Bohemund verließ die hilflose Versammlung. Nachgeben mußten sie ja doch, es ging um Tage, denn nur Edessa hielt den Feind mehr auf. Kerboga hatte es sich plötzlich in den Kopf gesetzt, die Stadt noch auf dem Weg zu unterwerfen, gegen den Willen sämtlicher Emire. Doch dieser Atabeg von Mossul mit der queren Narbe von der Nase bis zum lang gelappten Ohr und seinem Bisonnacken galt als eigenmächtiger Herr, was die feinen Sarazenenprinzen, seine Verbündeten, nicht sehr entzückte.

 

Das emeraldene Herzstück

Als Graf von Edessa befahl jetzt Balduin. Von seinem Widerstand hing jene Gnadenfrist der Kreuzherren vor Antiochia ab, und von Kerbogas Starrsinn, den zu brechen. Erst wenige Monate vorher war ihm die Herrschaft selber zugefallen, und zwar auf etwas dunkle Weise.

Als er nach dem rasch überwundenen Reueanfall in Herzog Gottfrieds Lager der sterbenden Godvere den blasigen Smaragd genommen hatte, ritt er wieder in kleinarmenisches Gebiet. Dort an der Spitze von nur sechsundsiebzig Rittern gelangen ihm strategisch so geniale Überfälle gegen türkische Besatzungen, daß nicht nur alles Volk, auch Thoros, Fürst von Edessa, in dem unvorhergesehenen Helfer die Lösung vieler Schwierigkeiten sah.

Dieser Thoros war ein kinderloser alter Mann. Nur durch fast unbegreifliche Armenierfindigkeit vermochte er sich bis in seine hohen Jahre auf dem Thron zu halten, ringsum von Seltschukfestungen bedroht. Sein Titel: Curopalat gab etwas wie byzantinischen Rückhalt, den Türken wieder zahlte er Tribut. Dazwischen blieb noch reichlich Raum für unabhängige Herrschaft, wenn auch nicht immer zur Zufriedenheit der eigenen Leute. Immerhin war es sein Verdienst, sie vor dem Ärgsten, leidlich-friedlich, durch mehrere Jahrzehnte bewahrt zu haben. Doch fehlten Wucht wie Sicherheit. Darum bat er diesen gottgesandten Kreuzherrn nach seinem zwar labilen, doch königlichen Sitz, mit der Absicht, ihn als Söldner zu gewinnen, zweifelte jedoch sofort zu dieser Möglichkeit, als er den Grafen sah. Balduins schwarzer Glanz berauschte ihn. Hier kam endlich jemand, gewitzigt wie ein Levantiner, wie ein Sarazene fein, schlagfertig gleich dem Türken, dabei Gelehrter, Priester, vor allem aber Feldherr von noch nie gesehener militärischer Bravour.

Trotzdem versuchte er ihn billig, einfach durch Anwerbung an sich zu binden, kam aber übel an.

Balduin gab nicht einmal Antwort. Im Bewußtsein seiner Riesenhaftigkeit stand er plötzlich wie ein Baum gereckt. Von ganz oben aus dem Wipfel schaute etwas wie ein königlicher Rabe auf den wartenden Armenier nieder, dem in diesem mächtigen Schatten fror. Der Graf erklärte kurz Edessa nur für einen Abstecher, er gedenke mit seinem herzoglichen Bruder nach Jerusalem zu ziehen, dort lägen Fürstentümer für ihn bereit, so viel er wolle.

Thoros versuchte es nun anders. Er und seine Gattin seien kinderlos, auch alt. An Sohnesstatt den edlen Fremden anzunehmen, wäre beider Wunsch, ihm gehörte dann nach ihrem Tod Edessa, wenn er bei ihnen bliebe, schütze er zugleich die eigene Erbschaft.

Balduin zog sich etwas, willigte dann in die Adoption.

Es wurde eine feierliche Handlung, nach altarmenisch-mutterrechtlichem Brauch. Vor hochgeborenen Zeugen und vielem Volk entkleidete man Balduin in der lichterhellen Kirche. So stand er, dem Ursprung wieder nahe, dann führten ihn zwei Priester zu dem alten Paar. Es saß in weiten, weißen Nachtgewändern auf niederen Thronen, jenen Hockern gleich, die im Orient Gebärenden bei Niederkünften dienen. Thoros öffnete zuerst sein weißes Seidenhemd. Der ihm zum Sohn Bestimmte schlüpfte in die Öffnung. Der Greis umarmte ihn, blies ihm den Atem ein, sie lagen Brust an Brust. Dann glitt der Nackte an dem Nackten nieder und schließlich unten aus dem langen Hemd ans Licht. Die Zeugen neigten sich dem Neugeborenen und seinem Vater. Erst durch diese weibliche gebärende Gebärde empfanden sie die Elternschaft als echt.

Dann tat die alte Frau an ihm ein Gleiches. Als er jedoch im feinen Feuer der Seide an ihr entlangfuhr, stieß sie plötzlich einen Schrei aus; ein heulendes Gewimmer folgte, wie bei einer Kreißenden. Heilig-schaurig echote es durch die Kirche. Tiefer als vor Thoros neigten sich die Zeugen vor der Mutter, sie hatten ja das Wunder der Adoptivgeburt soeben miterlebt! Die Greisin aber blieb mit schmerzverzerrten Zügen, es kam kein Lächeln der Entbundenheit in ihr Gesicht.

Später bei dem großen Festmahl saß Balduin sehr aufgeschlossen zwischen seinen neuen Eltern. Thoros schwatzte glücklich, die Frau blieb still, und unaufhaltsam rannen ihr die Tränen in das Essen.

»Alter Liebling, wie gerührt du warst«, sprach ihr Gatte in der Nacht und nahm die welke Hand an seine Lippen. Er fühlte durch die Finsternis das Zittern ihres Nackens.

»Unser neuer Sohn hat ein so hartes Herz«, sprach sie unendlich leise.

Er spottete: »Woher weißt du das?«

»Ich habe es gespürt, als er sich nackend an mich preßte. Sein Herz wohnt nicht im warmen Blut. Er trägt es außen, es ist furchtbar hart, ganz klein vor Härte.«

»Liebe Närrin, das ist ein gewölbter Edelstein, ich habe ihn gesehen, ein herrlicher Smaragd, den er als Talisman am Herzen trägt.«

»Nein, statt des Herzens.«

Und wieder rannen ihre Tränen.

Vom emeraldenen Herzstück sprachen sie seit dieser Nacht nicht mehr.

Balduin seinerseits hatte dreierlei erkannt, als nötig für sein Bleiben: die Armenier, eine Frau und Geld, was er auf die vereinfachte Formel brachte: eine armenische Frau mit Geld. Als Witwer nach Godvere fand er sich unbeweibt; ein Zustand, der ihm schwer mißfallen mußte. Satrapenlaunen gingen wohl im Lager an, nicht aber in Edessa, wo sich die Christen streng sittlich verhielten, als Protest gegen den verabscheuten Islam. So blieb nur rasche Ehe übrig, womöglich mit einer eingeborenen Prinzessin, um sich, für den Anfang wenigstens, unbegrenzte Popularität zu sichern. Ohne Willigkeit der Bevölkerung war ein dauerhaftes Kolonialreich in seinem Sinne unhaltbar, das zeigten ihm die Seltschuk. Nur der Todhaß gegen diese von Seiten sämtlicher Syrer hatte den Kreuzzug so weit vorangebracht. Reiche Mittel schließlich waren überall und immer nötig, hier aber ganz besonders, weil er zwar nicht ohne die Armenier regieren wollte, doch auch deutlich über sie. Um eine fränkische Herrenschicht zu bilden, genügten seine sechsundsiebzig Ritter keineswegs, noch viele Neue mußten aus dem Kreuzheer angeworben werden. Politisch blickte Balduin weit.

Zur Gattin wählte er Arda. Ihr Erzeuger, Taphnuz, beherrschte ein paar Bergstämme, und um diese Taurusfürsten blieb es wundersam bestellt. Sie säten nicht, sie ernteten nicht, verfügten aber immer über eine Masse Bargeld, woher, konnte Gott selbst nur vermuten. Von seinem Schwiegervater mit dem dunklen Reichtum verlangte und erhielt der künftige Herr Edessas die höchste bisher je erfeilschte Mitgift.

Um diese Zeit erklärten ihm Adel und Bürgerschaft ihre Unzufriedenheit mit Thoros. Viel Zündstoff hatte sich in all den Jahren angehäuft, der Alte war nicht mild gewesen, doch sein unglaubliches Geschick im Durchlavieren konnte man bisher nicht gut entbehren, seit Balduins Ankunft aber wohl. Ihn wollten sie sofort zum Herrscher, planten Umsturz. Ohne dieses Ziel gerade zu mißbilligen, meinte der Graf, die Revolution sei eine innerarmenische Angelegenheit, in die er sich nicht mischen wolle, besonders da sie gegen seinen Adoptivvater gerichtet sei.

Jedenfalls hielt er, was sich da zusammenbraute, für so innerarmenisch, daß ihm indiskret erschienen wäre, Thoros davor zu warnen. Der wurde völlig überrascht und konnte eben noch mit einem Teil der treugebliebenen Garde in die Zitadelle flüchten. Von dort rief er nach seinem Sohn als dem gegebenen Vermittler. Er war zur Abdankung von Herzen gern bereit, wünschte nichts mehr, als mit seiner Gattin unbehelligt sich aufs Land zurückzuziehen.

Vor dem Hochaltar inmitten der Apostelkirche schwur Balduin, er und seine Ritter würden Thoros nie ein Leid tun, nahm auch zu Zeugen alle Erzengel, Engel, Heilige und Propheten. Als er das gelobt hatte vor den Reliquien, übergab sein alter Vater ihm die Zitadelle mit dem Schatzhaus. Zwei Tage später, kurz vor der Abreise, fiel Mob her über seinen hochgelegenen Palast. An einem Strick versuchte der Alte dann, sich von dem Wall, der Gartenfront herabzulassen, unten aber wartete bereits ein zweiter Pöbelhaufe. Unwürdig-scheußlich quälte ihn die miserable Massenmeute in den Tod, den seine Frau nicht überleben mochte.

Balduin und seine Sechsundsiebzig hatten schwurgemäß ihm nichts zuleide getan. Der Schwiegervater aber erschrak derart vor solcher »Eidestreue« gegen den Adoptivvater, daß er schleunigst in die Berge floh, vielleicht infolge nicht ganz reinen Gewissens, denn ein Teil der Mitgift war noch nicht bezahlt.

 

Schams al-Dawla

So kam es, daß der Bruder Gottfrieds von Bouillon in seinem Sonderegoismus gerade dem Kreuzzug weitere Dienste leisten sollte gegen den vereinigten Islam, als durch engere Gefolgschaftstreue. Erst nach Wochen ließ Kerboga endlich ab von der vergeblichen Belagerung Edessas. Jetzt noch zwei Tage, dann stand er vor Antiochia.

Als man dort von seinem Abmarsch hörte, blieben gerade vierundzwanzig Stunden zur Entscheidung. Alle Führer drängten in das Zelt des Papstlegaten, dort wiederholte Bohemund sein Angebot.

»Ich kenne einen Helfer in der Festung«, sprach er. »Für die Hilfe muß ich ihm so ziemlich das Letzte geben, was ich noch besitze. Ich gebe es und rette damit alle. Gebt mir dafür Antiochia.«

»Wir ersetzen Euch die Summe, und sei sie noch so hoch, dringen dann gemeinsam durch Eures Freundes Hilfe in das Tor«, gab man zur Antwort.

»Es ist kein Tor, es ist ein Turm und torlos. Der drinnen kann nichts anderes tun, als einen Strick herunterlassen. Mir und den Meinen öffnet er ein Fenster oben, niemandem sonst. Wir wenige müssen dann wie Raubkatzen im Dunkeln durch die Festung schleichen, die Wachen anspringen, abwürgen, ohne Laut, dann die Tore zu öffnen trachten, damit ihr anderen ziemlich gefahrlos einströmt und die Garnison bewältigt. Dafür will ich Antiochia und verdiene es auch. Wenn den edeln Herren das nicht gefällt, so mögen sie es selber besser machen.«

Die Stimmen tobten hin und her. Nur der Papstlegat enthielt sich jeder Meinung. Eben deshalb frugen schließlich alle ihn und wollten sich auch seinem Urteil fügen – bis auf Saint Gilles.

»Zweimal hat uns hier vor Antiochia dieser Mann des Unmöglichen bereits gerettet«, und seine Bischöfliche Gnaden wies auf Bohemund. »Gelingt dem edlen Herrn das, mit Einsatz seines Lebens, ein drittes Mal, gebührt ihm, was er fordert. Nur, daß wir es nicht geben können, denn es gehört dem Kaiser von Byzanz. Das ist beschworen, und wie dürften Meineidige das Heilige Grab befreien wollen. Doch auch den Kaiser bindet ein Versprechen. Hält er es und kommt uns hier zu Hilfe, wird ihm Antiochia übergeben, bricht er sein Wort, so bleiben Stadt und Land dem Prinzen von Tarent, der sie vorderhand besetzen möge. Ist das den überaus frommen Rittern des Kreuzes recht?«

Recht war es niemandem, doch man einigte sich auf diese Formel. Nur Saint Gilles erklärte, er habe keinen Eid geleistet, sein Anteil an Antiochia kümmere niemanden, nicht Bohemund und nicht den Kaiser, er bleibe sein. Die anderen unterschrieben.

Dann wurde großer Aufbruch vorgetäuscht, Pferde und Reiter, schwer gepanzert, fast alles Fußvolk unter Waffen, zogen wie es schien dem Feind entgegen, wie zu einer offenen Feldschlacht. Yaghî Siyân konnte das nur recht sein. Sie würde also ruhig verfließen, die letzte Nacht vor dem Entsatz. Das Lager jetzt noch anzugreifen, fiel ihm gar nicht ein, das war Kerbogas Arbeit. Durch ein halbes Jahr Belagerung erschöpft, ersparte sich die Garnison, da ein ernster Gegner fehlte, auch jede Art Alarmbereitschaft.

Ohne Pferde, und von der anderen Seite, wo der Turm der »beiden Schwestern« stand, kehrt das Kreuzheer wieder, lange vor der Morgendämmerung. Die besten Truppen schleichen sich so leise wie nur möglich zu den ziemlich abgelegenen Toren im Südosten, deren Öffnung am raschesten zu erwarten ist.

Bohemund, ein Schwert zwischen den Zähnen, mit einer Fangleine um den Arm, erreicht als erster Firuz und das Fenster. Gleich hinter ihm kommt Tancred, glitzernd von dem Abenteuer, dann kriechen sie herauf der Reihe nach, in ihren leichten Panzern, aalglatt, einer hinter dem andern: Salerno, Cognano, Hampherey, Boel, Sourdeval, Albered, Geoffrey, Rolf der Rote. Im ganzen nicht mehr als sechzig der verwegensten Normannen. Jeglicher weiß seine Aufgabe. Firuz hatte den Festungsplan geliefert, auch ein Modell der Torverschlüsse. Jetzt kommt es auf Bruchteile von Sekunden an. Jeder einsam, wie ein edles Raubtier, schleicht lautlos geschmeidig durch die Finsternis auf seine Beute zu. In den gespannten Körpern hebt sich Wollust auf zum Sprung und nichts als Sprung. Dem ersten Mann der Wache reißt Bohemund den Kopf nach hinten, bricht ihm das Genick mit einem Prankenschlag, den zweiten wirft er mit der Schlinge nieder, den dritten durchrennt sein Schwert; so mordet er sich auf den Wällen weiter: einmal Tier, wie es den Menschen anspringt, dann wieder Mensch, der gegen Tierheit kämpft, mit der Verbissenheit der ganzen blutgeschwollenen Schöpfung.

Nach der Triebwut fließt der Geist in die geschickten Hände, als zarte Vergewaltigung der Tore. Ein nicht ganz weiser Fingerdruck bedeutet sicheren Tod für alle. Der Augenblick spannt sich zu gräßlicher Verzückung, dann geben die Riegel nach, und Freunde strömen ein. Erst werden die beiden Südtore aufgebrochen, dann das gewaltigste an der Brücke vor dem Raimunds-Fort. Die stadtwärts von den Eroberungsmassen hinaufgedrängte Garnison, soweit sie überlebt, wirft sich in die Zitadelle. Firuz treibt wie ein Besessener dorthin, reißt Gruppen aller vier Heere mit sich, stürmt immer wieder gegen das Felsennest, als müsse er den Stein zerfetzen, der ihn noch von Morphia trennt. Doch der Herr der Zitadelle hält sein Eigen.

Bohemund mischt sich dort nicht ein, ihm schiene das wie Henkerdienste. Besser den Wettlauf mit Saint Gilles um die Eroberung der Unterstadt gewinnen. Wie Katzentiere klettern die Normannen von Wall zu Wall. An einem nach dem anderen Fort geht das rote Schlangenbanner ihres Führers hoch: Jeder kennt die arrogant gebäumte Drachenglyphe des Wikingers, weiß jetzt, wem Antiochia gehört. Nur das Regierungsgebäude Yaghî Siyâns und das Tor der großen Brücke bleiben den Provençalen. Indessen fällt Tancred mit seinen Leuten die Silpiosfestungen an; jene neben und gleich unterhalb der Zitadelle gelingt es ihm, zu stürmen. Daß auch von dort die zackige Midgardschlange im ersten Dämmergrau herunterzüngelt aus ihrem Grund wie Blut und Feuer, kostet Yaghî Siyân das Leben.

In der Verwirrung glaubte er die Zitadelle selber schon gefallen mit dem Lieblingssohn. Da gab er alles auf und floh, gefolgt von zwanzig Pagen. Erst jenseits des Orontes sah er seinen Irrtum und kehrte um, glitt wohl vor Erschöpfung dabei vom Pferd. Den Ohnmächtigen ließen seine Pagen liegen, syrische Holzfäller fanden und erkannten ihn; Äxte hatten sie, schlugen also seinen Kopf ab, um für die Trophäe ein Trinkgeld von den Siegern zu erhalten, was nicht mehr gelang.

Schon kam Kerbogas Vorhut angetrabt, überwehrt von grünen Mondstandarten, dann der Atabeg von Mossul selbst, »die Säule des Reiches«, mit seinem Verbündeten, dem Sultan von Damaskus, dem Ortokiden Soqueman, den Araberprinzen Husain von Homs und Watthab Ibn Mahmud, unzähligen Maliks und Emiren. Eben noch vermochten die Kreuzherren Malregard zu räumen, und andere Gegenburgen. Sie retteten auch den Kriegsschatz nach Antiochia, die Vorräte jedoch nicht mehr. Dann schlossen sich die Tore hinter den jetzt ihrerseits Belagerten. Das glich mehr Flucht als Sieg. Auch wäre zu Jubel keine Zeit gewesen, denn Kerboga griff mit allen Kräften von der Silpiosseite an, unterstützt durch Schams al-Dawla aus der Zitadelle. Der verlor nicht einen Augenblick die Geistesgegenwart. Nie waren die Eingeschlossenen sicher vor seinen fürchterlichen Inkursionen, bei denen dann die Massen wie Grundlawinen überraschend niedergingen auf die Stadt. Ihnen in den Weg türmen Bohemund und Saint Gilles Steinbarrikaden, heben Gräben aus; draußen wehren unterdessen die Grafen von Flandern und der Normandie, Monseigneur, der Papstlegat und Herzog Gottfried mit letzter Zähigkeit dem Sturmangriff. So geht es fast zwei Tage und zwei Nächte, dann läßt Kerboga nach.

Er ändert seine Taktik. Legt einen Ring schräg aufwärts um Antiochia, als Stein des Siegelringes schließt ihn die türkisch gebliebene Zitadelle oben ab, so daß auch von dem Bergmassiv herüber nichts mehr die Belagerten erreichen kann. Dann wollen die verschiedenen Maliks, Atabegs, Sultane, Schahs, Scheichs, Emire gemächlich zusehen, gleichsam im Türkensitz, wie die Christenhunde drinnen nach und nach verhungern. Alle paar Tage wird man den einen oder anderen Wall bestürmen, zur Prüfung, ob es noch Verteidiger am Leben gibt.

Während der ersten Kampftage hatte die syrische Bevölkerung den Truppen Nahrung aus ihren Häusern hergeschleppt. Doch damit ging es bald zur Neige. Die Jagd nach Vorräten begann. Dabei entdeckte sich den Staunenden ein neues Antiochia, ein abgründigeres als das der Regierungsgebäude, Kirchen und Paläste.

Fremdartige Fresken schauen sie aus unterirdischen Korridoren an: schwarzweiße Eimütter, Vogelsphinxe, gottförmige Tiere wachsen aus dem Schatten, erstarrt in der Gebärde des Warnens oder der Gewährung. Dann wieder tut sich eine Welthöhle vor ihnen auf. Die Wölbung ihres Bauches ist voller Sterne wie ein innerer Himmel. An einer Seite rechteckig eingelassen in diesen Himmel steht das Hochrelief eines sterbenden Stiers aus Granit, gehetzt von einer Todeshündin. An seinen Hoden hängt verbissen ein Skorpion. Der junge Gott in phrygischer Mütze, auf dem Opfertiere kniend, stößt, wie ein Espada, ihm die Klinge in den Nacken. Vorn springt das Blut in einen Becher, Kornähren sprühen aus dem Schweif, wie Ingredienzen für das Abendmahl.

Da schauderte den Kreuzherrn, sie stürzten aus der Mithrashöhle, nur um auf breiten Marmortreppen in die Reste des Serapis-Heiligtums zu taumeln. So treibt die Not sie durch das Eingeweide uralt fremder Kulte, dann nach oben wieder in das böse, fremde Syrerlicht. Sobald sie in die Kirchen flüchten wollen, sich erbauen, grinsen ihnen kalkbeschmierte Wände zu, aus einer Wolke von Gestänken. Die Türken hatten in den letzten Zeiten der Belagerung aus Rache hier jeden Unflat abgelagert. Mit vorgehaltenem Tuch dringt Gottfried von Bouillon nach Sankt Andrae, den Patriarchen zu befreien, der verkehrt auf dem Altar gefesselt liegt. Seine Wunden von den Ketten heilen nie mehr richtig.

Oben wieder im Palastviertel steht unerhörter Luxus zur Verfügung: Silbertische, Goldgeschirr, Gobelins, Brokate, Miniaturen – doch kein Brot.

Das war die ärgste Überraschung: Vorräte gab es in Antiochia so gut wie keine. Schams al-Dawla hielt das meiste in der Zitadelle eingelagert, um es bisher rationenweise an die Bevölkerung zu verteilen, jetzt nicht mehr. Selbst Firuz wußte keinen Rat, denn sein Getreide war beschlagnahmt worden. Er litt auch schwer an einer neuen Wunde in der Hüfte vom letzten Ansturm. Seine Leute hatten ihn sogleich zum tulpengelben Pavillon des Frauenhauses tragen müssen. Dort, wo Rache nicht erkalten konnte, eingebettet in die Unaufhörlichkeit seines Verlustes, schwitzte er vor Schmerz. Firuz war ein guter Hasser.

Bohemund inzwischen und Schams al-Dawla, wie Adler auf zwei Nachbarhorsten, sahen sich und wußten voneinander.

Kerboga hatte den Herrn der Zitadelle plötzlich aufgefordert, diese einem Vertrauensmann der türkischen Armee zu übergeben, sei es, daß ihm der Ruhm des jungen Verteidigers schon zu mächtig dünkte, oder mißtraute er, durch Firuz' Verrat gewarnt, jedem aus der früheren Garde von Antiochia. Auf die Weigerung des Empörten hin, ließ man ihm noch vierundzwanzig Stunden zur Entscheidung. Auch nach Überschreiten dieser Frist hätte ihn natürlich niemand angegriffen, doch von da ab drohte ihm der Sturz von einem Helden des Islam zum renitenten Unterführer. Trotzdem dachte er nicht einen Augenblick an Unterwerfung.

Doch Bohemund dachte für ihn.

Beide, auf einer Plattform, wo Männer herrschend sich bewegen, ehrten die Etikette des Glaubenshasses. In jenen letzten Stunden, ehe Schams al-Dawla sich entscheiden mußte, aber glitt die Mondnacht mit überwältigendem Glanz vermittelnd zwischen sie, wie eine Frau. Es war reifer syrischer Juni. Oben Einöde der Luft, die ihre Süße aus den Wüsten sog, strahlenklares Licht in schwarzer Bläue, unten Nebel, irisierend, schwer von Keimen, wo der Orontes, eine ausgegossene Phiole Mondlicht, seine geheimnisvollen Fruchtwasser verströmte in Orangenhaine, Oliven, Wein und Korn. Jeder von der Höhe eines Turmes, sah den andern sein fremd schimmerndes Leben vollführen in selbstherrlicher Wesensstärke, denn jeden füllte Mondlicht wie ein erleuchtendes Elixier.

Auch wußte Bohemund um das fassungslose Zueinander Schams al-Dawlas und jener Frau, von perlenhafter Herrlichkeit und frisch wie eine Pflanze, den nobeln einfachen Beinen und der klaren Haut.

So warf er einen Schakalschrei hinüber.

Unten an der Barrikadengrenze trafen sie zusammen.

Zum erstenmal dem Gegner völlig nahe, sah der Normanne jetzt genauer, was seinen Raubvogelaugen immer schon gefallen hatte: das Kriegsgöttliche an ihm. Die trockene Haut gespannt über erhöhten Jochbögen, geschrägte Brauen, die nüsterne Nase, der scheußlich-herrliche Mund eines kirgisischen Steppenprinzen.

Gut, daß er gerufen hatte.

»Versteift Euch nicht auf sinnlos sichern Tod«, begann er ohne Umschweife in seinem jüngst erlernten Türkisch, das Höflichkeiten noch nicht einschloß.

»Übergebt die Zitadelle. Sonst seid Ihr und was Euch lieb ist ohne Zweck auf jeden Fall verloren. Siegt Kerboga, so wird er einen Rebellen in Euch strafen, siegen wir, bleibt Eure Festung als letztes Türkenbollwerk. Sie völlig einzuschließen, so daß an ein Entkommen nach der Bergseite mit der Besatzung nicht zu denken ist, fällt uns dann leicht.« Er wartete vergeblich, daß der andere sprechen würde.

Nur eine unsäglich ablehnende Schulterdrehung kam als Antwort.

Da fing sein Wille Feuer, brannte auf, zwang Schams al-Dawla hineinzuschauen in sein, sogar im Mondlicht ganz mit Sonne überzogenes Gesicht, für den Seltschuk ein arg verkehrter Anblick, denn Augen, Haare, was dunkler hätte wirken sollen als die Haut, stand silberblau und blaßgelb gegen tiefen Bronzeton. Trotz solch entstellender Verwirrung im Inkarnat des Fremden, das ihm fratzenhaft erschien, fühlte Schams al-Dawla sich angestrahlt von siegerhafter Grazie. Willfähriger, als er gewollt, kam seine Frage:

»Ihr seid ein Ritter, wiewohl Christ und würdet mir und meinen tapferen Leuten, wenn es zum letzten käme, doch freien Abzug geben, wie es Brauch?«

»Das eben darf ich nicht. Fällt uns die Zitadelle in die Hände, gehört der Kommandant mit sämtlichem Gefolge – Firuz. Selbst wenn ich anders wollte, alle Kreuzherren wissen um den Pakt und würden seinen Bruch nicht dulden.«

Er blickte scheinbar unbefangen und lange in die monddurchschwebte Landschaft, ließ dem Bedrohten Zeit und horchte nur geduldig auf die Antwort, um überrascht zu zucken, als sie endlich kam, denn sie kam tonlos.

Jenseits der Worte raffte Schams al-Dawla alle Erkenntlichkeit zusammen in eine einzige, großartige Gebärde. Hoch hob er seine Arme, strich dann, sich tief verneigend, über Stirn und Sonnengeflecht hinab bis zu den Hoden, so daß die Wellenlinie seiner flachen Hände auch noch jene tieferen Kräfte des Geschlechtes in die heilige Dankbezeugung einschloß.

Dann wandte er sich ohne umzuschauen.

Am nächsten Tage geschah die Ablösung mit allen militärischen Ehren, doch in aller Stille.

Achmed ibn Mervan hieß der neue Kommandant.

 

Die Strickkletterer

Erst nach der Rettung jener Liebenden, die einander waren wie Fleisch und Wein, begann das echte Elend in Antiochia.

Hunger machte die Truppen aufsässig und träge. Aufsässig gegen die Führer, träge im Dienst. Wozu taugt jetzt, heißt es, die Erstürmung? Wir sind Gefangene unseres Sieges, eingesperrt zwischen zwei Feinde: die Zitadelle und Kerbogas Heer, dazu ausgehungert, übernächtig, erschöpft, verzweifelt, hilflos. Wäre es nicht weitaus besser draußen? Und so desertiert, wer kann. Nicht nur die Mannschaft, auch sehr große Herren. Nachts an Stricken lassen sie sich der Orontesseite zu hinunter und dann im Wasser weitergleiten, in der Richtung des Hafens von Sankt Simeon. Das Fernere findet sich, nur fort aus diesem Höllenkäfig. »Strickkletterer« werden sie genannt, die Wachen aber sind bereits zu dünn verteilt, um jeden aufzuhalten.

Bohemund ist wie ein Dämon hinter allen her. Selber ohne Nahrung, ohne Schlaf, speist er die Besatzung aus unbegreiflichen Kraftreserven seines Wesens mit Mut; überall dort, wo es am schwersten zugeht, taucht er auf, jeden Überfall scheint er vorauszuwittern und beugt ihm vor.

Die Soldaten auf den Wällen tuscheln, der neue Prinz Antiochias besitze ein paar unsichtbare Zauberschwingen, lang schleifend wie der Krönungsmantel des Kaisers zu Byzanz, doch statt mit blinden, blasigen Juwelenbeeren bewachsen mit Dutzenden von Augen aller Farben. Nachts die äugenden Schwingen weitgebreitet, bewache er hoch aus der Luft sein Fürstentum oder ließe, steinhaft wie ein Habicht, sich auf Pflichtvergessene niederfallen. Darum verkriechen sich jetzt viele in den unterirdischen Bezirk. Aus welcher Werkstatt allerdings die Zauberflügel stammen, aus jener des oberen Generals Sankt Michael oder aus heißerer Schmiede- und Feuerstätte, wo Luzifer, der Gegenfeldherr unten, der sündhaft-schöne, mit dem »goldenen Blumengesicht«, befiehlt, darüber äußern sich die Tuschelnden nicht gerne deutlich.

Eines Nachts kommt die Normannenstreife noch eben recht, um türkische Sturmleitern an einem Nordwall umzustürzen; in schönem Bogen fallen sie langsam nach rückwärts, und denen, die in ihren Sprossen hängen, auf die Bäuche. Es ist der Sektor, den Graf Stefan Blois und Wilhelm Grandemesnil bewachen sollten. Drei Mann aus Maastricht finden sich als einzige Besatzung vor, brave Kerle; doch was hätten sie vermocht? Wo stecken die Befehlshaber?

»Lauft«, ruft Bohemund plötzlich, »ich komme nach, sobald Verstärkung eintrifft.«

Augenblicklich haben Tancred und Salerno verstanden. In langen Sprüngen rasen sie quer durch die Stadt hinüber zur Orontesseite, wo der Fluß die Türme spült. Als er beide einholt, haben sie gerade die zwei erlauchten »Strickkletterer« am Kragen und hauen bis auf weiteres nur mit den flachen Klingen ein.

Die Augen weit vor Wut, fährt Bohemund die in die Knie Gedrückten an:

»Wohin?«

Stefan Blois verstammelte die Antwort, doch Grandemesnil funkelt seinen Schwager furchtlos an.

»Zum Kaiser von Byzanz.«

»Und was wollt ihr Verräter dem Kaiser sagen als Erklärung Eurer feigen Flucht?«

»Die Wahrheit.«

»Daß ihr der Abschaum seid von allen Lebenden?«

»Jedenfalls die letzten Lebenden aus dem Kreuzheer; ob Abschaum, steht dahin.«

»Das nennst du Wahrheit?«

»Ja, denn bis wir zu Alexios kommen, ist es lang schon wahr geworden. Höchstens ein paar Tage noch, und keiner von der armen Herde, die du hier an deine frevelhafte Habgier gefesselt hältst, kommt heil davon, zwischen Hunger, Kerboga und der Zitadelle. Ihr Hautevilles seid ein entsetzliches Geschlecht. Nicht nur alles, was besteht, brecht ihr aus seiner Form heraus, nicht nur alles, was es gibt, müßt ihr besitzen, auch noch alles, was euch eure Träume zeigen, zwingt ihr in die Wirklichkeit. Ich wollte gehen, weil ich deinen Träumen mich nicht opfern lasse. Ich war dir niemals hörig und bin stolz darauf. So, jetzt kannst du mich ermorden lassen durch deine dumme, junge Bluthundzucht, du – Eintagsprinzling von Antiochia.«

Bohemund hatte schweigend – gar nicht zugehört; denn soeben fühlte er, wie eine geheimnisvolle Macht in seine Hände jenen letzten Faden gab, der bisher zum Gespinst noch fehlte. Hier plötzlich war das einzige Mittel, den Kaiser davon abzuhalten, daß er von Kleinasien mit seinem Heer herunterstieße, um Antiochia zu entsetzen, was so viel hieß, als es besetzen.

Die beiden Deserteure sollten seine unbewußten Helfer sein mit ihrer Meldung von dem Untergang des Kreuzzuges. War alles längst verloren, dann machte wohl Alexios kehrt. Strategisch wäre es das richtige, und der Kaiser war ein guter General.

Er selber aber blieb hier Herr, gleicherweise über Byzantiner Sieger wie über Türken; denn daß er ganz allein Kerboga überwinden würde, das sagte ihm untrüglicher Instinkt. So stand er, verklärt von seinen kühnsten Sternen.

»Den Strick!« Seine Hand wies beinahe zärtlich auf den Boden, wo das Seil der »Strickkletterer« noch lag.

Tancred mißverstand die Weisung und machte Miene, Grandemesnil am nächsten Mauerhaken aufzuknüpfen.

»Nein, nicht um den Hals«, lachte Bohemund. »Gib die Leine den zwei Schuften wieder und laß sie zu Alexios laufen, die Köter zu dem Schakal, da passen sie weit besser hin; hier würden sie uns nur die Luft verpesten.«

Tancred und Salerno standen fassungslos vor Staunen, ihr Griff ward lockerer, während sie sich den Befehl noch einmal geben ließen, denn sie trauten ihren Ohren nicht. Da entwichen die Gefangenen.

Lange lehnte ihr Befreier an der Brustwehr und horchte dem unsichtbaren Weg seiner zwei Schicksalsboten nach: Ächzen des Seiles, Scharren an den Mauervorsprüngen, endlich blasiges Glucksen am schalen Wasserrand. Sie hatten da unten sicher etwas wie ein Floß, es klang nach breiterem Gleiten; Menschenkörper stießen so nicht ab. Er hätte ihnen seinen eigenen Schutzengel leihen mögen, damit sie heil an der türkischen Brückenwacht vorbeikämen nach Sankt Simeon.

Dann setzte er die Streife weiter bis zum Morgen, lautlos wie ein Panther, die Lichter überall. Doch der Gedanke an das Floß ließ ihn nicht los. Beim Tor »der Gärten« war der junge Fulbert Kommandant, unterstützt vom Silberfischlein; dort kam er mit dem ausgereiften Vorschlag an:

»Es wird entsetzlich hart jetzt werden für eine Edeldame«, begann er. Und dann erfuhr Plaisance, sie solle auf einem winzigen, doch festgefügten Flachboot liegend, aus der besetzten Zone fliehen. Irgendein englisches oder flämisches Schiff vom nächsten Hafen brächte sie dann sicher in die Heimat, um dort das Kreuzzugsende abzuwarten. Sie glaubte erst, er wolle die überflüssige Esserin los sein:

»Als ihr noch alle schwelgtet«, rief sie, die Augen voller heißem Tau, »begnügte ich mich mit Zitronenscheiben und wenig sonst; jetzt, da ihr Mangel leidet, verspreche ich, so gut wie von der Luft zu leben. Auch bin ich euer Schildknappe und keine Edeldame mehr.«

»Eben darum trage ich Verantwortung für Euch; geht heute nacht.«

»Ist das ein Befehl des Kommandanten oder eine freundschaftliche Bitte?«

»Nur eine Bitte.«

»Um so schwerer wird es mir, sie abzuschlagen, da ich bleiben muß. Doch nicht als Dame, die Euch mit Rücksicht, nicht als Knappe, der Euch mit Verantwortung belastet. Duldet mich als freie Amazonenschwester. Gilt das?«

Aprilschauer in den Augen, Mai um den Mund, wie reizvoll jung sie wirkte.

Er nickte ihr Gewährung.

Zu Philomelion in Kleinasien sammelte Alexios unterdessen seine Streitkräfte. Er hatte erst ein neues drittes Heer zusammenziehen müssen, denn die Legionen oben an der Donau waren gegen die Skyteneinbrüche unentbehrlich, jene aus den rückeroberten Provinzen Anatoliens zu sehr abgekämpft. Nun aber stand er wenige Tage vor dem Aufbruch, um Antiochia nach der Junimitte sicher zu erreichen. Der große Tatikios, weder mit breitem noch mit rosa Lächeln, vielmehr von letztem Ernst in den ein wenig unterschwollenen Augen, hatte bei der Ankunft seinem Kaiser die Lage als höchst bedenklich dargestellt, sowohl den gereizten Hader der Kreuzherren geschildert, als die schweren Verluste an Menschenleben infolge der Antitaurusüberquerung, den vielen blutigen Kämpfen, Härte des Winterfeldzuges, Seuchen.

Schwer umdüstert lautete im Kriegsrat sein Bericht. Schließlich hatte er ja das Verlassen seines Postens zu begründen und tat es einleuchtend genug. Durch Anarchie im Kreuzheer war das byzantinische Armeekorps selbst bedroht gewesen. Es vorläufig aus dem Bereich sinnloser Angriffe der eigenen Bundesgenossen zu führen, schien berechtigt. Auch über Ton und Art der Ritter auf Byzanz zu schmälen, ließ er keinen Zweifel. Angenehm zu retten würden sie nicht sein. Immerhin begann man schon das Lager abzubrechen.

Da ließen sich zwei Unkenntliche melden. Als sie ihre Namen nannten, wollte ihnen niemand glauben. Während der Seefahrt nach Alexandrette, dann auf dem Landweg nach Philomelion hatten sie ja Zeit gehabt, sich für die Jammermär zu bereiten, auch äußerlich.

Dann erfuhr der Caesar von den Fremden und führte sie sofort ins Purpurzelt. Dort kam ein Bericht zustande in kaiserlicher Gegenwart und vor vielen wichtigen Zeugen, wie Bryennios, Dukas, Palaiolog, Mawrokatakalon, von dem bitteren Kreuzzugsende. Erst hörte die Versammlung vieles, was sie schon durch Tatikios wußte, dann von dem Erobern der Stadt, doch ohne Zitadelle, das nichts anderes gewesen sei – durch Kerbogas rasche Ankunft – als ein In-die-Falle-Gehen. Hilflos eingeklemmt zwischen zwei Feinde, umspannt von der gesamten iranisch-türkischen Streitmacht, mußte das Kreuzheer drinnen jämmerlich erliegen, ganz wenige ausgenommen. Grandemesnil, der Wortführer, schob Bohemund alle Schuld zu an der Katastrophe, der in frevelhaftem Ehrgeiz durch die Eroberung des Turms der »beiden Schwestern« alle in die Stadt des Todes mit hineingerissen habe. Draußen hätten sie Kerboga noch wenigstens auszuweichen vermocht, um sich in Kleinasien mit den Kaiserlichen zu vereinen.

Es hörte sich vernünftig an.

Da kam Guy in Wallung. Niemand hätte ihm das zugetraut. Der zynisch-kühle Seneschal machte Miene, trotz heiligster Präsenz sich auf Grandemesnil zu stürzen und schrie, das alles klänge falsch. Die Voreingenommenheit des Zeugen sei ihm bekannt. Er hasse seinen Schwager Emmas wegen, denn sie hätte er zur Gattin haben wollen, doch für seine Lieblingsschwester schien Bohemund dieser Sieur Wilhelm Grandemesnil nicht gut genug, auf sein Betreiben hätte Guiscard dem Werber nur eine andere Tochter zugesprochen.

Und nun flehte Guy, ja er flehte den obersten Kriegsherrn an, fast erstickend vor Erregung, seinen Bruder und die Kreuzherren nicht im Stich zu lassen, sich von der Lage in Antiochia selbst zu überzeugen, zu retten, was vielleicht noch möglich sei.

»Der Graf von Conversano treibt hier Hautevillsche Familienpolitik«, sagte schneidend Georg Palaiolog. – Er vorenthielt ihm absichtlich den byzantinischen Titel.

»Damit aber dient man nicht Byzanz. Allzu plötzliches Erwachen irgendeiner Art Gefühlsleben mag den Betroffenen vorerst um die Fassung bringen, das begreift man, doch es bleibt Privatsache. Unter den veränderten Bedingungen jetzt noch nach Syrien vorzustoßen, käme Selbstmord gleich. Im Gegenteil. Unsere Armee muß bis an den Bosporus zurück, um von Kerboga nicht verfolgt und eingeholt zu werden. Mit einem starken Kreuzheer vereint, hätten wir ihn wohl besiegen können, doch niemals – wie jetzt – allein.«

Alle nickten Beifall.

Guy, tief erblaßt, sah immer nur beschwörend auf den Kaiser. Alexios in weltüberhobener Haltung unter dem Sturz des Goldhelms blieb unbeteiligt an der allzu persönlichen Auseinandersetzung, doch dem Grafen nicht ungnädig gesinnt, was sich schon in seinen ersten Worten kund gab:

»Die Bedenken unseres Seneschals sind der Beachtung wert«, begann er, »denn das Zeugnis eines einzelnen darf bei so wichtiger Entscheidung nicht genügen, doch haben wir ja außerdem den Generalissimus der nordfranzösischen Armee, einen der höchsten Kreuzherren, zur Stelle, den sehr edlen Grafen Stefan von Blois. Wenn er hier feierlich die Angaben des Sieur Grandemesnil bestätigt, bleibt uns nichts anderes übrig, als den Schluß zu ziehen, unsere Verpflichtung sei erloschen. Einem Unternehmen Hilfe leisten, das es nicht mehr gibt, wäre widersinnig. Wir ersuchen den Herrn Grafen von Blois, sein Zeugnis abzugeben.«

Und der verstörte Mensch, auch im Banne Grandemesnils, wiederholte Wort für Wort, was dieser vorgesprochen. Anderes zu sagen fehlte ihm die Kraft. Wie hätte er auch hier, im goldgepanzerten Kreis der herrschend Hochgeborenen, die er so fassungslos bewunderte, sich als Deserteur bekennen können? Der Mut zur eigenen Feigheit fehlte ihm. Und war denn das Erzählte nicht längst schon Wirklichkeit geworden, nur von ihm selbst nicht ganz zu Ende miterlebt? Sein Zittern, sein häufiges Stocken schob man auf die Mühen bei dem letzten Kampf. Es stärkte eher den Eindruck der Verläßlichkeit, als ihn zu schmälern.

Als er geendet, rief Guy noch einmal wie von Sinnen:

»Lebt Bohemund?«

Ein müdes Achselzucken war die Antwort.

So machte die große Hilfsarmee kehrt; statt in Eilmärschen nach Syrien vorzudringen, zog sie sich gegen Byzanz zurück.

Rasch verbreitete sich diese Kunde längs der Küste.

Was an kleinen, christlichen Geschwadern zwischen Kreuzfahrern und Außenwelt so wertvoll hätte wirken können als Vermittlung, setzte Segel und floh aus den nächsten Häfen nordwärts, um den siegreichen Türken nicht in die Hand zu fallen. In Antiochia selber aber brach Verzweiflung aus, die letzte Hoffnung war ja das Entsatzheer aus Byzanz gewesen.

Mit der Hartnäckigkeit eines Erleuchteten kämpft Bohemund jetzt um die Seele jedes einzelnen. Auch der Papstlegat spricht öffentlich auf allen Plätzen und bedroht mit ewiger Verdammnis jene, die sich im Finstern drücken wollen; so bekommen die Führer ihre Besatzung doch noch einmal auf die Wälle.

Unterdessen müssen Tancred und seine besten Leute die Eingänge zur Mithrashöhle und dem Serapeion vermauern; für Dienstmüde wird das gesamte unterirdische Antiochia unzugänglich abgesperrt. Die Mannschaft murrt dagegen. Es sei doch ihre letzte Speisekammer. Da unten fingen und brieten sie sich Ratten. Etwas Rattenhaftes tritt dabei in ihre eigenen, müdgelben Augen, die böse funkeln, vom Angstgift der zu sehr Gehetzten.

Als am nächsten Abend die Fanfaren rufen, folgen keine Truppen dem Signal. Sie haben sich in das Palastviertel verkrochen.

Da entfaltet der neue Prinz von Antiochia all seine brutalsten Energien. Her mit dem letzten Stroh der Pferde, letztes Holz, letztes Öl muß her. Jene sechzig Normannen, die den Turm »der beiden Schwestern« stürmen halfen, folgen ihm als Fackelläufer in die trocken-heiße Juninacht. Es wird ein anderer Fackeltanz als jenes Ballett seliger Geister beim Gartenfest der Kaiserin im Heiligen Palast. Er, der Schnellstfüßige, voraus, wirft den Brand in alle Schlupfwinkel, wie Ratten, denen sie schon gleichen, werden die Soldaten ausgeräuchert, er zündet Antiochia einfach über ihren Köpfen an. Sie müssen wieder auf die vorderen Steinbastionen, nur dort ist Luft und Sicherheit, hinter sich ein Flammenmeer, in dem achthundert glühende Paläste auseinanderkrachen.

Und jetzt wandelt der Zerstörer sich zum Schöpfer: Vor diesem Feueraltar strahlt er selber auf sie ein wie ein Gestirn. Geheimnisvolle Kräfte lösen sich von ihm und schmelzen im Brand des Willens hinüber in die widerständige Rotte. Alle empfangen sie sein magisches Teil. Herausgerufen aus ihrer Enge, ersteht ihnen in diesem Einzigen ein Urbild, ein göttlich-widergöttlicher Dämon, der aufwühlt, hinreißt, nicht abläßt, bis aus Rattenaugen wieder Menschenblicke werden.

Von dieser Nacht an wenden sich die Dinge.

 

Das Lanzenwunder

Maul zu! Ruhe! Die paar Stunden Schlaf wird man wenigstens noch haben dürfen! Provençalen in der schwarzverkohlten Scheune fahren auf, Stimmen schimpfen, andere schnarchen ihren viehischen Schlummer weiter. Einer hatte vorhin derart aufgeschrien, daß es ans Mark ging.

Die Soldaten leuchten in sein schmutziges Gesicht. Tränen fließen ihm herunter, doch er wehrt sich verzweifelt gegen das Erwecktsein. Etwas unvorstellbar Wichtiges muß er offenbar zu Ende schlafen. Jetzt ist er damit fertig, erhebt sich mit weit offenen Augen langsam in die Knie und betet. Eine wundersame Zartheit geht durch den Raum, wo es nach Mannstum stinkt, fettigem Leder und zum Erbrechen sauer, nach der Berührung von Metall mit Schweiß.

Niemand wagt den Versunkenen zu stören. Dank ist es, was er immer wieder in aller Demut stammelt, mit Fragen untermischt, und jener, dem er dankt, ist Sankt Andrae.

Die anderen bilden einen Schutzkreis um den Soldaten und den Heiligen, damit die beiden ihre Sache recht zu Ende bringen können.

Nach Schlaf hat niemand mehr Bedürfnis.

Dann beugt sich der Soldat, wie unter einen unsichtbaren Segen, steht auf und wendet sein Gesicht den Kameraden zu.

Jetzt ist er wieder Peter Barthélémy, ein Provençale wie die anderen.

Ja, Sankt Andreas habe dem Träumenden gewunken, ihm zu folgen, unbeschreiblich liebreich, so daß er, ein sündenschwerer Lümmel, auf einmal wie der Himmelsführer selber schweben konnte, sogar seine Schwielen seien durchsichtig geworden. Er habe, gleich dem Vorauswallenden, in alle Mauern hineingekonnt und auf einer ganz anderen Seite heraus, viele Stufen bis in eine Krypta. Sein Führer brauchte gar nicht hinzuweisen, was es da gäbe. Er, der Peter, wußte es von selbst: In einem Reliquarium aus Edelsteinen und Email, von Goldbrokat umwickelt, ruhte eine alte, verbogene Lanze. Man sah sie durch allen Prunk hindurch, denn ein unirdisches Gestrahl ging von einem rötlichen Rostfleck an ihrer Spitze aus. Er selber fühlte, wie das Gestrahl ihm in sein Mark drang und durch die Wirbelsäule hinauf stieg bis ins Haupt und über dieses in völlig neues Selbst hinaus, wie eine Sturzgeburt nach oben. Da wurde alles anders, wenn auch nur für einen seligen Augenblick, denn schon tobten die Alltagskameraden ihm ihre Flüche in den Traum hinein, den er mit allen Sinnen festzuhalten suchte. Doch verunreinigt durch den Ohrenschmutz des Lärms, verdarb auch die Erleuchtung in den Augen; sie rann als Tränen dann heraus. Darum habe er, zurückgezwungen in den Stank der Scheune, gleich um Bestätigung des Wahrbildes zu Sankt Andrae gebetet. Ja, was er gesehen, wurde ihm bekräftigt, sei die heilige Lanze, mit der ein römischer Centurio die göttliche Flanke auf der Schädelstätte Golgatha durchstoßen habe. Sie ruhe hier verborgen unter den Quadern von Sankt Peter zu Antiochia; das Heiltum zu finden, sei er, weil auch ein Peter, auserwählt.

Alle saßen still um seine Füße, manchmal stand einer auf und berührte schüchtern mit dem Finger ein schmutziges Stückchen des verklärten Barthélémy und wurde scheinbar satt und froh davon.

Am Morgen zogen alle mit ihm aus, das Wunder ihren Vorgesetzten zu vermelden.

Zuvörderst zeigten sich weder der Papstlegat noch Saint Gilles von dem nächtlichen Ereignis besonders hingerissen. Daß jetzt wieder unterirdische Baulichkeiten aufgebrochen werden sollten, statt Dienst zu tun gegen oberirdische Türken, schien ihnen wenig zeitgemäß.

Doch wie das Lauffeuer der Fackeln zwei Tage vorher unentrinnbar rosenflammig durch Antiochia floß, so durch die Seelen jetzt ein zündendes Entzücken, hin nach dem Wunder. Von den Provençalen sprang es über auf die Lotharinger, die Nordfranzosen, schließlich selbst auf die immer skeptischen Normannen. Als ihr Kommandant davon erfuhr, rief er unwillkürlich: »Die heilige Lanze liegt doch in – –« das Wort »Byzanz« vermochte er noch eben zu verschlucken, denn ihm brach sofort die überwältigende Bedeutung dessen auf, was jetzt geschehen sollte. Niemand sonst von allen Kreuzfahrern war lange genug bei Alexios verblieben, um etwas von der »echten Lanze« zu erfahren, geborgen in den tiefsten Goldhöhlen des Heiligen Palastes, ganz selten einigen Wenigen sichtbar, also konnte es auch keinen Flachkopf geben, um das Ausreifen der Bereitschaft hier zu stören. Als Herr Antiochias rief er sofort den Führerrat zusammen und ruhte nicht, bis jener dem Drang der Truppen nachgab.

Die Suche gestaltete sich mühsam. Niemand befand sich jetzt im Stand der Gnade, um, gleich dem schlafenden Barthélémy, durch Mauern hin zu wallen, und er selber kannte den profanen Weg nicht. Grabplatten wurden also aufgehoben, fast alle Fließen in Sankt Peter umgedreht, endlich zeigte sich ein Gang zur Tiefe. Er mündete in ein kellerartiges Gewölbe, wo unter allerhand Gerumpel eine Lanze lag.

»Die Lanze«, schluchzten nachdrängende Soldaten, denn sie schien uralt und war verbogen, wie der Träumende es angegeben, sogar mit einem Rostfleck an der Spitze. Nur ohne Reliquarium, denn von Juwelen, Email und Goldbrokat, darin sie hätte ruhen sollen, fehlte jede Spur. Doch was zählte Beiwerkprunk, verglichen mit dem Fleck an ihrer Spitze, von Blut und Wasser aus dem Gottesleib geweiht.

Entblößten Herzens sanken alle vor ihm nieder.

Adhemar von Monteil, der Papstlegat, die bischöflichen Handschuhe der Reinheit an den Händen, umgriff langsam, ehrfürchtig den Schaft der heiligen Lanze, hob sie hoch an den Staunenden vorbei und trug mit ihr den Sieg auf die Bastionen.

Den Peter Barthélémy aber nahm sich Bohemund sogleich unter vier Augen vor, um das klare Traumbild zu ergründen, ehe ihm die Erinnerung daran verquoll.

Nun schilderte in seiner Einfalt der Begnadete ganz genau nach Form und Farbe die Köstlichkeiten jenes Reliquariums, das er mit wachen Augen nie zu Gesicht bekommen hatte, seinem Frager aber wohl bekannt war aus dem Heiligen Palast. Welch verwirrtes Wunder: Hatte der Wahrtraum die echte Lanze in ihrem Prachtgewand gezeigt, nur fehl am Ort, hier in der Krypta zu Sankt Peter, oder der falschen Lanze im Heiligen Palast eine Ehrenhülle, die ihr nicht gebührte, entführt, um sie an rechter Stelle dem rechten Heiltum mindestens in der Vision zu einen? Wiederum: Konnte wohl die Lanze falsch und doch ihr Wunder echt sein? Er wollte nicht an das Mysterium rühren, doch dessen starke Zeichen nützen. Denn jene, die bisher geschlichen kamen in ihrer Blässe, gingen plötzlich blutvoll aufgerichtet, wie vom Gral gespeist beim Anblick der Reliquie. Kleinmut wich der Zuversicht. Welch ein Fürst der Künstler war doch der rostige Fleck auf jenem Stück Metall; selbst die am dumpfesten in den Stoff Versenkten wiesen als verwandelnde Wirkung noch seine lichte Spur.

Dann sprang das Wunder von den Belagerten auf die Belagerer über, doch um diese zu zersetzen, wie es jene einte.

Was Kerboga hierher geführt hatte, war eine Koalitionsarmee gewesen, ihr Gemeinsames: der Islam. Weil er in Gefahr schien, wurden vorläufig alte Fehden, Blutrache, Haß verdrängt. Jetzt, da man offenbar nichts mehr zu tun hatte, als auf die weiße Fahne der Ergebung aus dem Heer der Eindringlinge zu warten, wuchs das Trennende von Tag zu Tag.

Besonders den vogelköpfigen, säulenschlanken Sarazenenprinzen fiel die breite Überheblichkeit des Atabeg von Mossul auf die Nerven. Eine Blamage dieses Emporkömmlings, spürbar bis in den Iran hinauf zu Barkyjaruk, wo überall solch krummbeinige Ketzer auf gestohlenen Thronen saßen, wäre heilsam. Araber und Seltschuk, immer Blutfeinde, dazu verschiedenen Sekten angehörig, gaben als Verbündete ein ungebärdiges Gespann ab und um so weniger geneigt, sich anzugleichen, je länger die unnatürliche Verjochung währte. Vor allem aber ließ geschwätzige Muße die Gegensätze wachsen.

Kleine arabische Fürsten kehrten, ohne viel zu fragen, mit den Truppen einfach in ihre selbständigen Emirate am Libanon zurück, und rötete Kerbogas quere Narbe bis zum großlappigen Ohr sich auch bei solchen Vorkommnissen, so tat er doch recht wenig, die Mißstimmung zu mindern, seines Sieges viel zu gewiß.

Der neue Prinz Antiochias, die Flamme aller Pläne, fachte unterdessen die Kreuzherren zu einem äußersten Entschluß an. Kam das Lanzenwunder nicht als Schicksalsbefehl, um unwiderstehlich, wie ein Schwarm fremder Sterne, auf die Ungläubigen einzuschmettern, während die Begeisterung noch jeden über sein gewohntes Maß hinaus riß.

So legten alle die Gesamtgewalt ohne Widerspruch in seine Hände. Saint Gilles, der ewige Gegner, war rechtzeitig genügend erkrankt, um sich nicht an einer Feldschlacht beteiligen zu können; er sollte unterdessen mit den restlichen Truppen die Stadt gegen Inkursionen aus der Zitadelle schützen.

Beim Morgengrauen des achtundzwanzigsten Juni versammelte Bohemund fast die gesamten Kreuzfahrer, in sechs Armeekorps gegliedert, hinter dem gewaltigen Tor der Brücke, dem mohammedanischen Friedhof gegenüber: Das erste unter Hugo Vermandois und Robert von Flandern, das zweite, die Lotharinger, führte Gottfried von Bouillon, die französischen Normannen des dritten ihr Robert Courtheuse; das vierte, provençalische, trug mit sich die Heilige Lanze, Palladium der Gesamtarmee; sie ragte, von Peter Barthélémy hochgereckt und weithin sichtbar, neben dem Kommandanten und Papstlegaten Adhemar von Monteil. Die beiden letzten Armeekorps bildeten italische Normannen, Tancred befahl dem fünften, dem sechsten Bohemund in Person.

Gleichzeitig mit dem Tor der ersten Morgenröte öffnete sich auch jenes an der Mittelfeste von Antiochia. Als feierlich, in Achterreihen, die ersten Kreuzfahrer auf der Brücke sichtbar wurden, trauten die Türken ihren Augen nicht.

»Gleich niedermachen, einen nach dem anderen, während sie in dünnem Zug den Orontes überschreiten«, rieten die Sarazenenprinzen. Auch die Seltschuk-Emire stimmten zu. Kerboga aber widersetzte sich. Persönlich trat er jenen in den Weg, die zur Brücke stürzen wollten.

Seiner Meinung nach sollten alle erst herausgekrochen kommen, dann erledigte man sie mit einem Schlag, gab es vom jenseitigen Ufer doch keine Rückkehr nach Antiochia mehr. Schlug man dagegen schon bei der Brücke zu, würde sich der Rest nicht aus der Festung trauen, und die Belagerung ging weiter. Das konnte man sich dank dem Wahnsinn dieser offenbar schon Hungertollen sparen. Um die Seelenlage seiner Begleitung so wenig bekümmert, wie ein störrischer Maulesel, verharrte Kerboga bei dem prahlenden Entschluß.

Die sechs Armeekorps ritten unterdessen staunend, in diese unbegreifliche Pause ein, die wie Himmelsgnade wirkte. Unversehrt, mit aller Ruhe, jede Bodenwelle des Geländes nützend, nach vorbedachtem Plan, begannen sie sich zu entwickeln, während bei jedem Schritt nach vorwärts auch über ihnen eine Sphäre nach der anderen sich strahlend auseinanderfaltete, in Räume, die erfüllt schienen mit überirdischer Wunderkraft.

Keiner wagte aufzuschauen in den Glanzerguß von oben, doch jeder wußte, wie er so als Streiter Christi die Ackererde trat, daß aus Engeln eine Heeressäule schützend mitzog: Wesen, neunfach gestuft, in drei Triaden gegliedert, beginnend mit den holden Boten, noch honiggelb von Erdennähe, dann über Erzengel und Throntiere mit weiten Sterngesichtern, Mächten und Erleuchtungen hinaus, bis in die urlichthaft entrückten Räume der Entflammer, durchzuckt von Blitzen des göttlichen Ruhmes, den Cherubim- und Seraphwesen, sechsflügelig, flirrend in unausdenkbarer Entzückung, von der noch etwas wie der Anhauch eines letzten Echos jene Todbereiten streifte, die an ihrem Streitarm versiegelt waren mit dem Kreuzeszeichen.

Durch die transparent gewordene Hülle des Vergänglichen hindurch fühlte jeder greifbar nahe schon die Schwingen seines Eigenengels, bereit, aus Schmutz und Blutbrei des gefallenen Leibes, die weiße Seelenknospe aufzufangen in seine makellosen Hände, daß er sie weiterreiche an den nächsten Boten zur Führung, Wandlung und Entfaltung in den Abgrund schierer Seligkeit.

Die Türken drüben, so wollte den Entrückten scheinen, hörten hingegen schon an ihren Körpern auf. In diese stieß das Kreuzheer jetzt unwiderstehlich, mit dem ganzen Strahlendruck von Engelssphären. Ein tosendes Aneinanderprallen war das, Wuchten und Klirren der Schwergepanzerten im glühenden Lärm. Doch ohne Willkür, vielmehr mit vorbedachter Präzision, griffen die Christen nicht auf der ganzen Linie, sondern nur bestimmte Punkte zum Durchstoßen an. Inzwischen schickte Kerboga Truppen, um am Orontes die linke Flanke des Gegners ausholend zu umgehen und aufzurollen. Bohemund, als geschickter Stratege, hatte längst diesem Manöver durch ein siebentes Armeekorps vorgebeugt, das, von Renoud de Toul befehligt, schon vor dem Ausmarsch der anderen unbemerkt die Position am unteren Orontes besetzt hielt und den Türken dort den Weg abschnitt, so daß sie selber ihren Halt verlieren mußten.

Unterdessen rollten die Wogen der Hauptschlacht über das hügelige Gelände dahin, hinter sich immer mehr kleine, unbekümmerte Häufchen lassend: Tote in mohnrotem Blut.

Allmählich wurde aus den Kämpfen Flucht, Zerstreuung, Verfolgung der mohammedanischen Koalitionsarmee. Das ganze Zentrum flutete zurück, um schließlich in die Landschaft zu verspritzen; dabei hieb das Kreuzheer grausam auf die Fliehenden ein, während bewaffnete Landbevölkerung sich ihnen vorne in den Weg warf und Verwundete niedermachte. Nachdem auch seine besten Führer nicht mehr halten konnten, wich als Letzter Kerboga, und der Zusammenbruch ward allgemein.

So groß aber zeigte sich die Disziplin der Sieger, daß sie, immer noch im Strahlendruck der Engelssphären, der Versuchung widerstanden, das unermeßlich reiche Lager des Atabeg von Mossul und seiner Verbündeten sofort zu plündern. Mit geschwungenen Schwertern im Carriere verfolgten sie die immer dünner werdenden feindlichen Reihen bis aufwärts zum Orontesknie und selbst noch weiter ostwärts nach Harîm. Erst als es keine türkische Armee mehr gab, kehrten sie zurück, die ungeheure Beute unter sich zu teilen: gemünztes wie ungemünztes Gold, köstliche Gefäße, Kassetten voller Edelsteine, Teppiche erlesen, wie keiner sie noch je geschaut, Brokate, Seiden. Tage brauchte es, um alles wegzuschaffen. Und was den Ausgehungerten das Beste schien: wunderbare Nahrung, lang entbehrte. Gleich an Ort und Stelle wurde abgekocht. Während alle unerträglich viel und lange aßen, drehte wohl der eine oder andere schüchtern seinen Hals nach oben; doch der Abendhimmel blaute leer. Vor dem Fettdunst aus den ganzen Ochsen, den am Spieß gebratenen, hatte sich die Heeressäule Engel wohl verflüchtigt.

Dann zog man zum Verbrüderungsfest der ganzen Christenheit unter ungeheurem Jubel nach Antiochia. Was galt jetzt syrischer, armenischer, lateinischer oder griechischer Ritus? Ohne eine einzige Stimme Widerspruch setzten die westlichen Ritter den Patriarchen der Ostkirche, Johann den Vierten, jenen, der als Ziel für Pfeile auf dem Wall gehangen, den Gefolterten, Gefesselten, in seine Würden wieder ein.

Und nun ergab sich endlich auch die Zitadelle. Mit niemand anderem als dem neuen Prinzen von Antiochia, Kerbogas Besieger und Herrn der Nachbarfestung wollte der Verteidiger Achmed ibn Mervari verhandeln. Freien Abzug verlangte und erhielt er für sich und alle, die es wünschten, doch wer die Taufe nehmen wollte, konnte unter christlichem Kommando weiterdienen.

Als Gerüchte von der nahen Übergabe auch den tulpengelben Pavillon erreichten, ließ Firuz trotz seiner Wunde sich sofort zur Zitadelle tragen und schrie laut nach seinem Recht auf Schams al-Dawla und das sämtliche Gefolge. Da tat das Tor sich auf, und zwischen dem Spalier der christlichen Soldaten erschien ein völlig fremder Seltschukkrieger. Schmunzelnd wurde dem Tobenden von jedermann bestätigt, dies sei der unlängst eingesetzte Kommandant Kerbogas, an den er keine Rechte habe. Wo Schams al-Dawla sei? Von den Türken abgelöst und mit allen Ehren samt der früheren Besatzung weggezogen, wohin, das wisse niemand.

Der Tobende verstummte, und ein junger Ritter, schmal wie eine silbrige Sardelle, lächelte bewundernd dem großen Freund dort oben zu, in seiner Gruppe von Baronen. Plaisance als einzige wußte um das Begebnis in der Vollmondnacht von Turm zu Turm.

 

Zwei Tage sorgenloser Siegesfreude gönnten sich die Kreuzherren, dann aber, weil Antiochia ganz erobert worden war, drängte die Entscheidung: Wem gehörte diese unschätzbare Hauptstadt Syriens, Schlüsselstellung zum gesamten vorderen Orient? Vorläufig dem Normannenprinzen ohne Zweifel. Fast sämtliche Festungen mit der Zitadelle hielt er in seinen unnachgiebigen Händen. Das war ein Faktum, doch kein Recht. Freilich hatten alle, mit Ausnahme Saint Gilles, von einem Kondominium abgesehen, zugunsten ihres Retters aus der Not. Verzicht auf Eigenes blieb ihnen unbenommen, doch durften sie, wie er verlangte, ihm den Besitz schon feierlich verbriefen, ohne meineidig zu werden vor Byzanz?

Aus den Häfen war Nachricht eingetroffen, daß Alexios nur durch die feigen Lügenmeldungen der erlauchten »Strickkletterer« sei abgehalten worden, mit dem Hilfsheer Antiochia zu entsetzen. Wie stand es nunmehr mit dem kaiserlichen Wortbruch; war er oder war er nicht erfolgt? Bohemund bejahte ihn natürlich. Die Barone schwankten, Saint Gilles nur schwankte nicht. Heißäugig, quittengelb, mit dem ganzen provençalischen Furor seiner wirksamen Person, stritt er plötzlich für die byzantinischen Rechte. Ja, gerade er, der dem Kaiser Vasallenschaft verweigert habe und unabhängig stolz geblieben sei, um niemandem als seinem Herrn Jesu Christ zu dienen, stehe über den Parteien. Schwur sei Schwur. Nie würde ein Marquis Saint Gilles, was er als Treuhänder für andere hielte, wie jetzt das Tor der Brücke und den Palast Yaghî Siyâns, jenem Normannen übergeben, der als erster freiwillig gelaufen kam, den Eid zu leisten und nun als erster ihn zu brechen wünsche.

Es klang erhebend, und was er da im Namen von Byzanz zu halten dachte, das Stückchen Stadt, war bedeutungslos genug, um Bohemund weder das Vergnügen am Besitz Antiochias, noch an der wirklich sehenswerten Geste seines Widersachers zu vergällen.

Den andern Richtern aber schlug das Herz.

Hier dem heiligen Land bereits so nahe, galt Reinheit des Beschlusses mehr als anderswo, fast als Prüfung, ob sie wohl vor Gott bestehen könnten mit ihrem Anspruch, die Hierosolyma zu befreien.

Diese Menschen, sonst raubgierig, streitsüchtig, unberechenbar, völlig überspült von ihren Blutgelüsten, waren in der Zone des Gewissens zuweilen einer Seelenhaltung fähig von ernstester Zartheit, rührte ein seltener Anlaß an ihre metaphysische Natur. Da dieser zur Routine des Alltags nicht gehörte, entzog sich seine menschlich edle Folge naturgemäß der Aufmerksamkeit des »Barbarenbüros« und wurde in dessen Listen nicht verzeichnet. Auch jetzt merkte der Kaiser von den Skrupeln seiner westlichen Vasallen schließlich nur, daß, statt der Abmachung gemäß, Antiochia einfach abzuliefern, Bedingungen hieran geknüpft wurden, die er schon vor dem Eid als unerfüllbar abgelehnt: persönlich an der Spitze dieses Kreuzzuges bis nach Jerusalem zu ziehen, was vielleicht ein Jahr des Fernseins von Byzanz bedeuten würde. Ein ungebührliches Verlangen, wie ihm schien, nichts als Maskierung ihres eigenen Eidbruches. Die Kreuzherren wieder meinten, sie böten ihm auf diese Art Gelegenheit, den seinen gutzumachen, was wieder Bohemunds Anspruch auf Antiochia löschte, da die Voraussetzung für diesen dann nicht mehr bestand. Zugegeben, es war und blieb ein Kompromiß, doch eine bessere Lösung wollte sich nicht finden lassen.

Als die Botschaft endlich in den richtigen Worten abgefaßt bereitlag, meinte Monseigneur, mit Ohren rot vor Eifer, der Brief sei doch zu wichtig, um gewöhnlichen Kurieren anvertraut zu werden. Im übrigen wäre man dem Heiligsten Kaiser wohl die Ehre schuldig, daß einer aus dem höchsten Führerkreis ihn überbringe und zugleich erläutere. Alle mochten ihn gut leiden, diesen Kleinen, und da er sich brav gehalten hatte in bösester Gefahr, ohne an etwas wie eine Strickleiter auch nur zu denken, frug ihn der Herzog von Bouillon mit tiefem Ernst, ob er für kurze Zeit wohl seine königlichen Gaben dem Auftrag leihen wolle. Ja, er wollte es.

»Den sehen wir so bald nicht wieder«, schmunzelte Robert von der Normandie, als der kleine Capetinger in Begleitung Balduin von Hainaulds strahlend abritt. Er hatte Glück. Der andere wurde von Turkomanen auf dem Wege ermordet, doch Monseigneur erreichte heil die gottbeschützte Stadt: ihre elegante Theologie, ihre Bazare, Kolonnaden, Zirkusspiele, Wettrennen, Hirschjagden, Dampfbäder, Massagen unter dem Marmorbild der trojanischen Helena, ihre Kabaretts – Bauchtänze waren unmodern geworden – mit vorteilhaft erneuertem Programm. Und der Kaiser zahlte alles. Als er seine ablehnende Antwort nach Monaten den Rittern sandte, trug sie ein byzantinischer Hofherr ins Kriegsgebiet hinaus.

Nach Hugo Vermandois nahm auch Bohemund von den Kreuzherren, jetzt seinen Gästen in Antiochia, Abschied, doch nur für kurze Zeit, und mit Tancred als bewährten Wachhund in der Festung.

Er selber ritt, um ja nicht zu vergessen, rasch nach Zilizien und kassierte dort drei schöne Städte ein: Dankgeschenk in Kaisers Namen, purpurverbrieft wie goldgesiegelt von Seiner Gipfelhaftigkeit, dem Großprimiscenius und Kriegseunuchen Tatikios für den guten Rat. Heimgekehrt, versicherte er sich Sankt Simeons und der Küste, und da er keine eigene Flotte noch besaß, verkaufte er an Genua Konzessionen. Wie jeder Hafen von Haifischen, so wimmelte es an der syrischen Küste jetzt von Flottillchen italienischer Republiken, um Kriegsgewinne an dem Kreuzzug einzuheimsen.

Kaum zwei Wochen nach Besitzergreifung von Antiochia räumte der neue Prinz den Genuesen in der Stadt bereits die Sankt-Johannes-Kirche, einen Teil der Wasserzufuhr und dreißig Häuser zu unerhörten Preisen ein. Gab ihnen einen Teil der Beute auch in Kommission, Prachtstücke aus Kerbogas Zelt, das ihm die anderen Kreuzherren nach dem Sieg als Ehrengabe überlassen hatten, denn ungeheure Summen würden nötig sein, zur Anwerbung der besten italischen Normannen, für dieses, aus einer Welt von Widerstand herausgerungene Reich. Während der Kreuzzug in der Sommerhitze sich verkrümelte, saß er dann nach zielbewußtem Tag, zuweilen eine Stunde einsam auf dem höchsten Wall der Zitadelle, unter der gebäumten Drachenglyphe seines Banners, in der schönen Haltung des Lysippischen Ares, die ihm so natürlich kam: ein Bein gestreckt, starke, leichte Hände um das gebogene andere Knie gefaltet und träumte den immer wieder geträumten Traum, wacher schon als jede Wachheit. Unten, weit und tief, silberte sein Syrien, nur mehr einen Grad geringer als. drüben das goldene, heilige Ungetüm: Byzanz.

 

Sonnenangst

Mit der Koalitionsarmee Kerbogas war nicht nur diese, vielmehr zugleich das Kalifat von Bagdad, auch Persien samt dem Iran außer Gefecht gesetzt worden, so fiel durch diese Niederlage das Gesamtprestige der Seltschuk-Unbesieglichkeit dahin. Lange und betretene Stille würde folgen.

Freigefegt von nun an lag vor den Kreuzfahrern der Weg bis nach Jerusalem, ihr heiliges Ziel – da brachen sie zusammen, seelisch wie körperlich hingesunken in überreizte Mattigkeit. Fast ein Jahr an Leiden, erst während der Überquerung des Anti-Taurus, dann vor, später in Antiochia, endlich jene unsägliche Anstrengung des Ausfalles zur Entscheidungsschlacht, letztlich aber diese selbst: es war zuviel gewesen. Ein Wunder, auch zu eigenen Gunsten, nimmt übermenschlich her.

Unterernährt, unterschlafen, mit entarteten Nerven, umdroht von Fremde, brachten sie die Spannkraft für den Parforcemarsch auch nur weniger Wochen einfach nicht mehr auf.

Schiere Sonnenangst lag ihnen in den viel zu saftigen Leibern, aufgewachsen unter Waldesfeuchte. Judäas wasserlose Hochebene jetzt, da die Sonne aus dem Löwengestirn herunterdrohte, schreckte mehr, als zehn türkische Armeen das vermocht. Und gab es außer zerklüfteter Kahlheit auf dem Weg am Ende wieder Wüsten? Von dem Salzbecken hinter Dorylea war man ja gleichfalls überkommen worden ohne Warnung. Das aber hieß: mit aufgebrochener Haut unter der Geißel des Lichtes waten durch zähe Massen glühender Luft, wenn diese ruhig blieb, war sie bewegt, dann hieß es Hagel von Splittern, scharf wie Diamanten, unter die geschwollenen Lider hineingefegt bekommen, so daß es schien, als ob die letzte Feuchtigkeit der eingedorrten Adern noch aus den armen, blutend-blinden Augen tränen müsse.

Das war die körperliche Marter. Ihre Seelen aber, an grüne Verzweigung der Natur gewöhnt, fiel hier das gegenstandslos Leere mit außerweltlichem Entsetzen an, gerade jenes Allnichts, das seine eigenen schweifenden Söhne des Raumes zu ihrem bilderlosen Gott entfachte. Nein, sie wollten und sie konnten sich so wenig jetzt vom Silberband des Flusses trennen, wie ein Kind vom Schürzenband der Mutter. Wasser durfte für die nächste Zeit nicht mehr aus ihrem Blickfeld, sonst brachen diese Grimmgepanzerten in Schluchzen aus.

Während sich der Kreuzzug knapp am Ziel derart zersetzte, nützten die Araber vom Nil geschickt den Augenblick. Seit manchen hundert Jahren waren sie gewohnt, Jerusalem mit Palästina als den rechten Arm Ägyptens zu betrachten. In früheren Zeiten gehörte zwar auch dieses dem byzantinisch-römischen Weltreich an, dort aber hatte man sich mit dem Kalifat zu Kairo längst abgefunden, denn es lebte sich recht kultiviert-vernünftig Tür an Tür mit ihm, besonders in den letzten paar Jahrzehnten, seit eine allmächtige Wesirsfamilie die ätherisch zartgewordene Fatimidendynastie betreute. Nicht um diese abzusetzen, bewahre, die Majordomusse ergänzten nur mit ihrem festen Welt- und Geldverstand nebst militärischer Tüchtigkeit das überirdische Kulturprestige der heiligen Märchenprinzen. Der Vater des gegenwärtigen Großwesirs hatte sie sogar errettet aus den Klauen ihrer türkischen Prätorianergarde, indem er diese bis auf den letzten Mann in einer Nacht enthaupten ließ. Selbst Kalif zu werden blieb für den Befreier, da er Armenier war und erst kürzlich zum Islam bekehrt, wohl ziemlich aussichtslos. Auch war es ihm ein echter, ein mehr als bloß snobistischer Genuß, die Fatimiden oben auf ihrer edel-schmalen Bühne die wundervollen Bräuche arabischer Lebensblüte üben sehen, in ihrer Gegenwart geneigten Hauptes, doch draußen stramm emporgereckt, um dann die grobe Arbeit dieses Reiches ganz allein zu leisten, den Türken, die er rassenmäßig glühend haßte, zum Verdruß.

Sein Sohn und Nachfolger, der ebenso tüchtige al Afdal Schâhhâm-Schâh, hatte daher das Kommen fremder Krieger aus dem Westen begrüßt, als Hilfe gegen Seltschuküberheblichkeit. Bis an die Grenzen Palästinas waren sie ihm hochwillkommen, denn unvertraut mit der Kreuzzugsideologie glaubte er, sie seien neue Söldner seines Freundes, des Kaisers zu Byzanz und würden mit der Eroberung Syriens für diesen sich begnügen.

Jedenfalls benützte er sogleich die türkische Ohnmacht, fiel auf der Gold- und Weihrauchstraße aus Ägypten ein nach Hebron und entriß Jerusalem den Orthokiden von Damaskus. Sechs Wochen nach der Eroberung Antiochias durch das Kreuzheer war dessen eigenes Ziel schon in der Hand des Kalifats von Kairo, eines neuen, völlig ungebrochenen Gegners.

Der christliche Schwächeanfall drohte kostspielig zu werden. Nicht unzufrieden sah Alexios im »Heiligen Palast« auf diese neue Wendung. Ihm waren die Fatimiden, wo immer, als Nachbarn weit eher genehm für seine eigene Ruhe als die unberechenbaren Kreuzherren, darum zog er sich, solange als nur irgend möglich, mit der Beantwortung des alliierten Schreibens aus Antiochia; sollten die Araber nur ihre neuen Stellungen im Heiligen Land vorerst solid befestigen. Für die Barone wieder wurde dieses Warten auf kaiserliche Botschaft zum willkommenen Vorwand der Sonnenangst im Löwenzeichen nachzugeben.

Zwar Antiochia selber flohen alle, denn dort brach zu Ende Juli, von Aleppo eingeschleppt, die Pest in schwarzvioletten Beulen aus den Körpern. Wohl erlosch sie bald bei Eintritt kühlerer Jahreszeit, als eines ihrer ersten Opfer aber fiel Adhemar de Monteil, der Papstlegat.

Nun würde niemand mehr in seinem wunderschönen Lächeln zur eigenen Einsicht kommen können, an seinem Mut beherzter, an seiner Weisheit reifer werden. Mit ihm versank die Reinheit der Idee zu der, trotz hordenhaftem Her und Hin, die Rückbesinnung heimfand in den wesentlichen Augenblicken. Geistig enthauptet blieb der Kreuzzug jetzt nach seinem Tod zurück. So endete in schleichendem Unbehagen das Siegmirakel dieses Sommers, denn jeder der mächtigen Barone sträunte schließlich irgendeiner unbekannten Gier nach. Nur der neue Prinz Antiochias blieb zielbewußt und furchtlos in der verseuchten Stadt. Schon einmal hatte er die Pest gehabt, vor vielen Jahren in Durazzo, und war nur schöner darnach geworden, doch Fulbert und Plaisance wies er fast mit Gewalt aus dem Bereich der Krankheit. Sie begleiteten den Herzog von Bouillon zu seinem Bruder Balduin nach Edessa.

Auf dem Weg dahin geschah das Unglück. Eines Abends schlenderten die jungen Leute immer weiter von den Zelten weg, dabei waren sie wohl überfallen worden, vielleicht aus dem Gebiet des Malik Rîdwan her. Am Morgen fanden dann die Herzoglichen den im Kampf erschlagenen Fulbert. Schmal, erstaunt und nackt lag er ohne Waffen oder Rüstung, verklebt von vielem Blut, das ihm aus dem Leib gekrochen. Von seiner kinderjungen Gattin, dem Silberfischchen, fehlte jede Spur.

 

Der Aufruhr

Allmählich, während sich die Sonne niederschraubte, floß wieder Kühle aus kristallenen Nächten weit ins Morgenblau hinein. Wie bei der Ankunft, just ein Jahr vorher, barsten wieder schwarzgeschwollene Feigen von der eigenen Süße, ein Kranz aus duftend roten Kugeln sank um jeden Apfelbaum ins tauige Gras, Zitronen völlig reif gerundet, milderten sich ins Orangenhafte; die zweite, die dritte Ernte war bereits hereingebracht, doch die Barone zögerten noch immer. War es vor drei Monaten zu schrecklich, so jetzt zu schön zum Weiterziehen. Zwar gärte, gleichzeitig mit dem Most der frischen Lese auch in ihnen neue Tatkraft, doch gedieh sie über raubritterliche Allotria mit etwas heiligmäßiger Begründung kaum hinaus. Stets am Gängelbande irgendeines Flußlaufes zog man nach Kleinarmenien, vertrieb die türkische Besatzung aus den Städten, um diese selber, wenn auch nur vorübergehend, in Besitz zu nehmen. Zur Befreiung von der glaubensfremden Knechtschaft wurde der christlichen Bevölkerung ein Dank in Barem auferlegt, der Erlös aus der Erlösung nach einem Schlüssel aufgeteilt, was oft zu Streitereien führte. Auch die Armeeverbände lockerten sich dadurch auf, daß, wer ein größeres Unternehmen plante, Ritter anderer Heere mit ihren Fähnlein, Roßknappen, Lanzenknechten und Fußvolk nach Bedarf in Sold nahm.

Tancred, sehr gesucht für derlei, blitzte überall umher, wo Schwerter klirrten, Speere durchstießen, Eisenwidder anrannten, Mauern krachten, Paniere aufflogen über Staub und Blut. Nur noch in Pausen kam er nach Antiochia, wo es schon zu diplomatisch-weißbehandschuht zuging.

Sein Herr und Prinz ließ ihn immer weiter von der Leine. Absicht lag darin und Lenkung, schmeidigte das Abenteuer doch die ungefüge Knabenschlachsigkeit zu drahtiger Bereitschaft. Schon nach jenem ersten, rivalisierendem Zusammenprall mit Balduins gigantischer Persönlichkeit hatte Bohemund ja gestaunt über des Jungen wildgereiftes Gesicht. Immer seltener kam die Gelegenheit, ihn mit dem alten Kosenamen »Stierkalb« zu belegen. Aus dem frühen, noch dilettantischen Entwurf zu sich selber, hieb Erfahrung ihm die Wesensform schon deutlicher heraus. Allerdings mit dem Feinschliff zur Vollendung ließ das Schicksal sich noch Zeit um Zeit; für diese letzte, göttlich wundervolle Mühe nahm es wohl nicht jeden her. Erst wo sich das erweislich lohnte.

An Tancreds Stelle wählte Bohemund des Herzogs jungen Vetter Du Bourg zu seinem Adjutanten, schulte den Begabten, ihm grenzenlos Ergebenen für hohe Stattwalterschaft. Auch sonst hoben neue Figuren allerorten sich aus der wesenlosen Masse, wie aufgerufen an Stelle von Gefallenen und Deserteuren.

Da war Gaston de Bearn. Goldstimmig wie ein Amselmännchen. Bisher nur beliebt um seiner hochgemuten Weise willen, entlarvte er sich jetzt als Festungsingenieur von ungeahnter Meisterschaft. Zwei limusinische Herren: Reymond Pelet und Graf Lastours, nebst Wilhelm von Montpellier, wiesen der Kriegskunst neue Wege. Wirik, der Flame, und Garnier de Grès aus dem Kreis des Herzogs von Bouillon, auch Eustach, sein jüngster Bruder, taten sich auf manche Art hervor.

Sie alle zog Saint Gilles in seine Kreise. Dieser König von Südfrankreich, reichster der Barone, konnte seine Niederlage in Antiochia nicht verwinden. Eine Demütigung besonders versäuerte sein Blut ins Unerträgliche. Es war, als Achmed ibn Mervan die Zitadelle übergeben sollte, da ließ Saint Gilles ihm rasch die eigene Fahne reichen, doch der Seltschuk wies sie verächtlich ab. Nur mit dem Normannenprinzen, jenem strahlenden und ersten Herrn der Christenheit, habe er verhandelt, keinem anderen. Darauf reichte Tancred ihm die arogant-gebäumte, rote Drachenglyphe. Bohemund nickte leicht, dies sei das rechte Banner; aus dem Jubel der Normannen stieg es hoch.

Seitdem sammelte Saint Gilles wie ein Besessener Zitadellen. »Ganz oben auf dem Düngerhaufen kräht es sich am besten«, spotteten die Pilgertruppen über seine hahnenmäßige Eitelkeit. Doch nicht nur in Lästerzeilen brach Empörung unter diesen Schichten aus, gegen so viel Zeit- und Blutvergeudung. Nur sie, die Ärmsten, hatten wirklich alles verlassen, um des Glaubens willen, ihnen bot der fremde Weltteil keine Prinzentümer auf dem Zug ins Heilige Land, er fraß nur ihre Leiber hunderttausendweise, zu seinem Dünger wurden sie nach namenloser Mühsal. Genug der Umwege, sie drängten nach Jerusalem, damit zumindestens ein Teil es noch erschauen möge. Doch wie sollten die verlorenen Scharen ohne Führung an ihr Ziel gelangen? Tapferkeit wie Kriegskunst ihrer Ritter, der ehern Gepanzerten, blitzend Unüberwindlichen, war für das Unternehmen nicht entbehrlich, das sah sogar der blödest Freche ein. Folgen hieß es wohl, und schweigen. Um so schwüler ballte sich die Sehnsucht.

Peter Barthélémy brauchte sich jetzt nur im Schlaf zu rühren, so hielten alle schon den Atem an. Schon morgens beim Erwachen sah er sich von Andächtigen umlagert, gierig nach Visionen. Jedes seiner hingeworfenen Worte wurde zum Orakel. Schließlich hatte der Wahrtraumträumer dann auch allerhand erschaut. Erst blieb es ziemlich wirr, tönte aber täglich voller. Was er diesmal unter Bann und Spannung verkündete, kam den Vorgesetzten nicht zu Ohren, denn seine heimliche Gegenführerschaft mußte heiligstes Geheimnis bleiben.

Dann setzte in Kleinarmenien der Dezemberregen ein. Schräg, in eisigen Schnüren trommelte er auf die Helme, durchkältete die Eisenpanzer, so wandten die Barone ihr Augenmerk nach Südosten. Nicht dem Heiligen Lande zu, vorerst den reichen Stadtburgen auf dem Weg nach Tripolis. Besonders eine, im Gebiet des arabischen Emirs von Homs reizte zur Eroberung: Ma' arrat al Numân. Bereits im Juli hatte der limusinische Ritter Raymund Pelet auf eigene Faust versucht, sie einzunehmen, war aber fast verschmachtet. Jetzt schien die günstigste Jahreszeit, und er berichtete von wahren Wundern an Schätzen, Palästen und Bazaren, denn dort kreuzten sich die Karawanenstraßen, allerdings auch von Wällen, Türmen und Bastionen.

Entgegen den Befürchtungen erwies die Mannschaft sich durchaus nicht aufsässig, als es hieß, in einer neuen Himmelsrichtung mit dem eigenen Blut schon wieder andere Orte zu erobern, noch immer fernab von Jerusalem. Nur hatte der Gehorsam jetzt etwas von jener unbeteiligten Hoffart syrischer Kamele angenommen, wenn sie mit visionärem Blick beim Niederknien oder geisternden Paßgang ausschließlich eigene schimärische Angelegenheiten zu zelebrieren scheinen, den Hals verdreht ins Imaginäre, wobei ein belangloser Einklang mit der Absicht ihrer Treiber sich von ungefähr ergeben mag – oder auch nicht.

Diese veränderte Haltung des Kreuzheeres entging der Führung keineswegs, doch ohne daß sie sonderlich darauf geachtet hätte, war ja alles hier so anders, im Aufrausch einer Bodenseele, die als trockene Sprungkraft aus dem Oasenhaften durch Palmenschäfte stieg, um sich in klirrenden Fächerbündeln unversehens zu entladen; Schärfe jedes Umrisses gehörte mit dazu, auch gurgelnde Kehllaute bei Mensch wie Tier, als sprächen sie die gleiche Landessprache, blaue Heftigkeit der Schatten neben Goldgehalt des Lichtes, gesäumt mit einer zarten Ahnung von Libanonzedern und Mittelmeer.

Das Unternehmen gegen Ma' arrat war ungewöhnlich gründlich vorbereitet worden. Ein Riesenpark von Kriegsmaschinen schwankte hinter schweren Vier- und Sechsgespannen drein, von Gaston de Bearn befehligt. Manchmal streichelte er stolz die Eisenschnauzen seiner neuen Stoßwidder und meinte zu Robert von der Normandie, sie würden in zwei Tagen wohl die ganze Stadt zerkrachen.

»Gott behüte«, rief der, »nur nicht zu ungestüm, liebwerter Herr, eine Bresche reicht uns, durch die wir kriechen können.« Hatte er aber einen noch schrecklicheren Belagerungsturm zurechtgezimmert als bisher, so konnte man ihn vor dem entfalteten Prunkfächer des Sonnenunterganges ganz oben auf dem Teufelsunding sitzen sehen, um sich mit dunkel-goldener Stimme eins zu flöten, harmlos-friedlich wie ein Amselmännchen auf dem Schornstein.

Diese rollenden Belagerungsburgen, höher als der Stadtwall wurden, nur mit Eliterittern garniert, an die Festung herangeleitet, während an anderen Stellen, tiefer unten, Eisenwidder dröhnten, Mauerbrecher in das Steingefüge krachten, Spitzhacken einhieben, hundertfaches Leiterwerk gleichzeitig aufflog, Netze sich spannten, um Stürzende aufzufangen. Die fahrenden Ritter auf der Plattform, mit Enterhaken an den Lanzen, rissen unterdessen die Scharfschützen von den Wällen und beutelten sie in die Tiefe oder zerschmetterten mit Felsstücken ihre Schilde. Unter Wilhelm von Montpellier raste dort oben ein furchtbares Duell zwischen Angreifern und Verteidigern, ihren Ballisten und Flammenträgern. Graf Lastours sprang als erster über Leichenhaufen in die Festung. Gleichzeitig war es den Sappeuren gelungen, einen Teil der Mauer einzustürzen, Ma' arrat al Numân fiel. Es fiel buchstäblich: immer mehr Teile sanken nieder, denn stumm, manisch, mit rasender Verbissenheit, trieb die Bedienungsmannschaft ihre Kriegsmaschinen immer weiter ins Zerstörerische, taub gegen jeden Haltbefehl. Andere Heeresteile eilten mit Fackeln, entzündbaren Ölvorräten und »griechischem Feuer« in die Bazare. Bald wirbelten brennende Musselinballen zu Hunderten durch die Luft. In dem Gluthauch allgemeiner Feuersbrunst schmolz kostbares Geschmeide aus den Goldschmiedeläden, Smaragde barsten, die Gasse der Kupferschmiede war ein einziger zischender Metallstrom. Durch immer breitere Breschen, zwischen sinkenden Mauern, wurden die Stoßwidder vom rasenden Heer jetzt in das Stadtinnere gegen die reichsten Paläste geleitet. Was sich nicht verbrennen ließ, das mußte stürzen.

Umsonst warf sich die Ritterschaft dazwischen, hieb mit blanker Klinge ein, an Stelle jedes für Widersetzlichkeit mit Tod Bestraften, trat ein anderer, gleich finster Entschlossener vor. Sämtliche Truppen konnte man nicht schlachten, so blieb nichts als Verhandeln übrig. Doch dazu kam es erst zwei Tage und zwei Nächte nach der Eroberung der schönen Stadt, als fast nichts wie Trümmer von ihr übrigblieben.

Dann erst, nicht früher, ließ sich das Pilgerheer herbei, auch nur den Mund zu öffnen. Was herauskam war ein Ultimatum: Entweder sofortiger Aufbruch nach Jerusalem, treu dem Gelübde, oder jede Stadt, die ab vom Wege nur der Beute wegen fiel, würde rasiert werden, dem Erdboden gleichgemacht, bis sie wertlos war für die Eroberer. So hatte ein göttlicher Einstrahl es ihnen, den Verzweifelten, befohlen durch den Mund ihres neuen Seelenführers, des Peter Barthélémy.

Nur Saint Gilles zeigte sich der Situation gewachsen. Superb, mit seinem ganzen provençalischen Temperament, warf der gelbe Marquis sich an die Spitze der Bewegung; er folgte nicht dem Zwang, oh, weit gefehlt, er führte selbst. Nie verlegen um eine eindrucksvolle Geste, ging er im Büßerhemd barfüßig durch die Reste des Südtores bis zur Karawanenstraße in der Richtung nach Jerusalem und erklärte laut, wie recht der populäre Enthusiasmus hätte. Er selber würde die säumigen Barone in seinen Sold nehmen, bot aus dem Stegreif Gottfried von Bouillon zehntausend Sous Gold, nicht weniger Robert von Normandie, auch Bohemund in Antiochia und Balduin in Edessa sollten die gleiche Summe für sofortige Beteiligung am Zug erhalten, Robert von Flandern sechstausend Sous, Tancred fünftausend.

So wurde ihm ganz unerwartet das von allem Anfang an Begehrte doch erfüllt: die Leitung des gesamten Kreuzzuges in der Hand zu haben, was soviel hieß, wie Aussicht auf die Krone von Jerusalem. Plötzlich war er der Held von allen vier Armeen. Würde sein Angebot durch Balduin und Bohemund, wie zu erwarten, abgelehnt, verzögerte sich durch Sammeln und Herbeiführen ihrer verstreuten Effektivbestände die Marschbereitschaft des Herzogs und der beiden Grafen, so fiel die Schuld auf diese Herren selbst zurück. Er, Saint Gilles, hatte seine gesamten Streitkräfte bereits um sich versammelt und konnte morgen losziehen. Alles loderte an ihm nur so von heiliger Ungeduld. Sie schien nicht einmal unecht, verwechselte nur Thron mit Heilandsgrab, beide in Jerusalem zu finden. Mochten die »Humores« bei ihm noch so schlecht gemischt sein, Saint Gilles blieb eine glückhafte Natur, und das »Barbarenbüro« hatte recht daran getan, ihn auf der schwarzen Liste nicht endgültig zu führen, war er doch schon nahe daran, hingebungsvoller Sklave des Kaisers von Byzanz zu werden.

 

Zwischenspiel

Im Spätherbst, während ein Teil der Kreuzfahrer sich noch auf armenischem Gebiet bewegte, erschien eine kleine, fremdartig erlesene Abordnung sehr eilig in Antiochia und begehrte vor das Angesicht des Prinzen selbst geführt zu werden, denn ihr Anliegen sei dringend. Jedes Geschöpf in diesem Zug verkörperte vom Besten nur das Allerbeste: Menschen, Rosse, Eilkamele und Brieftauben, denn auch diese fehlten nicht. Blütenweiß nesteten sie in versilberten Käfigen, die zu Seiten einer ebenso weißen Dromedarstute schwankten, einem Tier, von jener herrlichen Rennrasse, schnell wie ein arabisches Vollblut, doch weit zäher.

Bohemund, obwohl mit Arbeit überbürdet, empfing den jungen Führer der Gesandtschaft. Der neigte sich im Moslemgruß, hob dann sein arabisch-griechisch geschnittenes Gesicht und stellte sich als Geisel für die Echtheit eines Anerbietens, das er im Namen seines Vaters Omar, Befehlshabers der Veste Azaz, dem hohen Herrn Syriens zu unterbreiten habe.

Was er vorschlug, klang seltsam genug. Hier wandte sich zum erstenmal ein mohammedanischer Emir an einen christlichen Kreuzherrn um Hilfe gegen seinen eigenen gleichgläubigen Souzerän. Das war der Malik Rîdwan von Aleppo. Aus geringem Anlaß zog er gegen Omar und würde jetzt bereits mit Übermacht vor Azaz stehen. Der Bedrohte wollte zum Dank für die Errettung von sicherem Untergang seine Provinz, die Festung und sich selber dauernd unter die Oberhoheit von Antiochia stellen. Wie groß die Not, wie ernst die Absicht, bezeuge hier der Sohn: die angebotene Geisel. Und abermals verneigte sich der junge Araber, doch diesmal mit jener eindrucksvollen Geste, wie sie unvergeßlich Schams al-Dâwla im Mondlicht um den eigenen Leib gezogen.

Nichts hätte Bohemund willkommener sein können als dieser Hilfeschrei. Aleppo, die letzte türkische Enklave von Bedeutung, mußte so bald wie möglich in das befreite christliche Syrien eingeschmolzen werden, der Abfall des wichtigen Azaz auf der großen Straße zwischen Antiochia und Edessa gelegen, kam wie gottgeschenkt. Seine Zusage trugen zehn Minuten später schon die Brieftauben auf ihren blütenweißen Brüstchen an den Gouverneur. Wie Silberpfeile schossen sie nach Osten.

Da die aleppinische Armee nach dem Bericht des jungen Mohammed sehr stark schien, so mußte ein mächtiger Gast Antiochias mittun, der Herzog Gottfried von Bouillon. Lotharinger und Normannen eilten noch in der Nacht vereint der schwerbedrohten Festung zu. Trabend unter Sternen, besannen beide Führer erst, wie sonderbar das Unternehmen sei, und daß sie es versäumt hätten, den Boten zu befragen, was Omar zu dem unerhörten Schritt ermutigt habe. Doch solch verschlungene Seelenfäden mochte zu gelegener Zeit ein müßiger Augenblick entwirren.

Besser aus dem Trab jetzt in Galopp zu fallen.

Dann entsetzten sie die Festung. Nichts war leichter. Rîdwans Belagerungsarmee zerstob schon auf die Nachricht des christlichen Anmarsches hin. Den kampflos Siegenden zog aus dem Tor der Gouverneur mit seinem Stab entgegen, stieg vom Pferd, kniete vor Bohemund und. erklärte sich nach Form und Brauch nun rechtens sein Vasall. Dabei hatte der alles sehende Normanne mit Mißvergnügen an Omars Seite eine Sänfte bemerkt und in ihr, der Landessitte nach paketmäßig umwickelt, eine Dame. Bedeutete auch dieses eine Ehrengabe? Sie reizte ihn nicht übermäßig, denn an Frauen war kein Mangel in Antiochia; eine wirklich fehlerfreie Berberstute hätte er bei weitem vorgezogen. Richtig ließ der Emir die Sänfte öffnen, ein schleierndes Gebilde glitt hervor und hing im nächsten Augenblick am Halse des tieferschrockenen Herzogs. Dann stürzte es zu Bohemund, zögerte zurück, blieb zitternd vor ihm stehen mit einem unbestimmten Laut geschluchzten Glückes. Da wußte er: Plaisance.

Der neue Vasall hatte sich indessen an Gottfried von Bouillon gewandt und erklärte seine Gefangene auch ohne Lösegeld für völlig frei, denn ihrem kühnen Rat verdanke er die Rettung. Nur sie habe sein Bedenken übermocht, so daß er es gewagt hatte, glaubensfremde Eroberer um Hilfe anzurufen. Der Dame selbst sei, ihrem Rang gemäß, wie es ritterliche Sitte, in seinem Haus kein Unbill widerfahren.

Plaisance bestätigte das gnädig dem alten Mann und klopfte ihm, wie einem braven Wächterhund, die Schulter.

Dann kam sie ins Erzählen: das unvorsichtige junge Paar war einer Seltschukstreife in den Weg geraten, wobei der arme Fulbert seinen Tod fand. Da der Trupp in Rîdwans Auftrag noch weitere Gebiete zu durchreiten hatte, ließ er seine lebendige Beute vorderhand bei dem Emir des nahen Azaz, wie eine leicht verderbliche Ware an geschütztem Ort. Dort, in Omars gepflegtem Frauenhaus, traf die schmale Jünglingin erst bestürzte Neugier, schließlich Neigung. Ältere Bewohnerinnen betreuten, gleichaltrige untersuchten, jüngere umspielten sie. Die Haft blieb leicht. Der Fremden peinigende Bräuche aufzuzwingen, fiel dem guten Alten gar nicht ein, er ritt sogar mit ihr, da sie Bewegung liebte, oder lehrte sie arabische Waffen führen und nur durch die Bedrohung aus Aleppo waren Verhandlungen mit dem Hause Bouillon über eine angemessene Lösesumme bisher hinausgezögert worden.

»Schuppenpanzer«, »Ritte«, »Waffengänge«, es klang tröstlich vertraut im Sinne der Gefangenen, warum aber sah das Kind so gar nicht nach sich selber aus? Wie hatte man es in dem Weiberkäfig zugerichtet. Bohemund und der Herzog hielten ihren Unmut kaum zurück, als sie im Gouverneurspalast dann weniger verpackt zu sehen war. An Plaisance das Schönste: jene zwei klaren Schälchen Mittelmeer, in denen grau und ernst Granite standen, blickten trüb, durch dicke Striche Antimon am Innenrand der Lider entzündet. Schwarze Freudentränen tropften jetzt überdies aus Koholwimpern und fraßen dunkle Runen in zu pastose Wangenmalerei. Wegrasiert die lichten Brauen! Hoch über ihrer alten, geraden Spur schwangen sich zwei rabenschwarze Bögen, liniengleich dem glattgeölten Scheitel. Und wie lieblich war doch dieses Elfenhaar gewesen, wenn es an dem Gestade ihrer reinen Stirn in Wellchen sich zu überschlagen liebte, mit einem schillernden Geflimmer, zu silbern für den Tag, zu golden für die Nacht. Nun lag es totgestriegelt, entzaubert und entzaubernd um das kaum mehr kenntliche Gesicht. Hennarote Fingerspitzen, an fehlem Ort gebauschte Tracht, ergänzten die Entstellung.

Daß aber Omar, Emir von Azaz, die Verwandelte heimlich ebenso befremdet musterte und seinen Unmut kaum verbergen konnte, genau wie seine christlichen Gäste, davon ahnten diese nichts. Und doch es war so. Während das aleppinische Heer sein Stadtgebiet umklammert hielt, hatte Plaisance, noch vollgewappnet, ihn angefleht, bei einem Ausfall mittun zu dürfen, auch ihr »Ritterwort« geboten, daß kein Fluchtplan hinter dieser Bitte stecke. Obgleich er, der erfahrene Orientale, nie ganz im Banne der Verkleidung stand, der Weiblichkeit dahinter stets mehr als halb bewußt blieb, er hätte ihr beinahe den Wunsch erfüllt. Die Versuchung ging zum Glück vorüber, denn nun schlugen Silberpfeile aus dem Himmel in die Festung ein und brachten auf ihrem blütenweißen Brüstchen Nachricht vom nahenden Entsatz. Seine Gefangene aber stob nach dieser Freudenbotschaft sofort ins Frauenhaus und blieb verschwunden. Erst als die Christen schon gesichtet wurden, erschien die arg Verwandelte, um den Wunsch nach einer Sänfte auszuhauchen, während doch das Lieblingspferd bereitstand, auf dem sie ihren Landsleuten an seiner Seite entgegenreiten sollte.

Während ihres ganzen Aufenthaltes waren ihm, bei Erörterungen über Kampfmethoden, die Vorteile eines Zweihänders gegen eine Sarazenenklinge so handgreiflich bewiesen worden, daß die Funken stoben, was dem Brauch seines weiblichen Hausstandes wenig entsprach. Jetzt aber, bei der Heimkehr dorthin, wo das Mannsvolk derlei Unfug augenscheinlich duldete, tat sie plötzlich blickscheu wie die Gattin eines Rechtgläubigen.

Das letzte, was er von dem unbequemen Mädchen-Kinde sah, war eine dicht verschleierte Gestalt. Sie hockte mit unterschlagenen Beinen auf einem breiten Sattel, überschaukelt von dem Baldachin des Reitkamels, und hielt in ihrem Schoß einen umfangreichen, goldverschnörkelten Schminkkasten, das Abschiedsangebinde seines eigenen Harims. Zu ihren Seiten ritten der Prinz von Antiochia und der Herzog von Bouillon; mochten diese sie fortan behüten. Ihn, Allah sei gepriesen, ging das nichts mehr an. Kopfschüttelnd, aber friedlich, kehrte er in den Palast zurück und zu den Seinen.

Unter diesen hätte die junge Gattin seines Sohnes, der jetzt als Geisel in der syrischen Hauptstadt weilte, ihm mancherlei erklären können. Plaisance war erst sehr hochfahrend gewesen. Trotz blumenüberstürzter Gärten, fayance-gekachelter Höfe voller Singvögel und Kissen, kam sie sich in eine Grottenwelt versenkt vor, wo nur blinde Muscheln atmeten. Dann wieder schien es, als weste doch ein weit Geheimnisvolleres hier, von dem sie selber wenig wußte, während noch die Geringsten aus dem Sklavenstande darin einbezogen blieben. Man sah es ihren leichten Fingern an, wenn sie, als wäre dies ein kultischer Akt, den Herrinnen die Zehennägel mit immer zierlicher geratenden Halbmondchen bemalten oder den Goldlack auf bräunlichen Brustspitzen und anderwärts erneuerten.

Diese »Grottenwelt« bewohnte jetzt auch sie, schlief da, aß und badete. Wissende Hände betreuten in langen Ruhestunden jedes ihrer Glieder, ließen Ahnungen fremdartiger Genüsse zurück. Dann wieder drang, bald aufreizend, bald beruhigend, manchmal durchklärend, Kunst der Düftemischungen in ihre Sinne.

Neugierig erfand sie selbst ein Spiel mit allerhand Dekoktionen, bis lange Augen des Ostens im Antlitz einer vornehmen arabischen Dame diese unbehilflichen Versuche leicht belustigt streiften. Ein paar Anweisungen, und ihre Knie wurden von der Sklavin mit Efeu eingerieben, die Achselhöhlen mit Akazienessenz besprengt. Es war so ganz das richtig Frische für ihre eigene Morgenstimmung und unaussprechlich angenehm. Später klirrte sie davon, wie immer, doch die Fremde, Omars Schwiegertochter, hatte es ihr angetan. Mit der leicht entflammbaren Bewunderung junger Frauen für das völlig anders Schöne begann sie der Herrin dieser Zauberzone zwischen Tag und Traum auf jede Art zu huldigen.

Bald kam Gelegenheit, die neue Freundin auch zu trösten. Es war während ihres eigenen politischen Triumphes, als sie den Gouverneur zum Bündnis mit den Kreuzherren bewogen hatte. Das aber hieß zugleich, zwei Zärtliche trennen, denn Omars Sohn sollte ja als Geisel nach Antiochia.

Graublaß vor Empörung klagte die Araberin Plaisance an, ihr den Gatten in den Tod zu jagen. Und was für einen Tod. Hauste in der syrischen Hauptstadt doch unter allen der entsetzlichste Barbar, von dem sämtliche Bazare nicht nur raunten, sondern ganz genau zu schildern wußten, wie er jeden Abend einen Rechtgläubigen schlachte, am offenen Lagerfeuer brate, um ihn zu verschlingen. Während dieses Greuelberichtes brach ein solches Leuchten der Erinnerung plötzlich aus dem sonderbaren Gast, daß der anderen vor Schrecken, am Ende eine Kannibalin zu beherbergen, die Rede steckenblieb.

Später lauschte sie beruhigter, nur etwas wirr im Kopf von den vielen halbverstandenen Worten, mit denen ihr Plaisance den neuen Machthaber in Syrien zu beschreiben suchte. Geheuer schien er ihr deshalb noch lange nicht, doch das immer wieder sich Überjubelnde der jungen Stimme tat ihrem Herzen gut.

Kaum war der tränenreiche Abschied von Mohammed vorüber, so begannen erregend neue Prozeduren, lieblich ausgedachte Vorbereitungen im Leiblich-Seelischen zu Ehren seiner Wiederkehr. Mit rosigen Ohren erfuhr Plaisance, bis zu welchem Grade der Vollendung das vielleicht Reizvollste unter den weiblichen Vermögen hier gediehen war: den Mann zu überraschen durch eine vorteilhafte Änderung der eigenen Erscheinung. Schon in den Zaubermärchen, wie sie deren nachts auf den Terrassen, bei Früchten und Geplätscher der Fontänen viele angehört hatte, ging die Rede von Verlarvungen der Hauptpersonen. Selbst Feen, die gefallen wollten, verschmähten nicht, ihr Äußeres nach Bedarf zu wechseln.

In solche Träumereien stürzten dann die weißen Tauben, und so nahe schien plötzlich der Befreier, daß sie über ihren Mangel an Bereitschaft, ihn zu empfangen, tief erschrak. Nie wieder kam wie hier die unvergleichliche Gelegenheit, ihr Alltags-Ich festlich zu verwandeln, indem sie es der bewunderten Erscheinung des arabischen Vorbildes so genau wie irgend möglich anzugleichen suchte.

Man tat ihr, wenn auch kopfschüttelnd, im Frauenhaus den Willen, und sie zeigte sich kritiklos selig. Peinlich nur, daß lange Augen des Ostens derart schmerzen sollten; die weit aufgeschlagenen ihres dunklen Idols konnten allerdings trotz Antimon und Kohol mit zuckungsfreien Lidern geradeaus in die syrische Sonne schauen.

Nach der Ankunft in Antiochia verwunderte der Hofstaat sich nicht wenig, daß des Herzogs Nichte am nächsten Tag die seltsame Bekleidung noch immer trug, jetzt, wo jeder Zwang ihrer Gefangenschaft zu Ende war. Sie erschien gleich angetan auch bei der Abendtafel, unbekümmert um den lichten Hohn in ihres Gastgebers dunkler Stimme und andere Sturmzeichen, denn seine Zeit bei einem eigensinnig entstellten Wesen verbringen, dazu war er nicht der Mann. Entweder wollte er sein Silberfischchen wieder haben, oder sie hatte als Dame etwa auszusehen wie eines Kaisers Tochter zu Byzanz. Annas Bild stieg auf, wie sie damals beim Gartenfest im Heiligen Palast erschienen war: die hohen, schöngehenden Beine in goldenen Wickelgamaschen, von einem schleiergleichen Unterkleid umflügelt, während der starre Mantel mit seinen schräg gewobenen Reihen rosenfarbener Sperber und persisch-grüner Löwen auf metallenem Grund durch Wellen Mondlicht nachzog wie ein Pfauenschweif. Sein Körper hatte sich nie ganz entschieden für die Caesarissa, doch seine Prachtlust schwelgen machen, das hatte sie gekonnt.

Der Herzog kniete jetzt in der Kapelle bei später Andacht, Musikanten und Dienerschaft waren entlassen, die beiden fanden sich wohl für die nächste Zeit allein. Genug der Maskerade. Mit drei Schritten war er bei der falschen Orientalin, dann rissen zornige Hände ihr den ganzen Aufbausch einfach von den Schultern. Daß stellenweise goldener Lack zum Vorschein kam, machte seine Griffe auch nicht sanfter. Sie schmiegte sich in die Mißhandlung, bis ein alles überschmelzendes Glücksgefühl von ihr zu ihm seinen Unmut löste.

Am Morgen schenkte er ihr dann ein grüngoldenes Brokatgewand aus den kaiserlichen Webereien zu Theben. So edel war es in der Zeichnung, daß selbst seine berüchtigte normannische Geldgier davor Halt gemacht. Alle anderen hatte er als verbotene Ware zu Wucherpreisen in Byzanz von Guy verschachern lassen, um Gebirgsponys und sarazenische Schuppenpanzer zu erstehen. Dann schenkte er ihr zwei silbergekettete Jagdgeparden, seine beste Berberstute und sämtliche Einkünfte aus Azaz, denn sie hatte ihm das Emirat verschafft. Schließlich schenkte er ihr alles, was er entbehren konnte, vom Kostbarsten, das er besaß: der Zeit. Denn mitten zwischen Blut und Tod trieb seine formbegierige Lebenskraft aus dem umkämpften Sonnenraum bereits ein nie geschautes Reich hervor aus morgenländischer Pracht und nordischem Adel. Etwas unwiderruflich Bestehendes gab es nie für ihn und nirgends. Als griffe er in wogende Weltmasse, so ohne Widerstand erhob sich strahlend Neues zwischen seinen schöpferischen Händen.

Zum erstenmal seit sie bestand herrschte nicht mehr Antiochia selber, heidnisch-panisch, gleichgültig wer sie besaß, Antiochia mußte sich in einen Herren fügen: ihre Sümpfe schrumpften, ihre Seuchen hörten auf. Kreuzfahrertürme überstiegen noch die byzantinischen Mauern, so weise-elegant wie diese, doch kühner und in Zackenkronen ausgeschwungen: ein unüberwindliches Gebirge aus Geometrie.

Genuesische, pisanische, venezianische Flotten gewöhnten sich, den Hafen von Sankt Simeon anzulaufen, Karawanen kamen, Gesandtschaften. Eine aus Afghanistan brachte Hunde, schmal wie Windspiele, doch mit klugen Dreiecksgesichtern statt der Schlangenköpfe. Sie kauerten auf den Höckern der Kamele, sprangen von dort in flachen Bögen dem Wild nach. Auch diese schenkte er Plaisance.

Wie Silberstriche in der Landschaft blitzten sie die Schimmelstute ihrer Herrin entlang, wenn diese den Prinzen von Antiochia zur Jagd begleitete, bei Tag die Amazonenschwester, am Abend große Dame aus dem Hause Bouillon-Lotharingen, Frau aller Träume zur Nacht.

Erschüttert von seiner Nähe hatte sie ihn anfangs kaum berühren können, so als ob er Flamme wäre. Erst dem Schlafenden strich dann ein Frauenfinger um die Pagen-Ecken des sonst so gnadenlosen Mundes. Dann genoß ihr ganzes Wesen, pflanzenstill im Dunkel, doch innen voll springender Brunnen, das Wunder des geteilten Lagers, jenes regungslose Glück der Pause, ehe gegen Morgen seine Weltunruhe wieder losbrach, mit Kampf, Gefahr, Intriguen, Feilschen, Lügen, Siegen, Niederlagen und lichthaft erschwungenem Tun.

Auch das genoß sie. Denn jene Lebensneugierde, die er beim ersten Zwiegespräch für sich gewonnen hatte durch die Hoffnung auf dauerhafte Todesgefahr, war noch lange nicht befriedigt, doch etwas von dem feineren Geheimnis seines bis zum Irrsinn jetzt geliebten Körpers, gab ihr erst die Tiefe der Bewußtlosigkeit preis, wenn die Woge des Gefühls in Schlaf gesunken.

Sogar der Herzog von Bouillon konnte nicht umhin von alledem etwas zu bemerken, solange er aber schwieg, würde niemand einen Tadel wagen. Seine Nichte war erst zu kurze Zeit verwitwet, als daß schon neue Ehe hätte folgen dürfen. Seines Bruders Balduin Hast, sich wieder zu vermählen, mußte er sogar als Chef des Hauses schwer mißbilligen. Der jetzige Zustand schien einer geziemenden Trauerhaltung ja gewiß nicht angemessen, doch war es vielleicht unklug, sich für später die große Allianz mit dem Normannen durch eine Rüge zu vergrämen, sein Aufstieg grenzte ja an Zauberei.

Auch wußte er, als Unbeweibter, sich gegen Frauentränen nicht genügend abgestumpft, um sie ohne Herzklopfen herauszufordern. Feine Scheu hatte ihn schließlich noch gelehrt, vor zweifelhaften Außendingen so tief wie möglich in sich selber zu versinken, dort weste er dahin, abgeschirmt durch jene berühmte, überlebensgroße Mauer seiner blonden Fleischlichkeit, an die kein noch so Taktloser sich wagte. Später, dem Frühjahr zu, begann wohl auch der Aufbruch nach Jerusalem, dann würde sich schon alles finden.

Er behielt recht. Die Eroberung M'arrat al Nûmans kam, mit ihr der Massenaufruhr gegen die Barone, dann Saint Gilles Schwenkung ins populäre Lager, wodurch der Kreuzzug gewaltig seinem Ende zutrieb.

In dem Maße, als die Vorbereitungen gediehen, Tancred und der Herzog hatten die ihren fast vollendet, verfiel Plaisance, doch nicht vom Körper her.

Ihr Geliebter rang unterdessen mit allen Teufeln, Waffen, politischen Manövern um sein neues Reich, denn der Marquis der Provence hatte ihm einen bösen Partherpfeil zum Abschied nachgeschossen. Laodicea, das Robert Courteuse von den englischen Piraten übernommen, war von diesem Saint Gilles im Tauschweg abgetreten worden. Der, seinerseits, gab es nun plötzlich an Byzanz zurück, mit großer Geste einem Eid getreu, den er nie geschworen hatte. Dieser Besitzwechsel fiel überdies mit dem Bruch der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Kaiser und Bohemund zusammen, wie der gelbe Marquis sehr wohl wußte. Ein letztes Schreiben an den »Herrn Grafen von Hauteville« gerichtet, forderte ihn auf, Antiochia und die übrigen besetzten Zonen unverzüglich dem Vertrag gemäß zurückzugeben, worauf der tatsächliche Machthaber in diesen Breiten erwiderte, er denke nicht daran. Die Heiligste Majestät selber habe gnädigst geruht, ihr Wort zu brechen, indem sie den Kreuzherren nicht zu Hilfe kam. Was diese ganz allein unter unsäglichen Gefahren sich dann, frei vom Vertrag, erkämpft, darüber hätten sie nach ihrem Sinn verfügt, indem sie ihm, dem Prinzen von Tarent, Besieger Kerbogas und persönlicher Erstürmer der Stadt, diese samt dem Land als Dank zu eigen gaben. Und er unterschrieb sich mit ausschweifenden Titeln, so umfangreich, wie sie nach vorderasiatischer Tradition sich nur immer auf dem Haupt eines souveränen orientalischen Herrschers häufen ließen.

Das war noch Vordergrundsgeplänkel, Laodicea aber gab in den Händen einer starken Seemacht einen Stützpunkt allerersten Ranges ab. Es lag überdies gefährlich nahe, so wußte er sich jetzt in der byzantinischen Zange vom Meer her und vom Land aus; wie hätte ein Krieger-Staatsmann da Syrien für Jerusalem verlassen können. Die Kirche sah es ein und billigte uneingeschränkten Aufschub. Aus den Zeiten her, als Robert Guiscard Rom erobert hatte, um Gregor VII. aus der Gewalt des deutschen Kaisers zu befreien, standen die italienischen Normannen mit dem Heiligen Stuhl sehr freundlich, übrigens blieb es Sache der Barone, wann und wie sie ihren Kreuzzug führen wollten.

Jetzt brauchte Plaisance sich wenigstens nicht mehr zu härmen wegen dieses blutigen Ringens mit den Fatimiden, das bevorstand. Angst, auch um ihn, sah ihr zwar gar nicht ähnlich, doch ohne diese war die gespannte Blässe ihrer Züge schwer erklärlich. Daher sah er ihr voll heiterer Erwartung in die, auch ohne Kohol schwarz umringten Augen, als er seine Neuigkeit verkündete:

»Ich bleibe.«

»Und ich gehe.«

Erst hörte er noch dumpf vorbei an ihren Worten. Begriff nur ganz allmählich, als sie sagte:

»Er lag so arm und jung, während all das Blut aus seinem Leib gekrochen kam. Weit eher wie ein Zwillingsbruder als ein Gatte sah er aus, und solche Jenseitsnot stand in den fast schon weggesunkenen Augen. Die türkischen Mörder teilten sich gerade seine Waffen. Er konnte nur mehr auf das Kreuz an seinem Ärmel deuten. Ich schnitt es aus, nahm es an mich und nickte. Das war ein stummer Schwur. Er wußte sich erhört in seiner letzten Bitte und starb beruhigt.«

Bohemunds geschicktes Hirn sann schon auf einen Ausweg.

»Also war es durchaus kein Versprechen, an seiner Stelle für die Eroberung Jerusalems zu kämpfen, das du da gabst, nur sein Kreuz ans Heilige Grab zu bringen, diese Bereitschaft lag in der Gebärde.«

»In der Gebärde lag vielleicht nicht mehr. In meiner Seele aber alles. Darauf kommt es an.«

Bohemund war als Mann nicht mehr so unreif, um ein Verbot herauszupoltern. Statt dessen erläuterte er sachlich, wie nur von Syrien aus Rücken und Flanke des Kreuzzugs wirksam zu decken seien. Das aber erfordere den gleichen lebendigen Einsatz aller Kräfte für die heilige Sache, wie etwa in Palästina, Judäa oder vor der Veste Zion selbst. Normannen kämpften hier, Lotharinger dort den gleichen Krieg, nur an zwei verschiedenen Fronten. Nach einem halben Jahr, vielleicht schon früher, wenn er mit ihrer Hilfe Antiochia, das syrische Bollwerk Jerusalems, gegen Seltschuk wie ketzerische Byzantiner völlig gesichert hätte, könnten sie gemeinsam das Werk der Pietät erfüllen. Auch er sei ja zur Pilgerschaft verpflichtet, durch das gleiche Kreuz auf seiner Schulter. Doch wie der Feldzug eben stünde, habe ihm die Kirche ohne weiteres Aufschub zugebilligt. Ihr gleichfalls würde er erteilt, um letzte Zweifel, den Schwur betreffend, zu zerstreuen. Seine strategischen Argumente klangen stark, die Rede meisterhaft wie immer. Selbst schon völlig überzeugt von der Richtigkeit des Vorgebrachten sah er – in zwei bedauernde Granite.

Nun versuchte er es anders.

Sie war in einem Zornanfall brutal von ihm genommen worden. Jetzt holte er die Werbung nach mit allen Zeremonien. Antiochia wurde Liebeshof. Wie neu entstanden über Nacht, schillerte das Dasein von allen Zartheiten vorfrühlingshaften Minnedienstes, eingesetzt in einen morgenländischen Zaubertraum. Stets von pausenloser Huldigung umgeben, niemals bedrängt, fand sich Plaisance auf einer festlich erhöhten Bühne, doch nicht nur leicht zu Spielerischem hingestellt; den ganzen Ernst der wartenden Natur ließ er sie spüren, hinter Formen von vollendeter Courtoisie, und die blinde Süße dieser immer näherkommenden Verführung wuchs so sehr ins kaum Erträgliche, daß sie nahe daran war, ihm einen Dolch ins Fleisch zu stoßen. Er wartete darauf. Sie tat es nicht.

Da ließ er alle Künste fallen, gab sie verloren; ihr Weg lag frei. Jetzt hieß es noch das Schwerste überstehen: seine Ritterlichkeit. Völlig frank, nicht anders wie der erfahrenere Kamerad vor einem zarten, ganz jungen Tancred sich verhalten hätte, so sorgte er für ihre Rüstung, den Helm, daß er nicht drücke, nicht zu schwer sei, dabei doch fest, untersuchte eigenhändig jede Niete, probierte mit ihr Waffen aus. Besonders aber lehrte er sie jeden Vorteil bei einem Sturmangriff zu nützen, dabei wirksam vorzugehen, und doch gedeckt. Es galt Jerusalem. Denn daß sie während der entscheidenden Stunden rückwärts beim Troß zu halten sein würde, sinnlos das zu hoffen! Vom Herzog erbat er die Erlaubnis, seiner Nichte eine erlesene normannische Leibgarde ins lotharingische Lager stellen zu dürfen. Zu Tancred, der zwar seine eigenen Truppen befehligte, sagte er nur einmal obenhin: »Gib acht auf sie.« Das würde genügen, daß er Plaisance, wo es wirklich darauf ankam, nicht aus der Reichweite seines Armes ließ.

Noch einmal stiegen sie gemeinsam auf die Zitadelle. Dort nahm er ihr herzförmiges Gesicht wie einen Becher zwischen seine Hände und frug:

»Warum warst du denn schon abschiedsblaß, als es doch noch gar nicht feststand, daß ich bleiben müsse?«

»Weil ich dich so oft hier oben habe sitzen sehen, in der schönen Haltung, die ich liebe, da, unter deiner alten gebäumten Midgardschlange – weht das Banner, so sieht es aus, als ob sie Seraphflügel hätte, doch sie bleckt auch Haifischzähne –, und kein einziges Mal, während wir hier saßen, war dein Gesicht Jerusalem zugekehrt. Immer schautest du nur nach Byzanz. Also mußte es so kommen.«

»Auch ein junges Frauenantlitz, wenn ich nicht sehr irre, sah dabei immer nach Byzanz.«

»Nicht nach Byzanz. Es war dem männlichen nur gleichgerichtet. Jetzt aber ist die Wendung andershin durch eine höhere Macht befohlen worden.«

Um ihr den Abschied zu ersparen, ritt er, wie ungefähr, zu einer kurzen Streifung weg, blieb aber lange genug, um den Herzog samt Gefolge bei seiner Rückkehr nicht mehr anzutreffen.

Warm hingebreitet, ein prachtvoll erfülltes Blickfeld, lag die syrische Landschaft um Antiochia da. Er aber blickte über sie hinweg, diesmal in die Richtung nach Jerusalem und dachte:

»Welch eine Senkgrube wäre diese Welt, wenn es nicht immer wieder Frauen gäbe, die auch ungesprochene Versprechen halten, für die vielen laut beschworenen, die wir brechen müssen.«

 

Ordale

Erst beim Zusammenraffen aller Machtmittel für die Entscheidung im Heiligen Land, gaben die Barone sich mit Bestürzung Rechenschaft, wieviel schon weggeschmolzen war von jenen vier Armeen, bei deren Anmarsch selbst der »Akropolis der Welt« gegraut hatte. »Zahlreich wie Blätter im Frühling, Wellen und Sturm, Sandflöhe – – nein, Heuschrecken in Ägypterland«, nannte die junge Caesarissa damals die Kreuzfahrermassen. Jetzt blieben wenig über dreißigtausend Kampffähige übrig. Außer Schlachten, Geplänkel, Erschöpfung, Seuchen, Klima, Desertion, trug an dieser Schwäche viel die Bindung lotharingischer Kräfte in Edessa, italischer Normannen um Antiochia, Schuld.

Soweit die Pilgertruppen. Doch weit bedrohlicher schien der Ritterschwund. Die vielen Zehntausendschaften an Fußvolk waren nötig, Städte einzukreisen, in bereits erstürmte breit einzuströmen, letzte Widerstände abzuwürgen, Sieg durchzudrücken. Erkämpfen konnte ihn immer und überall nur die Elite der Ritterschaft: außen eherne Kriegsmaschinen unerhört, innen Hirn und Wille. Sie nur dachten vor, führten aus und schlugen wie ein einziger Block fliegenden Eisens in die Feinde.

Das Großartige, kaum mehr Menschliche ihrer Leistung hatte den gesamten Orient derart mit bewunderndem Entsetzen geschlagen, daß schon das Auftreten von ein paar Dutzend dieser metallischen Giganten eine ganze Provinz in Abhängigkeit hielt. Nie geschont, stets im Zentrum der Gefahr, brachten sie naturgemäß die größten Blutopfer bei Angriff wie Verteidigung. Jeder, solange er noch Atem in sich hatte, war sich also seiner Unersetzlichkeit bewußt, doch wo es galt, spielte er zumeist loyal zusammen als Gleicher mit den Gleichen, sich jedoch aus dem Troß heraus seine Entschlüsse vorschreiben zu lassen, war keiner gewillt. Soweit aber war es fast gekommen.

Sie zelteten vor Arqua, einer Stadt bereits im Vorgebiet des Libanon, und warteten nur noch auf Gottfried von Bouillon und seine Streitkräfte – die Lotharinger hatten einen anderen Weg entlang der Küste eingeschlagen –, um dann gemeinsam an der Gefahrenzone von Damaskus vorbeizustoßen.

Nun, zum erstenmal bei einer Pflichterfüllung, verzögerte der Herzog. Es war an dem: er hatte sich verliebt. In eine Frühlingslandschaft. Die herrliche tripolitanische Riviera tat es seinen Sinnen derart an, daß er sich dort ein ungefähres Königreich aus dem Besitz der Ungläubigen herauszugrenzen vornahm, nachdem wohl Saint Gilles die Heiligen Stätten erhalten würde, wenn es dort zur Wahl kam. Da nichts leichter fällt, wie eine Forderung der Eigensucht in jene allgemeinen Wohles umzudeuten, so erschien ihm gerade Tripolis als letztes Glied einer christlichen Staatenkette unentbehrlich, damit die Rechtgläubigkeit von Spanien aus, wo eben mit den Mauren noch um sie gerungen wurde, durch ganz Europa und den Balkan über Byzanz, die vorderasiatische Küste entlang bis an Ägyptens Grenzen nicht mehr abriß. Der angenehme Ort Jabala sollte Hauptstadt dieser unerläßlichen Gründung werden. Ihn belagerte er also rasch noch, da es auch seinen Lotharingern in dem schönen Land gefiel.

»Unerträglich«, grollte unterdessen Robert von der Normandie, als er in jenen Tagen vor Arqua in das Zelt seines Kaplans trat, meinte aber nicht des Herzogs harmlosen Abstecher, vielmehr die wachsende Tyrannei Peter Barthélémys, seit jenem siegreichen Massenaufruhr der Schlichten im Geiste vor M'arrat al Nûman.

»Von dem despotischen Gelalle eines Tölpels können wir nicht länger abhängen«, fuhr er fort, »und Saint Gilles, da es sich um seinen Landsmann und Steigerung der eigenen Beliebtheit handelt, fördert noch den Unfug. Sinnt etwas aus, um dem zu steuern.«

Der Kaplan des Grafen und hoch in seiner Gunst, war Arnulf von Zokes, »Malecorne« genannt, ein überaus wohlgestalteter Mensch, tatkräftig, geschickt, beredsam und verrufen. Die Knappen sangen von ihm üble Lieder.

»Nur noch ein weniges Geduld, Gräfliche Gnaden«, beruhigte er den hohen Gönner. »Der Wahrtraumträumer hat uns, wie man hört, heute Nacht noch einen Dienst erwiesen, der erst seine volle Wirkung tun soll. Er sah den Kalifen von Bagdad, genauer gesprochen, sein provençalischer Beschützer meinte, es müsse dieser in Person gewesen sein, der führte ein Heer, größer als Kerbogas, um uns den Weg ins Heilige Land zu wehren, ganz nahe sollte es schon sein. Der Seher schilderte deutlich die endlosen Kolonnen mit dem verruchten Abzeichen des Kalifats, worauf der Herr Marquis unverzüglich seine Bischöfliche Gnaden Peter von Norbonne zum Herzog schickte mit dringender Botschaft, er möge herbeieilen, der Kreuzzug sei durch die Ungläubigen in äußerster Gefahr. Soeben erst geschah das, und derart eilig, daß die anderen sehr edlen Herren noch nicht einmal verständigt werden konnten.«

Für den Augenblick vergaß Graf Robert diese Eigenmächtigkeit Saint Gilles über der Sorge, etwas Wahres könne doch an der Vision gewesen sein, aber Malecorne tat sehr gelassen. Die Bazare raunten nichts von einem Kriegszug Bagdads, während sie Kerbogas Vorbereitungen schon wochenlang vorher gewußt hätten. Das Ganze klänge denn auch wirklich gar zu unwahrscheinlich. Gottfried von Bouillon aber, durch den falschen Alarm weggerufen von dem fast eroberten Jabala, wäre dann gerade in der rechten Stimmung gegen den Propheten.

»Was hilft das, wir andern alle sind längst schon in der rechten Stimmung«, meinte Robert Courtheuse unmutig, »um Barthélémy aufknüpfen zu lassen. Doch den Helden des Lanzenwunders hinrichten – das geht nicht an.«

»Gewiß, er muß sich selber richten, das Mittel gibt uns aber diese nicht eingetroffene Prophezeiung an die Hand, ein Mittel, dem der milde Herzog seine Zustimmung vorher vielleicht versagt hätte.«

Von Milde war wirklich nichts an ihm zu merken, als er nach vielen Eilmärschen vor Arqua eintraf, um zu erfahren, daß nicht nur kein Heer aus Bagdad in bedrohlicher Nähe, sondern überhaupt nie und nirgends gesichtet worden sei, außer im Schlaf des Wundersehers. Saint Gilles Alarmruf aber hatte es als leibhaftig wahrgenommen dargestellt.

Niemand konnte an dem sanften, stillen Herrn sich je solchen Zornes entsinnen. Darum also sollte er das Herzstück seines künftigen tripolitanischen Reiches im Stich gelassen haben, damit Saint Gilles mit seiner Hilfe sich Arqua verschaffe, denn darauf lief es mehr oder weniger hinaus. Der Marquis hatte plötzlich Nachricht aus Byzanz erhalten, er zeigte das pergamentene Dokument – kein Traumbrief also – von einer Gesandtschaft des Kaisers; in wichtiger Botschaft sei sie unterwegs; die mußte das Kreuzheer wohl noch abwarten, denn es handelte sich um jene lang hinausgezogene Antwort auf das Schreiben der Alliierten nach dem Fall Antiochias. So lag es nahe, die eben hier umzingelte Stadt während des erzwungenen Aufenthaltes doch noch schnell zu nehmen. Und was den Herzog ganz absonderlich erboste: Nicht eine Spur kleinlauter wegen seines seherischen Versagens stolzierte Barthélémy nach wie vor im Schwarm der Bewunderer von Zelt zu Zelt. Die Massenseele nahm eine Minderung ihres Führers einfach nicht zu Kenntnis. Diesem selbst hatte die Berühmtheit übel angeschlagen. Nichts an seinem katerhaften Selbstbewußtsein erinnerte mehr an jenen schlichten Träumer, der nur fromm gestaunt hatte über seine transparent gewordenen Schwielen, während er dem lieben Heiligen nachgewallt war durch die Quadern von Sankt Peter.

Wäre nur Adhemar von Monteil, der Papstlegat, am Leben, seufzten die Barone, nie hätte dann der Aberglaube so im Kreuzheer wuchern können. Sie gedachten mit Ehrfurcht, wie es ihm gelungen war, das Lanzenwunder edel auszuwerten als Erhöhung aller Herzen, ohne Taumelei, wenn der strategische Erfolg auch Bohemunds Tat blieb. So die Führer. Die Geführten wieder sehnten sich nach einem neuen Heilszeichen für ihren Feldzug, statt der heiligen Lanze, denn diese selbst lag, wie es sich gebührte, in der Krypta ihres Domes aufbewahrt.

Sei es, daß diese beide Sehnsüchte: nach dem Papstlegaten und einer wirksamen Reliquie, die aus dem Gleichgewicht geworfene Wesenheit Barthélémys unbewußt bewegten, sei es aus tieferen Zusammenhängen heraus, er wollte jetzt die allverehrte Gestalt des Bischofs von Puis in innerer Schau gesehen haben, und sie zeigte ihm zu Arqua, verborgen unter Fliesen, einen Splitter des echten Kreuzes. Also Sturm auf Arqua, um die Reliquie zu erlangen, hieß das Losungswort der Truppen. Saint Gilles natürlich zeigte sich begeistert. Nun aber war die lang erwartete Gelegenheit für Malecornes Plan gereift. Klerus wie Barone erklärten, hier stünde es anders als zu Antiochia, wo man schon in der Stadt gewesen sei, um das Heilszeichen zu finden; jetzt aber müsse man die Festung erst erstürmen, zum Zweck der Suche. Dazu wären sie bereit, verlangten aber erst Beweise, daß die Vision auch wirklich gottgesandt sei, nachdem jene andere vom Anmarsch der türkischen Armee versagt habe.

Malecorne war klug genug, um Barthélémy nicht vor ein Gericht zu rufen aus Bischöfen und anderen Kirchenhäuptern, um ihm feierlich die Feuerprobe anzusinnen. Das hätte am Ende seinen Widerruf bewirkt. So sprach er nur wie beiläufig den Seher darauf an, doch ziemlich laut inmitten seiner Anhänger, ob er von der Wahrheit der Gesichte überzeugt genug sei, um das übliche Ordale für sie abzulegen; das Wort »Feuer« hatte er vermieden. Ordale hingegen klang weiträumig, privilegiert und kühl.

»Gewiß, das bin ich«, sprudelte es aus dem überlisteten. Die Bewunderer ringsum vernahmen seine Worte, sie wurden der große Schrei im ganzen Heer: »Unser Peter bietet sich zur Feuerprobe!« Man triumphierte. So ging die Welle der Begeisterung über ihn hinweg. Er hätte jetzt nicht mehr zurückgekonnt, und er wollte gar nicht mehr zurück; denn die überwältigende Wahrheit des erlebten Lanzenwunders stand pausenlos vor seiner Seele. Daß er für das übrige Geträume auch noch würde einzustehen haben, kam ihm wenig in den Sinn.

»Welche Art der Feuerprobe ziemt es sich hier anzuwenden?« frug der Bischof von Norbonne bei der Beratung. »Die des Holzstoßes, der Eisenstange oder eine andere?«

»Nicht die des Holzstoßes«, meinte Malecorne. »Es soll schon vorgekommen sein, daß während der Durchschreitung ein heftiger Windstoß die Hitze seitlich abtrieb; denn manche, so hoch gelahrte wie heilige Männer meinen, solch rauchgemischte Flamme sei nicht rein genug, als daß sich Gottes Wille in ihr offenbaren möge, so spiele die Natur profan mit ihr. Da die Wahl bei uns liegt, schlage ich das Ordale der klaren Glut vor. Dies ist die wahre Feuerprobe.«

Und so geschah es.

Acht noch nie benutzte Pflugscharen, so überhitzt, daß ihr entfachter Erzatem hin und her ging zwischen schwefelgelber und rosenheller Glut, lagen ohne Zwischenräume aneinander, umstanden vom Geistlichen Gericht, den Baronen und so viel Truppen, wie der Platz nur fassen wollte, als Peter Barthélémy barbeinig in gewachstem Linnenhemd am heiligsten Karfreitag den Prüfungsweg betrat.

Starren Angesichts, wie unempfindlich, tat er den ersten, den zweiten Schritt. Einen Herzschlag lang bestand das Wunder. Dann plötzlich, mit gebreiteten Armen, stürzte sein Körper der Länge nach über die restlichen sechs Pflugscharen hin, lag da: ein zischendes Kreuz, dem scheußlicher Brandgeruch von Fleisch und Haar und Horn entquoll. Im nächsten Augenblick wälzte sich mit entmenschtem Schrei diese Masse von dem Glutbett in den Sand hinab, wand sich dort wimmernd, doch offenbar bereits besinnungslos.

Enttäuschte Bewunderer wollten ihm sofort den Garaus machen, doch Klerus und Barone geboten Halt. So billig durfte die heilsame Gegenwelle nicht verbrausen. Weit tiefer einprägsam wurde die Belehrung eines Besseren, wenn die in Kreuzesform verbrannte Vorderseite des falschen Propheten sich länger der Betrachtung seiner früheren Gläubigen darbot. Keine Menschenhand sollte in das Gottesurteil eingreifen, als welches sich hier eben selbst vollstreckte. Zwei grausam lange Stunden brauchte es dazu.

Peter Barthélémys Ende war auch jenes der populären Bewegung, doch mit ihm hatten die Provençalen und Saint Gilles gleichfalls an Ansehen eingebüßt. Gerade weil dieser so sehr die byzantinische Allianz betrieb, stieß sie jetzt auf Mißtrauen, als die Kaiserliche Gesandtschaft ihr Purpurpergament mit der schweren Goldbulle den Baronen überreichte, worin Alexios, nach den üblichen Vorwürfen Antiochias wegen, sich erbot, die Führung des Kreuzzuges mit allen Kosten zu übernehmen. Er würde mit großen Hilfskräften und Belagerungsgeschütz zum Heer stoßen, falls dieses bis Ende Juli ihn erwarten wollte.

Der Antrag klang verlockend, zu verlockend vielleicht. Das war sein Fehler. Eine mächtige Armee zu ihren schwachen Kräften, Material der Schwerindustrie, das sie gar nicht besaßen, Einsparung der Kriegs- und Verpflegungskosten, das ganze Prestige der Weltmacht bot sich hier den Kreuzherren. Doch alle diese schönen Dinge galten erst von Ende Juli ab. Vorläufig würde es wieder heißen, monatelang warten bei schwindenden Beständen, während die Zeit für den Feind arbeitete, der sich stärken konnte durch Befestigungen und Nachzug aus dem Stammland. Und wie, wenn der Kaiser im Juli doch nicht kam und die beste Jahreszeit zu ihren Ungunsten vertan war? Hatte Byzanz vor Antiochia nicht auch versagt, wo es doch gegen gemeinsame Gegner, die Seltschuktürken, ging. Fatimiden und Komnenen aber galten schon lange als befreundet.

Geführt von Gottfried von Bouillon, entschieden die Barone auf Ablehnung des Angebotes und gegen die provençalische Partei. Der Herzog, unwiderstehlich, wenn er einmal aus sich herausging in die Wirkungswelt, sammelte so im letzten Augenblick die Leitung des gesamten Kreuzzugs in seine Hände und erzwang sofortigen Abzug. Die sinnlose Belagerung Arquas wurde aufgehoben; sie allein fortzusetzen, war Saint Gilles zu schwach, besonders da Tancred, der sich mit fünftausend Sous Gold schlecht bezahlt fühlte, in des Herzogs Sold trat. Der arme Marquis hatte entschieden eine Pechsträhne.

Er mußte die Stadt aufgeben, tat es verzweifelt, während ganz dicke, runde Kindertränen in seinen gewaltigen Schnauzbart tropften, denn auch ihm, genau wie dem Herzog, war beim Anblick dieser Riviera die Notwendigkeit eines christlichen Gesamtstaates, Tripolis, aufgegangen. Nur daß er zu seiner künftigen Hauptstadt dort Arqua ausersehen hatte, statt Jabala.

Jene ganze lange Strecke, wo der Libanon hart bis ans Meer tritt, um nur einen schmalen Küstensaum zu lassen, durchzog das Kreuzheer ungefährdet, dank den christlichen Bergbewohnern. Scharenweise, Hymnen singend, stiegen sie aus ihren Zedernwäldern hinab, um den Befreiern als Kundschafter und Wegweiser zu dienen. Wo sie ausschwärmten, gab es keine Gefahr einer Überrumpelung von Damaskus her. Genuesische, pisanische, auch byzantinische Schiffe begleiteten überdies den Zug und sorgten für Verpflegung.

Als das Kreuzheer auf fatimidisches Gebiet gestoßen war, versuchte das Kalifat von Kairo eine letzte gütliche Verständigung. Der Großwesir drohte nur wie schelmisch mit dem Finger, Kindern bei verbotenen Spielen. Sein Schreiben riet zur Vernunft, damit die Christen sich nicht an der uneinnehmbaren Hierosolyma verbluten sollten. Der Haram al Scharîf, das heilige Tempelgeviert mit der Omar-Moschee, sei nach Mekka das größte mohammedanische Heiligtum und würde nie gutwillig übergeben werden. Wenn sie jedoch auf ihr gewaltsames Vorhaben als Feinde verzichteten, wollte er ihnen als friedlichen Pilgern jede Erleichterung bieten. Die Heiligen Stätten sollten gemeinsame Wallfahrtsorte werden für alle »Kinder des Buches«, insofern sie in kleinen Trupps ihre Andacht dort verrichten würden.

Auch schlug er den Baronen einen Dreibund zwischen Fatimiden, Byzanz und Kreuzfahrern gegen die Türken vor.

Auf das Zugeständnis, daß ihnen in Grüppchen und entwaffnet Jerusalem offen stünde, erwiderten die Führer, sie würden ihre Pilgerfahrt auch ohne Erlaubnis der Ungläubigen, dafür aber durch Gottes Hilfe vollenden, nicht abteilungsweise, sondern alle zusammen in Schlachtordnung und mit eingelegten Lanzen.

Das war der Krieg mit Kairo.

Als sie dann der zerschrundeten braunen Steinöde Judäas ansichtig wurden, die es zu überwinden gab, fiel noch einmal Sonnenangst sie an, war es doch schon wieder Juni. Den erhitzten Hirnen kam sogar die Ausflucht ins Nilland als das leichtere Übel vor. Gewiß, die Schlüssel zu Jerusalem lagen beim Kalifat, doch mit nur dreißigtausend Mann Ägypten niederringen wollen, um sie dort zu holen, welch ein Wahnsinn. Dennoch wurde er erwogen. Nur Tancreds Anfall frühreifer Klarheit bei diesem Kriegsrat, brachte die andern rechtzeitig zur Vernunft.


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