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Siebenundfünfzigstes Kapitel.
Das Krankenlager.

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Da ich jetzt ganz allein war, gab ich meine Absicht zu erkennen, meine Wohnung im Temple, sobald meine Zeit abgelaufen sein würde, aufzugeben und inzwischen weiter zu vermiethen. Ich ließ sofort Miethzettel an meiner Wohnung aufhängen; denn ich hatte Schulden und fast gar kein Geld, und begann mich ernstlich über meine Geldangelegenheiten zu beunruhigen. Ich sollte vielmehr sagen, daß ich mich beunruhigt haben würde, falls ich Kraft und Bewußtsein genug besessen hätte, um mit Klarheit überhaupt irgend etwas außer der Thatsache wahrzunehmen, daß ich im Begriff sei, sehr ernstlich krank zu werden. Die fortwährende Anspannung aller meiner Kräfte, in der ich seit einiger Zeit gelebt, hatte mich in den Stand gesetzt, den Ausbruch der Krankheit zu verzögern, nicht aber, sie gänzlich abzuschütteln. Ich wußte, daß mich jetzt die Krankheit erfaßte; außerdem kümmerte ich mich um wenig Anderes, und war äußerst gleichgültig.

Ein paar Tage hindurch lag ich auf dem Sopha, oder auf dem Fußboden – wo ich eben hinsinken mochte – mit schwerem Kopfe und schmerzenden Gliedern, ohne Willen und ohne Kraft. Dann kam eine Nacht, die unendlich lang erschien und voll Grauen und Entsetzen war; und als ich am Morgen in meinem Bette aufrecht zu sitzen und mich zu besinnen versuchte, wurde ich gewahr, daß ich dies nicht im Stande sei.

Ob ich in der tiefen Nacht wirklich unten im Hofe gewesen und nach dem Boote umhergetastet, das ich dort gewähnt hatte; ob ich zwei oder drei Mal auf der Treppe mit großem Entsetzen zur Besinnung gekommen, und nicht gewußt, auf welche Weise ich das Bett verlassen; ob ich mich dabei ertappt, daß ich die Lampe anzündete, in der Idee, daß » er« die Treppe heraufkomme, und die Lampen dort ausgeblasen seien; ob ich durch das wahnsinnige Reden, Lachen und Stöhnen einer Person unendlich gequält worden und halb auf den Verdacht gekommen, daß diese Laute von mir selber herrührten; ob in einem dunklen Winkel des Zimmers ein verschlossener eiserner Ofen gestanden, und eine Stimme fortwährend aus demselben herausgerufen, Miß Havisham verbrenne da drinnen – waren alles Dinge, die ich an diesem Morgen, wie ich auf meinem Bette lag, zu ergründen und mir klar zu machen versuchte. Aber der Qualm eines Kalkofens schlich sich zwischen sie und mich, und brachte Alles wieder in Verwirrung, und durch diesen Dunst hindurch sah ich endlich zwei Männer stehen, die mich betrachteten.

»Was wollen Sie?« fragte ich emporfahrend. »Ich kenne Sie nicht.«

»Nun, Sir,« erwiederte der Eine, indem er sich niederbeugte und meine Schulter berührte, »es ist dies eine Angelegenheit, die Sie vermuthlich bald in Ordnung bringen werden, aber Sie sind verhaftet.«

»Wie hoch beläuft sich die Schuld?«

»Auf hundert und dreiundzwanzig Pfund, fünfzehn Schillinge und sechs Pence, Juweliers-Rechnung, glaube ich.«

»Was kann ich thun?«

»Kommen Sie lieber nach meinem Hause,« sagte der Mann; »ich habe ein sehr hübsches Haus.«

Ich machte einen Versuch, aufzustehen und mich anzukleiden … Als ich mir wieder der Fremden bewußt wurde, standen sie ein wenig vom Bette entfernt und betrachteten mich. Ich lag noch immer im Bette.

»Sie sehen, in welchem Zustande ich bin,« sagte ich. »Ich wollte mit Ihnen gehen, wenn ich könnte; aber ich bin wirklich nicht dazu im Stande. Ich glaube, ich würde sterben, wenn Sie mich von hier fortzuschaffen versuchten.«

Vielleicht erwiederten sie etwas, oder disputirten über die Sache, oder versuchten, mir einzureden, daß ich mich für kränker halte, als ich sei. Denn insofern sie nur durch diesen einen zarten Faden mit meinem Gedächtnisse verbunden sind, weiß ich nicht, was sie thaten, außer, daß sie es unterließen, mich fortzuschaffen.

Daß ich ein Fieber hatte und man mich vermied; daß ich sehr viel litt, daß ich oft die Besinnung verlor, daß die Zeit endlos erschien, daß ich unmögliche Existenzen mit meiner eigenen Identität verwechselte; daß ich ein Ziegelstein in einer Hausmauer war und von der schwindeligen Höhe, in der man mich angebracht hatte, hinuntergenommen zu werden flehte; daß ich eine stählerne Verbindungsstange an einer Locomotive war, welche über einen Abgrund dahin klapperte und brauste, und dabei in meiner eigenen Persönlichkeit um Gotteswillen bat, daß man die Locomotive zum Stehen bringe und meinen Antheil an derselben abhämmere; daß ich alle diese Phasen der Krankheit durchmachte, weiß ich aus meiner eigenen Erinnerung und wußte ich auch damals gewissermaßen. Und daß ich zuweilen mit wirklichen Leuten kämpfte, in dem Glauben, daß es Mörder seien, und dann plötzlich begriff, daß sie mir Gutes zu thun beabsichtigten, worauf ich dann erschöpft in ihre Arme sank und mich von ihnen niederlegen ließ, auch das wußte ich schon damals. Vor Allem aber wußte ich, daß alle diese Leute – die, wenn ich sehr krank war, merkwürdige Umwandelungen des menschlichen Antlitzes zeigten und ganz außerordentlich an Umfang zunahmen – vor Allem, sage ich, wußte ich, daß alle diese Leute früher oder später eine Aehnlichkeit mit Joe annahmen.

Nachdem die Krisis meiner Krankheit vorüber war, fing ich an zu bemerken, daß, während alle anderen Eigenthümlichkeiten derselben sich anders gestalteten, diese eine sich immer gleichblieb. Wer immer zu mir herankommen mochte, verwandelte sich in Joe. Ich öffnete meine Augen in der Nacht und erblickte Joe in dem großen Lehnstuhle vor meinem Bette. Ich öffnete sie am Tage, und aus der Fensterbank des offenen, durch Jalousien verdunkelten Fensters sah ich Joe sitzen und seine Pfeife rauchen. Ich bat um einen kühlenden Trunk, und die liebe Hand, die ihn mir reichte, war Joes Hand. Ich sank in meine Kissen zurück, nachdem ich getrunken hatte, und das liebe Gesicht, das so hoffnungsvoll und zärtlich auf das meine herabschaute, war Joes Gesicht.

Endlich, eines Tages faßte ich Muth und sagte: »Ist es wirklich Joe?«

Und die liebe, alte, heimatliche Stimme antwortete: »Der ists, alter Junge.«

»O Joe, Du brichst mir das Herz! Sieh mich zornig an, Joe. Schlage mich, Joe. Halte mir meine Undankbarkeit vor, Joe. Sei nicht so gut gegen mich!«

Aber Joe hatte in seiner Freude darüber, daß ich ihn erkannte, sein Haupt neben das meinige aufs Kissen gelegt und seinen Arm um meinen Nacken geschlungen.

»Du weißt ja, lieber, alter Pip, alter Junge,« sagte Joe, »daß wir immer die besten Freunde waren. Und welchen Jux wollen wir haben, wenn Du erst wieder wohl genug bist, um ein Mal ausfahren zu können!«

Hierauf ging Joe ans Fenster, wandte mir den Rücken und trocknete sich die Augen; und da meine große Schwäche mich verhinderte, aufzustehen und zu ihm zu gehen, so lag ich ruhig und flüsterte mit reuevollem Herzen:

»O Gott, segne ihn! O Gott, segne diesen guten, christlichen Mann!«

Joes Augen waren roth, als er wieder an mein Bette kam; aber ich hielt seine Hand in der meinigen und wir waren Beide glücklich.

»Wie lange schon, lieber Joe?«

»Willst Du damit sagen, Pip, wie lange Deine Krankheit gewährt hat, lieber Junge?«

»Ja, Joe.«

»Es ist jetzt Ausgangs Mai, Pip. Morgen ist der erste Juni.«

»Und Du bist die ganze Zeit hindurch hier gewesen, lieber Joe?«

»So ziemlich, alter Junge. Denn, wie ich zu Biddy sagte, als wir die Nachricht, daß Du krank seiest, durch einen Brief erhielten, den ein Mann brachte, der früher unverheirathet war, sich aber jetzt verehelicht hat und für das viele Gehen und das Schuhleder, das er dabei verbraucht, viel zu wenig bezahlt kriegt, aber aufs Geld sah er nicht, und die Ehe war der große Wunsch seines Herzens –«

»Es ist so herrlich, Dich wieder sprechen zu hören, Joe! Doch unterbrach ich Dich in Dem, was Du zu Biddy sagtest.«

»Und das war,« sagte Joe, »daß Du vielleicht unter fremden Leuten wärest, und Dir ein Besuch zu einer solchen Zeit am Ende nicht unwillkommen sein möchte. Und Biddys Worte waren: Gehen Sie zu ihm, und zwar ohne Zeit zu verlieren. Das,« sagte Joe, indem er den Gegenstand mit richterlicher Miene zusammenfaßte, »waren Biddys Worte. Gehen Sie, sagte Biddy, ohne Zeit zu verlieren. Kurz, ich glaube Dich nicht sehr zu täuschen,« fügte Joe nach kurzer, ernster Ueberlegung hinzu, »wenn ich wiederhole, daß die Worte des jungen Frauenzimmers ›ohne auch nur eine Minute zu verlieren‹ waren.«

Hier unterbrach sich Joe und unterrichtete mich, daß ich nur mit großer Mäßigung der Unterhaltung pflegen dürfe, und zu gewissen, häufig wiederholten Zeiten ein wenig Nahrung zu mir nehmen müsse, gleichviel, ob ich Appetit dazu habe, oder nicht, und daß ich mich allen seinen Anordnungen zu fügen habe. Deshalb küßte ich seine Hand und lag ruhig, während er sich anschickte, an Biddy zu schreiben und ihr meine Grüße zu schicken.

Biddy hatte Joe offenbar Unterricht im Schreiben ertheilt. Als ich im Bette lag und ihm zuschaute, machte es mich in meinem nervenschwachen Zustande weinen, zu sehen, mit welchem Stolze er sich über diesen Brief hermachte. Meine Bettstelle war ihrer Vorhänge beraubt und, während ich darin lag, nach dem Wohnzimmer geschafft worden, weil dieses geräumiger und lustiger war. Der Teppich war fortgenommen und die Luft auf diese Weise Tag und Nacht so frisch und gesund als möglich erhalten worden. Joe setzte sich jetzt zu seinem großen Werke an meinen Schreibtisch, den man in einen Winkel geschoben und auf den man eine Masse kleiner Flaschen gestellt hatte, suchte sich aus dem Federkästchen auf eine Art und Weise, wie wenn er ein Werkzeug aus einem Werkzeugkasten nehmen wolle, eine Feder aus, und krampte seine Aermel um, als ob er eine Brechstange oder einen Schmiedehammer zu schwingen im Begriffe sei. Es war nothwendig für Joe, ehe er anfangen konnte, sich mit dem linken Ellnbogen schwer auf den Tisch zu stützen und sein rechtes Bein weit hinter sich wegzustrecken, und als er endlich wirklich anfing, machte er jeden Strich, den er abwärts that, so langsam, daß derselbe allenfalls sechs Fuß lang hätte sein können, während ich seine Feder auf das geräuschvollste spritzen hören konnte, wenn er sie aufwärts zog. Er schien die merkwürdige Idee zu haben, daß das Dintenfaß auf derjenigen Seite vor ihm stehe, auf der es nicht stand, denn er tauchte fortwährend seine Feder in den leeren Raum, wobei er durch das Resultat vollkommen befriedigt erschien. Zuweilen stolperte er über einen orthographischen Stein des Anstoßes, aber im Allgemeinen wurde er sehr gut damit fertig, und als er seinen Namen unterschrieben und einen schließlichen Dintenklecks mit seinen beiden Zeigefingern von dem Papiere nach dem Wirbel seines Kopfes verpflanzt hatte, stand er auf und ging um den Tisch herum, um mit unbegrenzter Genugthuung den Effect seines Werkes, wie es auf dem Tische lag, von verschiedenen Standpunkten aus ins Auge zu fassen.

Um Joe nicht durch zu vieles Sprechen zu beunruhigen, selbst wenn ich viel zu sprechen im Stande gewesen wäre, verschob ich es bis zum folgenden Tage, ihn über Miß Havisham zu befragen. Er schüttelte den Kopf, als ich ihn fragte, ob sie wieder hergestellt sei.

»Ist sie todt. Joe?«

»Je nun, siehst Du, alter Kamerad,« sagte Joe in einem Tone der Gegenvorstellung und wie um die Sache schonend vorzubringen, »ich möchte nicht gern so weit gehen, das zu behaupten, denn das wäre sehr viel gesagt; aber sie ist nicht …«

»Am Leben, Joe.«

»Das ists eher.« sagte Joe; »sie ist nicht am Leben.«

»Hat sie lange krank gelegen, Joe?«

»Nachdem Du krank wurdest, so ziemlich, wie man wohl sagen könnte, wenn es darauf ankäme, eine Woche,« sagte Joe, noch immer entschlossen, mir Alles so schonend als möglich beizubringen.

»Lieber Joe, hast Du gehört, was aus ihrem Vermögen wird?«

»Nun, alter Kamerad,« sagte Joe, »es scheint, daß sie es meistens Miß Estella hinterlassen oder vermacht hat, wie ich wohl sagen darf. Aber ein paar Tage vor ihrem Unfalle hatte sie mit eigener Hand ein kleines Crokerdill Joe meint »Kodizill«, d.h. eine ›sonstige letztwillige Verfügung‹. - Anm.d.Hrsg. aufgesetzt, in welchem sie Mr. Matthew Pocket kalte Viertausend vermacht. Und warum, in aller Welt, Pip, glaubst Du wohl, daß sie ihm diese kalten Viertausend vermachte? Wegen Pips Bericht über ihn, den besagten Matthew. Biddy sagte mir, so hat sie's geschrieben,« fuhr Joe fort, und wiederholte die Advocatenphrase, als wenn ihm dieselbe unendlich wohl thue: »Bericht über ihn, den besagten Matthew. Und kalte Viertausend, Pip!«

Ich habe nie erfahren, durch wen Joe so genau über die conventionelle Temperatur der viertausend Pfund unterrichtet war, aber dieselbe schien die Summe in seinen Augen zu vergrößern, und es gewährte ihm einen offenbaren Genuß, darauf zu bestehen, daß sie kalt sei.

Diese Nachricht machte mir große Freude, da hierdurch das einzige Gute, was ich gethan, seitdem ich die Schmiede verlassen, vollständig gemacht wurde. Ich fragte dann Joe, ob er gehört, daß von den übrigen Verwandten noch Einige Legate erhalten hätten.

»Miß Sarah«, sagte Joe, »hat fünfundzwanzig Pfund per annium gekriegt, um sich Pillen zu kaufen, weil sie gallsüchtig ist. Miß Georgiana hat zwanzig Pfund ausgezahlt erhalten. Mrs. – wie heißen doch die wilden Thiere, die einen Buckel haben, alter Kamerad?«

»Kameele,« sagte ich, voll Erstaunen, wozu er dies zu wissen wünschen könne.

Joe nickte mit dem Kopfe. »Mrs. Kameel«, womit er, wie ich bald begriff, Camilla meinte, »erhielt fünf Pfund, um Nachtlichter zu kaufen, damit sie ihre Stimmung erheitert, wenn sie in der Nacht aufwacht.«

Die Genauigkeit dieser Mittheilungen war mir augenscheinlich genug, um in Joes Bericht großes Vertrauen zu setzen.

»Jetzt,« sagte Joe, »bist Du noch nicht so kräftig, daß Du noch mehr als eine fernere Schaufel voll für heute zu Dir nehmen kannst. Der alte Orlick ist in ein Wohnhaus eingebrochen.«

»In wessen Wohnhaus?« fragte ich.

»Nun! Ich will nicht sagen, daß seine Manieren nicht was Prahliges hätten,« sagte Joe mit entschuldigender Miene, »aber eines Engländers Haus bleibt immer seine Festung, und Festungen dürfen nicht gesprengt werden, außer in Kriegszeiten. Und was auch sonst immer seine Fehler sein mochten, so war er doch im Herzen ein Korn- und Samenhändler.«

»Dann ist es also Pumblechooks Haus, in das er eingebrochen?«

»Richtig, Pip,« sagte Joe. »Und sie nahmen seine Lademasse, und sie nahmen seine Geldkiste, und sie tranken seinen Wein, und sie verspeisten seine Lebensmittel, und sie schlugen ihn ins Gesicht, und sie zerrten ihn an der Nase, und sie banden ihn an seine Bettpfoste, und sie gaben ihm ein Dutzend, und sie stopften ihm den Mund voll blühender Sonnenblumen, um ihn am Schreien zu verhindern. Aber er erkannte Orlick, und Orlick ist jetzt im Grafschaftsgefängnisse.«

Auf diese Weise verfielen wir allmälig in ungezwungene Unterhaltung. Meine Kraft kehrte nur sehr langsam zurück, aber doch wurde ich nach und nach immer weniger schwach, und Joe blieb bei mir, und es war mir, als sei ich wieder der kleine Pip.

Denn Joes Zärtlichkeit war meinem Bedürfnisse auf so wunderbar schöne Weise angepaßt, daß ich wie ein kleines Kind in seinen Händen war. Er saß und unterhielt sich mit mir in seiner alten Vertraulichkeit, seiner alten Einfachheit, und auf seine alte anspruchslose, beschützende Weise, so daß mirs fast war als sei mein ganzes Leben seit jener Zeit in der alten Küche nur eine der geistigen Qualen des Fiebers gewesen, das jetzt von mir gewichen. Er that Alles für mich, außer der Hausarbeit, für die er eine sehr passende Frau gemiethet, nachdem er gleich bei seiner Ankunft die Aufwartefrau abgelohnt hatte.

»Denn ich versichere Dich, Pip,« sagte er oft, um zu erklären, wie er dazu gekommen, sich eine solche Freiheit herauszunehmen, »ich traf sie dabei, als sie das Gastbett wie eine Tonne Bier anzapfte, und die Federn in einen Eimer abzog, um sie zu verkaufen; und sie würde auch Deines demnächst angezapft haben, und zwar während Du darauf gelegen hättest. Dann schleppte sie auch die Steinkohlen allmälig in der Suppenterrine und in den Gemüseschüsseln fort, und den Wein und die Getränke in Deinen Wellingtonstiefeln.«

Wir sahen dem Tage, an dem ich zum ersten Male würde ausfahren können, ebenso sehnsüchtig entgegen, wie wir einst dem Tage, an welchem ich Joes Lehrling werden würde, entgegengesehen hatten. Und als der Tag kam, und ein offener Wagen in das Nebengäßchen gebracht wurde, hüllte Joe mich warm ein, nahm mich in seine Arme und trug mich hinunter, wie wenn ich noch das hülflose kleine Geschöpf gewesen wäre, dem er in so reichlichem Maße von dem Reichthume seines großen Herzens gegeben hatte.

Joe stieg ein und setzte sich an meine Seite. Wir fuhren fort, aufs Land hinaus, wo der reiche Sommer sich schon auf den Bäumen und im Grase entfaltete, und die süßen Sommerdüfte die Lüfte füllten. Der Tag war zufällig ein Sonntag, und als ich auf die liebliche Landschaft hinausschaute, die mich rings umgab, und daran dachte, wie Alles heraufgewachsen und sich verändert, und wie die kleinen wilden Blumen sich entfaltet und die Stimmen der Vögel kräftiger geworden bei Tag und bei Nacht, unter der Sonne und unter den Sternen, während ich Armer fiebernd und ruhelos auf meinem Lager lag, da stellte sich die bloße Erinnerung an jene Fieberglut und jene Ruhelosigkeit wie ein Hemmniß meinem innern Frieden entgegen. Als ich jedoch darauf das Sonntagsgeläute hörte und noch aufmerksamer auf die vor mir ausgebreitete Pracht hinausblickte, da fühlte ich, daß ich noch lange nicht dankbar genug – daß ich noch zu schwach, um selbst das nur zu sein, und ich legte meinen Kopf an Joes Schulter, wie ich ehedem gethan, wenn er mich mit auf den Jahrmarkt, oder sonst wohin genommen, und es war zu viel für meine neugeborenen Empfindungen.

Nach einer Weile wurde ich gefaßter, und wir redeten mit einander, wie wir zu thun pflegten, wenn wir früher auf der alten Batterie lagen. Es hatte keine Art von Veränderung mit Joe Statt gefunden. Genau dasselbe, was er damals in meinen Augen gewesen, war er auch noch jetzt: gerade so einfach treu und so einfach rechtschaffen.

Als wir zurückgekehrt waren und er mich aus dem Wagen hob und mich – mit solcher Leichtigkeit! – über den Hof und die Treppe hinauftrug, da gedachte ich jenes ereignißreichen Weihnachtstages, an dem er mich über die Marschen dahingetragen hatte. Wir hatten bis jetzt noch in keiner Weise meines Glückswechsels Erwähnung gethan, auch wußte ich nicht, wie viel ihm von der letzten Vergangenheit meiner Lebensgeschichte bekannt sei. Ich hatte jetzt so wenig Zutrauen zu mir selbst und setzte ein so großes in ihn, daß ich nicht wußte, ob ich darüber reden solle, wenn er es nicht thäte.

»Hast Du gehört, Joe,« fragte ich ihn eines Abends, nachdem ich mir die Sache genauer überlegt hatte, während er am Fenster saß und seine Pfeife rauchte, »wer mein Wohlthäter war?«

»Ich habe gehört,« antwortete Joe, »daß es nicht Miß Havisham war, alter Kamerad.«

»Hast Du gehört, wer es war, Joe?«

»Wohl! Ich hörte, es sei die Person gewesen, die den Mann abschickte, Dir in den ›lustigen Schiffern‹ die Banknoten zu geben, Pip.«

»So war es.«

»Erstaunlich!« sagte Joe auf das gelassenste.

»Hast Du gehört, daß er todt ist, Joe?« fragte ich bald darauf mit zunehmender Schüchternheit.

»Wer? Er, der die Banknoten schickte, Pip?«

»Ja.«

»Ich glaube,« sagte Joe, nachdem er eine lange Weile überlegt und indem er mit ziemlich ausweichender Miene den Fenstersitz betrachtete, »daß ich in der That gehört habe, als wenn er etwas der Art sei.«

»Hast Du etwas von seinen Verhältnissen gehört, Joe?«

»Nichts Besonderes, Pip.«

»Falls Du es zu wissen wünschtest, Joe –« fing ich an, als Joe aufstand und an mein Sopha trat.

»Schau, alter Kamerad,« unterbrach mich Joe, sich über mich hinbeugend, »wir waren immer die besten Freunde; meinst Du nicht, Pip?«

Ich schämte mich, ihm zu antworten.

»Sehr gut also,« fuhr er fort, als wenn ich ihm geantwortet hätte; »Alles in Ordnung, darüber sind wir einig. Wozu also da noch Gegenstände berühren, alter Junge, die zwischen zwei Solchen, wie wir sind, für immer unnöthig sein müssen? Es giebt für Solche, wie wir Zwei sind, noch Gegenstände genug, ohne daß wir uns mit unnöthigen zu befassen brauchen. Mein Gott! Wenn ich noch an Deine arme Schwester und ihre Klabastereien denke! Und denkst Du wohl noch an den ›faulen Peter‹, wie?«

»Gewiß, Joe.«

»Sieh, alter Junge,« sagte Joe, »ich that, was ich konnte, um Dich und Peter auseinander zu halten, aber meine Macht entsprach nicht alle Mal meinem Wunsche. Wenn Deine arme Schwester einmal auf Dich einhieb, so geschah es nicht etwa deswegen, daß ich mit ihr in Hader gerieth, weil sie auf mich ebenfalls losschlug, sondern vielmehr deswegen, weil Du dann noch mehr dabei wegkriegtest. Dies war die Bemerkung, die ich machte. Es ist nicht ein Riß an dem Bart oder ein Bischen Schütteln (ein Vergnügen, das ich Deiner Schwester von Herzen gönnte), das einen Mann abhalten würde, ein Kind vor Strafe zu schützen. Wenn aber das Kind wegen dieses Risses am Barte, oder dieses Schüttelns nur noch mehr Schläge bekommt, dann fragt sich der Mann natürlich: Wo ist nun das Gute, was Du thun wolltest? Ich gebe Dir zu, daß ich wohl den Schaden davon sehe, sagt der Mann, aber ich sehe das Gute nicht. Deshalb fordere ich Dich auf, Sir, mir das Gute zu zeigen.«

»Das sagte der Mann,« meinte ich, da Joe wartete, bis ich sprechen würde.

»Das sagte der Mann,« versetzte Joe beistimmend. »Hatte er Recht, dieser Mann?«

»Lieber Joe, er hat immer Recht.«

»Nun, alter Junge,« sagte Joe, »dann bleibe bei Deinen Worten. Falls er immer Recht hat (obgleich ich eher glaube, daß er im Allgemeinen öfter Unrecht hat), so hat er auch Recht, wenn er folgendermaßen spricht: Gesetzt, Du hättest, als Du noch ein kleines Kind warst, irgend eine kleine Angelegenheit für Dich behalten, so thatest Du es, weil Du wußtest, daß J. Gargerys Macht, Dich und den Peter auseinander zu halten, nicht immer seinem Wunsche gleichkam. Deshalb denke nicht mehr an die Sache, und laß uns keine Bemerkungen über unnöthige Gegenstände machen. Biddy hat sich erschrecklich viel Mühe mit mir gegeben, ehe ich fortreiste (denn ich begreife ganz furchtbar schwer), damit ich die Sache in diesem Lichte ansähe, und nachdem ich sie in diesem Lichte sähe, daß ich mich auch danach darüber ausspräche. Und da nun dies Beides geschehen (sagte Joe, ganz erfreut über dieses logische Arrangement), so sagt Dir dies Dein treuer Freund nämlich. Du mußt nichts übertreiben, sondern Dein Nachtessen und Deinen Wein und Wasser genießen, und dann in die Federn gehen.«

Das Zartgefühl, mit welchem Joe das Thema hier abbrach, und der liebevolle Tact, mit dem Biddy – die mich mit ihrer Frauenklugheit so schnell entdeckt hatte – ihn auf dasselbe vorbereitet, machten einen tiefen Eindruck auf mein Gemüth. Ob aber Joe wisse, wie arm ich sei, und daß meine großen Erwartungen alle, wie unsere Marschnebel vor der Sonne, zerflossen waren, dessen war ich noch nicht gewiß.

Ein Zweites, was ich an Joe nicht verstehen konnte, als es sich zuerst zu entwickeln anfing, das mir jedoch bald auf kummervolle Weise klar wurde, war Folgendes: Je kräftiger und wohler ich wurde, desto weniger unbefangen erschien mir Joe in seiner Art und Weise. Während der Zeit meiner Schwäche und Abhängigkeit von ihm war der gute Bursche in seinen alten Ton gegen mich verfallen, und hatte mir die alten Namen, wie »alter Pip« und »alter Junge« gegeben, die jetzt Musik für meine Ohren waren. Und auch ich hatte wieder meine alte Manier gegen ihn angenommen, indem ich nur zu froh und dankbar war, daß er mirs gestattete. Aber obgleich ich fest daran hielt, so fing doch Joe fast unmerklich an, nachzulassen; und obgleich ich mich hierüber anfangs verwunderte, so begann ich doch bald einzusehen, daß die Ursache hiervon in mir liege und die Schuld ganz auf meiner Seite sei.

Ach! hatte ich Joe nicht Grund genug gegeben, meine Beständigkeit zu bezweifeln und zu glauben, daß ich, wenn es mir wieder wohl gehe, auch wieder kalt gegen ihn werden und ihn von mir stoßen würde? Hatte ich seinem unschuldvollen Herzen nicht Ursache gegeben, instinctmäßig zu fühlen, daß, je kräftiger ich wurde, sein Einfluß auf mich schwächer würde, und daß es besser für ihn sei, denselben jetzt zur rechten Zeit aufzugeben und mich gehen zu lassen, ehe ich mich selbst ihm entziehen würde?

Es war etwa bei dem dritten oder vierten Male, daß ich, auf Joes Arm gestützt, im Templegarten spazieren ging, als ich diese Veränderung in ihm besonders deutlich wahrnahm. Wir hatten in dem hellen, warmen Sonnenscheine gesessen und auf den Fluß hinabgeschaut, und als wir aufstanden, bemerkte ich zufällig:

»Sieh nur, Joe! Ich kann schon ganz kräftig wieder gehen. Jetzt sollst Du mich ohne Hülfe nach Hause gehen sehen.«

»Greife Dich nicht zu sehr an, Pip,« sagte Joe; »aber ich werde mich freuen, zu sehen, daß Sie es im Stande sind, Sir.«

Dies letzte Wort that mir weh; doch was konnte ich wohl dagegen sagen! Ich ging bis ans Gartenthor, stellte mich dann schwächer, als ich war, und bat Joe um seinen Arm. Joe gab ihn mir, war jedoch nachdenkend.

Ich meinerseits war ebenfalls nachdenkend, denn auf welche Weise ich dieser wachsenden Veränderung in Joe Einhalt thun könne, war eine schwere Aufgabe für mein reuevolles Gemüth. Ich suchte kein Geheimniß daraus zu machen, daß ich mich ihm zu sagen schämte, in welcher Lage und wie sehr heruntergekommen ich sei; doch hoffe ich, daß das Widerstreben, welches ich hiergegen fühlte, kein ganz unwürdiges war. Ich wußte, daß er mir mit seinen kleinen Ersparnissen werde helfen wollen, und ich wußte zugleich, daß es nicht recht sei, wenn er mir helfen werde, und daß ich es ihm nicht gestatten dürfe.

Es war für uns Beide ein gedankenvoller Abend. Ehe wir jedoch schlafen gingen, hatte ich beschlossen, den folgenden Tag, der ein Sonntag war, vorübergehen zu lassen, und dann mein neues Verfahren mit der neuen Woche anzufangen. Am Montag Morgen wollte ich mit Joe über diese Veränderung sprechen, wollte diesen letzten Rest von Zurückhaltung bei Seite legen, ihm sagen, welche Gedanken ich hatte (ehe sein Benehmen sich änderte), und aus welchem Grunde ich nicht beschlossen hätte, Herbert zu folgen, und dann, hoffte ich, würde diese Veränderung auf immer überwunden sein. So wie ich hierüber mit mir einig wurde, schien ein Aehnliches in Joe vorzugehen, und es schien, als ob er sympathetischerweise zu demselben Entschlusse gekommen sei.

Wir verbrachten diesen Sonntag ruhig, indem wir aufs Land hinausfuhren und in den Feldern spazieren gingen.

»Es ist ein Glück für mich, krank gewesen zu sein, Joe,« sagte ich.

»Lieber alter Pip, alter Junge; Sie sind beinah ganz wieder hergestellt, Sir.«

»Es ist eine denkwürdige Zeit für mich gewesen, Joe.«

»Für mich desgleichen, Sir,« erwiederte Joe.

»Wir haben eine Zeit zusammen zugebracht, Joe, die ich nie vergessen werde. Es hat einmal Zeiten gegeben, die ich vergessen habe, das weiß ich wohl; aber diese letzte kann ich nimmer vergessen.«

»Pip,« sagte Joe, ein wenig hastig und verwirrt, »wir haben manchen Jux gehabt. Und, lieber Sir, was zwischen uns vorgefallen, das ist vorbei.«

Abends, als ich zu Bette gegangen war, kam Joe, wie er es während der ganzen Zeit meiner Genesung gethan hatte, in mein Zimmer. Er fragte mich, ob ich mich ganz gewiß ebenso wohl fühle, als am Morgen?

»Ja, lieber Joe, vollkommen.«

»Und wirst immer kräftiger, alter Junge?«

»Ja, lieber Joe, immer kräftiger.«

Joe klopfte mit seiner großen, guten Hand auf die Decke, die auf meiner Schulter lag und sagte mit einer Stimme, die mir heiser schien: »Gute Nacht!«

Als ich am folgenden Morgen erfrischt und noch kräftiger von meinem Lager aufstand, war ich erfüllt von meinem Entschlusse, Joe ohne Verzug Alles zu sagen. Ich wollte es ihm vor dem Frühstücke sagen. Ich wollte mich sofort ankleiden, nach seinem Zimmer gehen und ihn überraschen; denn es war dies der erste Tag, an dem ich früh aufstand. Ich ging in sein Zimmer, und er war nicht dort. Nicht allein er war verschwunden, sondern auch sein Reisekoffer war fort.

Ich eilte darauf an den Frühstückstisch und fand auf demselben einen Brief, dessen kurzer Inhalt folgender war:

»Da ich nicht lästig zu fallen wünschte, bin ich abgereist, denn Du bist jetzt wieder wohl, lieber Pip, und wirst besser fertig werden ohne Joe.

N. S. Immer die besten Freunde.«

In diesen Brief eingelegt fand ich einen Empfangschein für die Schuld und Gerichtskosten, wegen welcher ich verhaftet worden. Bis zu diesem Augenblicke hatte ich in der eitlen Vermuthung gelebt, daß mein Gläubiger sein gerichtliches Verfahren gegen mich zurückgenommen, oder verschoben habe, bis ich wieder hergestellt sein würde. Ich hatte mir nie träumen lassen, daß Joe das Geld bezahlt habe; doch er hatte es bezahlt und der Empfangschein lautete auf seinen Namen.

Was blieb mir jetzt wohl Anderes übrig, als ihm nach der lieben alten Schmiede zu folgen, ihm dort meine Aufklärungen zu geben, ihm meine reuevollen Vorstellungen zu machen, und mein Herz von jenem vorbehaltenen Zweiten zu erleichtern, das anfangs wie ein unbestimmtes Etwas im Hintergrunde meiner Gedanken gelegen, sich jetzt aber zu einem festen Vorsatze gestaltet hatte.

Dieser Vorsatz war, daß ich zu Biddy gehen und ihr zeigen wollte, wie gedemüthigt und reuevoll ich zurückkehrte, daß ich ihr erzählen wollte, wie ich Alles verloren, auf das ich einst gehofft, und daß ich sie an das alte Vertrauen zwischen uns in meiner ersten unglücklichen Zeit erinnern wollte. Dann wollte ich zu ihr sagen: Biddy, Du warst einst so gut gegen mich, daß mein unstätes Herz, selbst da es sich von Dir wandte, dennoch ruhiger und zufriedener bei Dir war, als es je seitdem gewesen. Wenn Du mir jetzt nur noch halb so gut sein und mich mit all meinen Fehlern und Enttäuschungen zurücknehmen kannst, wenn Du mich aufnehmen kannst wie ein Kind, dem Du verziehen (und in der That, Biddy, ich bin so betrübt wie ein Kind, und bedarf ebenso sehr einer beruhigenden Stimme und einer sanften Hand), so hoffe ich, daß ich jetzt Deiner ein wenig würdiger bin, als ehedem – wenn auch nicht viel, doch etwas. Und Biddy, Du sollst entscheiden, ob ich bei Joe in der Schmiede arbeiten, oder hier in der Gegend andere Beschäftigung suchen, oder nach einem fernen Lande gehen soll, wo Beschäftigung mich erwartet, die ich jedoch, da sie mir angeboten wurde, zurückwies, bis ich Deine Antwort wissen würde. Und jetzt, liebe Biddy, wenn Du mir sagen kannst, daß Du mit mir durch diese Welt gehen willst, so wirst Du aus derselben eine bessere Welt für mich machen und aus mir einen bessern Menschen für sie, und ich will versuchen, eine bessere Welt daraus für Dich zu machen.

Dies war mein Vorsatz; nach Verlauf von noch drei Tagen der Reconvalescenz fuhr ich nach dem alten Heimatsorte, um jenen zur Ausführung zu bringen. Wie mirs hierbei erging, ist Alles, was mir noch zu erzählen übrig bleibt.

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