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Zweiundfünfzigstes Kapitel.
Der geheimnißvolle Brief.

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Von Little Britain ging ich mit meinem Wechsel in der Tasche zu Miß Skiffins Bruder, dem Rechnungsführer, und da Miß Skiffins Bruder, der Rechnungsführer, so eben zu Clarriker ging und diesen dann zu mir brachte, hatte ich die große Freude, das Geschäft sofort abschließen zu können. Es war dies das einzige Gute und Vollständige, das ich gethan, seitdem ich zuerst etwas von meinen großen Erwartungen erfahren hatte.

Da Clarriker mir bei dieser Gelegenheit die Mittheilung machte, daß die Angelegenheiten des Hauses die besten Fortschritte machten, so daß er jetzt im Stande sein werde, ein kleines Zweiggeschäft im Orient zu etabliren, welches für die Ausdehnung des Geschäftes sehr wünschenswerth sei, und daß Herbert in seiner neuen Eigenschaft als Compagnon dorthin gehen und dasselbe übernehmen werde, sah ich, daß ich mich auf eine Trennung von meinem Freunde hätte gefaßt machen müssen, selbst wenn meine eigenen Angelegenheiten vollständig geordnet gewesen wären. Und jetzt war mirs in der That, als ob mein letzter Anker seinen Halt verlöre, und ich bald mit dem Winde und den Wellen dahintreiben würde.

Aber ich fand Entschädigung in der Freude, mit der Herbert Abends nach Hause kam, als er mir von dem glücklichen Ereignisse erzählte, nicht ahnend, daß er mir nichts Neues mittheilte, und dann luftige Bilder entwarf, wie er Clara Barley in das Land der arabischen Nächte führen und ich ihnen nachkommen werde (mit einer Karawane von Kameelen, glaube ich) und wir dann Alle zusammen den Nil hinaufreisen und seine Wunder in Augenschein nehmen wollten. Ohne in Bezug auf meinen eigenen Antheil an diesen schönen Plänen sehr hoffnungsvoll zu sein, fühlte ich doch, daß Herberts Lebenspfad sich immer breiter vor ihm öffnete, und daß der alte Bill Barley nur bei seinem Rum und Pfeffer zu bleiben brauche, um seine Tochter bald glücklich zu versorgen.

Wir waren jetzt im Monat März. Mein linker Arm brauchte, obgleich er keine schlimmen Symptome zeigte, nach dem natürlichen Laufe so lange Zeit, um zu heilen, daß ich noch immer nicht im Stande war, einen Rock anzuziehen. Meine rechte Hand war einigermaßen wieder hergestellt, – etwas entstellt, aber doch so, daß ich mich ihrer bedienen konnte.

An einem Montag Morgen, als Herbert und ich beim Frühstück saßen, erhielt ich mit der Post folgenden Brief von Wemmick:

»Walworth. Verbrennen Sie dies, sobald Sie es gelesen haben werden. Anfangs dieser Woche, oder sagen wir am Mittwoch, könnten Sie, falls Sie den Versuch zu machen geneigt wären, thun, was Sie wohl wissen. Jetzt verbrennen Sie dies.«

Als ich Herbert dies gezeigt und es dann ins Feuer geworfen hatte – doch nicht, bevor wir Beide es auswendig gelernt hatten – überlegten wir, was zu thun sei. Denn natürlich konnten wir es uns nicht länger verhehlen, daß ich zum Ruderführen unfähig sei.

»Ich habe es fortwährend hin und her überlegt,« sagte Herbert, »und ich glaube, ich weiß einen besseren Ausweg, als den, einen Themsebootsmann anzunehmen. Nimm Startop. Ein guter Kerl und ein geschickter Bursche, der uns lieb hat und eben so enthusiastisch als ehrenhaft ist.«

Auch ich hatte mehr als einmal an ihn gedacht.

»Aber wieviel würdest Du ihm von der Sache anvertrauen, Herbert?«

»Wir brauchen ihm nur sehr wenig davon zu sagen. Laß ihn denken, daß es ein bloßer Scherz ist, aber ein heimlicher, bis der Morgen kommt; dann aber laß ihn wissen, daß dringender Grund vorhanden ist, Provis an Bord eines Passagierschiffes und fort zu schaffen. Du wirst mit ihm gehen?«

»Ohne Zweifel.«

»Wohin?«

Es war mir unter den vielen sorgenvollen Erwägungen, die ich der Angelegenheit gewidmet hatte, ziemlich gleichgültig erschienen, welchem Hafen wir uns zuwendeten – ob Hamburg, Rotterdam, oder Antwerpen. Der Ort war von geringer Bedeutung, wenn wir nur aus England fortwaren. Jedes nach dem Auslande gehende Schiff, das uns in den Weg kommen und uns aufzunehmen geneigt sein würde, mußte uns willkommen sein. Ich hatte immer die Absicht gehabt, Provis möglichst weit in meinem Boote den Fluß hinabzurudern, jedenfalls eine gute Strecke jenseit Gravesend, welches ein kritischer Ort für Nachsuchung oder Nachfrage war, falls irgend welcher Verdacht gehegt wurde. Da die ins Ausland gehenden Dampfboote zur hohen Flutzeit aus London abgingen, war es das richtigste Verfahren für uns, mit der vorhergehenden Ebbe den Fluß hinabzurudern, und uns dann an irgend einer stillen Stelle verborgen zu halten, bis wir zu einem oder dem andern der Dampfboote würden heranrudern können. Wir konnten, indem wir vorher Erkundigungen über die Sache einzogen, mit ziemlicher Genauigkeit die Zeit berechnen, um welche eins derselben an der Stelle vorbeikommen würde, an der wir liegen würden, wo dies immer sein mochte.

Herbert stimmte allem Diesem bei, und wir gingen dann gleich nach dem Frühstücke aus, um unsere Nachforschungen anzustellen. Wir fanden, daß ein Dampfboot, das nach Hamburg ging, unserm Zwecke am besten entsprechen werde, und richteten unsere Gedanken deshalb hauptsächlich auf dieses Schiff. Doch machten wir uns Notizen darüber, welche anderen Dampfboote London noch mit derselben Flut verlassen würden, und überzeugten uns von der Farbe und Bauart eines jeden derselben. Dann trennten wir uns auf ein paar Stunden, indem ich ging, um uns die nothwendigen Pässe und Papiere zu verschaffen, und Herbert, um Startop in seiner Wohnung aufzusuchen. Wir richteten Beide, was wir zu thun hatten, ohne Hinderniß aus, und berichteten einander, als wir um ein Uhr wieder zusammentrafen, daß es geschehen sei. Ich, meinerseits, war mit Pässen versehen, und Herbert hatte Startop gesehen, der sich mehr als bereit gezeigt hatte, uns seinen Beistand zu leisten.

Jene Beiden, Herbert und Startop, sollten rudern, und ich steuern; unser Schützling sollte still im Boote sitzen. Da unser Zweck nicht die Schnelligkeit war, so konnten wir auf diese Weise schnell genug vorwärts kommen. Wir kamen überein.,daß Herbert an diesem Abende nicht zu Tische nach Hause kommen solle, ehe er nach Mill Pond Bank ginge; daß er am folgenden Abend, Dienstags, gar nicht dorthin gehen, daß er Provis vorbereiten solle, um am Mittwoch, wenn er uns kommen sähe, und nicht früher, an eine der Treppen dicht neben dem Hause herunterzukommen; daß alle Verabredungen mit ihm an diesem (Montag) Abend getroffen werden und dann kein Verkehr mehr zwischen uns und ihm Statt finden solle, bis wir ihn an Bord bringen würden.

Nachdem wir uns diese Vorsichtsmaßregeln Beide wohl eingeprägt, ging ich nach Hause.

Als ich die äußere Thür unserer Wohnung mit meinem Schlüssel öffnete, fand ich in dem Briefkasten einen Brief an mich, einen sehr unsauberen Brief, obgleich nicht schlecht geschrieben. Derselbe war persönlich überbracht worden (natürlich seitdem ich ausgegangen gewesen), und sein Inhalt war folgender:

»Falls Sie sich nicht fürchten, heute Abend oder morgen Abend um neun Uhr auf die alten Marschen hinaus nach dem kleinen Schleusenhause bei dem Kalkofen zu kommen, so würden Sie wohl thun. Falls Sie etwas in Bezug auf Ihren Onkel Provis zu erfahren wünschen, so kommen Sie, ohne Zeit zu verlieren. Sie müssen indeß allein kommen. Bringen Sie dies mit.«

Es hatte mir schon vor dem Empfange dieses seltsamen Briefes genug auf dem Gemüthe gelastet. Was ich jetzt thun sollte, wußte ich nicht. Und das Schlimmste dabei war, daß ich mich schnell entschließen mußte, oder ich hätte nicht mehr mit der Nachmittagskutsche fahren können, die mich zur rechten Zeit an diesem Abend hinunter bringen konnte. Ich konnte nicht daran denken, am folgenden Abend hinauszufahren, da es dann zu nah mit der Zeit der Flucht zusammengetroffen sein würde. Und doch konnte die angebotene Mittheilung auf irgend eine wichtige Weise mit der Flucht selbst zu thun haben.

Ich glaube, daß ich, selbst wenn ich reichlich Zeit zum Ueberlegen gehabt hätte, dennoch hinausgefahren sein würde. Da ich aber fast gar keine Zeit dazu hatte – indem meine Uhr mir sagte, daß die Kutsche in einer halben Stunde abfahren werde – beschloß ich, es jedenfalls zu thun. Ich würde ganz gewiß nicht gegangen sein, wäre nicht meines Onkels Provis erwähnt worden; dies gab, nebst der Erinnerung an Wemmicks Brief und die geschäftigen Vorbereitungen des Morgens, den Ausschlag.

Es ist so schwer, wenn man in großer Eile und Aufregung ist, einen klaren Eindruck von dem Inhalte irgend eines Briefes zu bekommen, daß ich diese geheimnißvolle Epistel zwei Mal wieder lesen mußte, ehe die darin für mich enthaltene Warnung, verschwiegen zu sein, sich mechanisch meinem Geiste einprägte. Indem ich derselben auf ebenso mechanische Weise folgte, schrieb ich mit Bleistift ein Billet an Herbert, um dasselbe in unserer Wohnung für ihn zurückzulassen, in welchem ich ihm sagte, daß ich, da ich so bald schon fortreisen werde und in Ungewißheit über die Dauer meiner Abwesenheit sei, beschlossen habe, nach Satishouse zu fahren, um mich zu überzeugen, wie Miß Havisham sich befinde, und dann zurückzueilen. Es blieb mir nun kaum noch Zeit genug, um meinen Ueberrock zu nehmen, die Wohnung zu verschließen, und durch die kürzeren Nebengassen direct nach dem Posthofe zu eilen. Falls ich einen Fiaker und den Weg durch die großen Straßen genommen hätte, würde ich meinen Zweck nicht erreicht haben; so aber traf ich die Kutsche noch an, als sie eben aus dem Hofe herausfuhr. Als ich zur Besinnung kam, fand ich, daß ich der einzige Innenpassagier sei, der bis zu den Knieen in Stroh begraben, dahinrasselte.

Ich war wirklich, seit ich den Brief erhalten, nicht mehr zur Besinnung gekommen; derselbe hatte mich, nach der Hast und Aufregung des Morgens, in wahre Confusion versetzt. Die Aufregung und Eile des Morgens war groß gewesen, denn obgleich ich bereits lange und voll Sorge auf Wemmicks Wink gewartet hatte, so war derselbe doch endlich als eine Ueberraschung gekommen. Und jetzt fing ich an, mich darüber zu verwundern, daß ich in der Kutsche sitze, und zu bezweifeln, ob ich wohl hinlänglichen Grund dazu habe, und zu überlegen, ob ich lieber aussteigen und zurückgehen solle, und mit mir darüber zu argumentiren, daß man niemals von anonymen Briefen Notiz nehmen müsse, und kurz, alle jene Phasen des Widerspruches und der Unentschlossenheit durchzumachen, die, wie ich glaube, wohl alle Leute kennen, die in Eile zu handeln genöthigt waren. Dennoch aber bemeisterte die Erwähnung von Provis Namen alles Uebrige. Ich sagte mir, um meinen Entschluß unwandelbar zu machen: wie würde ich mir je vergeben können, falls ihm, dadurch daß ich nicht hinausreiste, irgend ein Unfall zustieße?

Es war finster geworden, ehe wir ans Ziel kamen, und die Reise erschien mir lang und langweilig, da ich wegen meiner Verletzungen keinen Außensitz einnehmen durfte, sondern im Wagen bleiben mußte, wo ich nichts sehen konnte. Ich vermied den »blauen Eber« und kehrte in einem Gasthofe von geringerem Ansehen am untern Ende der Stadt ein und bestellte mir eine Mahlzeit. Während dieselbe zubereitet wurde, ging ich nach Satishouse hinaus und erkundigte mich nach Miß Havishams Befinden; sie war noch immer sehr krank, obgleich man ein wenig Besserung eingetreten glaubte.

Das Wirthshaus, in welchem ich eingekehrt war, hatte ehedem einen Theil eines alten geistlichen Hauses gebildet, und ich speiste in einem kleinen achteckigen Versammlungssaale, der wie ein Taufstein aussah. Da ich meine Speisen nicht selbst zerschneiden konnte, that es der alte Wirth, Inhaber eines glänzenden kahlen Kopfes, für mich. Da dies uns in eine Unterhaltung brachte, war er so freundlich, mich mit der Erzählung meiner eigenen Geschichte zu unterhalten – natürlich in jener populär gewordenen Version, daß Pumblechook mein erster Wohlthäter und der Gründer meines Glückes gewesen sei.

»Kennen Sie den jungen Mann?« sagte ich.

»Ob ich ihn kenne?« wiederholte der Wirth, »Ich kenne ihn, seitdem er nicht mehr war, wie Andere,«

»Kommt er je zuweilen in diese Gegend zurück?«

»O ja, er besucht«, sagte der Wirth. »hin und wieder einmal die großen Leute, die jetzt seine Freunde sind, und wendet dem Manne, der sein Glück machte, den Rücken zu.«

»Welcher Mann ist das?«

»Derjenige, von dem ich sprach,« erwiederte der Wirth, »Mr. Pumblechook.«

»Ist er sonst gegen Niemand undankbar?«

»Ohne Zweifel würde er es sein, wenn er könnte,« entgegnete der Wirth, »aber er kanns nicht. Und warum nicht? Weil Pumblechook Alles für ihn gethan hat.«

»Sagt Pumblechook Das?«

»Ob er es sagt?« meinte der Wirth; »er braucht es nicht erst zu sagen.«

»Aber sagt er Das?«

»Wenn man ihn davon sprechen hört, Sir, da könnte Einem das Blut zu Weinessig werden,« sagte der Wirth.

Ich dachte: Nur Du, Joe, lieber Joe, Du sprichst nie davon! Du, mein langmüthiger, liebevoller Joe, beklagst Dich nie! Auch nicht Du, arme, sanftduldende Biddy!

»Ihr Unfall scheint Ihren Appetit beeinträchtigt zu haben,« sagte der Wirth, einen Blick auf den verbundenen Arm unter meinem Rocke werfend. »Versuchen Sie ein weicheres Stück.«

»Nein, ich danke,« erwiederte ich, indem ich mich vom Tische abwandte, um vor dem Feuer zu grübeln. »Ich kann nicht mehr essen. Bitte, tragen Sie ab.«

Ich war für meine Undankbarkeit gegen Joe noch nie so tief getroffen worden, als jetzt durch jenen unverschämten Betrüger, Pumblechook. Je falscher er war, desto wahrer stand Joe da; je niedriger er war, desto edler war Joe.

Mein Herz war, während ich etwa eine Stunde lang brütend vor dem Feuer saß, tief und verdientermaßen gedemüthigt. Das Schlagen der Uhr rief mich zu mir selbst zurück, doch ohne meine Niedergeschlagenheit, oder meine Reue zu verscheuchen, und ich stand auf, ließ mir meinen Rock um den Hals befestigen und ging dann hinaus. Ich hatte bereits vorher in meinen Taschen nach dem Briefe gesucht, um ihn noch ein Mal zu lesen, ihn aber nicht gefunden, und fühlte mich durch den Gedanken beunruhigt, daß ich ihn im Stroh der Kutsche verloren haben müsse. Indeß wußte ich vollkommen, daß der für das Begegnen bestimmte Ort das kleine Schleusenhaus beim Kalkofen in den Marschen und die Stunde neun Uhr sei. Deshalb ging ich, da keine Zeit mehr zu verlieren war, jetzt geraden Weges den Marschen zu.

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