Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Von Jenisseisk nach St. Petersburg

Drei Tage hielt ich mich bei dem sympathischen jungen Paare auf, dann beschloß ich, mich als Provinzschauspieler, dem ich nach Abnehmen meines Bartes ähnlich sah, auszugeben und die Reise weiter zu wagen. Mein Reisegefährte machte es gradeso. Wir beide begaben uns mit Pferden oder wie der sibirische Ausdruck lautet »Na Druschkach« auf den Weg. Die Fahrt gestaltet sich nach landesüblicher Sitte wie folgt: ein Fuhrmann übergibt die Passagiere immer im nächsten Dorfe dem anderen; so geht die Fahrt ohne Aufenthalt vorwärts wie mit der Post.

Doch mein neuer Beruf erwies sich sehr bald als unpassend. Als in einem Dorfe, wo wir die Pferde wechselten, mein Reisegefährte auf die Frage einer Bäuerin nach unserem Beruf antwortete, wir seien Schauspieler, sah ich auf ihrem Gesicht den Ausdruck größten Erstaunens, denn mit diesem Namen bezeichneten dort die niederen Klassen der Bevölkerung einen Dieb. Ich mischte mich sofort ins Gespräch und verbesserte meinen Reisegefährten, indem ich sagte, er hätte nur Spaß gemacht, wir reisten in Angelegenheit eines Goldbergwerkes, was in jenen goldreichen Gegenden nichts Auffälliges ist. Von da ab reisten wir als Bergwerksbeamte.

Lange Zeit fragte man uns nicht nach unseren Namen. Jedoch in dem großen Dorfe Kasatschinsk, wo wir um Mitternacht ankamen, fragte mich plötzlich der Besitzer der Pferde, die wir dort mieteten, wer ich sei und wo ich angestellt wäre? Ich gab ihm Bescheid und fragte, warum ihn das interessiere. »Ja, sehen Sie,« sagte er, »der Urjadnik (Polizeiwachtmeister) findet sich jede Stunde bei mir ein; er erkundigt sich immer, ob keine Reisenden da seien. Und der Stanawoi (Landpolizist) hat Befehl gegeben, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn jemand Pferde mieten würde. Wer weiß, was sie wollen, man sagt, in Jenisseisk seien viele Politische entflohen.«

Diese Mitteilung war gerade nicht angenehm; es war doch leicht möglich, daß in der Zeit, während man die frischen Pferde an den Wagen spannte, plötzlich der Urjadnik oder sonst ein Beamter erscheinen konnte, und es war nicht abzusehen, was für Folgen eine solche Begegnung für mich haben würde. Solchen Zufällen waren wir in jedem Dorfe ausgesetzt. Aber mein Reisegefährte und ich spielten unsere Rollen nicht schlecht. Wir antworteten auf die Fragen über das Bergwerk, in dem wir angeblich angestellt waren, nach dem Besitzer usw. in ausführlichster Weise.

Ich atmete erleichtert auf, als wir endlich am vierten Tage morgens in Kraßnojarsk ankamen, von wo ich mit der Bahn weiterfahren konnte, was wesentlich ungefährlicher war.

Auf der weiteren Reise, die noch volle acht Tage in Anspruch nahm, mußte ich mich selbstverständlich noch mit vielen Passagieren in Unterhaltungen einlassen. Von Kraßnojarsk an reiste ich »als Advokat aus Petersburg«.

Es waren im ganzen nur einige Wochen verflossen, seitdem ich mit der Bahn in entgegengesetzter Richtung als Arrestant reiste. Damals begegnete ich einer anderen Bevölkerungsklasse und empfing ganz andere Eindrücke. Jetzt reiste ich in Gesellschaft des sogenannten »reinen Publikums«, das zum größten Teile über die schweren Zeiten, über den Terror der Regierung in Gemeinschaft mit dem »schwarzen Hundert« und auch über die Revolutionäre klagte. Ihre Erzählungen über die Schreckenstaten der »Beruhiger« nahmen kein Ende. Die Anarchisten, Maximalisten, Expropriateure hatten den friedlichen Bewohnern keinen geringen Schrecken eingejagt.

»Wann wird das alles ein Ende nehmen, wann wird man uns die Möglichkeit wiedergeben, frei aufzuatmen, ruhig und frei zu leben?« fragten sich gegenseitig die geängstigten Passagiere.

Eines Tages kam, während der Zug auf einer Station hielt, ein Herr in der Uniform eines Eisenbahnkontrolleurs auf mich zu, reichte mir die Hand und begrüßte mich. Ich bemerkte, er habe sich wahrscheinlich geirrt. Aber der Unbekannte sah mich mit einem merkwürdigen Blicke an und sagte:

»Wir sind uns in Tomsk begegnet.«

»Ich war niemals dort,« entgegnete ich.

Mit einem schlauen Lächeln, das wohl sagen sollte: »Du kannst mir doch nichts weismachen, ich weiß, wer du bist,« wiederholte er, daß er mich gesehen habe.

Ich bemerkte dann, wie ein Herr, der in demselben Coupé wie ich reiste, hinter dem Rücken des seltsamen Menschen mir Zeichen machte. Ich ließ den Unbekannten stehen und ging zu ihm hin.

»Sehen Sie denn nicht, daß das ein Geisteskranker ist?« sagte er zu mir und erzählte mir, unter welchen entsetzlichen Umständen dieser Unglückliche seinen Verstand verloren hatte.

Bald nach dem 17./30. Oktober, nach der Proklamierung des bekannten Manifestes, hatten sich in Tomsk im Gebäude der Eisenbahnverwaltung mehrere hundert Beamte versammelt; unter gütiger Teilnahme der dortigen Regierung wurde das Gebäude von dem »schwarzen Hundert« angezündet. Der Kontrolleur und seine Frau kamen gerade in dem Augenblick an das Verwaltungsgebäude, als es schon von den Flammen ergriffen war und Frauen, Kinder und Greise laut um Hilfe schrien und in ihrer Todesangst nach einem Ausgang suchten. Die beiden Gatten verloren bei dem Brande vier Kinder, sie wurden beide wahnsinnig. Die Frau erholte sich bald, während der Mann unheilbar geisteskrank blieb.

In den letzten Tagen des September 1906 war ich wieder in Petersburg. Am zweiten Tage nach meiner Ankunft suchte ich Wera Sassulitsch auf. Anfangs erkannte sie mich nicht, aber dann rief sie aus: »Seht nur an, er ist schon wieder hier!« so wenig Zeit schien ihr seit meiner Abreise nach Sibirien verflossen zu sein. Als ich ihr meine Flucht schilderte, sagte sie: »Du fällst immer sehr dumm herein, aber entfliehst sehr geschickt.«

Die Richtigkeit der ersten Hälfte dieses Ausspruches habe ich selbst schon lange anerkannt, ungeachtet des Versprechens, das ich mir im Jahre 1877 gegeben hatte, in Zukunft vorsichtiger zu sein.

*


 << zurück