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Erster Teil

Die Flucht aus der Hauptwache in Kiew

In jenem Stadtteil Kiews, der am Dnjepr liegt und Podol heißt, lag das Infanteriebataillon, in welches ich im Herbste des Jahres 1875 als Freiwilliger eintrat. Da ich nicht in der Kaserne zu leben brauchte, mich also selbst beköstigte, bewohnte ich ein möbliertes Zimmer bei einer armen jüdischen Familie.

Am 1. Januar 1876, als ich eben gefrühstückt hatte und anfing zu lesen, erschien bei mir der Vater meines Kameraden Semjen Lurie. Semjen war im Herbste des Jahres 1874 »in Sachen der Propaganda in den 33 Gouvernements« Nachträglich schufen die Gendarmen aus dieser Angelegenheit den bekannten »Prozeß der 193«, welcher im Herbste 1877 bis 1878 vom Senat verhandelt wurde. Näheres darüber wolle man nachlesen in Deutsch, »Sechzehn Jahre in Sibirien«, S. 5 bis 7. verhaftet worden und saß schon über ein Jahr im Gefängnis zu Kiew.

»Möchten Sie nicht meinen Sohn besuchen?« fragte mich der alte Lurie, nachdem wir uns begrüßt und zum neuen Jahre gratuliert hatten. »Ich fahre jetzt zu ihm und kann Sie ja als Verwandten mitnehmen; Semjen wird es eine große Freude machen, Sie zu sehen, besonders heute, am Neujahrstag.«

Ich nahm diesen Vorschlag bereitwilligst an, da ich für Semjen Lurie die größte Achtung hegte, denn er war eines der hervorragendsten Mitglieder der Kiewer Gruppe der »Tschaikowzen«. Der langwierige Aufenthalt in der Untersuchungshaft, dessen Ende überhaupt nicht abzusehen war, hatte für seine Gesundheit sehr üble Folgen: er begann Blut zu speien. Seine wohlhabenden Eltern scheuten natürlich nichts, um die Lage ihres einzigen und heißgeliebten Sohnes zu verbessern. Sie gaben dem Gendarmerieadjutanten Baron Heiking, der seinen Vorgesetzten, den völlig gleichgültigen General Pawlow ersetzte, leihweise bedeutende Summen, die sie selbstverständlich nie zurückerhielten. Der allmächtige Baron erwies Lurie die unglaublichsten Begünstigungen: er erlaubte ihm zum Beispiel, in Begleitung eines Gendarmen in der Stadt spazieren zu gehen, die Bibliotheken zu besuchen, Einkäufe zu machen usw. Unter diesen Umständen war es für ihn sehr leicht möglich, zu entfliehen, wozu ich und seine Braut Dora Sch. ihn wiederholt aufforderten. Lurie aber verschob seine Entscheidung von Tag zu Tag, teils aus Kleinmut, weil er befürchtete, im Falle des Mißlingens seine Lage zu verschlechtern, andererseits aber wollte er Baron Heiking nicht hintergehen. Wir hatten schon längst eine sehr bequeme und vollständig gefahrlose Wohnung für ihn vorbereitet, ihn mehrmals mit Pferd und Wagen an früher verabredeten Stellen erwartet, aber aus diesem oder jenem Grunde erschien er niemals. Als ich an dem genannten Morgen die Einladung seines Vaters annahm, beabsichtigte ich, hauptsächlich mit ihm wegen seiner Flucht zu sprechen und endgültig zu erfahren, ob er überhaupt ernstlich daran denke zu fliehen oder vollständig darauf verzichte; denn das beständige Hinausschieben wurde auf die Dauer mir und seinen anderen Kameraden unerträglich.

Um der unangenehmen Prozedur, die Vorgesetzten zu grüßen und mich in die Front zu stellen, zu entgehen, erlaubte ich mir beim Ausgehen, wenn auch nicht ohne eine gewisse Gefahr für mich, Zivilkleider anzulegen. So tat ich auch, als mich der Vater meines Freundes abholte und wir uns nach der Gendarmerieverwaltung begaben, wohin Baron Heiking den Gefangenen unter dem Vorwand, ihn zu verhören, aus dem Gefängnis in der Regel rufen ließ. Die Zusammenkünfte mit ihm fanden aber nicht in der Gendarmeriekanzlei statt, sondern in der Kaserne, wo die Gendarmen wohnten. Die Verwandten und Bekannten Luries konnten dort vom Morgen bis zur Dämmerung sich frei mit ihm unterhalten, denn die Gendarmen, welche hier mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt waren, hielten sich in ziemlicher Entfernung von den Besuchern.

Als ich hinkam, fand ich bereits Lurie und seine Braut vor. Nach der üblichen Begrüßung und nach Besprechung der uns interessierenden allgemeinen Fragen brachte ich die Rede wieder auf einen Fluchtversuch. Ich riet Lurie, den heutigen Feiertag, wo in den Straßen ein besonders reges Leben und Treiben herrschte, als äußerst günstig für unser Unternehmen zu benutzen. Es war für ihn ziemlich leicht, unter irgend einem Vorwand mit einem Gendarmen auf die Straße zu gelangen; ich übernahm es, einen Wagen zu besorgen. Doch wie immer war er auch heute unschlüssig. Die Unterhaltung führten wir im Flüsterton, damit sein Vater davon nichts merkte, denn der Gedanke an eine Flucht seines Sohnes erfüllte ihn mit Angst.

Unsere Unterhaltung zog sich bis Mittag hin. Da einer von uns hungrig war, bat Lurie um die Begleitung eines Gendarmen, um die nötigen Einkäufe besorgen zu können. Einer erklärte, er müsse als Wachthabender sofort zur Post und könne gleichzeitig Lurie begleiten. Gleich darauf gingen sie fort.

Nach einer kurzen Weile wurde plötzlich die Tür aufgerissen und der Gendarm, der Lurie begleitet hatte, stürzte mit dem Rufe: »Ist er nicht hier?« in die Kaserne.

»Wer?« fragten wir.

»Semjen Lurie! Also ist er entflohen!« rief der Gendarm verzweifelt, als er den ihm entgangenen Arrestanten in der Kaserne nicht fand. Kaum hörten die anderen Gendarmen diese Nachricht, so sprangen sie von ihren Sitzen auf und stürzten mit Revolvern und Säbeln bewaffnet auf die Straße.

Auch ich verließ die Kaserne, ging ruhigen Schrittes durch mehrere Straßen und fuhr in einer Droschke nach der Wohnung, welche ich für Lurie vorbereitet hatte.

Durch die weit geöffneten Türen des in den Korridor mündenden Saales sah ich festlich gekleidete Herren und Damen, die sich, wahrscheinlich des Neujahrsfestes wegen, hier versammelt hatten. In einem Nebenzimmer fand ich dann den Hausherrn, welcher damit beschäftigt war, dem Flüchtling den Bart abzurasieren. Lurie erzählte mir sehr vergnügt, wie leicht und einfach er entkommen sei. Im Postamt, wohin er sich mit dem Gendarmen begeben hatte, herrschte ein sehr großes Gedränge, so daß er sich in der Menge leicht verlieren konnte und unbemerkt auf die Straße gelangte, einen Wagen nahm und nach seinem Versteck fuhr.

Zu jener Zeit stand im Universitätsviertel der Stadt Kiew auf der damals noch wenig bewohnten Tarasowoskajastraße ein Haus, das in der Geschichte der revolutionären Bewegung des Südens eine bedeutende Rolle spielte. Dieses Haus bewohnten der Oberst a. D. Debogory-Mokriewitsch mit seiner Frau, einer noch unerwachsenen Tochter und einem verheirateten Sohne. Außer diesen Kindern hatten die Alten noch einen Sohn, Wladimir, den die Polizei innerhalb der letzten zwei bis drei Jahre sehr energisch suchte; aber trotzdem kam Wladimir oft nach Kiew und wohnte immer bei seinen Eltern. Zu ihm kamen auch seine von der Gendarmerie gesuchten, illegalen Als »Illegale« werden diejenigen Revolutionäre bezeichnet, die bereits den Behörden verdächtig sind und sich daher unter einem falschen Namen bewegen. Freunde, die sich oft viele Tage und Wochen dort aufhielten. Die alten Eltern Wladimirs benahmen sich diesen gegenüber wie zu Freunden ihres geliebten Sohnes. Damals war es in Rußland wirklich schwer, eine Familie zu finden, in der man den von der Regierung Verfolgten so viel Aufmerksamkeit und Teilnahme erwies. Die Alten kümmerten sich weder darum, was in dem Teile ihrer Wohnung, den sie ihrem Sohne zur vollständigen Verfügung angewiesen hatten, vorging, noch beunruhigte sie der Gedanke an die Folgen einer Entdeckung durch die Gendarmen. In dieser Wohnung wurde mancher für jene Zeit äußerst verwegene Plan ausgeheckt, dort versammelten sich die tollkühnen Revolutionäre, die später zu großer Berühmtheit gelangten; darunter waren: Wera Sassulitsch, Frolenko, Marie Kowalewski, Debrjagin, Stefanowitsch, Debogory-Mokriewitsch, Kostjurin, Malinka usw.

Als ich im Winter des Jahres 1873 bis zum Jahre 1876 diese Personen kennen lernte, war ihre Gruppe schon begründet. Aus konspiratorischen Gründen wurde ich eine Zeitlang nicht in die Pläne und Ziele dieser Gruppe eingeweiht. Ich wußte nur, daß sie »Buntari« Die Buntari stellten sich die Aufgabe, die Bauern zu revolutionieren. waren und daß sie danach strebten, irgend einen Bauernaufstand hervorzurufen. Ich wußte auch, daß sie bereit waren, an allen entschiedenen revolutionären Vorgängen persönlich teilzunehmen, und gerade dieses zog mich zu ihnen hin, da ich selbst damals sehr revolutionär gesinnt war. Deshalb wurden meine Beziehungen zu den Mitgliedern der Gruppe bald die besten. Mit einigen von ihnen, Stefanowitsch, Sassulitsch und Kolenkina, befreundete ich mich ganz besonders. Um ihnen von der gelungenen Flucht Luries Mitteilung zu machen, begab ich mich nach der Wohnung der Illegalen.

Dort waren alle zum Neujahrsfest versammelt, und der glückliche Ausgang, den zum erstenmal in jener Zeit die Flucht eines politischen Verbrechers genommen hatte, trug dazu bei, daß die Stimmung eine sehr gehobene war. Man aß und trank, sang kleinrussische Lieder bis tief in die Nacht hinein, die ich dann dort auch verbrachte.

Als ich am nächsten Morgen nach Hause zurückkehrte, um meine Militäruniform anzulegen und mich zum Dienste zu melden, berichtete mir der Hausherr, daß am Abend während meiner Abwesenheit Gendarmen eine Haussuchung bei mir vorgenommen hätten. Er habe sie von den Fenstern seiner Wohnung aus kommen sehen, sei dann in mein Zimmer, das mit seiner Wohnung durch eine Tür verbunden war, gegangen und habe alles, was mich nach seiner Meinung verdächtigen konnte, mitgenommen. Er war ein einfacher armer Jude mit einer großen Familie und ein Mensch mit beständig scheuer und gedrückter Miene. In den zweieinhalb Monaten, die ich bei ihm verlebt hatte, hatte ich niemals ein politisches Gespräch mit ihm geführt und setzte also nicht voraus, daß ihm meine Angehörigkeit zur revolutionären Bewegung bekannt war. Mich versetzte seine Vorsicht in bezug auf meine Briefe und Papiere in großes Erstaunen. Ich bedankte mich bei ihm für seine Sorgfalt und fragte ihn, warum er es für nötig gefunden habe, mein Zimmer zu säubern. Darauf antwortete er mit großer Lebhaftigkeit:

»Wir wissen alles von Ihnen, wir hörten immer aus dem Nebenzimmer zu, wenn Sie den Soldaten aus verschiedenen Büchern vorlasen und Erklärungen dazu gaben. Nehmen Sie dies, bitte, nicht übel, aber uns – mir und meiner Familie – gefielen Ihre Erzählungen außerordentlich. Wie richtig und gerecht ist das alles! Wenn die Zeit, von welcher Sie sprachen, nur recht bald käme – vielleicht würde es auch dann für uns arme Juden besser.«

Seine einfache und aufrichtige Erzählung rührte mich tief. Ich reichte ihm die Hand und versicherte ihm, ich wäre nicht im geringsten über ihn und seine Familie erzürnt, daß sie ohne meine Einwilligung meinen Belehrungen und Unterhaltungen zugehört hätten, sondern es wäre mir angenehm, ihn unbewußt aufgeklärt zu haben.

Als ich mittags vom Dienste nach Hause kam, erschienen bei mir wieder Gendarmen mit Baron Heiking an der Spitze. Dieser hatte von den Gendarmen erfahren, daß mit Luries Vater auch ein junger Mann gekommen war. Baron Heiking bat den alten Lurie um Aufklärung, und dieser teilte ihm darauf mit, wer ich sei und wo ich wohne. Er wollte von mir den Aufenthalt des Entflohenen erfahren; ich erfüllte ihm diesen Wunsch natürlich nicht. Er drang noch eine Weile in mich ein, deutete mir in unklaren Ausdrücken an, daß ich mich noch wegen der Flucht von Lurie zu verantworten hätte, und entfernte sich. Da ich mit Lurie nicht verwandt und doch zu ihm gekommen war, dazu noch in Zivilkleidern, da ich ferner mit ihm in flüsterndem Tone gesprochen hatte, gleich darauf für die ganze Nacht verschwunden war und jetzt ihm nicht sagen wollte, wo ich mich aufgehalten, das gab ihm die Überzeugung, daß ich an dieser Flucht beteiligt war. Damals, wie auch leider noch heute, genügte schon die bloße Verdächtigung politischer Unzuverlässigkeit, um ins Gefängnis geworfen, zu Zwangsarbeit verurteilt oder auf administrativem Wege nach Sibirien verbannt zu werden. Daher erstand für mich die ernste Frage, ob es für mich geraten sei, im Dienste zu verbleiben. Ich begab mich deshalb abends nach der illegalen Wohnung der »Buntari«, um mich mit ihnen, den schon erfahrenen Leuten, zu beraten.

Nachdem ich ihnen erklärt hatte, um was es sich handle, nahmen sie alle den lebhaftesten Anteil an der Beratung. Semjen Lurie konnte ja nur seine Flucht dank der Fahrlässigkeit Baron Heikings bewerkstelligen. Es lag in dem persönlichen Interesse Heikings, daß die Sache seinen gesetzlichen Weg nehme. Es konnte aber auch leicht aus der damals so sehr gefürchteten »Dritten Abteilung« die strenge Vorschrift eintreffen, die Ursache der Flucht sorgfältig zu untersuchen. Wir besprachen alle für und wider gemachten Vorschläge und kamen zu dem Beschluß, daß es besser wäre, wenn ich mich bis zur Aufklärung der Sache versteckt hielte: durch dritte Personen hofften wir, mit Baron Heikings Geschwätzigkeit rechnend, zu erfahren, welche Schritte die Gendarmerie weiter zu unternehmen gedachte. Bis dahin beschloß ich in der illegalen Wohnung zu bleiben.

Es vergingen einige Tage, bis es sich herausstellte, daß Baron Heiking sich die größte Mühe gab, die Sache zu vertuschen und so hinzustellen, als ob Lurie direkt vom Verhör entwichen sei. Natürlich hinderte dies den Baron nicht, sich überall über Luries Undankbarkeit zu beklagen, daß er sein Vertrauen mißbraucht, ihn angeführt habe usw.

Wie dem auch war, jedenfalls konnte durch die offizielle Darstellung der Flucht auch meine indirekte Teilnahme nicht nachgewiesen werden, und ich hatte weiter keinen Grund, mich versteckt zu halten. Ganz wider Erwarten wurde ich aber in eine neue sehr unangenehme Geschichte verwickelt.

Am 2. Januar 1876, am ersten Abend meiner Abwesenheit von meiner Wohnung, kam vom damaligen Divisionschef, General Wannowski, Später Kriegsminister, dann Minister für Volksaufklärung. der Befehl, am anderen Tage alle Freiwilligen unseres Bataillons ihm zur Besichtigung vorzustellen. Die ganze Behörde geriet in Aufregung. In meine Wohnung und zu allen meinen Bekannten kamen morgens, abends und in der Nacht der Feldwebel, der Unteroffizier, ja selbst der Kompagniechef gelaufen, aber ich war nirgends zu finden. Es blieb nichts übrig, als den gestrengen Befehlshaber zu unterrichten, mein Aufenthalt sei unbekannt. Die Antwort darauf war, mich bei meiner Rückkehr in der allgemeinen Kaserne unterzubringen.

Als ich mich wieder zum Dienst meldete, brachte man mich in die Wohnung des Divisionschefs; dieser ließ mich in seinem luxuriösen Kabinett verschiedene Übungen mit dem Gewehr machen, dann erklärte er dem mich begleitenden Kompagniechef, daß er mich wegen dreitägiger Abwesenheit als »fahnenflüchtig« dem Gericht übergeben werde.

Am nächsten Tage brachte man mich unter militärischer Eskortierung auf die Hauptwache.

*

Ein schweres Gefühl beschlich mich, als sich die Tür der Zelle hinter mir schloß; ich war sehr betrübt, daß ich für eine im Grunde genommen sehr unwichtige Angelegenheit jetzt wohl eine lange Zeit hinter Schloß und Riegel zubringen mußte. Jedoch bald fand ich eine Ablenkung.

In der gemeinsamen Zelle, in welcher man mich untergebracht hatte, befand sich noch ein Soldat. Ich wurde gleich mit ihm bekannt. Er war klein, sehr mager, schwarzhaarig, aber ein sehr lebhafter und verständiger Mensch von 40 Jahren. Krapiwko war sein Name, der in seinem Leben vieles gesehen und erfahren hatte. Mehr als einmal hatte er sich wegen verschiedener Vergehen vor Gericht verantworten müssen, schon oft war er zu der noch in jener Zeit gebräuchlichen grausamen körperlichen Züchtigung sowie zur Einreihung in die Arrestantenkompagnie verurteilt worden, ja man verbannte ihn mehrmals nach Sibirien, von wo er jedoch, nach seinen Worten, als Landstreicher bald wieder zurückkehrte. Seine Haltung war natürlich und frei, seine Erzählungen lebhaft und interessant. Mir, dem vollständig unerfahrenen Jüngling, erschienen alle Begebenheiten und Abenteuer seines Lebens eine Art Offenbarung; ob sie sich in Wirklichkeit so zugetragen hatten oder ob sie die Auswüchse seiner Phantasie waren, konnte ich damals noch nicht unterscheiden. Man darf nicht vergessen, daß in jener Zeit, unter dem Einfluß von Bakunins Lehren, die Revolutionäre gern jeden Verbrecher idealisierten und in ihm den wirklichen Bekämpfer der heutigen Gesellschaftsordnung sahen; natürlich fand auch ich in Krapiwko den »Volkshelden«, der nur belehrt zu werden brauchte, um ein wahrhafter Kämpfer für das Glück und die Freiheit des unterdrückten Volkes zu werden. Und ich ging an die Arbeit. Ich begann Krapiwko die Ungerechtigkeit der jetzigen Weltordnung und die Notwendigkeit, sie durch eine andere zu ersetzen, in welcher es weder Reiche noch Arme, weder Bedrücker noch Bedrückte, weder Gefängnisse noch Verbrecher gäbe, zu erklären. Auf seiner Pritsche mit gesenktem Kopfe und herabhängenden Füßen sitzend, schien er meinen Erzählungen mit größter Aufmerksamkeit zu folgen. Er unterbrach mich nur manchmal durch eine persönliche Bemerkung oder er illustrierte meine Gedanken, was mir bewies, daß er sehr gut begriff. Ich freute mich darüber außerordentlich; ich erinnere mich noch, daß ich damals dachte: gerade solche Revolutionäre brauchen wir in Rußland.

Krapiwko behauptete, daß nach der ihm bevorstehenden Verurteilung es ihm wieder gelingen würde, zu entfliehen. Anfangs glaubte ich, daß man mich nicht lange in der Haft behalten würde, und wir verabredeten schon jetzt, wo wir uns in Zukunft treffen konnten. Seine feste Überzeugung, daß es überall möglich wäre, zu entfliehen, wirkte außerordentlich anregend und ermutigend auf mich. »Wenn es ihm, der über keinerlei Geldmittel und Verbindungen verfügte, gelang, aus den verschiedensten Gefängnissen zu entfliehen, warum sollte das für mich unmöglich sein?« Diese Frage legte ich mir immer wieder vor und erklärte mir das jahrelange Schmachten politischer Verbrecher in Gefängnissen, in Sibirien und in der Zwangsarbeit nur durch ihre Unentschlossenheit und Mangel an Unternehmungsgeist. Ich nahm mir damals fest vor, bei einigermaßen entsprechenden Verhältnissen zu entfliehen und auch anderen bei solchen Unternehmungen zu helfen. Krapiwko war in Fluchtplänen ungeheuer erfindungsreich: mir zum Beispiel schien es vollständig unmöglich, aus der Hauptwache zu entkommen, aber mein Zellengenosse gab mir einen Gedanken ein, den ich mir auch später zunutze machte.

Unterdessen verzögerte sich die Untersuchung immer mehr: ich konnte dem Militäruntersuchungsrichter weder mitteilen, warum ich nicht zum Dienst erschienen war, noch daß ich mich in der Wohnung der Illegalen versteckt gehalten hatte. Ich mußte daher etwas ausdenken. Ich verabredete mit meinen Bekannten, zu bezeugen, daß ich am Abend des 2. Januar bei ihnen zu Besuch gewesen, plötzlich erkrankt wäre und daß der herbeigeholte Arzt mir verordnet hätte, einige Tage streng das Bett zu hüten. Die von mir genannten Personen, der Arzt und die Dienerschaft bestätigten meine Aussagen.

General Wannowski aber, welchem man die Untersuchungsakten vorlegte, fand sie ungenügend und nicht vollständig. Unter Bedeckung zweier bewaffneter Soldaten mußte ich wieder die von Menschen dicht gefüllten Straßen meiner Vaterstadt durchschreiten, um von neuem vom Untersuchungsrichter verhört zu werden. Auf seine Frage, warum ich der Kompagnie von meiner Krankheit nichts hätte wissen lassen und meine Eltern, welche in derselben Stadt wohnten, nicht benachrichtigt hätte, antwortete ich, ich wollte die Meinigen nicht beunruhigen. Diese Erklärung, sowie die ganze Geschichte meiner plötzlichen Erkrankung war ja sehr wenig überzeugend; aber ich konnte nichts anderes aussagen.

Bei einem dieser Verhöre war auch Baron Heiking zugegen. Ich weiß nicht, ob sein Besuch beim Untersuchungsrichter gerade zu dieser Zeit oder schon früher verabredet war. Als er aber hörte, daß ich mich bei den von mir erwähnten Leuten aufgehalten hatte, rief er aus: »Heureka, Heureka!« Aller Wahrscheinlichkeit nach glaubte er, daß ich mich bei diesen Leuten mit Lurie zusammen versteckt hatte, was aber in Wirklichkeit gar nicht so war. Glücklicherweise hatte Baron Heikings Entdeckung für niemand üble Folgen. Meine Angelegenheit aber verschlechterte sich bald durch eine neue unangenehme Sache.

Krapiwko erzählte mir, daß einer der wachthabenden Offiziere der Hauptwache sich durch besonders grausamen Charakter auszeichnete. Er äußerte sich in sehr scharfen Ausdrücken über ihn, klagte, daß er die Soldaten auf alle mögliche Art quäle, mißhandle, in den Karzer sperre usw., so daß sie sich schon zweimal gegen ihn empört hätten. Wenn er morgens eintrat, beantworteten sie seinen Gruß mit Grabesstille. »Ein richtiges Tier, ein Ungeheuer. Sie werden ja selbst sehen, wenn er bei uns die Wache haben wird: er wird unbedingt etwas mit Ihnen anzetteln, um Sie nachher zu bestrafen. Wenn mir nur der Schurke in der Freiheit begegnete, wie einen räudigen Hund würde ich ihn erschlagen!« beendete Krapiwko wütend seine Erzählung.

Nach einiger Zeit zog dieser Offizier wirklich auf die Wache, und zwar gegen Mittag. Ich saß gerade beim Frühstück, als er in Begleitung der neuen wachthabenden Soldaten in die Zelle trat. Ich hatte mich kaum von der Pritsche erhoben, als er mich in gröbstem Tone anfuhr: »Wie, du wagst zu sitzen, wenn ich eintrete?« Obwohl durch Krapiwkos Erzählung vorbereitet, konnte ich mich doch nicht enthalten, mit erhobener Stimme zu sagen: »Sie haben mich nicht zu duzen, ich bin Freiwilliger. Im Regiment benahm sich niemand so gegen uns.« Meine Bemerkung versetzte ihn geradezu in Raserei: ich fürchtete, er würde sich im nächsten Augenblick auf mich stürzen. Vielleicht hielt ihn das neben mir liegende Messer zurück, denn er begnügte sich, mir mit einem entsetzlichen Schrei zuzurufen, daß er über mich Rapport erstatten würde, und rannte dann aus der Zelle.

Die Untersuchung über die »Beleidigung eines diensttuenden Offiziers« begann, und die Sache war viel ernster als die erste. Auf meine Frage an den Untersuchungsrichter, was mir wohl drohe, antwortete er: »Zwei Jahre Festungshaft, und vielleicht noch mehr.« Die Sympathie der Offiziere war, wie ich hörte, auf meiner Seite. Man berichtete mir, daß einige von ihnen im Kasino dem groben Patron wegen seines Verhaltens mir gegenüber Vorwürfe gemacht hatten.

Eines Tages kam auch unser Regimentskommandeur in die Zelle und sagte in mitfühlendem Ton:

»Ach, junger Mann, warum haben Sie sich ereifert? Damit haben Sie ja Ihre Lage verschlechtert.« Ich erklärte ihm, daß es mir unmöglich war, mich zurückzuhalten. »Das eben ist sehr schlecht,« sagte er liebenswürdig und verabschiedete sich höflich.

Als ich von der mir drohenden Strafe hörte, kam mir sofort der Gedanke an die Flucht. War es doch gar zu schwer, lange im Militärgefängnis zu schmachten, besonders in jener Zeit, wo die Revolution so nahe schien. Dennoch war ein Fluchtversuch sehr gewagt, denn im Falle des Mißlingens hätte meine Lage sich ungeheuer verschlechtert und ich wäre vielleicht noch für ein paar Jahre ins Disziplinarbataillon versetzt worden. Um meine Zweifel zu bannen, wandte ich mich wieder um Rat an die »Buntari«, mit welchen ich auch während meiner Gefängnishaft in Verbindung geblieben war. Ich legte ihnen meinen Fluchtplan vor, den sie vollständig gut hießen, und sie versprachen mir jegliche erforderliche Hilfe.

In der Hauptwache gab es keine Badestube; die Gefangenen waren deshalb entweder ganz der Möglichkeit zu baden beraubt, oder man gestattete den leichten Verbrechern, eine in der Nähe gelegene private Badestube zu besuchen. Vor meinem Zusammenstoß mit dem wachthabenden Offizier war es für mich leicht, die Erlaubnis zu erhalten, selbstverständlich unter militärischer Bedeckung. Dank der mir von Krapiwko eingegebenen Gedanken überzeugte ich mich, daß bei einer Hilfe der Kameraden es leicht möglich wäre, die Flucht zu wagen. Als jedoch gegen mich die neue Beschuldigung erhoben wurde, war es schwieriger, die Erlaubnis zum Baden zu erhalten. Auf meine Bitte, die ich an den Regimentskommandeur richtete, erhielt ich die Antwort, daß er die Entscheidung dem wachthabenden Offizier überlasse. Dieser war unentschlossen; doch der hierbei anwesende Schatzmeister, bei welchem ich für einen sehr hohen Preis mein Essen erhielt, ergriff für mich Partei und beredete den Offizier, meine Bitte zu erfüllen. Er betonte, daß es für mich, den Sohn wohlhabender Eltern, keinen Sinn habe, zu fliehen; um aber ganz sicher zu sein, riet er ihm, die Bedeckung von zwei auf drei Mann zu verstärken. Der junge Leutnant ging endlich darauf ein.

Krapiwko war natürlich in alles eingeweiht, da ich mit ihm alle Einzelheiten meines Fluchtplans ausgearbeitet hatte. An dem von mir bestimmten Tag, den 19. Februar, übergab ich ihm vor meinem Fortgehen einige meiner Sachen, ließ ihm etwas Geld zurück, und wir verabschiedeten uns höchst freundschaftlich, denn ich erkannte, daß die Bekanntschaft dieses fahnenflüchtigen Soldaten mir manchen Nutzen gebracht hatte.

Bei unserer Ankunft in die Badestube verteilten sich die mich begleitenden Soldaten folgendermaßen: einer stellte sich draußen unter die Fenster, die in den Hof gingen, der andere an die Eingangstür, der dritte ging mit mir ins Bad hinein und blieb, nachdem ich mich entkleidet, bei meinen Sachen stehen. So schien es ausgeschlossen, fortzukommen, ohne von einer Kugel oder dem Bajonett der Soldaten getroffen zu werden.

Die allgemeine Badestube bestand aus dem Auskleideraum, einer Abteilung zum Waschen und der dritten zum Schwitzen. Als ich in die letzte kam, fand ich dort Stefanowitsch und meinen Jugendfreund Tschepanski vor. Wir taten, als wenn wir uns nicht kannten; durch verschiedene Gesten zeigten sie mir an, wohin sie die für meine Flucht nötigen Gegenstände gelegt hatten, was auch schon früher zwischen uns verabredet worden war.

Ich weiß bis jetzt noch nicht, ob meine Vermutung zutraf, oder ob es nur Mißtrauen war, aber es schien mir, als ob der Wärter unsere Zeichensprache bemerkt und uns nun beobachtete, denn er hatte gesehen, daß ich unter militärischer Bedeckung gekommen war. Seine Aufmerksamkeit mußte von mir abgelenkt werden. Als ich mich zu waschen anfing, ging der Wärter zufällig hinaus. Diesen Augenblick benutzte ich, um schnell und unbemerkt für die anderen Besucher die mir von den Kameraden gebrachten Sachen in die zweite Abteilung zu tragen und sie so hinzulegen, daß der Wärter sie nicht erblicken konnte. Stefanowitsch und Tschepanski verließen, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß ich ihre Zeichensprache begriffen, die Badestube. Ich ließ noch eine geraume Zeit verstreichen, dann tat ich so, als ob ich mich schon genug gewaschen hätte, und ging mich anzukleiden. Mir war, als ob der Wärter mir folgte. Ich begab mich deshalb zu meinen Sachen, neben welchen der Soldat saß. Der Wärter vermutete vielleicht, daß ich weggehen wolle, vielleicht hegte er überhaupt keinen Verdacht, denn er ging wieder in eine andere Abteilung, seiner Beschäftigung nach. In diesem Augenblick hatte ich meine Wäsche angelegt. Als ich den Wärter nicht mehr sah, sagte ich zum Soldaten, daß ich noch ein Fußbad nehmen möchte, und ging wieder in den Waschraum. Dort trat ich schnell in jene Ecke, wo die von mir versteckten Kleider lagen, zog den Zivilanzug an, stülpte den Baschlik (Kapuze) auf den Kopf und ging dann mit langsamen Schritten an dem meine Kleider bewachenden Soldaten vorbei. Unsere Blicke begegneten sich, und ich fühlte einen Augenblick ein Zittern im ganzen Körper. Bald befand ich mich an der Ausgangstür, wo wieder ein Wachtposten stand, dem ich auch ins Gesicht sehen mußte. »So macht es jeder, der die Badestube verläßt«, dachte ich und blickte ihn an. Die Füße knickten mir zusammen, und ich mußte doch noch den dritten Wachtposten, der am Fenster stand, passieren. »Den werde ich nicht anschauen, nein, es ist zu schwer« – dachte ich und ging weiter, ohne ihn anzusehen; nachher schien es mir aber, daß das gerade seinen Verdacht erregt haben müßte, und ich fühlte den unbezwinglichen Wunsch, zu laufen. Ich mußte meine ganze Kraft zusammennehmen, um langsam zu gehen, und der Hof, in dem sich die Badestube befand, erschien mir endlos. Endlich war ich auf der Straße, aber noch lange nicht außer Gefahr, denn dem Posten, der bei meinen Kleidern zurückgeblieben war, mußte schon mein langes Ausbleiben aufgefallen sein und meine Flucht entdeckt haben. »Die Wachtposten setzen mir nach; schnell, schnell vorwärts!« Aber ich darf doch nicht laufen. Wie schwer ist es, langsam zu gehen, wenn die Füße, wie von selbst, vorwärts drängen! Die Straße war ziemlich menschenleer. In der Ferne sah ich Stefanowitsch langsam auf und ab gehen. »Werde ich bis zu ihm gelangen?« Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten und schritt schnell vorwärts. Als ich Stefanowitsch erreichte, sagte ich mit erschwerter, flüsternder Stimme zu ihm: »Man hat meine Abwesenheit schon bemerkt und jagt mir nach; schnell, schnell!« Zum Unglück war in der Nähe keine Droschke, wir eilten noch weiter und bemerkten bald in der Ferne einen Fuhrmann, dem wir mit der Hand winkten; er kam und wir fuhren weg. Das Pferd jedoch rührte kaum ein Bein, so daß wir ihn halten ließen, zahlten und zu Fuß weiter gingen; noch zwei, drei Straßen – und wir waren bei Stefanowitsch.

*

Wie man mir später erzählte, wurde der Soldat, der meine Kleider bewachte, durch meine lange Abwesenheit unruhig und beauftragte den Wärter, mich zur Eile anzuspornen. Als dieser zurückkam und sagte, daß ich überhaupt nicht mehr in der Badeabteilung sei, begann eine sorgfältige Nachsuchung. Man meldete meine Abwesenheit sofort auf der Hauptwache, von wo aus ein Offizier abkommandiert wurde, aber alle Nachsuchungen blieben erfolglos. Niemand verstand, wie ich hatte verschwinden können, da die Fenster, die Decke und die Wände vollständig unversehrt waren. Sie stellten fest, ich sei durch den Schornstein gekrochen, und das bei einem glühenden Ofen, nur in Leibwäsche, im Winter!

Einige Tage darauf teilte mir ein Bekannter mit, daß mein früherer Hausherr mich durchaus sehen möchte und innigst um eine Zusammenkunft mit mir bitte. Dieser Wunsch setzte uns alle in großes Erstaunen. Einige meiner Kameraden befürchteten sogar einen Hinterhalt und baten mich, nicht darauf einzugehen. Nach dem von mir schon oben wiedergegebenen Gespräch mit diesem einfachen und ehrlichen Menschen hielt ich aber jegliche Verdächtigung für vollständig grundlos und beschloß, seine Bitte zu gewähren; vorher traf ich jedoch alle notwendigen Vorsichtsmaßregeln. Als Treffpunkt bestimmte ich die Große Wladimirskaja. In der Dämmerstunde sollte er allein bis an eine Ecke der erwähnten Straße fahren, dort den Wagen verlassen und zu Fuß nach unserem Begegnungspunkt kommen.

Ich band über meinen Mantel ein Plaid, wie es zu jener Zeit unter der akademischen Jugend Sitte war, und begab mich etwas vor der festgesetzten Zeit in jene Straße, wo ich auf der gegenüberliegenden Seite der bezeichneten Stelle auf und ab ging. Bald erschien in der Ferne ein Wagen; der Insasse stieg aus, bezahlte den Kutscher und ging, nach allen Richtungen spähend, an die verabredete Ecke. Ich beobachtete dies alles, ohne daß er es bemerkte. Die Straße war ringsum leer. Ich sah, daß ich von diesem Menschen nichts zu befürchten hatte, und ging ihm entgegen. Er war sehr erfreut, als er mich sah. In flüsterndem Tone, obwohl wir ringsum allein waren, wiederholte er: »Ich wollte Sie durchaus sehen, um Ihnen zu geben was ich kann,« – und indem er sich angstvoll umsah, drückte er mir etwas in die Hand. Ich fragte, was es wäre. »Nehmen Sie, es ist Geld,« antwortete er. Ich dankte ihm, schlug es aber entschieden ab, das Geld zu nehmen, da ich es durchaus nicht nötig hatte. Er begann mich heiß zu bitten: »Es wird Ihnen schon noch nützen, ich bitte Sie, nehmen Sie es.« Sein Gesicht hatte dabei einen so flehenden Ausdruck angenommen, als ob es sich darum handelte, ihn von einer großen Unannehmlichkeit zu befreien. Als ich endlich seinen Bitten nachgab und das kleine weiße Bündelchen annahm, drückte er mehrmals kräftig meine Hand und sagte: »Wie froh bin ich! Ich bin sehr froh! Nun leben Sie wohl! Bleiben Sie gesund!« Er schaute wieder nach allen Seiten und ging leisen Schrittes davon. Ich ging in der entgegengesetzten Richtung nach Hause und grübelte darüber nach, wodurch ich wohl die Zuneigung dieses armen, gedrückten Menschen, für den eine geheime Begegnung ein außerordentliches Unternehmen war, gewonnen hätte. In dem kleinen Bündelchen waren über zwanzig Papierrubel – eine bedeutende Summe für einen armen Menschen mit einer großen Familie. Ich bin ihm seit jener Zeit nie mehr begegnet. Während der »Konferenz der russischen Sozialdemokraten«, die im Frühjahr 1903 in Genf stattfand, erfuhr ich, daß sich unter den Anwesenden eine Genossin befand, die ich vor dreißig Jahren kennen gelernt hatte. Es erwies sich, daß sie die jüngste Tochter meines ehemaligen Kiewer Hausherrn war. Nach ihren Worten hatte man mir in ihrer Familie immer ein gutes Andenken bewahrt. In der Jugend hörte sie oft von ihrem Vater und den älteren Familienmitgliedern Erzählungen aus jener Zeit, welche manchmal einen phantastischen Charakter annahmen. Diese Erzählungen blieben nicht ohne Einfluß auf ihr Schicksal. Sie wurde Sozialistin und saß dann öfters in Gefängnissen, wurde einmal nach Sibirien verschickt und lebte lange Zeit im Ausland in Verbannung.

*


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