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»Ich komme von Oblomow.«

Es genügte nicht allein, der Wache zu entgehen, noch viel wichtiger war es, sich vor den Nachsuchungen zu verstecken. Diese allen gut bekannte Regel hat noch in entlegenen kleinen Provinzstädten und in den wenig bevölkerten abgelegenen Winkeln Sibiriens eine ganz besondere Bedeutung. Dort kennt wirklich jeder Mensch den anderen, und der Bewohner kann nach einer Begegnung mit einem fremden Menschen genau und ausführlich alle seine Merkmale, Kleider, Gang usw. beschreiben. Mich hatten viele im Laufe mehrerer Stunden in Begleitung der Wache die Hauptstraße und den Marktplatz, die ich jetzt noch einmal, aber allein durchschreiten mußte, auf und ab gehen sehen.

Unweit standen Droschken, ich hätte gerne eine von ihnen genommen, aber ich wagte es nicht, denn ich dachte wohl daran, daß man in solch einer kleinen Stadt, wo man überhaupt wenig fährt, einen, der eine Droschke benutzt hat, schneller ausfindig machen kann als einen Fußgänger.

Die Wohnung, nach welcher ich mich begeben mußte, war mir von einem Bekannten, den ich »Oblomow« nennen will, bezeichnet worden. Er erklärte mir, wie ich dorthin kommen konnte, aber er nannte mir weder den Namen des Bewohners noch den des Hauses. In Rußland trägt jedes Haus den Namen des Eigentümers.

Ich hatte viele Mühe, meine Erregung zu verbergen und ein natürliches Aussehen anzunehmen, aber ich ging in gewöhnlichem Schritte durch die bereits von mir in Begleitung der Polizisten passierten Straßen. Zum Unterschied von dem Zustand, in welchem ich mich dreißig Jahre vorher befand, als ich ebenso der Wache aus der Badestube in Kiew entging, hatte ich diesmal nicht den geringsten Wunsch zu laufen; aber ich hätte mich zu gern umgedreht, um mich zu überzeugen, ob man mich verfolge. Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, daß die Polizisten, die doch schon mein Verschwinden bemerkt haben mußten, mir auf den Fersen folgen und mich jeden Augenblick ergreifen konnten. Aber ich schaute mich auf dem langen Wege nicht einmal um, um nicht die Aufmerksamkeit der wenigen Leute, die mir begegneten, auf mich zu ziehen. Als ich endlich zu dem Hause gelangte, welches auf die Beschreibung Oblomows paßte, klingelte ich mit Zagen an der Haustür. Die Tür wurde lange nicht geöffnet, und das Stehen auf der Straße, wo mich jeder erblicken konnte, machte mich ungeduldig und war mir sehr unangenehm. Endlich hörte man leise Schritte, das Schloß wurde geöffnet, und ich sah ein ganz altes Mütterchen vor mir.

»Ich komme von Oblomow,« sagte ich, so hatte mein Bekannter mich beauftragt zu sagen ...

»Ich verstehe Sie nicht, Väterchen,« antwortete die Alte.

Ich wiederholte den verabredeten Satz, aber die Antwort war dieselbe. Ich glaubte, die Alte wäre vielleicht in die Konspiration, welche Oblomow mit ihren Kindern und Enkeln ausgemacht hatte, nicht eingeweiht. Ich fragte daher: »Haben Sie junge Leute im Hause?«

»Was für junge Leute?« wunderte sie sich.

»Nun, Söhne, Töchter, Enkel?«

»Töchter und Enkel habe ich nicht, nur einen einzigen Sohn. Ja, aber Väterchen, was wollen Sie denn?«

»Nun, der Sohn ist wahrscheinlich derjenige, der mich verstecken soll,« dachte ich erfreut.

»Wo ist denn Ihr Sohn, Mütterchen?«

»Im Gymnasium.«

»So ist es!« dachte ich. »Wahrscheinlich ein Schüler der höheren Klasse.«

»Wann kehrt er zurück?«

»Um zwei Uhr.«

Ich blickte auf meine Uhr; es war noch eine Viertelstunde bis dahin.

»Kann ich vielleicht auf ihn warten? Ich habe ein Anliegen an ihn.«

Die Alte ging gern darauf ein und führte mich ins Zimmer; ich war darüber sehr erfreut, denn es war mir schon sehr unangenehm geworden, auf der Straße zu stehen.

»Was haben Sie denn für ein Anliegen an ihn?« fragte sie, sich mir gegenüber setzend.

Ich sagte ihr, Oblomow hätte mich gebeten, ihren Sohn zu besuchen und ihm einen Gruß zu überbringen.

»Ich habe niemals von meinem Sohne etwas über Oblomow gehört!« bemerkte die Alte.

»Es gibt wahrscheinlich viele Leute und Sachen, von denen Dein Sohn Dir nichts sagt,« dachte ich.

»Und womit beschäftigen Sie sich?«

Womit ich mich beschäftige! Ich konnte ihr doch nicht sagen, daß ich mich schon seit mehr als dreißig Jahren der Verbreitung der Revolution widme.

»Mit der Goldindustrie!« antwortete ich schnell; ich erinnerte mich, daß das die in diese Gegend am besten passende Profession war.

»Sie sind also kein Hiesiger?«

»Nein, ich bin aus Kraßnojarsk.«

»Ach so! Nun, was ist jetzt mit der Krankheit dort?«

»Was für eine Krankheit?« dachte ich. Ich hatte im Kraßnojarsker Gefängnis kaum 24 Stunden gesessen, aber von keiner Epidemie, die augenblicklich in der Stadt wütete, gehört.

»Ach! schlecht, Mütterchen, die Menschen sterben!« antwortete ich, vollständig überzeugt, daß meine Antwort der Wirklichkeit nicht widersprach, denn ohne oder mit Epidemie, Menschen sterben überall und also auch in Kraßnojarsk.

»Dasselbe hat auch ein Bekannter, der in diesen Tagen von dort gekommen ist, erzählt,« bestätigte die Alte. »Und was ist mit dem Rauben?« fuhr sie fort zu fragen.

»Es wird sehr viel geplündert, Mütterchen, es ist eine wahre Not,« erwiderte ich und ging auch diesmal von der allgemeinen Lage der Dinge aus, daß man bei uns, vom Osten bis zum Westen und vom Norden bis zum Süden sich überall mit Rauben beschäftigt und daß Kraßnojarsk wohl darin keine Ausnahme bilden wird. Ich hatte damit zugleich die Worte des Bekannten aus Kraßnojarsk bestätigt. Doch befürchtete ich, bei weiteren Fragen der Alten könnte meine Antwort nicht von so gutem Erfolg sein und ich könnte mich leicht verschnappen. Ich saß daher wie auf Stecknadeln und schaute oft nach der Uhr. Endlich klingelte es. Als die Alte hinausging, um die Tür zu öffnen, fühlte ich keine Erleichterung, sondern wurde noch aufgeregter als in ihrer Gegenwart; es war doch unmöglich, daß der Sohn der Hausfrau klingelte, er mußte doch einen Schlüssel zur Haustür haben, dachte ich und glaubte fest, daß man mich ausfindig gemacht hatte. Ich hörte ein Geflüster im Vorzimmer: Ja, das ist die Polizei, ich muß mich verbergen, aber wohin?

Aufgeregt schaute ich mich um: das Zimmer befand sich im zweiten Stock, die Vorfenster waren schon eingestellt. Bevor ich noch überlegt hatte, was zu tun, öffnete sich leise die Tür und ins Zimmer trat ein hoher, magerer, etwas buckeliger Herr, welcher nach seinem äußeren Eindruck sehr an den Provinzialbeamten, den Gogol so vorzüglich zeichnete, und den man noch jetzt in entlegenen Winkeln Sibiriens finden kann, erinnerte.

»Das ist auch so: der richtige Polizeibeamte,« dachte ich.

»Mit wem habe ich die Ehre?« wandte er sich an mich.

Ich nannte den ersten besten Namen.

Er reichte mir die Hand und fragte mich sehr höflich, welchem Umstand er meinen Besuch verdanke?

Es wurde mir klar, daß dieser Herr der Sohn des Hauses war, und wollte schon erleichtert aufatmen.

»Ich komme von Oblomow!« rief ich aus.

»Ich kenne keinen Oblomow,« antwortete er zu meinem großen Bedauern. »Aus welchem Grunde hat er Sie hierher geschickt?«

Ich mußte wiederholen, was ich schon seiner Mutter gesagt hatte, und auf verschiedene Fragen antworten.

»Darf ich auch fragen, womit Sie sich beschäftigen?« fragte ich, um das Mißverständnis aufzuklären.

Es stellte sich heraus, daß er Lehrer des Gymnasiums war, und ich sah sofort, daß ich eine falsche Adresse erhalten hatte. Ich mußte mich also so schnell wie möglich zurückziehen. Ich erklärte, daß ich wahrscheinlich nicht in das richtige Haus geraten sei, entschuldigte mich wegen der Unruhe, die ich verursacht hatte, und begab mich verwirrt und gleichzeitig sehr betrübt in das Entree. Ich nahm den Mantel vom Kleiderhalter und zog ihn im Gehen an. Aber hier wäre mir beinahe noch etwas Unangenehmes zugestoßen.

»Wo ist Ihre Mütze?« fragte der Hausherr verwundert, als er sie weder auf dem Halter, noch in meiner Hand sah, während ich schon die Treppe herunterging.

»Sie ist in meiner Tasche,« antwortete ich und zog sie hervor, aber ich bemerkte nicht, daß in dem Ärmel meines Mantels eine zweite Mütze steckte, die mir beim Anziehen beinahe herausgefallen wäre. Der Lehrer bemerkte, wie mir schien, nichts davon. Für eine Flucht hatte ich für jeden Fall noch eine Reservemütze mitgenommen, die andere hatte ich beim Abnehmen des Mantels in den Ärmel gesteckt.

*

»Was soll ich jetzt anfangen?« fragte ich mich, als ich wieder auf der Straße war. Würde ich in derselben Richtung zurückgehen, in welcher ich gekommen war, so wäre ich meinen Verfolgern in die Arme gelaufen, welche nach meiner Voraussetzung schon angefangen haben mußten, mich zu suchen.

Ich ging in entgegengesetzter Richtung.

Nachdem ich einige Schritte gegangen war, erblickte ich wieder ein Haus, welches gleichfalls auf das mir von Oblomow bezeichnete paßte. Ist es dieses? oder vielleicht wieder nicht? frug ich mich verzweifelt, denn ich konnte auf weniger gefällige Leute stoßen, als dieser Lehrer mit seiner Mutter war. Schließlich wagte ich es doch und zog abermals die Glocke.

Die Tür wurde sofort geöffnet, und es erschien eine junge Frau mit sympathischen Gesichtszügen.

»Ich komme von Oblomow,« wiederholte ich die abgeleierte Phrase und erwartete denselben Eindruck wie früher. Doch plötzlich höre ich:

»Sie sind Deutsch?«

Als ich meinen Namen hörte, fühlte ich plötzlich eine solche Müdigkeit, daß ich mich kaum noch auf den Füßen halten konnte.

»Ja, ich bin Deutsch, nur nennen Sie mich jetzt nicht so,« antwortete ich.

»Fürchten Sie sich nicht, wir haben keine fremden Leute im Hause. Nun, legen Sie ab! Wollen Sie nicht Tee trinken?« fragte sie mich einladend.

»Ich will nur schlafen, bitte, weisen Sie mir einen Ort an, wo ich mich hinlegen kann.

Die zwei schlaflosen Nächte, das Einkaufen in den Läden mehrere Stunden lang, die Aufregung beim Entfliehen, die Unruhe und Betrübnis, die ich in der Wohnung des Lehrers und auf der Straße durchgemacht hatte, und schließlich noch die Freude, mich in Sicherheit zu fühlen, hatten ein vollständiges Versagen meiner Kräfte zur Folge.

In dem mir von der Hausfrau angewiesenen gemütlichen Zimmer entkleidete ich mich rasch und warf mich aufs Bett in der Überzeugung, daß ich sofort einschlafen würde. Aber anfangs störte mich ein unklarer Gedanke. Ich bemühte mich, ihn zu verscheuchen, aber er ließ nicht nach und nahm bestimmtere Formen an. Die Müdigkeit in mir kämpfte mit einer gewissen Unruhe. Nachdem ich mich zwei Stunden bemüht hatte, einzuschlafen, begriff ich endlich, was mich quälte. Es war die Befürchtung, daß in einem solchen Städtchen wie Jenisseisk sich das Gerücht von meiner Flucht und von meinem Besuch beim Lehrer schnell verbreitet haben würde.

Als mir das alles vollständig klar wurde, verflog die Müdigkeit wieder, ich stand auf, machte eiligst Toilette, schnitt meinen langen Bart ab und begab mich in das Zimmer meiner Gastfreunde. Dort bat ich, jemand möge so freundlich sein und Oblomow holen und ihn auch gleichzeitig benachrichtigen, es sei für mich notwendig, eine andere Wohnung zu suchen.

Nach kurzer Zeit erschien er. Ich machte ihm Vorwürfe, daß er mir die Adresse nicht richtig angegeben, und erklärte ihm, welche unangenehmen Folgen daraus hätten entstehen können; dann ersuchte ich ihn, sich an einen hier wohnenden Kiewer Bekannten, der mir vorgeschlagen hatte, seine Wohnung als Zufluchtstätte zu benutzen, in dieser Angelegenheit zu wenden. Oblomow teilte mir darauf mit, daß er diesen Herrn auf dem Weg hierher getroffen und aus dem Gespräch mit ihm erfahren habe, daß er nach meiner Entweichung Furcht bekommen hätte, so daß auf ihn nicht zu rechnen war.

Während unserer Unterhaltung klingelte es. Oblomow ging hinaus, und als er zurückkehrte, sagte er mir, daß meine Befürchtungen sich bewahrheiteten, denn der Angekommene benachrichtigte ihn, daß von meinem Besuch beim Lehrer dessen Nachbar, der in der ganzen Stadt als Hooligan bekannt war, erfahren hatte, und sehr bald würden er und andere herausbekommen, wo ich mich befände.

Ich mußte unbedingt sofort die Wohnung wechseln, aber eine vollständig gefahrlose konnte Oblomow nicht finden. Meine Lage wurde ziemlich kritisch; ich fühlte mich sehr unbehaglich, nicht aus Furcht, wieder verhaftet zu werden, daran war ich längst gewöhnt – ich erinnerte mich stets daran, daß es schwer sei, »dem Bettelsack und dem Gefängnis« zu entgehen –, sondern aus Ärger, daß ich der Polizei entweichen konnte, aber nachher kein Versteck hatte finden können.

Ohne etwas Bestimmtes in Aussicht zu haben, ging ich mit Oblomow auf die Suche.

Jenisseisk wird nachts nicht beleuchtet, und es herrschte daher eine undurchdringliche Finsternis; wir gingen über die Grenze des Städtchens, und bei jedem Schritt stießen wir auf Steinhaufen und Löcher. Um nicht zu fallen, hielt ich mich an Oblomow fest. Hie und da ertönte die Stimme eines Betrunkenen. Oblomow flüsterte mir leise zu, daß hier mancher »sein Wesen treibe« und am Abend gern plündere.

Es kam uns jemand entgegen; aus Vorsicht gingen wir ihm aus dem Wege, bückten uns, und jeder von uns nahm einen Stein. Der Vorbeigehende sah in uns wahrscheinlich auch Räuber.

Endlich gelangten wir an ein Haus, durch dessen geschlossene Läden Licht schimmerte. Hier wohnte eine Bekannte von Oblomow, aber bei ihr war es nicht ganz ungefährlich für mich, denn kurz vorher hatten sich bei ihr gleichfalls zwei Flüchtlinge versteckt gehalten, und nach ihrer Abreise hatte es bald die ganze Stadt erfahren. Aber wenn ich hier nicht unterkommen konnte, dann mußte ich zu Oblomow zurück; dort war es aber noch gefährlicher, weil die Polizei auf ihn ein wachsames Auge hatte.

Ich blieb allein auf der Straße, mit einem Steine in der Hand, statt einer anderen Waffe. Oblomow ging zu seiner Bekannten; er kehrte bald zurück und sagte, sie sei bereit, mich aufzunehmen; sie halte unsere Befürchtungen für vollständig grundlos.

Ich ging also dorthin.

Die Hausfrau öffnete selbst die Tür; sie war eine junge Frau, die auf mich einen angenehmen Eindruck machte. Ihr Mann erschien mir auch sehr sympathisch, und ich beschloß, bei ihnen zu bleiben.

*

Als die Polizisten meine Abwesenheit im Laden bemerkten und mich auch in der zweiten Abteilung nicht fanden, erfuhren sie von dem älteren Kommis, wohin ich mich begeben hatte. Sie machten sich nun auf die Suche. Das kleine Mädchen, welches gesehen, wie ich die Pforte durch einen Balken gesperrt hatte, teilte ihnen mit, nach welcher Richtung ich fortgegangen wäre. Nun war meine Flucht ihnen klar geworden, der Vogel war entwischt. Sie fingen an zu toben und drohten dem Besitzer mit Strafen, obwohl jener wie auch der Kommis ganz unschuldig waren. Meine Flucht hatte für sonst niemand unangenehme Folgen, sie störte auch die Genossen nicht im geringsten, den Plan, welchen Jakob vorbereitet hatte, auszuführen.

Meine Aufgabe ist es natürlich nicht, ausführlich zu erzählen, wie meine Reisegefährten Parvus, Peskin, Skripnikow, Petelin und Sophie Berlin die Flucht bewerkstelligten, um so mehr, da ich darüber nur berichten kann, was ich von anderen hörte. Ich will hier nur sagen, daß, wie es schon früher mit Jakob verabredet war, die Genossen, welche nur von zwei bis drei Polizisten begleitet waren, mit ihrem Boot gegen Abend im nächsten Dorfe anlegten. Dort war es nicht mehr schwierig für sie, ihre Begleiter zu bewegen, mit ihnen zusammen in eine schon vorher bestimmte Hütte einzutreten, um etwas zu sich zu nehmen. Jakob hatte dort schon alles vorbereitet; bald erschien Schnaps auf dem Tische, dem die ermüdeten, erfrorenen und ausgehungerten Ruderer und ebenso die Polizisten fleißig zusprachen. Wie es in solchen Ausnahmefällen üblich ist, erschienen in der Hütte bald die neugierigen Nachbarn, die man aufforderte, mitzutrinken. Plötzlich war Parvus verschwunden, als ob ihn der Erdboden verschlungen hätte. Der ältere Polizist hatte dies sofort bemerkt; er schlug mit der Faust auf den Tisch und rief: »Wo ist denn dieser Dicke hingekommen, da Fenster und Türen fest verschlossen sind?«

Durch die angesammelte Menschenmenge war es in der Hütte unerträglich schwül geworden, und es schlug jemand vor, das Fenster zu öffnen; während der älteste Polizist sich den Kopf über das geheimnisvolle Verschwinden von Parvus zerbrach, stiegen Peskin, Berlin und Petelin einer nach dem anderen durch das geöffnete Fenster ins Freie. Jakob brachte mit seinem Gehilfen jeden an einen sicheren Ort. Der fünfte – Skripnikow – ging gerade durch die Tür an den Polizisten vorbei. Nur einer unserer Reisegefährten, Genosse Lopatis, Mitglied des jüdischen Bundes, schlug es im letzten Augenblick aus ganz unverständlichen Gründen energisch ab, mit den anderen zu fliehen. Man erzählt, daß selbst die Ruderer und andere Personen ihm zugeredet hätten: »Nun, warum bleibst du? Geh doch auch.« Aber unbegreiflicherweise zog er es vor, ins Turuchansker Gebiet zu gehen.

Nach dem Verschwinden der fünf erwähnten Genossen blieben eine beträchtliche Anzahl Sachen und Lebensmittel übrig. Den größten Teil nahm Genosse Lopatis, das andere teilten sich die Bauern. Sie waren von diesem unerwarteten Erwerb und den nächtlichen Vorgängen in ihrem Dorfe entzückt. Einige Bauern sagten zum Genossen Jakob: »Du, junger Mann, bring uns öfters solche Politische!«

Den nächsten Tag mußten die fünf Flüchtlinge ohne Nahrung in der Taiga (undurchdringlicher Wald in Sibirien) zubringen. Sie gelangten schließlich spät abends in Jenisseisk an, wo Jakob und Oblomow sie in verschiedenen Wohnungen unterbrachten.

Es war nicht leicht für uns, aus der Stadt herauszukommen. Jenisseisk hatte keine Eisenbahnverbindung; man kann von dort in der Navigationszeit per Dampfer abreisen, sonst muß man den Landweg benutzen. Es war also für die sechs Flüchtlinge schwer, bis zur nächsten Eisenbahnstation zu gelangen, die 350 Werst entfernt lag.

*


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