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Die Flucht aus dem Gefängnis in Kiew

Stefanowitsch und ich blieben noch einige Zeit in Kiew und machten Vorbereitungen, wieder »ins Volk« zu gehen. Wir legten Bauernkleidung an, versahen uns mit falschen Bärten, nahmen den Quersack auf den Rücken und machten uns auf den Weg.

Nach einer Fußwanderung von vierzig Werst erreichten wir gegen Abend die Stadt Tscherkassy (im Kiewer Gouvernement) und übernachteten dort in einer Herberge. Am nächsten Morgen wollten wir den Dnjepr abwärts fahren, doch in dem Augenblick, als wir zur Landungsbrücke kamen, stieß das Dampfboot ab. Während wir durch die große dort angesammelte Menschenmenge drangen, bemerkte ich einen Polizisten, der uns auffällig musterte. Ich machte Stefanowitsch leise darauf aufmerksam, dieser schaute ihn an und meinte, es wäre die ungewohnte Lage eines »Illegalen« daran schuld, die Blicke aller Polizisten auf sich gerichtet zu fühlen, tatsächlich beobachtete uns dieser Polizist absolut nicht, sondern unterhielt sich ganz ruhig mit einem Herrn. Wir kehrten in dieselbe Herberge zurück und beschlossen, am nächsten Tage abzureisen. Aber kaum waren wir in unserem Zimmer und hatten unsere Kittel abgeworfen, als in der Begleitung des jüdischen Wirtes derselbe Polizist erschien.

»Zeigen Sie mir Ihren Paß«, wandte er sich an mich. Ein Schauer durchfuhr mich, doch äußerlich vollständig ruhig, überreichte ich ihm mein Dokument. Er sah es aufmerksam durch, fragte mich dazwischen, woher ich wäre, womit ich mich beschäftige usw. Dieselbe Frage richtete er an Stefanowitsch, wobei er ihn ebenfalls mit »Sie« anredete und schließlich bemerkte: »Als ich Sie vorhin am Ufer sah, lag etwas Fremdartiges in Ihrer Kleidung.« Mit einem einfachen Lachen antwortete ich, daß ich wegen des starken Regens einen Kittel meines Kameraden entliehen hätte, um meine neuen Kleider zu schonen. Mit diesen Worten zog ich, genau so wie früher, Stefanowitschs Kittel an. Diese anschauliche Erklärung schien dem Beamten zu genügen: er überreichte uns die Pässe und entfernte sich mit dem Wirte.

Sein Weggehen beruhigte uns indes noch nicht vollständig. Daß er uns Bauern mit »Sie« anredete und sich überhaupt höflich gegen uns benahm, flößte uns den Verdacht ein, er halte uns vielleicht für verkleidete Propagandisten, von deren Existenz damals schon alle Polizisten wußten. Kurz vorher hatte man nämlich in dieser Stadt einen Unbekannten verhaftet und unter starker militärischer Bedeckung nach Kiew gebracht: die hiesige Polizei hatte ihn für den damals sehr geachteten und berühmten russischen Revolutionär D. Rogatschew gehalten. Später stellte sich heraus, daß dieser Unglückliche ein fahnenflüchtiger Soldat war, der seinen Namen nicht nennen wollte. Wir vermuteten, daß der Polizist aus Furcht, bei uns auf Widerstand zu stoßen, uns nicht allein zu verhaften wagte und nur wegging, um Verstärkung zu holen. Wir wollten, da es mit großer Schwierigkeit verbunden war, nicht sofort flüchten, sondern beschlossen, unter Beobachtung aller nötigen Vorsichtsmaßregeln abzuwarten, was kommen werde. Wir sagten dem Wirte, daß wir ein Fuhrwerk mieten wollten, um bis zur nächsten Station zu kommen, bezahlten und quartierten uns in einer anderen Herberge ein, damit der Polizist, wenn er zurückkehren sollte, uns nicht gleich finden konnte. Für den Fall aber, daß es der Polizei dennoch gelingen sollte, uns in diesem kleinen Städtchen im Laufe der Nacht zu entdecken, beschlossen wir, von unseren Revolvern Gebrauch zu machen. Auf diese Weise hofften wir uns einen Weg zur Flucht zu bahnen und nahmen eine zu diesem Zwecke besser gelegene Herberge. Die ganze Nacht hindurch wachten wir, um beim leisesten Geräusch unsere Revolver bereit zu halten. Als der Morgen ohne den geringsten Zwischenfall anbrach, wußten wir uns dies nicht zu erklären: entweder hatte der Polizist unser neues Nachtlager nicht ausfindig gemacht oder er hielt uns für wirkliche Bauern. Um herauszubekommen, welcher von unseren Schlüssen der richtige sei, faßten wir den Plan, wieder nach der ersten Herberge zu gehen, um direkt oder auf Umwegen zu erfahren, ob man uns in der Nacht dort gesucht hätte.

Stefanowitsch begab sich allein dorthin. Er erklärte dem Wirte unter irgend einem glaubwürdigen Vorwand sein Kommen und erfuhr aus der Unterhaltung, daß die Polizei nicht dagewesen war. Wir konnten also ruhig zum Dampfer gehen.

Dort fanden wir den Polizisten wieder, der sich ebenso wie tags zuvor ganz ruhig mit demselben Herrn unterhielt. Als ich in ihre Nähe kam, zog ich meine Mütze und grüßte nach der Art unserer Bauern. Der Polizist erwiderte meinen Gruß und sagte mit lauter Stimme zu dem Herrn, indem er auf mich deutete: »Ich hielt ihn gestern für einen entflohenen Soldaten.«

Das Blut stieg mir ins Gesicht, ich hätte mich beinahe verraten. Doch ich wandte mich schnell ab und rief ihm, weiter schreitend, zu: »Leben Sie wohl, Euer Gnaden.« »Glückliche Reise,« klang es zurück.

*

Im Frühjahr 1876 trat ich in die Gruppe der »Buntari« ein. Diese Organisation wollte im Tschigiriner Kreise des Gouvernements Kiew einen bewaffneten Aufstand hervorrufen. Als Mittel dazu sollte die Verbreitung eines gefälschten »Kaiserlichen Manifestes« dienen; es sollte in dem Sinne verfaßt sein, als ob der Zar das Volk selbst zur Besitzergreifung des Landes aufforderte, da die »Herren« und »Beamten« ihn hinderten, die gerechten Wünsche der Bauern zu erfüllen. Es war allgemein bekannt, daß die Bauern mit der Bodenreform des Jahres 1861 sehr unzufrieden waren, und wir nahmen deshalb an, daß überall genügend Brennstoff angehäuft war, um einen Aufstand von einem Orte aus über das ganze Land, gleich einer Flamme, zu verbreiten. Der Tschigiriner Kreis schien uns besonders dazu geeignet, weil dort seit einer Reihe von Jahren eine Bewegung wegen Grund- und Bodenbesitz stattfand. Die Regierung unterdrückte dieselbe mit aller Macht und durch sehr grausame Strafen, die die Bauern zwar mit Stillschweigen ertrugen, aber die sie um so mehr gegen ihre Verfolger erbitterten. Ihre ganze Hoffnung setzten sie auf den Zaren, von dem sie glaubten, er würde ihnen gewiß zu Hilfe kommen, wenn er von ihren Leiden und den Verfolgungen, welche die Mächtigen ihnen zufügten, hören würde. Damit rechneten wir und glaubten daher an die Werbekraft des von uns verfaßten Manifestes.

Außer der öffentlichen Bekanntmachung des obengenannten Manifestes, gehörte noch die Bildung von Kampfesorganisationen, sowie die Versorgung der Bauern mit Waffen zu unserer Aufgabe. Unsere persönliche Anteilnahme bei Zusammenstößen mit dem Militär war selbstverständlich.

Jedoch niemand von uns starb mit der Waffe in der Hand, wie es sich viele von uns aufrichtig vorgenommen hatten, es gelang uns nicht einmal, das Manifest abzudrucken. Teilweise das erfolglose Attentat auf Gorinowitsch Siehe Deutsch, »Sechzehn Jahre in Sibirien«, S. 8 u. 9. im Mai desselben Jahres, hauptsächlich aber der Umstand, daß die Mehrzahl von uns die Unzulänglichkeit des Planes eingesehen hatte, veranlaßte uns, denselben aufzugeben, und im Herbst beschlossen wir, unsere Gruppe aufzulösen und alle Mitglieder von gegenseitigen Verpflichtungen zu befreien. Bald darauf zerstreuten sich die meisten in alle Winde. So gaben wir alle den Gedanken auf, etwas im Tschigiriner Kreise zu unternehmen, und nur Stefanowitsch unterhielt noch weitere Verbindungen mit einigen Bauern aus diesem Kreise. Zum Winter reifte in ihm ein neuer Plan, den er mir auch sofort mitteilte.

Er glaubte, ein bewaffneter Aufstand könne nur dann Erfolg haben, wenn die Bauern zu diesem Zwecke richtig vorbereitet wären. Um sie aber dazu zu bringen, in eine solche Organisation einzutreten, mußte man, nach seiner Meinung und der Anschauung, welche im Volke herrschte, unbedingt zum Namen des Zaren greifen. Stefanowitsch beschloß deshalb, den Tschigiriner Bauern ein »geheimes Dokument« vorzuweisen, in dem der Zar sie bat, sich nicht auf ihn zu verlassen, und ihnen riet, eine geheime Gesellschaft zu bilden. Das Ziel dieser geheimen Kampfesorganisation sollte sein, den Aufstand im geeigneten Moment vorzubereiten. Stefanowitsch erschien sozusagen als Bevollmächtigter, »Kommissar«, der diese Organisation leiten sollte.

Ich will hier nicht auf alle Einzelheiten des Planes eingehen, Siehe Deutsch, »Sechzehn Jahre in Sibirien«, S. 9 u. 10. sondern nur noch hinzufügen, daß Stefanowitsch außerdem auch noch Bochanowski einweihte. Wir druckten in unserer kleinen Buchdruckerei »das kaiserliche Dokument« und die Statuten der »geheimen Kampfesorganisation«, und im Februar 1877 legten wir den Anfang zu dieser Bauernverschwörung. Sie verbreitete sich schnell über einige Gemeinden; die Mitgliederzahl der »geheimen Kampfesorganisation« wuchs rasch und erreichte bald das erste Tausend. Unsere Beziehungen zu den »Älteren« und dem »Hetman« waren sehr konspirativ. Wir lebten in Kiew, und um mit diesen Personen zusammenzukommen, fuhren wir entweder in eine unweit gelegene Ortschaft oder luden sie zu uns in unsere geheime Wohnung ein. In beiden Fällen legten wir Bauernkleidung an. Die Sache ging bis dahin sehr gut, und wir berechneten schon ungefähr die Zeit, wann der Aufstand ausbrechen könnte. Ganz unerwartete Ereignisse vernichteten unsere Pläne und Hoffnungen.

*

Gegen Ende des Sommers erhielten wir von einem befreundeten Gutsbesitzer Nikolai Poletika die Einladung, ihn auf seinem Gute zu besuchen. Stefanowitsch kannte ihn seit seinen Knabenjahren; Poletika hatte mit ihm zusammen studiert, dann aber die Universität verlassen, weil er ein ziemlich großes Gut geerbt hatte.

Wir nahmen die Einladung mit Vergnügen an, weil ein Landaufenthalt für unsere Erholung, deren wir beide bedurften, sehr nützlich und verlockend war, außerdem beabsichtigten wir, Poletika vorzuschlagen, uns eine Anzahl Deßjätinen Land für jene Bauern zu überlassen, welche infolge ihrer Angehörigkeit zur »geheimen Kampfesorganisation« von der Regierung verfolgt wurden und auf unser Anraten illegal lebten. Wir wollten sie dann mit falschen Pässen versehen und hofften gleichzeitig, dadurch die geheime Bauernorganisation ins Poltawaer Gouvernement zu übertragen.

Nach einigen Tagen begannen wir mit Poletika ein Gespräch über den Hauptzweck unseres Besuchs. Er war ein sanfter gutmütiger Mensch und gehörte zu jenen Personen, welchen die revolutionäre Bewegung sehr sympathisch war, die sich aber persönlich nicht daran beteiligten. Wir teilten ihm auch deshalb nichts von dem Bestehen der »geheimen Organisation« mit und begnügten uns mit dem Hinweis, daß wir einige kompromittierte Bauern hier ansässig machen wollten. Poletika ging ohne das geringste Zögern auf unseren Vorschlag ein und wir schritten zu einer neuen Aufgabe.

Stefanowitsch und ich gedachten Flugblätter herauszugeben, doch hierzu mußten wir unsere Buchdruckerei vergrößern. Diese befand sich in unserer Wohnung in Kiew, was für uns sehr unbequem und gefährlich war. Poletika sagte uns, daß er einen vollständig isoliert gelegenen Gutshof mit einigen Deßjätinen Land und den dazu gehörigen Nebengebäuden besitze. Der Gutshof befand sich in der Nähe der Eisenbahnstation und war in jeder Beziehung passend für uns. Das Land konnte man jenen Bauern geben, und im Hause beabsichtigten wir eine geheime Druckerei einzurichten und wenn nötig hier Leute, Waffen usw. zu verstecken.

Als wir Poletika vorschlugen, uns diesen Gutshof zur vollständigen Verfügung zu übergeben, sagte er sofort zu. Wenn man hierbei noch in Betracht zieht, daß seine Tante, ein älteres liebenswürdiges Fräulein, die allen seinen Hausgeschäften vorstand – Poletika war Junggeselle und hatte weder Mutter noch Schwester –, uns mit allerhand kleinrussischen Leckerbissen verwöhnte, so ist es selbstverständlich, daß wir mit unserem Aufenthalt bei dem lebensfrohen jungen Gutsbesitzer sehr zufrieden waren und über die glänzenden Resultate unserer Reise frohlockten.

Doch unsere Freude war von kurzer Dauer. Eines Tages erweckte uns vor Tagesanbruch die Sturmglocke. Wir stürzten aus den Betten, warfen die Kleider über und rannten ins Dorf. Den zusammengelaufenen Bauern gelang es schnell, das Feuer zu löschen, dessen Ursache noch unbekannt war; man sprach von böswilliger Brandlegung. Nachdem wir nach Hause zurückgekehrt und gut gefrühstückt hatten, begaben wir uns alle drei in den nächsten Wald, der Hausherr, um zu jagen, Stefanowitsch und ich, um aus unseren Revolvern nach dem Ziele zu schießen, die damalige Lieblingsbeschäftigung aller Buntari. Soviel ich mich erinnere, war es Samstag. Als wir nach dem Abendessen im Wohnzimmer saßen, erschien plötzlich ganz unerwartet Stefanowitschs jüngerer Bruder Olymp. Mit aufgeregter Stimme erzählte er eilig, daß man in Kiew Malawski arretiert hätte und bei ihm in der Wohnung auch Bochanowski. Als man den letzteren ins Polizeirevier führte, warf er einen Hausschlüssel über einen Zaun; die Gendarmen fanden ihn jedoch, und weil Bochanowski nicht angab, wo er wohnte, suchte die Polizei gemeinsam mit Gendarmen und Spionen nach dem Quartier.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf uns diese Nachricht, denn Stefanowitsch, Bochanowski und ich hatten eine gemeinsame Wohnung in einer sehr abgelegenen Straße des Universitätsviertels. Dort befand sich nicht nur unsere Druckerei, sondern auch viele abgedruckte Nummern der »Botschaft des Zaren« und der »Statuten der geheimen Kampfesorganisation«, aber was noch weit wichtiger war, wir hatten dort sämtliche Mitgliederlisten der von uns geleiteten Organisation: die Bauern hatten selbst darauf bestanden, daß die »Älteren« ihre Namen in die Listen eintrugen und diese dem »Kommissar« übergaben. Außerdem hatten wir dort noch die Adressen und Briefe vieler Revolutionäre und noch viele uns und andere verdächtigende Dokumente und Sachen. Wir beabsichtigten immer, im Falle einer Haussuchung uns mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, um dadurch Zeit zu gewinnen, alles zu vernichten. Jetzt aber, wo die Gendarmen den Schlüssel hatten, war es für sie nicht schwer, die Wohnung zu finden.

Entsetzen faßte uns bei dem Gedanken, daß die Wohnung schon von der Polizei entdeckt sei: mehr als tausend Menschen konnten dadurch verhaftet werden; vielleicht aber hatten die Gendarmen sie noch nicht entdeckt? In diesem Falle mußten wir sofort zurückkehren, um die Wohnung zu säubern. Der Zug nach Kiew ging bald ab, und Poletika befahl, einen Wagen zu besorgen, um zur Bahnstation zu fahren.

Bis alles fertig sein konnte, reinigten Stefanowitsch und ich die Revolver, welche durch das Schießen am Morgen nicht ganz intakt waren. Der jüngere Stefanowitsch erzählte, wie die Kiewer Revolutionäre, nachdem sie von dem Vorfall mit dem Schlüssel gehört hatten – in der Stadt war das schnell bekannt geworden –, sich abmühten, unsere Wohnung zu finden. Doch von allen unseren Genossen kannte sie nur Debogory-Mokriewitsch, obwohl auch er weder von der »geheimen Kampfesorganisation« noch davon wußte, daß sich in unserer Wohnung eine Druckerei befand. Diese hatten wir in einem dritten, stets verschlossenen Zimmer eingerichtet, wohin außer uns dreien niemand kam. Mokriewitsch war damals auch nicht in Kiew und wußte übrigens nicht, wohin ich und Stefanowitsch gefahren waren. Viele Tage vergingen, ehe die Genossen erfuhren, wo wir uns aufhielten, dann schickten sie Olymp Stefanowitsch, uns von dem Geschehenen Mitteilung zu machen.

Während Olymp das erzählte, fiel ihm plötzlich ein, daß er, als er abends am Gemeindehaus vorübergefahren war, dort eine große Versammlung von Bauern gesehen habe. Er fragte den Bauern, welcher ihn fuhr, was das wohl zu bedeuten habe. Darauf erhielt er die lakonische Antwort: »Man wird einen verhaften wollen!« Mein Herz erzitterte: »Uns vielleicht?« fuhr es mir durch den Kopf.

Offenbar hat man die Brandstifter gefunden, welche hier den Feuerschaden angerichtet haben, erklärten Stefanowitsch und Poletika die Worte des Fuhrmanns.

Wir hatten die Reinigung der Revolver beendet, aber keine Zeit mehr, sie zu laden: denn, als hätte mir jemand etwas Entsetzliches zugerufen, sprang ich auf, ergriff Stefanowitschs Hand und mit den Worten: »Fliehen wir, fliehen wir,« zog ich ihn zur Tür, welche in den Garten führte. Stefanowitsch, sein Bruder und Poletika konnten sich mein unerwartetes und unbegreifliches Gebaren und den Ausdruck meines Gesichtes absolut nicht erklären. »Was ist mit dir, was hast du denn?« rief Stefanowitsch erstaunt.

»Gehen wir, gehen wir!« rief ich und zog ihn vorwärts. Ich drückte die Türklinke und bemühte mich, sie zu öffnen, aber umsonst. Wir stemmten uns nun beide mit aller Kraft gegen die Tür, das Resultat war dasselbe. Wahrscheinlich drückte man von der anderen Seite dagegen. Ich hatte ganz vergessen, daß mein Revolver nicht geladen war und hob ihn drohend in die Höhe. Da füllte sich das Zimmer durch die zwei anderen Türen, welche ins Wohnzimmer führten, mit einem Haufen Bauern an, die mit dicken Stöcken bewaffnet waren. Als sie uns in einen engen Ring eingeschlossen hatten, erschienen hinter ihnen Polizisten, ein Herr in Zivilkleidung und schließlich Baron Heiking. Als er einen Revolver erblickte, rief er erschreckt aus: »Entwaffnet, entwaffnet ihn!«

Später versuchte ich mir zu erklären, wieso ich die uns drohende Gefahr erraten konnte, während niemand von den anderen sie bemerkte, und zwar aus folgende Art. Die Erzählungen Olymp Stefanowitschs erregten meine Nerven sehr, ganz besonders steigerte sich meine Erregtheit, als ich von der vor dem Gemeindehaus versammelten Volksmenge und der Antwort des Fuhrmanns hörte, daß man einen verhaften wollte. Welche Mühe sich Baron Heiking auch gab, das Haus ohne das geringste Geräusch zu umzingeln, ich hatte dennoch das Trappen der vielen Bauernstiefel vernommen.

Der Baron fürchtete, auf bewaffneten Widerstand zu stoßen, und hatte deshalb so viele Bauern zusammengeholt, weil er dachte, daß wir auf die Leute, deren Interessen wir vertraten, nicht schießen würden.

Man entwaffnete und untersuchte uns alle und brachte uns jeden in ein besonderes Zimmer, wo man uns unter der Bewachung einer großen Anzahl Bauern zurückließ. Dann begannen sie eine Haussuchung vorzunehmen, durchschnüffelten das ganze Haus von oben bis unten, und obwohl Poletika einige verbotene Schriften besaß, fanden sie rein gar nichts.

Das alles dauerte unendlich lange, und mich quälte der Gedanke, wie die Gendarmen es erfahren haben konnten, daß Stefanowitsch und ich uns hier befanden; dies wußte ja nur der junge Stefanowitsch und Bochanowski, und selbstverständlich hatte keiner von ihnen es der Polizei mitgeteilt. Ich ging unruhig von einer Ecke in die andere und zerbrach mir den Kopf über dieses qualvolle Rätsel.

Endlich spät in der Nacht führte man jeden von uns in das Wohnzimmer zum Verhör, wo sich zu diesem Zwecke Baron Heiking und der Gehilfe des Staatsanwalts niedergelassen hatten. Bei der Durchsuchung hatte man mir einen falschen Paß, welcher auf den Namen des Edelmanns des Taurischen Gouvernements, Eugen Alexandrowitsch Sonin, ausgestellt war, abgenommen. Auf die Frage, wer ich sei, nannte ich diesen Namen. Darauf fragte mich der Gehilfe des Staatsanwalts, ob ich den gewesenen Studenten der Kiewer Universität Malawski kenne? Auf meine verneinende Antwort rief Baron Heiking aus: »Nun, aber Bochanowski kennen Sie wohl?«

»Nein, ich kenne ihn nicht.«

»Aber wir haben einen Brief an Sie von ihm.«

Eine unbeschreibliche Freude ergriff mich bei dieser Bemerkung des Baron Heiking, denn jetzt verstand ich, auf welche Weise die Polizei unseren Aufenthalt entdeckt hatte. Ich nahm an, daß hierbei ein ganz einfacher Zufall die Rolle spielte. Wahrscheinlich fand man bei Bochanowski, als man ihn verhaftete, einen an uns adressierten Brief. Bei diesem Gedanken wurde mir so leicht, als ob man eine große Last von mir genommen hätte. Später jedoch erwies sich meine Voraussetzung als nicht ganz zutreffend.

Lange nach Mitternacht brachte man mich unter der Bedeckung zahlreicher Bauern in eine Hütte zum Übernachten. Infolge der vielen Aufregungen des Tages konnte ich lange nicht einschlafen, ebensowenig schliefen die mich bewachenden Bauern, da sie wohl fürchteten, ich könnte entfliehen. In jener Zeit gab es nur wenige Ortschaften, wo die Bauern sich eine Vorstellung von politischen Verbrechern machen konnten und dann nur eine sehr unklare. In den meisten Fällen verbreitete die Polizei, wenn Sozialisten verhaftet wurden, die bösartigsten Verleumdungen, wie zum Beispiel, sie seien Pferdediebe, Falschmünzer usw. Ich wollte gerne deshalb erfahren, wie die mich bewachenden Bauern die Inhaftnahme des ihnen bekannten Gutsbesitzers und seiner Gäste erklärten, und fragte, ob sie den Grund der Verhaftung wüßten.

»Den wissen wir,« antworteten einige von ihnen.

»Wahrscheinlich denkt ihr, wir haben falsches Geld gemacht, weil man das ganze Haus durchwühlt hat?« fragte ich.

»O nein, nicht deswegen!« sagte einer von ihnen, welcher die Rolle eines Älteren zu spielen schien und, wie sich bald zeigte, der Klügste und Entwickeltste von allen war.

»Nun, warum denn?« drang ich weiter.

»Wegen verbotener Bücher!« rief derselbe Bauer aus, und aus seiner Stimme klang ein mitfühlender Ton. Mich erfreute das außerordentlich.

»Was sind denn das für Bücher, wegen denen man verhaftet wird?« fragte ich, vollständig überzeugt, keine oder nur eine unbestimmte verworrene Antwort zu erhalten. Meine Überraschung und Freude kann man sich leicht denken, als derselbe Bauer mir nicht nur die verbreitetsten und zugleich volkstümlichsten Bücher, wie: »Das Märchen von den vier Brüdern«, »Die schlau erdachte Mechanik«, »Geschichten eines Bauern« nannte, sondern auf meine weiteren Fragen antwortete, daß er sie selbst gelesen hätte und wisse, wovon dort die Rede wäre. Mein Interesse und meine Sympathie für diesen Bauern wuchs immer mehr. Als junger, exzentrischer Revolutionär, der ich damals war, sah ich in ihm einen Gesinnungsgenossen und wollte ihm gerne freundschaftlich die Hand reichen. Ich bat ihn dann, mir zu erzählen, wie er zu diesen Büchern gekommen wäre.

»Folgendermaßen«, fing er anscheinend sehr bereitwillig an. »Einmal kam ein Nachbar zu mir, Namen und Familie habe ich vergessen, und erzählte, daß im Dorfe Dmitrowna, drei Werst von hier, wo auch eine große Schnapsbrennerei ist, sich bei einem bekannten Bauern mehrere Leute versammelten und ein fremder Fabrikarbeiter angefangen hätte, von allen Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen der armen Leute zu erzählen; dann habe er aus solchen Büchern gelesen, in welchen auch davon die Rede war, und dies habe allen sehr gut gefallen. Der Fabrikarbeiter habe jedem, der lesen konnte, die Bücher umsonst gegeben; mein Nachbar war schriftkundig. Ich bat ihn nun, noch einmal nach Dmitrowna zu gehen, um mir auch eins zu holen; er brachte es mir, und kaum hatte ich es durchgelesen, sah ich, daß das etwas Ungesetzliches war. Sehen Sie nun, was ich mir dann ausdachte.«

Bei diesen Worten nahm das Gesicht des Erzählers einen Ausdruck an, wie man ihn bei Leuten oft findet, die einen von ihnen schlau ausgeführten Streich erzählen. Die anwesenden Bauern und ich hörten mit großer Aufmerksamkeit zu.

»Ich erfuhr von meinem Nachbarn, wie ich in Dmitrowna diesen Fabrikarbeiter finden konnte,« fuhr der Erzähler fort, »ging dorthin und machte mich mit ihm bekannt. Das war ein magerer Mann, der ganz und gar nicht einfach aussah. Ich sprach mit ihm über die Bücher, bat ihn, auch mir einige zu geben, und er war dazu bereit. Wir verabredeten, uns zu treffen. Dann verabschiedete ich mich und ging sofort zum Stanowoi (höherer Landpolizist). Ich erzählte ihm alles Wort für Wort und zeigte ihm die Bücher.«

Ich lag auf einer Bank, die sich längs der Wand hinzog, und beobachtete den Gesichtsausdruck dieses Bauern. Ein selbstgefälliges Lächeln schwand nicht aus seinen Zügen. Das Ende der Geschichte war für mich so überraschend, daß es mich nicht einmal empörte; ich fragte nur, was weiter kam, obwohl das Ende leicht begreiflich war: der Stanowoi kam an die bezeichnete Stelle und arretierte den unglücklichen Propagandisten mit allem Beweismaterial. Für diesen Verrat erhielt der Bauer einige Rubel.

Ich legte mich mit dem Gesicht gegen die Wand und blieb bis zum Morgen wach.

*

Erst am Mittag brachte man uns alle in einem Schnellzug nach Kiew mit einer starken Bewachungsmannschaft, welche aus mehreren Gendarmen, Polizeigehilfen und dem Stanowoi-Pristaw (Landkommissär) bestand. Baron Heiking, welcher in einem anderen Waggon Platz genommen hatte, kam oft zu uns herüber und begann lange Gespräche über alles mögliche; er teilte uns hauptsächlich Neues aus dem Leben der Emigranten, Verbannten und Gefangenen mit, so zum Beispiel, wer sich verheiratet hatte, wem ein Kind geboren worden war usw. Obwohl nach den anderthalb Jahren, die seit meiner Begegnung mit dem Baron Heiking in Kiew verflossen, meine Gesichtszüge gereifter geworden waren, hatte ich mich doch nicht so viel verändert, daß er mich nicht hätte erkennen können. Ich bemühte mich deshalb, viel einsilbiger zu sein als bei dem Verhör in dem Hause Poletikas.

Dank dieser Vorsicht erkannte mich Baron Heiking nicht.

Nach 24 Stunden kamen wir in Kiew an, wo man uns in verschiedene Polizeireviere einquartierte. Ich kam in das mir gut bekannte Podoler Revier. Am nächsten Morgen wurde ich in die Kanzlei gebracht und viele Stunden lang vollständig zwecklos, wie es mir schien, in einem Durchgangszimmer aufgehalten. Später stellte sich heraus, daß man mich auf diese Weise verschiedenen Leuten zeigte, um meine Person festzustellen. Erst einige Tage später führte man mich wieder in die Kanzlei, und zwar zum Verhör. Am Tische saßen Baron Heiking und zwei Staatsanwaltsgehilfen, Kotljarewski und Wassiljew. Das Verhör begann mit der Erklärung, daß in der von mir beim vorigen Verhör angegebenen Straße sich meine Wohnung nicht befinde: das war ganz natürlich, weil ich eine vollständig aus der Luft gegriffene Adresse angegeben hatte. Ich bestand aber darauf, daß ich gerade dort wohnte, und wollte es auch beweisen unter der Bedingung, daß man mich dorthin brächte: ich hegte dabei die Hoffnung, daß es mir gelingen würde, in der mir gut bekannten Stadt während dieses Ganges der Wache zu entschlüpfen. Kotljarewski, welcher hier wohl in allem den Ton angab, erklärte sich damit einverstanden und bemerkte dazu, da mich von allen Zeugen, welchen ich gezeigt worden war, keiner erkannte, man mich entlassen würde, sobald ich wirklich beweisen könnte, daß ich derjenige sei, für den ich mich ausgab. Einen Augenblick blitzte in mir die Hoffnung auf, unerkannt zu bleiben. Unterdessen schwieg Baron Heiking ganz gegen seine Gewohnheit eine Weile still und richtete die Frage an mich: »Haben Sie keine Verwandten in Kiew?« Ich antwortete ihm verneinend und wandte mich zu Kotljarewski, welcher mich über meine Familien- und Vermögensverhältnisse ausfragte. Nach einigen Minuten unterbrach Baron Heiking das Verhör wieder und fragte mich: »Haben Sie nicht schon einmal in Podol gewohnt?« Ich verneinte wieder und merkte deutlich, daß Baron Heiking allmählich anfing, sich zu erinnern, wer ich war.

»Wieviel Deßjätinen Land hat das Gut Ihres Vaters?« fragte Kotljarewski, denn er hielt mich für den Sohn eines Gutsbesitzers.

Ich wollte eben aufzählen, wieviel Ackerland, Wald usw. »unser« Gut haben sollte, als Baron Heiking ausrief: »Sie sind Deutsch! Wir haben uns schon zweimal gesehen!« Und er sagte auch wo und wann.

Ich bestritt es aufs entschiedenste.

»Nun, wir werden ja gleich sehen!« sagte Heiking und klingelte. Dem eintretenden Pristaw befahl er, nach einem Verwandten von mir, der denselben Familiennamen führte, zu schicken. Ich wußte, daß in Gegenwart der Behörde dieser Verwandte die Behauptung Baron Heikings bestätigen würde, und gestand, wer ich in Wirklichkeit war. Darauf erhoben sich Baron Heiking und Kotljarewski wie auf Kommando von ihren Plätzen, und in ihren Gesichtern malte sich eine grenzenlose Freude, so daß ich folgende Bemerkung nicht zurückzuhalten vermochte: »Wie erfreut Sie sind! Sie malen sich schon höheren Rang und Orden aus, die Sie für Ihre Heldentaten erhalten werden!« Diese Worte verwirrten sie anscheinend, sie setzten sich wieder und bewiesen mir, daß man ihre Verdienste um Thron und Vaterland gar nicht so freigebig belohne.

»Vierzehn Jahre bin ich schon im Dienste und doch erst Rittmeister,« sagte der Baron.

Ich weiß nicht mehr, wieviel Jahre Kotljarewski aufzählte und sich beklagte, daß er erst Staatsanwaltsgehilfe sei. Wassiljew saß die ganze Zeit schweigend mit aufgestützten Ellenbogen am Tische.

Die Aufregung des Barons ließ nicht nach, denn nur so kann man sich erklären, daß er dem Pristaw befahl, mich sofort zu visitieren, was dieser gleich an Ort und Stelle ausführte, obwohl ich als isolierter Arrestant keine todbringende Waffe bei mir haben konnte.

»Ein fixer Kerl, der Baron«, meinte unter anderem Kotljarewski, da Baron Heiking mich so geschickt überführt hatte. Der Baron fühlte sich als Held des Tages. Er saß freudestrahlend im Sessel und rieb sich die Hände. Als Kotljarewski mich dann noch fragte, welche Rolle ich bei dem Attentat auf Gorinowitsch Siehe Deutsch, »Sechzehn Jahre in Sibirien«, S. 8 bis 10. gespielt hatte, weshalb man mich auch seit dem Herbst 1876 suchte, gestand ich nach früher schon gefaßtem Beschluß meine Beteiligung daran ein. Dieses Geständnis rief unter ihnen erneute Freude hervor, der sie aber nicht so unverhohlen Ausdruck gaben wie das erstemal. Sie nahmen sofort ein Protokoll, welches auch der anwesende Pristaw unterschreiben mußte, darüber auf. Das machte auf mich den Eindruck, als ob sie befürchtet hätten, ich könnte nachher meine Aussage wieder bestreiten.

Am anderen Tage überführte man mich ins Gefängnis.

*

Dort saßen schon Malawski und Bochanowski. Stefanowitsch brachte man zwei bis drei Tage später als mich. Im Gefängnis erfuhr ich erst die wirkliche Ursache der Verhaftung Malawskis, die, wie bekannt, auch zur Inhaftierung von Bochanowski und uns vieren geführt hatte.

Ich habe schon oben erzählt, daß die von uns gegründete Organisation sich schnell unter den Bauern des Tschigiriner Kreises verbreitete; aber für die lokalen Behörden konnte diese nicht lange unbemerkt bleiben. In vielen Gemeindebezirken dieses Kreises waren die Bauern in zwei feindliche Lager geteilt: in »Aktowiki«, das heißt in solche, die mit der Landesteilung einverstanden waren und sich in die Akten der Vermessungsbeamten unterschrieben hatten, und in »Duschewiki«, das heißt in jene, die eine abermalige Teilung des Landes »nach Seelen«, das heißt Gemeindebesitz, wollten. In die geheime Kampfesorganisation »Druschina« nahm man aber nur die Letztgenannten auf, die vor ihren Gegnern streng das Bestehen dieser Organisation verheimlichten. Aber die »Aktowiki«, welche die »Duschewiki« aufs genaueste beobachteten, merkten sehr bald, daß seit dem Frühjahr irgend etwas vorbereitet wurde, sie fanden, daß diese in seltsamer Erregung waren, und entdeckten unter anderem manche geheime Zusammenkunft.

Die Behörden und die Geistlichen erfuhren auch bald davon und nahmen Verhaftungen und Haussuchungen vor, die aber zu keiner Entdeckung führten. Dennoch gelangte die Obrigkeit mehr und mehr zu der Überzeugung, daß unter den Bauern etwas Ernstes im Gange war. Es verbreiteten sich Gerüchte, sie hätten viele Stoß- und Schußwaffen sich verschafft. Einige Bauern, welche man bei den Haussuchungen nicht festgenommen hatte, konnte man später nicht mehr finden, da sie schon illegal lebten. Lange strengte sich die Obrigkeit aufs äußerste an, eine Spur der Verschwörung zu entdecken, bis es ihr in den letzten Tagen des August schließlich auch gelang.

Vor unserer Abreise zu Poletika hatten Stefanowitsch und Bochanowski, ich war damals nicht in Kiew, eine Zusammenkunft mit den »Älteren« der geheimen Kampfesorganisationen. Als Versammlungsort diente die Küche in der Wohnung Malawskis. Dieser letztere war in unser Vorhaben gar nicht eingeweiht, aber er überließ Stefanowitsch gerne einen Teil seiner Wohnung für kurze Zeit und betrachtete dies als einfachen Freundschaftsdienst. Stefanowitsch sagte ihm, daß eine sehr wichtige Zusammenkunft stattfinde und daher für ihn als Hausherrn sehr unangenehme Folgen haben könne. Malawski antwortete ihm, daß er in den nächsten Tagen ohnehin die Wohnung wechseln werde.

Als die Besprechung zu Ende war, kehrte auf dem Heimweg einer der mitanwesenden Bauern mit Namen Prichodka in ein Wirtshaus in einem Dorfe des Tschigiriner Kreises ein.

Dem von der Obrigkeit bestochenen Wirte gelang es, von dem angeheiterten Bauern zu erfahren, daß er zur »geheimen Kampfesorganisation« gehöre. Der Wirt drückte nicht nur seine Sympathie für diese Organisation aus, sondern erklärte sich sogar bereit, in die Organisation einzutreten, und brachte Prichodka dazu, ihm das Ziel der »geheimen Organisation« zu erklären. Er leistete dann den bestimmten Schwur und erhielt dafür ein Exemplar unserer Statuten. Mit diesem wichtigen Dokument begab sich der Verräter zur Behörde. Man kann sich leicht vorstellen, welche Freude, aber auch welches Entsetzen die Machthaber ergriff, als sie aus dem Statut ersahen, was für Ziele die Verschwörung der Bauern verfolgte. Der unglückliche Prichodka wurde natürlich sofort verhaftet, und da man ihm mit schweren Strafen drohte, beichtete er alles. Er gab viele Mitglieder der »geheimen Kampfesorganisation« an, welche man sofort verhaftete und zum Teil im dortigen, zum Teil im Kiewer Gefängnis einkerkerte.

Prichodka gab auch die Wohnung an, in der er mit den zwei »Kommissären« zusammengetroffen war, – natürlich führten Stefanowitsch und Bochanowski im Umgang mit den Bauern andere Namen.

Zum Unglück fügte es sich so, daß Malawski an dem bestimmten Tage nicht auszog; als dann die Gendarmen erschienen, fanden sie nicht nur ihn, sondern auch noch ein bekanntes junges Mädchen bei ihm vor. Sie wurden natürlich beide verhaftet. Bochanowski, der von allem nichts ahnte, fiel als erster in den Hinterhalt. Wie wir schon wissen, versuchte er zuerst den Schlüssel unserer gemeinsamen Wohnung wegzuwerfen; da ihm dies aber nicht gelang, überlegte er, auf welche Weise er uns beide von seiner Verhaftung benachrichtigen könnte. Im Polizeirevier, wohin man ihn zuerst brachte, wurde er mit einem Kriminalverbrecher bekannt, dem seine Mutter das Essen brachte. Mit Hilfe dieser Frau wollte Bochanowski einen Brief an uns absenden; der Arrestant übergab ihn seiner Mutter, die ihn in einen Briefkasten werfen sollte. Wie die Gendarmen diesen Brief später abgefangen hatten, das konnte Bochanowski nicht genau feststellen.

Als er von mir erfuhr, daß man uns vier infolge seiner Nachlässigkeit verhaftet hatte, war er ganz verzweifelt. Ich hatte Mühe, ihn zu trösten. Im Gefängnis erfuhr ich, daß unsere Wohnung, obwohl sie von der Polizei sehr energisch gesucht wurde, noch immer nicht gefunden war. Infolgedessen waren wir beständig sehr beunruhigt und fürchteten, jeden Augenblick könnte sie gefunden und viele Personen verhaftet werden. Bald gelang es uns, eine regelrechte Korrespondenz zwischen uns und den Genossen, die sich in Freiheit befanden, herzustellen, was dann unsere ungewisse Lage etwas erleichterte. Unsere Briefe besorgten wir mit Hilfe des Gefängniswärters, den wir »Taube« nannten.

Daß unsere Wohnung noch nicht entdeckt war, erfuhren wir sowohl von unseren Genossen als auch durch Kotljarewski und Heiking, welche sich bei jedem Verhör die größte Mühe gaben, von uns herauszubekommen, wo sie sich befände. Dennoch war das keine große Beruhigung für uns, da die Polizei mit dem Schlüssel von einem Hause ins andere ging und schließlich doch dorthin kommen mußte. Es war daher unbedingt notwendig, schnell eine geeignete Maßregel zur Säuberung der Wohnung zu treffen. Wie wir später erfuhren, hatten sich unsere Kameraden bereits bemüht, der Polizei zuvorzukommen, und unter anderem zu folgendem Mittel gegriffen.

Einige von ihnen – Kolodkewitsch und Scheffer –, welche früher im Gefängnis zu Kiew gesessen hatten, machten in der Zeit ihrer Gefangenschaft unter den Kriminalverbrechern Propaganda für die Lehre des Sozialismus. Unter diesen befanden sich einige, deren Strafzeit bald darauf abgelaufen war und die daher entlassen wurden. Als die Genossen von uns erfuhren, wo sich unsere Wohnung befand, suchten sie ihre ehemaligen Schüler auf und beauftragten sie, da sie doch wohl in solchen Dingen erfahren waren, für die Säuberung unserer Wohnung zu sorgen. Diese gingen sofort darauf ein und griffen zu einem entsetzlichen Plan. In tiefer Nacht, als alles schlief, zündeten sie eine Scheune im Hofe der Wohnung an und hofften, daß das ganze Haus in Flammen aufgehen würde; daß es dabei auch Opfer geben könnte, kümmerte sie nicht weiter. Glücklicherweise kam die Feuerwehr noch zeitig genug, um den Brand zu ersticken; unsere Wohnung blieb natürlich unbeschädigt. Daraufhin machten dieselben Personen einen anderen tollkühnen Versuch: sie beschlossen, einfach alles dort Befindliche zu stehlen. Sie bewaffneten sich mit den dazu nötigen Werkzeugen, und einem von ihnen wäre es beinahe gelungen, durch ein Fenster in eines der Zimmer einzudringen, als sein Komplice eine Nachtpatrouille bemerkte und das verabredete Warnungszeichen gab. Sie liefen davon, aber der Polizei gelang es, einen von ihnen zu verhaften. Zwar blieb auch diesmal unsere Wohnung unentdeckt, aber immerhin war sie nicht von den kompromittierenden Sachen gesäubert.

Diese beiden Versuche hatten noch vor meiner und Stefanowitschs Überführung ins Gefängnis stattgefunden.

Wir verfielen nun auf einen Plan, der mehr Erfolg versprach. Wir rieten den Genossen, einen Abdruck vom Türschloß zu nehmen und einen Schlüssel danach anfertigen zu lassen; dann sollten zwei Herren und eine Dame von der Eisenbahnstation in einer Droschke nach der Wohnung fahren und dem Hausherrn erklären, daß sie die Geschwister des abwesenden Bochanowski seien. Die Wohnung war natürlich auf einen von Bochanowski angenommenen Namen gemietet worden. Darauf sollte die Schwester sagen, daß ihr Bruder noch bei ihr zu Hause in Krementschug geblieben wäre, sie aber hierher gekommen sei, um sich bei einem Kiewer Spezialarzt zu kurieren; ihr Bruder hätte ihr gestattet, während ihres Aufenthaltes seine Wohnung zu benutzen. So konnten diese Personen leicht alles Verdächtige in der Wohnung beseitigen.

Lange Zeit blieben wir in vollständiger Ungewißheit, ob der Plan gelungen war oder nicht, und waren daher in beständiger Aufregung. Eines Tages wurde ich plötzlich in die Kanzlei gerufen; dort erklärten mir Baron Heiking und Kotljarewski feierlich, daß unsere Wohnung »endlich« entdeckt sei. Zum Beweis sagten sie mir, wo sie sich befand, und zeigten mir ein Stück Papier, welches von mir beschrieben war, und einige Drucktypen.

»Wie Sie sehen,« sagte Kotljarewski, »wissen wir, daß sich in ihrer Wohnung eine Buchdruckerei befand, mit der Sie das gefälschte ›Manuskript‹ und die Statuten der ›geheimen Kampfesorganisation‹ gedruckt haben. Nun werden Sie, meine ich, sich nicht mehr weigern, Angaben über Ihre Wohnung zu machen.«

Die Nachricht betrübte mich tief, obwohl wir mit der Möglichkeit gerechnet hatten, die Polizei könne unseren Genossen zuvorkommen; dann schwand damit die letzte Hoffnung, viele Menschen vor dem Gefängnis zu bewahren. Ich lehnte es ab, weitere Aussagen zu machen, und rief aus: »Wenn Sie wissen, was in unserer Wohnung vorging, desto besser für Sie.«

»Ah so: man hat Sie schon benachrichtigt,« bemerkte er.

»Freuen Sie sich nur über Ihre reiche Beute,« sagte ich, in höhnisches Lachen ausbrechend. »Wirklich, reiche Ernte haben Sie gehalten, ein elendes Stückchen Papier, das Sie im Klosett gefunden, und ein paar zerbrochene Bleibuchstaben.«

»Aber woher haben Sie denn das alles schon erfahren?« fragte Kotljarewski verwundert. »Das ist mir vollständig unverständlich. Es sind ja erst einige Stunden vergangen, seitdem Ihre Kameraden die Wohnung gesäubert haben. Der Baron und ich kamen einige Augenblicke später, als Ihre Genossen die Wohnung schon verlassen hatten, und von dort fuhren wir sofort hierher. Merkwürdig! Das Fenster Ihrer Zelle geht sicher auf die Straße, und man hat Sie wahrscheinlich durch Signale von allem benachrichtigt.«

Der schlaue und außerordentlich überlegende Staatsanwaltsgehilfe hatte diesmal einen dummen Streich gemacht. Er dachte nicht daran, daß er selbst sein Geheimnis verraten und daß ich aus seinen Worten erfahren hatte, daß die Wohnung gesäubert sei; daraus konnte ich mir auch erklären, wie Heiking und Kotljarewski zu ihrer Beute gekommen waren.

Als ich in die Zelle zurückkam, war die Freude aller Genossen grenzenlos. Doch leider frohlockten wir zu früh: am nächsten Tage füllte sich das Gefängnis mit neuen Ankömmlingen, die alle verdächtig waren, an der Säuberung der Wohnung teilgenommen zu haben. Wir erfuhren von ihnen folgende Vorgänge. Die Genossen führten den von uns vorgeschlagenen Plan genau aus, und er gelang auch vollständig. Die »Schwester« Bochanowskis war eine Genossin Julia Krjukowskaja, ihr Mann ein Genosse von uns, den die Polizei nicht ausfindig machen konnte. Als sie gekommen, glaubten die Hausleute ihrer Erzählung und ließen sie in die Wohnung ein. Da sie jede Stunde die Ankunft der Polizei erwarteten, machten sie sich schnell an die »Säuberung«. Sehr bald kamen mehrere Personen zu »Besuch« und nahmen sämtliche bedenkliche Dinge mit fort; die schwereren Teile der Druckpresse brachten sie in einer Droschke weg. Dann verschwand auch das »Ehepaar«, ohne dem Hauswirt etwas mitzuteilen. Gleich darauf erschien ein Geheimpolizist und erkundigte sich, ob nicht Einwohner dieses Hauses ihre Wohnung verschlossen hätten und spurlos verschwunden seien. Die Hausleute erklärten, daß eine Wohnung ihnen verdächtig scheine, denn die Bewohner seien schon lange Zeit nicht mehr zurückgekommen und in ihrer Abwesenheit hätten sich sonderbare Dinge zugetragen. Als sie ihm dann die Tür zeigten und er den Schlüssel probierte, merkte er sofort, daß dies die lang gesuchte Wohnung war. Er teilte seine Entdeckung sofort der Gendarmerieverwaltung mit, und Baron Heiking und Kotljarewski eilten in die Wohnung, wo sie zu ihrem großen Bedauern feststellen mußten, daß die Revolutionäre ihnen zuvorgekommen waren. Baron Heiking vermutete, daß an der Säuberung unserer Wohnung wohl die Personen Anteil genommen hätten, welche in Kiew unter Polizeiaufsicht lebten. Solche gab es 15 bis 20. Man rief sie alle in die Gendarmerieverwaltung und stellte sie den Hausleuten unserer Wohnung vor. Diese erkannten in Julia Krjukowskaja die Dame wieder, die sich für Bochanowskis Schwester ausgegeben hatte; Scheffer hielten sie irrtümlich für deren »Mann« und in den drei anderen vermuteten sie die Gäste. Alle wurden verhaftet.

*

In der ersten Zeit mußten Stefanowitsch und ich ein sehr schweres Regime ertragen. Vor unseren Zellen wurden Wachtposten mit geladenem Gewehr aufgestellt, welche den Befehl hatten, niemand außer Personen der Gefängnisverwaltung zu uns zu lassen, man gestattete uns nicht die üblichen Spaziergänge im Gefängnishof, und das Guckloch im Fenster wurde zugenagelt, damit wir uns mit den anderen Gefangenen nicht unterhalten konnten. Wir begannen gegen diese Anordnung sofort einen energischen Kampf zu führen. Die Gucklöcher im Fenster schlugen wir einfach durch, setzten uns aufs Fensterbrett und unterhielten uns, trotz des strengen Verbots, soviel wir wollten. Die Gefängnisverwaltung wußte, daß uns eine schwere Bestrafung bevorstand, und da sie uns für unverbesserliche Menschen, die zu allem fähig waren, hielt, milderte sie nach und nach ihr strenges Regime. Wir erwarben uns mit der Zeit Privilegien, die nie jemand vor uns im Gefängnis zu Kiew hatte. Morgens, wenn es kaum tagte, öffnete der Wächter geräuschvoll meine Zelle und nahm die kleine Petroleumlampe weg. Dadurch erwachte ich stets und konnte nicht mehr einschlafen; da ich gewöhnlich sehr spät schlafen ging, fühlte ich mich infolge Mangels an Schlaf vollständig zerschlagen: meine Nerven, welche schon an und für sich durch diese Gefängnishaft abgespannt waren, wurden immer mehr zerrüttet. Einigemal bat ich den Wächter freundlich, die Lampe später zu holen, und setzte ihm ruhig auseinander, weshalb das für mich notwendig sei. Doch es nützte nichts; er weckte mich, vielleicht aus Nachlässigkeit, vielleicht auch aus Vergeßlichkeit wie gewöhnlich vor Tagesanbruch; als er eines Tages wieder zu so früher Stunde in die Zelle trat, sprang ich wütend von meiner Pritsche auf und stieß ihn hinaus.

Der Gefängnisinspektor war damals ein Hauptmann a. D. Kowalski; im Grunde genommen war er kein böser Mensch, er gab sich nur gern ein strenges Aussehen und hatte die Überzeugung, daß die Arrestanten ihn liebten und dabei fürchteten; deshalb wagte er sich ohne jede Bewachung in die Zellen selbst des schwersten Zuchthäuslers.

Der von mir beleidigte Wächter beklagte sich natürlich über mich. Nach kurzer Zeit erschien der Gefängnisinspektor und fragte mich mit strenger Miene: »Was erlauben Sie sich eigentlich?«

Ich kann nicht erklären, was damals in mir vorging. Ich weiß nur, daß mir vor den Augen dunkel wurde und daß ich mich mit geballten Fäusten auf ihn stürzte und schrie: »Wissen Sie, mit wem Sie es zu tun haben?«

Hätte er noch irgend eine Beleidigung gesagt, so wäre meine Zelle sicher der Schauplatz eines sehr traurigen Vorganges geworden. Der erfahrene Gefängnisinspektor kreuzte ruhig die Arme über die Brust, schritt auf mich zu und sagte in beruhigendem Tone: »Ich weiß es, daß Sie Leo Deutsch sind, nun schlagen Sie mich alten Mann.«

Meine Erregung verflog sofort, ich fühlte Mitleid mit ihm und antwortete:

»Ich will Sie nicht schlagen, nur beleidigen Sie mich nicht.«

Die Folge dieses Auftritts war, daß er mir versprach, dafür zu sorgen, daß man mich in Zukunft nicht mehr so früh wecken sollte, und wir schieden friedlich. Ich blieb noch acht Monate in diesem Gefängnis und hatte nie mehr einen Zusammenstoß mit ihm. Bald wurden auch meine Beziehungen zum Wächter die besten. Einen ähnlichen Vorfall hatte ich noch mit dem Gehilfen des Gefängnisinspektors. Dieser nahm beim Eintritt in die Zelle nie die Mütze ab. Ich machte ihn auf diese Unhöflichkeit aufmerksam und drohte, ihm das nächstemal die Mütze herunterzureißen. Meine Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht, denn von nun an lüftete er bei jedesmaligem Eintritt zuvorkommend seine Mütze. Durch solche Vorgänge gewöhnten wir die Gefängnisbeamten an Höflichkeit und hielten sie gleichzeitig in Respekt vor uns, was, wie sich später herausstellte, sehr vorteilhaft für uns war.

*

Schon am ersten Tage unserer Verhaftung begann ich an die Flucht zu denken. Als wir nach unserer Verhaftung in Kiew ankamen und auf dem Bahnhof warten mußten, bis die Behörden bestimmt hatten, in welches Polizeirevier jeder von uns kommen sollte, erwogen Stefanowitsch und ich, ob es wohl möglich wäre, von hier zu fliehen. Jeder von uns riet dem anderen, sein Glück zu versuchen, doch da wir sehr ermüdet waren und keiner von uns ohne den anderen einen Fluchtversuch machen wollte, so ließen wir davon ab. Doch der Gedanke an die Flucht verließ uns keinen Augenblick, und wir beschäftigen uns einige Wochen nach unserer Überführung ins Gefängnis ernster mit diesem Plan, denn wir wußten wohl, daß wir uns durch nichts anderes als die Flucht befreien konnten.

Kotljarewski teilte uns eines Tages mit, der Generalgouverneur dränge darauf, daß unsere Sache dem Kriegsgericht übergeben werde, was für Stefanowitsch, Bochanowski und mich die Todesstrafe bedeutete. Obwohl wir damals noch keinen bestimmten Fluchtplan hatten, machte diese Nachricht auf mich nicht den geringsten Eindruck. Ich verhielt mich deshalb so gleichgültig, weil ich den sofortigen Tod dem Leben in der Zwangsarbeit vorzog. Ein unbestimmtes Gefühl sagte mir gleichsam, daß ich weder den Tod noch die Zwangsarbeit zu fürchten hätte. Wir hofften auch nicht auf Amnestie, obwohl man in jener Zeit sehr viel von einer Verfassung sprach.

Der intelligente Teil unserer Gesellschaft schien es vollständig folgerichtig zu finden, daß die russische Regierung, welche hunderttausend junge Menschenleben geopfert hatte, um die Slawen vom türkischen Joche zu befreien und bei ihnen eine Verfassung einzuführen, nun auch bei uns die Reformen der sechziger Jahre durch eine Verfassung vollenden würde. Wir Buntari aber verhielten uns vollständig ablehnend einer Verfassung und einem Parlament gegenüber, weil wir glaubten, daß durch die Einführung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung die Lage der arbeitenden Klassen sich noch mehr verschlechtern würde.

Nachdem Stefanowitsch, Bochanowski und ich uns genau mit dem Gefängnis bekannt gemacht hatten, kamen wir zu der Überzeugung, daß es nur mit Hilfe unseres Wächters möglich wäre, zu entfliehen. Aber wie sollte man einen solchen Wächter bekommen? Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, kam Bochanowski zuerst auf den Gedanken, einer von unseren Kameraden solle sich um eine Stelle als Wächter in unserem Gefängnis bewerben, selbstverständlich mit Hilfe des falschen Passes eines Reservisten, denn als Wächter wurden nur solche, die beim Militär gedient hatten, angenommen. Wir teilten diesen Plan unseren Genossen mit und schlugen ihnen unseren Freund Michael Frolenko, der nach unserer Ansicht der passendste dazu war, vor. Er zeichnete sich durch einen ungewöhnlich ruhigen, gleichmäßigen Charakter aus und war ein sehr energischer und ausdauernder Mensch von solidem Äußern.

Bald erfuhren wir, daß unsere Genossen sich auch mit dem Gedanken an unsere Befreiung beschäftigten. Die Initiative hierzu ergriffen unsere Freundinnen Wera Sassulitsch und Marie Kolenkina, welche sich zur Zeit unserer Verhaftung in Petersburg aufhielten. Sie bewegten Walerian Ossinski, zur Organisation der Flucht nach Kiew zu fahren, und sorgten auch für die materiellen Mittel.

Eine bessere Wahl hatten sie nicht treffen können, denn Ossinski nahm sich der Sache mit seiner ganzen Energie und Beharrlichkeit an.

Als wir aus einem Briefe von seiner Ankunft in Kiew hörten, waren wir sehr erfreut, und trotzdem wir zu jener Zeit noch keinen bestimmten Plan hatten, glaubten wir unser Vorhaben doch schon gesichert. Die Sache war jedoch, wie sich später herausstellte, nicht so einfach.

Vor allen Dingen war es trotz aller Mühe, welche sich Ossinski und die anderen gaben, sehr schwer, einen Paß eines früheren Militärs zu bekommen. Mit eifrigem Nachsuchen vergingen viele Wochen, und schließlich beschlossen wir, daß Frolenko, der seine Einwilligung zu dieser Rolle gegeben hatte, mit einem gewöhnlichen Passe es versuchen sollte, eine solche Stelle zu erlangen.

Es war ja gerade die Zeit des russisch-türkischen Krieges, wo viele Reservisten zum Dienste einberufen wurden. Aus dem Gefängnis wurden deshalb auch einige Reservisten entlassen, und man konnte hoffen, mit einem gewöhnlichen Passe eine freigewordene Stelle zu erhalten. Wir brachten in Erfahrung, daß die Annahme der neuen Angestellten von dem älteren Beschließer Maltschenko, der die Haushaltung führte, abhing. Man mußte sich deshalb an ihn wenden und versuchen, ihn durch Branntwein, Tee und Zucker zu bestechen. Wir teilten dies Ossinski mit und erfuhren darauf zu unserem größten Bedauern von ihm, daß Frolenko plötzlich nach Petersburg abgereist sei.

Das Leben im Gefängnis ging unterdessen seinen gewöhnlichen Gang. Wir standen ziemlich spät auf, beschäftigten uns am Tage mit allerlei Dingen; abends nach der Kontrolle setzten wir uns auf die Fensterbretter und unterhielten uns laut durch die Gucklöcher. Im Hofe war es in diesen Stunden so geräuschvoll, daß man sich nur mit Mühe verständigen konnte.

An einem solchen Abend, als wir wieder wie gewöhnlich auf unseren Fensterbrettern saßen, sprachen Kolodkewitsch, Kibaltschitsch, Malawski, Bochanowski und ich davon, was wir anfangen würden, wenn wir plötzlich freigelassen würden. Unsere Absicht, aus dem Gefängnis zu entfliehen, war noch weit von der Verwirklichung entfernt, und mit Bestimmtheit konnte man auch nicht auf gutes Gelingen rechnen. Wenn man bedenkt, daß uns, den Beteiligten am Tschigiriner Prozeß, die Todesstrafe, im besten Falle lebenslängliche Zwangsarbeit drohte, ist es wohl einleuchtend, daß unsere Unterhaltung im gewissen Sinne für uns sehr anziehend und interessant war.

Jeder Verhaftete ist überzeugt, daß er, wenn er wieder in Freiheit käme, es klüger anfangen würde, um nicht wieder in die Hände der Häscher zu geraten.

»Aber nein, so einfältig wäre ich nicht noch einmal, dies und jenes würde ich nicht mehr tun,« sagen mit Selbstbewußtsein die Gefangenen, was aber nicht verhindert, daß sie solche oder ähnliche Fehler begehen, sobald sie auf irgend welche Weise in die Freiheit zurückkehren.

Auch an dem genannten Abend, als wir uns durch die vergitterten Fenster unterhielten, äußerte ich, daß es in Zukunft nicht mehr so schnell gelingen sollte, mich zu verhaften. Meine Genossen verhielten sich jedoch zweifelnd dazu: »Es ist interessant zu wissen, wie Sie es anstellen werden!« sagte »Tschernomor«, wie wir Kolodkewitsch nannten, nicht ohne Ironie.

»Ich würde zuerst nach Petersburg und dann ins Ausland reisen.«

Meine Antwort verwunderte alle sehr, das hatten sie von mir nicht erwartet. In den siebziger und achtziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts herrschte unter den Revolutionären, hauptsächlich aber unter den südrussischen Bakunisten, den Buntari, die Ansicht, daß es verdammenswert sei, ins Ausland zu flüchten, selbst wenn man noch so kompromittiert war und von der Polizei energisch gesucht wurde. Man konnte natürlich ins Ausland fahren, um irgend einen revolutionären Auftrag auszuführen, etwas drucken zu lassen, Literatur mitzubringen usw., aber sich nur auch zeitweise den Verfolgungen der Regierung zu entziehen, das betrachteten viele als Fahnenflucht, folglich als Feigheit. Diese strenge Beurteilung solcher Reisen war eine Folgeerscheinung des Charakters der revolutionären Bewegung im Anfang der siebziger Jahre und hatte gleichzeitig einen starken Einfluß auf ihre weitere Entwicklung; sie schuf nämlich ein großes Kontingent »professioneller« illegaler Revolutionäre, eine Erscheinung, die kein anderes Land in solchen Epochen aufzuweisen hatte. Nur wenige von den bedeutenden Teilnehmern der Bewegung jener Periode reisten ins Ausland, und die meisten von ihnen kehrten bald wieder in die Heimat zurück. Die Zahl derer, die in der Verbannung blieben, war sehr gering, und es ist nicht schwer, sie aufzuzählen. Die meisten, welche wegen der sogenannten »Angelegenheit der Propaganda in den 33 Gouvernements« gesucht wurden, blieben in Rußland; es waren ungefähr fünfzig, und der damalige Justizminister hatte eine Namensliste an jedes Polizeiamt geschickt. Die Verfolgten verließen nur auf kurze Zeit ihren Wohnort, änderten ihren revolutionären Rufnamen und tauschten ihren falschen Paß gegen einen anderen aus; im übrigen blieben sie ihrer Beschäftigung treu. Einigen der Illegalen gelang es, sich vier bis sechs Jahre in Rußland versteckt zu halten, wie zum Beispiel N. Buch, M. Kolenkina, W. Debogory-Mokriewitsch, M. Frolenko und andere. Natürlich entwickelte die lange illegale Tätigkeit unter den Revolutionären hervorragende konspirative Erfahrung.

Der Unwille meiner Freunde war daher begreiflich, denn von mir, dem zu der Zeit begeisterten »Buntar«, erwarteten sie nicht die Äußerung eines auch nur platonischen Wunsches, ins Ausland zu flüchten. Einige Monate zuvor, als ich mich noch in Freiheit befand, verhielt ich mich ganz genau so den Genossen gegenüber, die ins Ausland reisten; einige meiner Freunde wollten auch mich bewegen, für kurze Zeit die Heimat zu verlassen, aber ich wies diesen Vorschlag entschieden zurück. Obwohl dem größten Teil der Verhafteten, hauptsächlich den »Illegalen«, Zwangsarbeit drohte, so schreckte sie dies nicht im geringsten ab. Sie wußten, daß die Einkerkerung unausbleiblich war, und beunruhigten sich nicht weiter darüber. Sie dachten an das Verhängnis gerade so wenig, wie ein junger Mensch an den Tod. Die Gefahr, welche das illegale Leben mit sich brachte, und die mutigen Unternehmungen der »Buntari«, ganz gleichgültig, welches Ziel sie auch verfolgten, war für viele von uns äußerst anziehend. Aber es ist selbstverständlich, daß jeder, der sich in Einzelhaft befindet, gern seinen Erinnerungen und Träumen nachgeht. Nicht nur hervorragende Ereignisse der Vergangenheit, nein, auch unbedeutende Begebenheiten, zufällige Gespräche, einzelne Worte, alles wird in der Erinnerung lebendig und vieles, woran man in der Freiheit gedankenlos vorbeigeht, wird im Gefängnis einer eingehenden Zergliederung unterworfen.

Auch ich erlebte das alles, als ich mich zum erstenmal im Kiewer Gefängnis in Einzelhaft befand, obwohl sie nicht vollständig war. Wie einige meiner Genossen, so fühlte auch ich schon früher die Unzulänglichkeit unserer revolutionären Tätigkeit und sah ein, daß es unmöglich sei, mit »einzelnen Verschwörungen« die soziale Lage in Rußland zu ändern; an politische Veränderungen dachten wir als Anarchisten überhaupt nicht. In der Freiheit war diese Unzufriedenheit nicht so stark und auch nicht anhaltend, denn sie wurde durch neue Eindrücke, neue Pläne usw. verdrängt.

Im Gefängnis aber, wo nichts die Eintönigkeit unterbrach, kehrten die Gedanken immer wieder zur Untersuchung des Charakters unserer revolutionären Bewegung zurück. Als treuer Anhänger von Bakunins Lehren hielt ich es für unbedingt notwendig, »jegliche Staatsform zu beseitigen«, »die Bourgeoiszivilisation zu vernichten«, und glaubte an die Möglichkeit, an ihre Stelle »freiwillige Vereinigungen in föderativer Gemeinschaft zu schaffen«. Aber die Mittel, welche unser Lehrer Bakunin empfahl, um dieses Ideal zu verwirklichen, wie zum Beispiel vereinzelte Volksaufstände, die das Ziel hatten, »den revolutionären Geist«, den der russische Bauer schon besitzen sollte, noch zu vermehren, schienen mir nach den Erfahrungen, welche ich gesammelt hatte, trotz meiner Jugend sehr zweifelhaft. Ich wagte nicht, meine Zweifel in den weiten Kreisen der Revolutionäre laut werden zu lassen; einigen mir näher stehenden Personen gegenüber bemerkte ich bereits lange vor dem Beginn der terroristischen Tätigkeit, daß unsere Versuche, einen Volksaufstand hervorzurufen, zu nichts führen würden.

Auf die Frage der Freunde, welche Form nach meiner Ansicht wohl unsere Bewegung annehmen würde, erklärte ich, daß sie in einen regelrechten Rachezug von unserer Seite gegen verschiedene Regierungsbeamte für alle Beleidigungen und Verfolgungen ausarten müsse. Zugegeben, daß es uns gelungen wäre, mit dem gefälschten Manifest einen Aufstand im Tschigiriner Kreise hervorzurufen, so hätte die Regierung leicht diese Bewegung in Strömen von Blut ersticken können, und eine solche Niederlage hätte keine »Stärkung des revolutionären Geistes« unter den Bauern herbeigeführt, so viel war klar. Aber dennoch glaubten damals viele Menschen mit gesundem Verstand an die Zweckmäßigkeit eines solchen Volksaufstandes. Natürlich läßt sich das nur durch unsere mangelhafte politische Entwicklung erklären.

Mit tiefem Bedauern muß ich feststellen, daß dieselben Anschauungen, die sich vor einem Vierteljahrhundert in Theorie und Praxis als unzulänglich erwiesen hatten, nun wieder, wenn auch in etwas anderer Gestalt, begeisterte Anhänger in Rußland finden.

Wie sehr ich mich auch anstrengte, konnte ich doch nicht den Grund der Erfolglosigkeit unserer buntarischen Kampfesmittel und anarchistischen Bestrebungen finden. Ich habe schon früher auf den vollständigen Gleichmut, welchen die damaligen Revolutionäre dem ihnen bevorstehenden Schicksal – Zwangsarbeit oder Todesstrafe – entgegenbrachten, hingewiesen. Aber wenn ein solcher Mensch mit seinem Schicksal sich auch abzufinden vermag, so regt sich doch in ihm, besonders wenn er jung ist und sich noch dazu in Einzelhaft befindet, ein Gefühl der Wehmut, daß er das Leben verlassen muß, ohne es genossen, ohne etwas geleistet zu haben.

Wenn ich mich auch nicht an der Schwelle des Todes, wohl aber vor den Schrecken der Zwangsarbeit, der zu entrinnen damals niemand für möglich hielt, befand, so kam mir, wenn ich alles Vergangene überdachte, der Gedanke, ins Ausland zu gehen. Dort glaubte ich viel Neues zu sehen und zu erfahren und auch eine Antwort auf die mich quälenden Fragen bezüglich des Anarchismus zu finden.

Ich erinnere mich nicht mehr an alles, was die Freunde über meine Meinung sagten; einer deklamierte die Worte »Träume, Träume, wie süß waret ihr« usw. Dann verabschiedeten wir uns und stiegen von unseren Fensterbrettern herab in die Zelle zurück, und am anderen Tage war diese, wie schon so viele ähnliche Unterhaltungen, vergessen. Außer mir vergaß dies Gespräch nur eine Person nicht, deren Gegenwart wir nicht ahnten, obwohl wir damit hätten rechnen können. Dieser geheime Zeuge unserer Luftschlösser stürzte mich einige Monate später beinahe ins Verderben.

Ich muß noch erwähnen, daß drei meiner Leidensgefährten, welche damals nicht daran dachten, zu Zwangsarbeit verurteilt werden zu können, schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilen. Kibaltschitsch wurde wegen der Vorkommnisse des 1. März 1881 hingerichtet, Kolodkewitsch und Malawski ließen in den Kasematten des »Alexejew-Ravelin« in der Peter-Pauls-Festung ihr Leben.

*

Die Untersuchung in Sachen der »geheimen Kampfesorganisation« schritt schnell vorwärts, obwohl wir drei, Bochanowski, Stefanowitsch und ich, jede Aussage verweigerten. Die Bauern aber erzählten unter dem Drucke Baron Heikings und Kotljarewskis alles, was sie wußten, und belasteten uns damit sehr. So gelang es den Personen, welche die Untersuchung leiteten, fast alles aufzudecken und die von uns angestiftete Verschwörung in vollem Lichte zu zeigen. Nur einzelne Kleinigkeiten, wie zum Beispiel, wer von uns der Verfasser des Manifestes und der Statuten war, blieben ihnen unbekannt. Kotljarewski fand das Manifest meisterhaft geschrieben und drückte seine Bewunderung über die vom Autor bewiesene »tiefe Kenntnis des Volkscharakters«, sowie der russischen Geschichte, und der trefflichen Nachahmung des Stiles in den Regierungsakten aus.

Es war für uns die höchste Zeit, an die Ausführung unseres Fluchtplanes zu denken. Wie ich schon berichtete, war dies nur mit Hilfe des Wächters möglich. Da sich Frolenkos Eintritt in den Dienst immer mehr verzögerte, beschloß ich, zu versuchen, den Wächter, welcher auf unserem Korridor Dienst hatte und den ich aus meiner Zelle gewiesen hatte, auf unsere Seite zu bringen. Obwohl er ein gewesener Gendarmerieunteroffizier war, zeigte er sich doch als ein sehr nachgiebiger Mensch. Ich führte oft lange Unterhaltungen mit ihm, und er flößte mir und den Kameraden bald solches Vertrauen ein, daß ich mich dazu entschloß, ihn in unser Vorhaben einzuweihen. Ich schlug ihm vor, natürlich gegen eine gewisse Bezahlung, wenn ich mich nicht irre, waren es ungefähr 1000 Rubel, uns zur Flucht zu verhelfen. Er ging gern darauf ein. Wir gaben ihm einen Brief an Ossinski, mit dem er unseren Plan besprechen und die Zeit bestimmen konnte, wann er die versprochene Summe erhalten sollte. Er war einigemal bei Ossinski und besorgte unsere Briefe; die Unterhandlungen wickelten sich erfolgreich ab und die Sache schien geordnet. Es galt nur noch einige Schwierigkeiten zu überwinden, nämlich Stefanowitsch, der aus einem anderen Korridor untergebracht war und daher einen anderen Wächter hatte, zu uns herüber zu bringen.

Gerade in dieser Zeit fand im Gefängnis ein außergewöhnlicher Vorfall statt.

In der Frauenabteilung, die nur den unteren Korridor einnahm, während in allen anderen Etagen die Männer untergebracht waren, befand sich auch ein junges Mädchen, A. K–ina, eine bescheidene, sympathische, aber wenig gebildete Person, die nur durch Zufall in die Tschigiriner Sache verwickelt worden war. Sie war die Braut eines uns nahestehenden Freundes, welchem es damals gelungen war, zu entkommen, der aber bald darauf verhaftet und hingerichtet wurde. A. K–ina fühlte sich, wie sie uns später mitteilte, schon einige Monate bevor sie ins Gefängnis kam Mutter. Infolge eines begreiflichen, aber vollständig unberechtigten Schamgefühls bemühte sie sich, ihre Lage allen zu verheimlichen. Es gelang ihr vollständig, denn sie sagte niemand etwas davon, auch dann nicht, als sie bereits ihre schwere Stunde nahen fühlte; sie blieb allein mit ihrem Geheimnis in ihrer Zelle und machte übermenschliche Anstrengungen, ihre Qualen nicht zu verraten. In tiefer Mitternacht vernahm man plötzlich den Schrei der Gebärenden. Mit Liebe und Entsetzen griff die junge Mutter nach ihrem Kinde, aber es war tot. Sie bekämpfte ihre Schmerzen und Müdigkeit und räumte mit der größten Vorsicht, um nicht durch die Türklappe bemerkt zu werden, alle Spuren der stattgehabten Geburt fort. Den kleinen Leichnam wickelte sie in einen Lappen ein, um ihn am anderen Morgen irgendwo im Hofe unbemerkt der Erde zu übergeben. Als sie dies alles getan und sich in größter Erschöpfung auf ihre Pritsche niedergelassen hatte, hörte sie plötzlich eine Männerstimme über ihrem Kopfe. Sie schlug die Augen zur Decke empor und sah zu ihrem großen Schrecken, daß durch ein in die Decke gebohrtes Loch sich ein Männerkopf streckte.

»Wer sind Sie?« rief sie, von ihrem Lager aufspringend, aus.

»Ich bin ein Kriminalverbrecher, meine Zelle befindet sich über der Ihrigen, ich beobachte Sie schon lange, habe alles gesehen und gehört.«

»Aber was wollen Sie, wozu sind Sie hier?« fragte zitternd A. K–ina.

»Ich habe beschlossen, zu fliehen, ich bin wegen Totschlags angeklagt, und wollte dazu Ihre Zelle benutzen; wenn man den Ofen abbricht, kann man auf den Korridor gelangen, dort will ich Ihre Wärterin beiseite schaffen, und dann wird es mir nicht mehr schwer sein, durch die Gefängniswache hindurchzukommen. Kaum hatte ich das Loch in der Decke gemacht, als ich Ihren Schmerzensschrei hörte und beobachtete, was weiter vorging. Ich sehe, Sie sind ein mutiges Mädchen, Sie gefallen mir. Ich will, daß Sie mit mir fliehen. Wenn Sie nicht einverstanden sind, werde ich anzeigen, daß ich gesehen habe, wie Sie Ihr eigenes Kind erstickten.«

A. K–ina erkannte das Schreckliche ihrer Lage; fliehen mit einem schweren Verbrecher, welcher, wie es schien, vor nichts zurückschreckte, hieß sich ihm vollständig ausliefern. Andererseits konnte eine energische Abweisung nicht nur zur Enthüllung ihres streng gehüteten Geheimnisses führen, sondern man konnte noch gegen sie die Beschuldigung wegen Kindesmord erheben; wie wollte sie beweisen, daß sie ihr Kind nicht erstickt hatte? Scham, Entsetzen und Ekel bemächtigten sich ihrer; und doch sammelte sie ungeachtet ihrer vollständigen körperlichen Erschöpfung ihre Gedanken und fand einen Ausweg. Sie tat, als ob sie den Antrag des unangenehmen Freiers sehr gerne annehme, und bat ihn nur, den Plan ihrer gemeinsamen Flucht aufzuschieben, bis sie sich etwas von der Geburt erholt haben würde. Vollständig einverstanden mit dieser Antwort, zog der Gast seinen Kopf zurück und verdeckte die Öffnung in der Decke.

Dieses ungewöhnliche Ereignis zwang A. K–ina, uns alles, was in dieser schrecklichen Nacht mit ihr vorgegangen war, anzuvertrauen. Sie berichtete in einem geheimen Briefe an einen Genossen, mit dem sie am meisten befreundet war, alles ausführlich und bat um Rat, wie sie sich von dem unerwarteten Zeugen der unglücklichen Geburt ihres Kindes befreien könne. Dieser Genosse teilte mit ihrer Erlaubnis einigen von uns den Inhalt des Briefes mit. Nachdem wir die Umstände genau erwogen hatten, beschlossen wir, einen Kameraden zu dem Kriminalverbrecher zu schicken mit der energischen Bitte, A. K–ina vollständig in Ruhe zu lassen. Falls er sich aber unserem Befehl nicht fügen würde, drohten wir ihm, dem Arrestantenartel von seiner Absicht Mitteilung zu machen. Wir konnten uns auf die gewöhnlichen Verbrecher unbedingt verlassen, denn sie hielten immer sehr viel auf uns. Solch eine Wendung hatte der Freier von A. K–ina nicht erwartet, denn er glaubte, sie würde aus Scham uns nichts enthüllen. Nach der Erklärung unseres Abgesandten verzichtete er auf seinen Plan und ersuchte die Behörden, ihn nach einem anderen Korridor zu überführen. Den toten Körper ihres Kindes hatte A. K–ina insgeheim beiseite geschafft, und außer uns und jenem Verbrecher erfuhr niemand von dem Geschehenen.

*

Der Versuch des Kriminalverbrechers, durch die Frauenabteilung zu fliehen, brachte uns auf den Gedanken, daß Stefanowitsch, der sich in diesem Teile des Gefängnisses befand, es versuchen sollte, auf diese Weise zu entkommen, ohne dabei die Wärterin oder sonst jemand von dem wachthabenden Personal zu töten.

Als wir drei endgültig unseren Fluchtplan ausgearbeitet hatten und dem bestochenen Aufseher vorschlugen, uns jetzt bei der Ausführung zu helfen, bekam er wahrscheinlich Angst, denn er nahm plötzlich seinen Abschied und verschwand.

Wir waren in heller Verzweiflung, weil wir nicht wußten, was anfangen.

Als ich eines Tages im Korridor auf und ab ging und durch das Fenster schaute, erblickte ich plötzlich M. Frolenko mit einer Tracht Holz auf dem Arme. Also war es ihm doch gelungen, eine Stelle als Wächter zu bekommen.

Ich beeilte mich, meine freudige Entdeckung Stefanowitsch und Bochanowski mitzuteilen, und wir beschlossen, niemandem etwas davon zu sagen, daß er jetzt das Amt eines Gefängniswächters inne hatte, außer denjenigen, welche Frolenko persönlich kannten und ihm nahe standen.

In seiner jetzigen Stellung konnte er uns noch gar keinen Nutzen bringen, denn seine Tätigkeit lag außerhalb des Gefängnisses. Als nach einem Monat ein höherer Posten frei wurde, ernannte man ihn zum sogenannten »Korridorwächter«, natürlich ging eine besondere Bestechung mit Schnaps und Eßwaren des ältesten Aufsehers Maltschenko voraus. Die Pflichten des »Korridorwächters« waren: aufzupassen, was in den Zellen der Gefangenen vorging, und den älteren Aufseher zu ersetzen, wenn er nicht da war.

Ich erinnere mich noch unserer unaussprechlichen Freude, als wir M. Frolenko mit dem Säbel an der Seite sahen und mit den Schlüsseln klappern hörten. Etwas Komisches und doch gleichzeitig wunderbar Angenehmes lag darin: unser Kamerad, der schrecklich kompromittiert war und mehr als drei Jahre von der Polizei gesucht wurde, erfüllte in einer Stadt, wo ihn viele Leute kannten, auf dem Korridor eines Gefängnisses, wo seine Genossen eingesperrt waren, die Pflichten eines Wächters! Das schien wie ein Traum, wie ein Märchen, aber es war Wirklichkeit, denn auf unsere Forderung, die Zellentür zu öffnen, erschien unser treuer Freund. Wir verhielten uns selbstverständlich sehr vorsichtig, stellten uns, als ob wir uns nicht kannten, und legten keine besondere Sympathie dem neuen Korridorwächter gegenüber an den Tag. Manchmal, in einem unbewachten Augenblick, wechselten wir ein paar Worte. Seit der Versetzung Frolenkos in den Korridor waren wir unserem Ziele allerdings näher gerückt; aber auch in der neuen Stellung konnte er uns noch keinen wesentlichen Dienst für unsere Flucht leisten, dazu mußte er die Ehrenleiter noch weiter emporklimmen, er mußte es bis zum Beschließer bringen, und das war keine leichte Aufgabe. Er war zwar ein musterhafter Wächter, stand bei der Obrigkeit im besten Rufe und erfüllte tatsächlich alle seine Obliegenheiten mit größter Aufmerksamkeit und peinlich genau; da wir jedoch wünschten, ihn in den Augen der Obrigkeit noch mehr zu heben, schlugen wir ihm vor, uns zu denunzieren, was er wirklich meisterhaft fertig brachte.

Wie ich schon früher erwähnt habe, hatten wir im Gefängnis dank unserer kriegerischen Haltung manche Rechte erworben. In dieser Beziehung war uns auch die revolutionäre Bewegung günstig, die im Winter 1877/78 bei Ausbruch des russisch-türkischen Krieges besonders lebhaft war, und außerdem wurde in Petersburg ein für jene Zeit unerhörter politischer Prozeß verhandelt, in dem nicht weniger als 193 Menschen auf der Anklagebank saßen.

Zu dieser Zeit führte Wera Sassulitsch das bekannte Attentat auf den Stadthauptmann Trepow aus; sie wurde vom Gericht freigesprochen. Zum Teil unter dem Einfluß dieses Ereignisses fingen die Revolutionäre an, Gewaltmaßregeln gegen höhere Beamte zu treffen. Im Winter desselben Jahres wurde ein Attentat auf Kotljarewski ausgeführt, und zwar aus dem Grunde, weil Kotljarewski in seiner Gegenwart an zwei Frauen, welche man ohne jeden Schuldbeweis in unseren Prozeß verwickelt hatte, eine schimpfliche Durchsuchung hatte vornehmen lassen. Ähnliche terroristische Handlungen fanden auch in anderen Städten statt und richteten große Verwirrung in den Beamtenkreisen an. Ich erinnere mich unter anderem folgender Geschichte:

Eines Tages wandte sich unser Wächter Kowalski an Stefanowitsch – letzterer erfreute sich eines besonderen Ansehens bei der Obrigkeit – mit der Bitte, ihm eine Bescheinigung auszustellen, daß er uns gut behandle.

»Ihre Kameraden draußen,« sagte er, »glauben vielleicht, daß ich schlecht mit Ihnen umgehe, und da ich oft abends spät nach Hause gehen muß, könnte mir leicht etwas passieren. Wenn ich aber solch eine Bescheinigung bei mir habe, kann ich sie sofort zu meiner Verteidigung vorweisen.«

Stefanowitsch erfüllte die Bitte des besorgten Alten sehr gern und gab ihm die gewünschte »Bescheinigung«.

Nach diesem Vorgang erwarben wir uns immer mehr Freiheiten. Schließlich war es der Gendarmerie zu Ohren gekommen, daß im Gefängnis nicht nur unter den politischen, sondern auch unter den anderen Verbrechern allerlei verbotene Bücher die Runde machten: dem Gefängnisdirektor wurde der Befehl gegeben, unbedingt unsere geheimen Verbindungen mit der Außenwelt abzufangen, und dieser erteilte den Wächtern den Befehl, streng aufzupassen, daß niemand in der Nacht schreibe. Als Frolenko uns diesen Befehl mitteilte, schlugen wir ihm vor, einmal, wenn er die Nachtwache habe, den Bericht zu erstatten, daß Stefanowitsch ganz geheimnisvoll in seiner Zelle schreibe. Als der Gefängnisdirektor aber hörte, daß es Stefanowitsch war, wagte er nicht, sich in der Nacht zwecks einer Untersuchung zu ihm zu begeben. Dadurch stieg das Ansehen Frolenkos bei den Vorgesetzten immer mehr. Aber lange wurde keine Stelle eines Beschließers frei. Um das zu beschleunigen, fingen wir an, auf jede Weise den Beschließer unseres Korridors zu verfolgen. Er hieß Ponomarew und war ein hochaufgeschossener einfältiger Mensch, der mit wahrhaft christlicher Geduld alle unsere ungerechten Verfolgungen ertrug und sich nur manchmal mit den Worten tröstete: »Christus hat gelitten und auch ich werde leiden.« Als wir sahen, daß wir ihm auf diese Weise nicht beikommen konnten, wollten wir es versuchen, ihn durch eine bessere Stelle zu verlocken. Aus seinen Gesprächen hatten wir erfahren, daß er früher einmal die Stelle eines Verwalters bei einer Gutsbesitzerin inne gehabt hatte, und wir schrieben sofort Ossinski, es solle jemand in einem Hotel als Gutsbesitzer Wohnung nehmen und Ponomarew holen lassen; dieser Gutsbesitzer sollte ihm dann sagen, er hätte von der früheren Herrin äußerst günstige Empfehlungen über ihn erhalten und schlage ihm daher eine gute Stelle vor, die mehr einbrächte als sein Gefängnisdienst. Ponomarew griff mit beiden Händen zu, denn der Aufenthalt im Gefängnis war ihm durch die Verfolgungen, welche er von uns und infolge unserer Unzufriedenheit auch von der Obrigkeit zu erleiden hatte, unerträglich geworden. Debogory-Mokriewitsch, welcher die Rolle des Gutsbesitzers spielte, gab seinem neuen Angestellten einen ganz bedeutenden Vorschuß, und der überglückliche Ponomarew nahm sofort seinen Abschied und überreichte dem neuen Herrn seine Papiere. Die Stelle eines Beschließers in unserer Abteilung, in der sich jetzt auch Stefanowitsch befand, war also frei. Der Gefängnisinspektor hielt es für nötig, sich mit Stefanowitsch über die Besetzung des neuen Postens zu beraten, und kam daher eines Tages mit Frolenko in die Zelle und sagte: »Ich möchte den da ernennen.«

Stefanowitsch wollte vor Freude bis an die Decke springen, als er das hörte, aber er machte ein unzufriedenes Gesicht und sagte: »Es scheint mir, er ist ein Denunziant, er schnüffelt gern überall herum; übrigens tun Sie, wie es Ihnen gut dünkt.« Diese Antwort genügte, und Frolenko wurde Beschließer. Wir waren nun der Verwirklichung unseres sehnlichsten Wunsches nahe.

Außer dem Öffnen der Zellentüren während des Tages gehörte auch der Nachtdienst in der üblichen Reihenfolge zu den Obliegenheiten der Beschließer. Sie mußten alle Korridore bewachen, und auf ihren Befehl ließ der Militärposten die Gefängnisbeamten aus und ein. Der Plan unserer Flucht war folgender: In der Nacht, in welcher Frolenko wieder Dienst hatte, sollte er uns als Korridorwächter aus dem Gefängnis herausbringen. Doch vor allem mußten wir Mittel und Wege finden, schnell aus unseren Zellen auf den Korridor zu gelangen, ohne daß uns jemand bemerkte. Wir mußten also vor allem unseren Korridorwächter ablenken und zugleich verhindern, daß zu viele Türen geöffnet würden, da doch jeder von uns dreien sich in einer besonderen Zelle befand.

Damals war die Untersuchung unserer Sache schon beendigt, wovon uns auch der Staatsanwalt des Bezirksgerichtes Mitteilung machte. Ich wandte mich daher mit der Bitte an ihn, zusammen mit Stefanowitsch in einer gemeinsamen Zelle untergebracht zu werden, da die Interessen der Justiz durch unser Zusammenleben nicht mehr geschädigt würden; außerdem wies ich auf die ihm bekannte Tatsache hin, daß wir ja doch regelmäßige Beziehungen zueinander unterhielten, folglich auch die Möglichkeit hatten, uns über alles zu beraten. Hierdurch, sagte ich, ist die Einzelhaft eine leere Formalität und eine durch nichts begründete Verschlechterung der Lage der Gefangenen.

Der Staatsanwalt erklärte sich mit diesen Folgerungen einverstanden und bemerkte nur, daß er die Bauart des Gefängnisses nicht kenne.

»Vielleicht werden Sie durch das gemeinsame Zusammenleben leicht Möglichkeit finden, zu fliehen,« sagte er.

»Wenn es eine solche Möglichkeit für uns zwei gibt, so besteht sie auch für einen, und seien Sie versichert, daß jede Gelegenheit von uns schon längst benutzt worden wäre,« antwortete ich.

Er versprach mir, sich darüber mit dem Direktor zu beraten.

Auf dem Rückweg begegnete ich diesem und teilte ihm die Zweifel des Staatsanwaltes mit.

»Wie Sie sehen, befürchtet der Staatsanwalt, daß wir aus Ihrem Gefängnis entfliehen würden,« sagte ich spöttisch und stachelte dadurch den Ehrgeiz des Alten an.

»Er versteht nichts von der Gefängnisordnung, die ich eingeführt habe,« antwortete stolz der Alte. »Ich bin fünfzehn Jahre Gefängnisdirektor, und bei mir ist noch niemand entflohen, auch Sie werden von hier nicht fortkommen. Ich werde es dem Staatsanwalt sagen, dann wird er sicher erlauben, daß man Ihnen eine gemeinsame Zelle gibt.«

Armer Alter! Er mußte sich bald überzeugen, daß sein Selbstbewußtsein nicht berechtigt war. An demselben Tage noch brachte man Stefanowitsch in meine Zelle, neben der Bochanowski saß. Das hatte für unsere Flucht eine gewisse Bedeutung. Viel schwieriger war es, den Korridorwächter zu entfernen, denn wir hatten fest beschlossen, keine Gewalt anzuwenden, und wollten uns nicht die Freiheit um den Preis eines Menschenlebens erkaufen. Wir beschlossen nur, unseren Wächter einzuschläfern, wozu Frolenko ihn mit der nötigen Portion Schnaps, vermischt mit Chloralhydrat, bewirten sollte.

*

Endlich kam der längst erwartete Abend, Ende Mai 1878. Die Stunden zogen sich endlos hin, unser Zustand war aufs äußerste gespannt. Wird unser Plan gelingen? Können nicht hundert unerwartete Hindernisse eintreten? Da hörten wir Stimmen. Das war der wachthabende Beschließer Frolenko. Er gab dem Wächter den Schnaps. Dann wurde es wieder still. Frolenko ging fort, der Wächter war nun allein und schlief vermutlich gleich ein. Aber plötzlich hörten wir wieder Stimmen! Wer konnte das wohl sein? Sicher ein Wächter der anderen Abteilung, der aus Langeweile sich ein bißchen mit seinem Kollegen unterhalten wollte. Dann hörten wir Frolenkos Stimme, worauf es wieder still wurde! Jetzt war unser Wächter schon sicher eingeschlafen; unsere Spannung erreichte den Höhepunkt. Wieder hörten wir Schritte auf dem Gange: »Das ist sicher Frolenko, welcher unsere Zellentür öffnen wird,« dachten wir.

»Schnell, schnell!« wollten wir ihm zurufen und blickten durch das Guckloch in der Tür, – aber o Schrecken! Das war unser Wächter. Er schlief nicht, sondern ging, ein Liedchen summend, munter umher. Als alten Trunkenbold hatte ihn diese Portion Schnaps nur in lustige Stimmung versetzt.

Was sollten wir nun anfangen? Alles war vorbei: nicht nur diese Nacht war verloren, sondern wir mußten wahrscheinlich den Gedanken an Rettung aufgeben. Durch aus dem Kriege heimkehrende Soldaten war nämlich der Typhus eingeschleppt worden, der auch im Gefängnis seinen Einzug hielt. Die Kriminalverbrecher erkrankten in großer Anzahl, und viele starben. Auch einige Bauern, welche in die »Tschigiriner Verschwörung« verwickelt waren, mußten ihr Leben lassen. Die Behörden gerieten in Aufregung, und es wurde befohlen, die Gefangenen zur Bekämpfung der Seuche in die Kasernen der Kiewer Festung zu bringen. Diese Anordnung wurde schleunigst befolgt: Zelle auf Zelle leerte sich, täglich konnte die Reihe an uns kommen. Dann lebe wohl: Gedanke an Flucht, Freiheit und Leben!

Man kann sich leicht unsere Verzweiflung vorstellen, als wir unseren so lange und sorgfältig vorbereiteten Plan scheitern sahen. Wir schickten unserem Wächter allerlei Verwünschungen nach.

Aber so sehr wir auch schimpften, es erleichterte unseren Kummer nicht. Jetzt blieb nur noch die schwache Hoffnung, daß man uns vielleicht bis zu Frolenkos nächster Nachtwache noch in dem alten Gefängnis lassen würde.

Wir kamen nach langem Nachdenken zu dem Entschluß, dem Wächter eine größere Dosis Chloralhydrat einzugeben, obwohl wir schon im voraus damit rechneten, daß die Wirkung dieselbe sein könnte wie das erstemal, ja vielleicht noch eine schlimmere; denn dem Wächter konnte übel werden und in ihm der Verdacht entstehen, daß der wachthabende Beschließer ihn hätte vergiften wollen.

Als nach einigen Tagen Frolenko wieder die Wache bekam, waren alle anderen Abteilungen, außer zweien, schon in die Festung überführt worden. Von der bevorstehenden Nacht hing also unser Schicksal ab, und wir hatten noch immer kein Mittel gefunden, den Wächter fortzuschaffen. Bei der letzten Kontrolle rief Frolenko, bevor man uns für die Nacht in die Zelle einschloß – am Tage hatten wir das Recht, frei auf dem Korridor zu spazieren –, uns in den Wäscheaufbewahrungsraum, wo wir uns unsere Leibwäsche aussuchen sollten; dort teilte er uns mit, daß er in der kommenden Nacht den Wächter dorthin rufen wolle, um ihm wieder mit Branntwein aufzuwarten; er hoffte, daß er in diesem isolierten Raum einschlafen würde.

»Und wenn nicht, was dann?« fragte jemand von uns.

»Nun, was soll man dann tun?« entgegnete Frolenko.

Da kam mir plötzlich der Gedanke an eine kleine List. Eilig – denn Frolenko hatte nur wenige Minuten Zeit, und wir mußten deshalb schnell zu einem Entschluß kommen – setzte ich den Kameraden meinen Plan auseinander, den sie vollständig guthießen und annahmen.

*

Wieder begann die ermüdende Qual der Erwartung, wieder ein beständig ungeduldiges Schauen auf die Uhr. »Was wird diese Nacht uns bringen – Freiheit oder Zwangsarbeit, – vielleicht gar den Tod?«

Wer sich nie in einer ähnlichen Lage befunden hat, kann wohl kaum unsere Empfindungen verstehen.

Da hörten wir eine Tür gehen; eine bekannte Stimme ertönte und Schritte wurden hörbar.

»Wache!« ruft Stefanowitsch.

»Was wünschen Sie?« antwortete Frolenko, sich unserer Zelle nähernd.

»Mir ist ein Buch in den Hof gefallen, es soll aufgehoben werden.«

Nach dem von mir gemachten Vorschlag befahl Frolenko dem Wächter, das Buch zu holen, und blieb selbst im Korridor.

Als die Tür sich hinter dem Fortgehenden schloß, holte Frolenko den Säbel, welcher für einen von uns bestimmt war, öffnete Bochanowskis Zellentür, übergab ihm den Schlüssel und ging eilig zum Ausgang zurück, um uns zu benachrichtigen, falls zufällig ein Beamter oder der Wächter der anderen Abteilung zurückkehren sollte. Bochanowski verschloß seine Zelle, öffnete dann unsere und verschloß sie wieder, nachdem wir sie verlassen hatten. Vor unserem Fortgehen hatten Stefanowitsch und ich je eine Puppe gemacht, die wir auf unsere Pritschen legten; sodann schraubten wir die Lampen so tief herunter, daß man kaum die Gegenstände in der Zelle unterscheiden konnte.

Wir hatten alle Schaftstiefel angezogen, weil wir als Wächter figurierten und weil wir mit dröhnenden Schritten am militärischen Wachtposten vorbeigehen mußten. Aber gleich nachdem wir aus der Zelle waren, mußten wir einen langen Korridor durchschreiten, auf dessen beiden Seiten sich Zellen mit Kriminalverbrechern befanden.

Das in der Nachtzeit ungewöhnliche Geräusch, welches durch das Auf- und Zuschließen der großen Hängeschlösser verursacht wurde, sowie auch die schweren Schritte dreier Personen konnten leicht die Aufmerksamkeit eines Insassen der Zellen, welcher vielleicht noch nicht schlief, erregen. Wir zogen deshalb unsere Galoschen an und schlichen uns, fast auf allen vieren kriechend, dicht an die Wand gedrückt, durch den Korridor. Jeder Schritt vorwärts schien endlos lang, und wir mußten uns doch so sehr beeilen: jeden Augenblick konnte uns der zurückkehrende Wächter mit dem Buche begegnen. Endlich gelangten wir zu dem Platz, welcher beide Korridore trennte; hier lag wieder die Gefahr vor, dem anderen Wächter zu begegnen. Zum Glück war er nicht hier; schon wollten wir erleichtert aufatmen, als wir plötzlich Schritte, die sich uns schnell näherten, auf der Treppe vernahmen. Wir sind verloren, das ist sicher unser Wächter, der vom Hof zurückkehrt, oder jemand von den Behörden! Doch, o Glück! es war unser treuer Freund und Erlöser, welcher uns entgegen kam, uns zu zeigen, wohin wir uns unter der Treppe verstecken sollten.

Noch einige Sekunden und wir befanden uns in einer ganz dunklen Nische und fühlten uns schon halb gerettet, als plötzlich in der Ferne eine Klingel ertönte. Jemand von uns – Bochanowski oder ich – hatte in der Dunkelheit eine Kette berührt, die in die Wachtstube führte und dazu eingerichtet war, um die Posten zu alarmieren. »Jetzt ist alles verloren, sofort werden die Soldaten hereinstürzen, zu suchen beginnen und uns finden!« Aber unser Befreier fand auch hier einen Ausweg: er eilte zu dem Posten, der an der Tür stand, und sagte ihm, daß er aus Versehen die Kette berührt habe; dann kam er wieder zurück, um uns zu beruhigen.

Plötzlich stellte sich uns wieder ein neues Hindernis entgegen. Bochanowski hatte seinen Säbel an der Tür seiner Zelle hängen lassen und unser Wächter mußte ihn bei seiner Rückkehr beim Rundgang durch seine Abteilung unbedingt bemerken. »Schnell, schnell, hol ihn, Michailo,« sagte Bochanowski mit aufgeregter Stimme, »wir dürfen keine Sekunde verlieren.« Der Wächter mußte ja schon vom Hof zurückgekommen sein. Unsere Unruhe steigerte sich, die Ungeduld wurde immer größer.

Endlich erschien Frolenko mit dem Säbel, welchen Bochanowski umhängte. Nun mußten wir noch die Rückkehr des Wächters abwarten. Er kam sehr lange nicht, oder vielleicht schien es uns nur so. Da hörten wir Frolenko in der Nähe sagen: »Wo bist du denn so lange geblieben?« Und als Antwort klang es zurück: »Die Blätter des Buches waren im ganzen Hofe verstreut, und ich mußte sie erst zusammenlesen.« Stefanowitsch hatte dies absichtlich getan, damit der Wächter sich länger im Hofe aufhalten mußte.

»Nun bring es ins Kontor, dort werde ich nachschauen, was es ist, und es dann selbst abgeben,« sagte Frolenko. Er wollte dem Wächter die Möglichkeit nehmen, in unsere Zelle zu gehen, da er dort selbstverständlich unsere Abwesenheit bemerkt hätte. Nach einer kleinen Weile ging er die Treppe hinauf auf seinen Posten. Diesen Teil unseres Planes konnten wir, wenn auch mit großer Aufregung verbunden, immerhin als gelungen betrachten. Aber der wichtigste Teil stand uns noch bevor: der Durchgang durch das von Soldaten bewachte Tor.

Wie ich schon früher erwähnt habe, figurierten wir als Wächter, deren Wachezeit im Korridor zu Ende war und die jetzt abgelöst wurden. Das geschah zweimal täglich: mittags und mitternachts. In solchen Fällen ist es üblich, zuerst die neue Wache antreten zu lassen, um die alte abzulösen, die erst nachher abgeführt wird. Tollkühn beschlossen wir, das Tor zu passieren, bevor die neue Wache den Eingang passieren würde.

Wir wagten bei unserem Vorgehen alles, aber wir rechneten mit der Psychologie der Soldaten, die die Wache hatten. Die Wachtsoldaten, welche alle 24 Stunden abgelöst wurden, konnten unmöglich alle Gefängnisbeamten persönlich kennen, und beim Herein- und Herauslassen handelten sie ganz nach den Anweisungen des Beschließers. Deshalb nahmen wir an, daß die Soldaten hauptsächlich gegen Mitternacht, wenn sie sehr schläfrig waren, nicht bemerken würden, daß Frolenko die übliche Ordnung beim Wechseln der Wache verletzte. Ebenso rechneten wir auch mit dem Vertrauen der Soldaten zu der Autorität des Beschließers, obwohl unser Äußeres genügend Unvollkommenheiten aufwies; wie ich schon berichtete, war das Abzeichen eines Korridorwächters ein Säbel, welchen er über der Zivilkleidung trug. Frolenko konnte aber nur einen Säbel beschaffen, welchen wir Bochanowski überließen, da er von uns allen das imponierendste Aussehen hatte. Wir hofften, daß in der nächtlichen Dunkelheit die Soldaten das Fehlen dieses Abzeichens bei uns beiden nicht bemerken würden.

»Gehen wir jetzt!« sagte Frolenko, der wieder erschienen war.

Wir warfen die Galoschen ab und folgten ihm in den Hof. Wir mußten diesen bis zum Tor überschreiten, wo sich unser Schicksal entscheiden sollte. Allen voran ging Frolenko, ihm folgte Bochanowski mit dem Säbel, dann Stefanowitsch und ich. Frolenko klopfte an das Tor, welches sofort geöffnet wurde. Er durchschritt es und stellte sich seitwärts hin, dann gingen wir einer nach dem anderen mit langsamen, schweren Schritten an ihm vorbei. Frolenko zählte: »Eins, zwei, drei, – alle!«

»Halt! Warum führst du die alte Wache erst fort? und woher nimmst du drei Wächter, wo es jetzt nur noch zwei Abteilungen gibt? Warum hat übrigens nur Einer einen Säbel?« Aber alle diese Fragen existierten nur in meiner erhitzten Phantasie; in Wirklichkeit hörte ich, wie jemand das Tor zu schließen befahl.

Wir waren außerhalb der Tore des Gefängnisses! Begreift der Leser, dem niemals Gefahr gedroht hat, lebendig begraben zu werden, was das heißt? Mich ergriff ein Gefühl grenzenloser Freude, daß ich, als wir im zweiten Hofe ankamen, wo sich die Wohnungen des Gefängnisinspektors und der anderen Beamten befanden –, auf unseren Erretter zustürzte, um ihn zu umarmen.

»Ja, bist du von Sinnen?« rief er halblaut; wir könnten ja hier noch irgend einem Beamten begegnen.«

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als uns durch das zweite unbewachte Tor, dem wir uns inzwischen genähert hatten, ein hochgewachsener Mann entgegenkam. »Verloren!« ging es mir abermals durch den Kopf – und ich Leichtsinniger hatte uns schon außer Gefahr geglaubt. Einige Schritte von uns entfernt befand sich noch ein Wachtposten, und jener Mann brauchte ihn nur zu anzurufen, und wir alle wären ergriffen worden.

Aber er rief den Wachtposten nicht an und er konnte es nicht tun, denn das war nach Frolenko der zweite Mitwirkende unserer Befreiung, unser Freund Walerian Ossinski, der für uns alle so viel getan hatte. Er wußte, daß wir um diese Zeit das Gefängnis verlassen mußten, und erwartete uns mit Ungeduld vor dem Tore. Als er aus der Ferne eine Gruppe von vier Mann kommen sah, ging er uns sofort entgegen. Der Schreck, welchen wir einige Sekunden vorher ausgestanden hatten, verwandelte sich nun in helles Entzücken. Wir beobachteten Frolenkos Ermahnungen zur Vorsicht nicht mehr und umarmten jubelnd Ossinski und unseren Retter.

*

Unweit des Gefängnisses stand ein einfacher Einspänner, dessen Kutscher unser jugendlicher Genosse Nikita Lewtschenko war. Dieses Fuhrwerk hatten unsere Genossen speziell dazu beschafft, um uns aus dem Gefängnis zu entführen. Doch als wir uns alle sechs auf den Wagen setzten, hatte das Pferd nicht Kraft genug, uns zu ziehen. Wie sehr unser Kutscher es auch mit der Peitsche bearbeitete, kamen wir doch nur sehr langsam vorwärts; und wir mußten an dem neben dem Gefängnis liegenden Polizeirevier vorbei! Vor dem Revier ging nur ein Schutzmann auf und ab, der seine »wohlwollende« Aufmerksamkeit dem Wagen, der mit so einem elenden Pferdchen bespannt und zu später Nachtstunde sechs Personen führte, zuwenden konnte. Aber alles ging gut. Da wir aber merkten, daß keinerlei Zureden auf unser braves Roß wirkte, beschlossen wir drei Flüchtlinge und Ossinski zu Fuß weiterzugehen; Frolenko und Lewtschenko blieben auf dem Wagen.

Wir vier hatten noch eine bedeutende Entfernung zurückzulegen, welche das Gefängnis von den Ufern des Dnjepr trennte. Wir hatten schon im Gefängnis, lange vor der Ausführung unseres Planes, beschlossen, die Wasserstraße des Dnjepr als Weg zu benutzen, um aus Kiew zu entkommen, da man dort sicher nach unserem Verschwinden sehr strenge Nachforschungen vornehmen würde. Unsere Voraussetzung bestätigte sich später vollauf. Die Genossen hatten uns mündlich durch Frolenko und schriftlich verschiedene Pläne vorgeschlagen, wie wir uns aus Kiew entfernen könnten. Unter anderem hatte uns Lisogub vorgeschlagen, wir sollten uns mit Pferden, welche er an verschiedenen Stellen bereit halten wollte, in ein entferntes Dorf begeben und dort in einem Versteck, welches er auch vorbereiten wollte, so lange verweilen, bis die Nachsuchungen ziemlich eingestellt wären. Aber wir drei lehnten diesen wie auch alle anderen Vorschläge und Pläne der Genossen ab und blieben bei dem von uns gefaßten Plane. Er war sehr einfach und bestand darin, daß die Genossen ein für mehrere Tage mit Proviant versorgtes Boot bereit halten sollten. Es kostete nicht viel, und außerdem waren wir, solange wir uns auf dem Flusse befanden, vor jeder Verhaftung sicher. Auch bedurften wir hierzu keiner fremden Hilfe mehr, und im Falle man uns doch entdeckt hätte, wäre wenigstens niemand außer uns verhaftet worden. Falls wir uns aber auf anderem Wege aus Kiew entfernt hätten, wäre die Hilfe einiger Freunde unvermeidlich gewesen, und im Falle des Mißlingens wären noch andere Personen in Mitleidenschaft gezogen worden.

Paarweise gingen wir im gewöhnlichen Schritte durch die zahlreichen Straßen der Vaterstadt. Selten nur begegneten wir einem Polizisten und an manchen Stellen Personen, welche bei unserem Näherkommen irgend welche Signale gaben. Ossinski sagte uns, daß das die Unsrigen wären, welche sich an bestimmten Punkten unseres Weges aufgestellt hatten, um uns von der durch den Nachtrundgang der Polizeipatrouille drohenden Gefahr rechtzeitig zu benachrichtigen und im Notfall tatkräftig Hilfe zu leisten.

Nach neunmonatiger Einzelhaft und der so glänzend gelungenen Flucht machte uns allen dieser Spaziergang in der wundervollen Maiennacht unbeschreibliches Vergnügen. Ich hätte gern jauchzen, springen, alles umarmen und ausrufen mögen: »Wir sind frei! Begreift ihr dies?« Jedoch statt dessen mußte ich mich in den langen hohen Schaftstiefeln langsam vorwärts bewegen. Von meinem Nachbarn, Iwan Bochanowski, welcher infolge seines phlegmatischen Charakters sehr wortkarg war, war es unmöglich, eine Silbe herauszubringen: als echter »Kosak« – diesen Rufnamen hatte er in unserer Mitte – genoß er mit schweigendem Entzücken die wunderbare ukrainische Nacht.

Ohne jedes Hindernis erreichten wir die weit entfernte Stelle am Ufer des Dnjepr, wo im Gebüsch unser Boot versteckt lag. Als wir schon nahe an Ort und Stelle waren und Ossinski uns das laut mitteilte, erhoben sich plötzlich drei Menschen von der Erde und liefen auf uns zu, aber nicht um uns zu verhaften, sondern um uns herzlich willkommen zu heißen. Es waren unsere Freunde Baranikow, Popko und Fischer, die uns unbedingt sehen wollten und bereit waren, uns zu verteidigen, falls es nötig sein sollte. Alle drei zeichneten sich durch tollkühnen Mut und große körperliche Kraft aus, außerdem waren sie sehr gut bewaffnet.

Uns erfreute dieses Wiedersehen außerordentlich; aber wir durften keine Zeit verlieren. Wir wechselten mit den herbeigeeilten Genossen nur einige Worte, umarmten uns dann alle herzlich und stiegen ins Boot. Dieses kurze Wiedersehen war das letzte mit Fischer und Popko. Fischer wurde, nachdem er vier Jahre in Untersuchungshaft zugebracht hatte, im Prozeß der 193 freigesprochen und auch gleich in Freiheit gesetzt. Er starb bald darauf, wie man sagte an einer Lungenkrankheit, die er sich im Gefängnis geholt hatte. Popko war nach der Meinung aller, die ihn kannten, einer der hervorragendsten Revolutionäre in der Mitte der siebziger Jahre. Er war ein für jene Zeit ziemlich belesener Mann, von beharrlichem und entschlossenem Charakter und hatte einen großen Einfluß auf seine Umgebung. Zwei Tage vor der Begegnung mit uns, in der Nacht vom 24. zum 25. Mai, hatte er Baron Heiking erdolcht, der ebenso wie der Staatsanwaltsgehilfe Kotljarewski einen besonderen Eifer in der Tschigiriner Sache an den Tag gelegt. Nur seiner ungewöhnlichen Selbstbeherrschung und Entschlossenheit verdankte Popko seine Rettung, indem er nach der Ermordung Heikings auf einer belebten Straße seine Verfolger abwehrte, wobei er den einen tötete und einen anderen schwer verletzte. Nach einigen Monaten wurde er schließlich verhaftet, und obwohl die Regierung ihm das Attentat auf Heiking nicht nachweisen konnte, verurteilte man ihn doch zu lebenslänglicher Zwangsarbeit. Aber nicht lange ertrug er das qualvolle Dasein in Kara, zu Anfang der achtziger Jahre starb er an einer Lungenkrankheit.

*

Unser Boot war geräumig, bequem und mit einem Segel versehen. Wie der Leser schon aus den vorhergegangenen Begebenheiten erfahren hat, zeigten die Genossen für uns große Fürsorge und Umsicht.

Im Boote fanden wir nicht nur verschiedene Eßwaren und Getränke, sondern auch alles für unsere Reise Nötige, wie Bauernkleider und Pässe, denn wir gedachten uns als Tagelöhner auszugeben. Wir fanden auch einen Fernstecher vor, welcher uns die Möglichkeit gab, bei Annäherung eines Dampfers rechtzeitig zum Ufer zu segeln und sich dort zu verstecken. So wäre es, falls die Regierung durch irgend ein Wunder erfahren hätte, daß wir auf dem Dnjepr schwimmen, doch nicht möglich gewesen, uns zu erreichen. Außerdem beschlossen wir, am Tage auszuruhen und nur des Nachts zu segeln.

Nachdem wir die Genossen verlassen hatten, fuhren wir stromabwärts. Die Oberfläche des Flusses lag vollständig unbeweglich, man merkte nicht das leiseste Kräuseln auf dem Wasser. Von den Ufern drang das Trillern der Nachtigall zu uns hinüber. Auf der großen weiten Wasserfläche waren wir ganz allein, der Macht der Menschen entrückt. Nur die glänzenden Sterne am weiten Firmament blickten liebevoll herab, als ob sie uns zu unserer Errettung beglückwünschen wollten.

»Wie herrlich! wie schön!« rief bald der eine, bald der andere aus. Wir atmeten mit voller Brust die wunderbare Frühlingsluft ein und fühlten uns als die glücklichsten Menschen auf Erden.

*

Im Gefängnis spielte sich unterdessen folgendes ab: Die Korridorwächter warteten lange auf die Ablösung seitens des wachthabenden Beschließers; doch als sie mehr als zwei Stunden vergebens gewartet hatten, entschlossen sie sich, das Alarmsignal zu geben. Darauf erschien der Wachtführer, und als er erfuhr, um was es sich handelte, berichtete er es schnell seinen Vorgesetzten. Man weckte den Inspektor und begann, den dejourierenden Beschließer zu suchen; da er aber nirgends zu finden war, nahm man an, daß einige vor kurzem entlassene Kriminalverbrecher ihn vor Ablösung der Wache von der Pforte fortgelockt hätten, um ihm den Garaus zu machen, denn vom ersten Tage seiner Dienstzeit an konnten die gemeinen Verbrecher ihn nicht leiden. Der Wachtposten am Außeneingang wollte, wie es schien, aus irgend einem Grunde nicht sagen, daß der Beschließer schon drei Wächter herausgeführt hatte. Der Inspektor befahl der neuen Wache anzutreten und ging, weiter nicht beunruhigt, wieder zur Ruhe.

Später erfuhren wir von den im Gefängnis zurückgebliebenen Genossen, daß man unseren Fluchtversuch am nächsten Morgen noch nicht entdeckt hatte. Ich habe schon früher erzählt, daß wir die Beschließer gewöhnt hatten, die Zellentür morgens nicht zu öffnen, bevor wir sie selbst riefen. Die Beschließer und Wächter begnügten sich, durch das Guckloch in der Tür zu schauen, und da sie die Puppen auf unseren Betten sahen, nahmen sie an, daß wir noch schliefen, und gingen beruhigt fort.

Nachdem die politischen Gefangenen wie gewöhnlich gemeinsam ihren Morgentee eingenommen hatten – das war auch eines unserer eroberten Rechte –, beschlossen sie, die Gefängnisverwaltung darauf aufmerksam zu machen, daß wir drei verschwunden seien.

Bochanowski hatte in einer Kammer mit Malawski gesessen, welcher selbstverständlich von unserem Fluchtplan schon früher gewußt hatte. Unseren Vorschlag, mit uns zu entfliehen, hatte er abgelehnt, weil er glaubte, daß das Gericht ihn aus Mangel an Beweisen freisprechen oder zu einer ganz unbedeutenden Strafe verurteilen würde. Er fand es nicht lohnend, sich den Gefahren der Flucht auszusetzen, um so mehr als er überhaupt nicht illegal werden wollte. Damit man ihn aber nicht beschuldigen sollte, Bochanowski behilflich gewesen zu sein, erdachte er folgendes:

Als gegen Mittag der Gehilfe des Direktors zufällig in die Abteilung der Politischen kam, fragte ihn Malawski unter anderem: »Wohin hat man Bochanowski gebracht?«

»Wie? wohin gebracht?« kam es ganz erstaunt zurück.

»Ja, ich habe nachts im Schlafe gehört, wie sich die Tür öffnete, Bochanowski hinausging und nicht mehr zurückkehrte – ich glaubte, man hätte ihn irgendwo hingebracht.«

»Das ist ganz unmöglich!« rief der Gehilfe erbleichend aus und stürzte zu Malawskis Zelle, wo er Bochanowski natürlich nicht fand. Er schaute dann in unsere Zelle und befahl, ungeachtet »der Schlafenden«, sofort zu öffnen. Die Puppen, welche er auf unseren Pritschen fand, erklärten ihm alles. Er rannte fort, um es seinem Vorgesetzten zu berichten. Nun begriffen sie auch das geheimnisvolle Verschwinden des Beschließers.

Der Direktor begab sich sofort, vor Schreck zitternd, zum Gouverneur, um ihm über unsere Flucht, die seiner Laufbahn ein Ende setzen konnte, Bericht zu erstatten. Er wagte nicht daran zu denken, wie ihn dieser empfangen und was er zu hören bekommen würde – vielleicht seine sofortige Entlassung! Das Erstaunen der Unsrigen war desto größer, als er bald darauf mit strahlendem Gesicht bei ihnen erschien und seiner Freude Ausdruck gab, daß uns die Flucht gelungen sei.

»Solche verständige, brave Menschen,« äußerte er sich über uns, »wie viel Nutzen werden sie jetzt, da sie frei sind, wieder bringen; es wäre doch zu traurig gewesen, wenn sie in der Zwangsarbeit elend zugrunde gegangen wären.«

Der Alte glaubte durch diese Reden in den Augen der Gefangenen und der in Freiheit befindlichen Revolutionäre seinen Ruf eines guten Direktors zu festigen.

Einer der Genossen fragte, was der Gouverneur zu der Flucht gesagt habe. Der redselige Alte berichtete sehr gern darüber und erzählte, wie er vor Furcht gebebt habe, als er dem Gouverneur die Mitteilung machte. Als dieser hörte, daß der Beschließer, welcher uns entführt hatte, ein gewesener Gendarm sei, sagte er: »Nun, wenn es ein Gendarm war, dann beunruhigen Sie sich weiter nicht, mein lieber Herr Hauptmann, da droht Ihnen nichts.«

»Ein Gendarm? Wieso?« fragte der Gehilfe, der bei dieser Erzählung anwesend war.

»Wieso denn nicht? Frolenko ist doch ein gewesener Gendarm,« antwortete der Direktor.

»Frolenko hat schon längst seinen Abschied genommen; der verschwundene Beschließer ist nach seinen zurückgebliebenen Papieren ein Kleinbürger.«

»Ich bin verloren!« schrie der Alte, griff sich mit beiden Händen verzweifelt an den Kopf und rannte hinaus. Er machte sich wieder auf den Weg zum Gouverneur, um ihm sein Versehen zu erklären. Bald kam er wieder zu den Politischen zurück, aber diesmal ganz vor Kummer gebeugt, denn als der Gouverneur erfuhr, wer der verschwundene Beschließer war, erklärte er dem Alten, daß er ihn dem Gericht übergeben würde.

»Dem Gericht! verstehen Sie, meine Herren?« rief er mit schluchzender Stimme.

Selbstverständlich lobte er uns nun nicht mehr und freute sich auch nicht weiter über unsere Rettung.

Der Alte erlebte es nicht, dem Gericht übergeben zu werden; er wurde bald darauf krank und starb.

*

Aber wir drei Flüchtlinge, welche in dieser wunderbaren Maiennacht auf dem stillen Dnjepr schwammen, dachten nicht an Schlaf, sondern nur daran, uns möglichst weit von Kiew zu entfernen. Kaum sahen wir morgens durch unseren Fernstecher einen Dampfer nahen, als wir sofort an dem mit dichtem Walde bewachsenen Ufer landeten. Wir versteckten unser Boot im Schilf, zündeten ein Feuer an und kochten uns Tee. Nachdem wir mit großem Appetit gefrühstückt hatten, legten wir uns ins duftende Gras und gaben uns einem süßen ungestörten Schlafe hin.

Unsere Fahrt dauerte ungefähr sechs Tage und bereitete uns unendliches Vergnügen. Anfangs hielten wir uns, wie schon erwähnt, tagsüber versteckt und fuhren nur in der Nacht; nach und nach aber, als wir merkten, daß man uns nicht verfolgte, wurden wir mutiger, beachteten nicht mehr die auf dem Flusse schwimmenden Dampfer und legten sogar an verschiedenen Dörfern an, um Lebensmittel zu kaufen.

Den Bauern gegenüber gaben wir uns für Floßarbeiter aus, die hinter ihren Flößen segelten. Da die Landschaft, durch welche wir fuhren, an den Tschigiriner Kreis grenzte, war es uns sehr interessant, zu erfahren, ob die dortigen Bewohner etwas von der »Verschwörung« der Bauern wußten. Doch es stellte sich heraus, daß sogar in den Bezirken, die ganz nahe am Tschigiriner Bezirk lagen, die Bauern nur eine sehr unklare Vorstellung von ihr hatten.

Ohne jegliche Hindernisse, von der Sonne verbrannt und körperlich gestärkt, gelangten wir nach der Stadt Krementschug, welche ungefähr 350 Werst von Kiew entfernt liegt. Dort sollten wir, wie verabredet, mit Ossinski, der an einem früher bestimmten Tage mit der Eisenbahn eintreffen wollte, zusammentreffen. Als wir ankamen, war er schon dort. Von ihm erfuhren wir, was für Maßregeln die Regierung getroffen hatte und auch, daß von ihm und anderen Genossen eine Proklamation herausgegeben worden war, die berichtete, daß unsere Befreiung auf Befehl »des Exekutivkomitees der russischen revolutionären Partei« vollbracht worden sei; obwohl in jener Zeit solch ein Komitee noch gar nicht existierte. Ossinski erzählte noch, daß er dank unserer Flucht von einer reichen Gutsbesitzerin, welche niemand von uns dreien persönlich kannte, fünfzehntausend Rubel erhalten habe, die sie ihm schon früher für revolutionäre Zwecke versprochen hatte, falls unsere Befreiung gelingen sollte.

Ossinski, der ein unternehmender, energischer und mutiger Mensch war, hatte, bevor er noch von unseren Absichten und Vorhaben etwas gehört hatte, sich zurecht gelegt, was jeder von uns nach seiner Befreiung tun würde.

»Nun, ihr beide,« sagte er, sich an Stefanowitsch und Bochanowski wendend, »werdet sicher an die Wolga oder an den Don gehen, um in jenen Orten, wo ihr Verbindungen und Ansiedlungen habt, unter den Bauern und Kosaken zu agitieren.« »Und Sie,« wandte er sich dann an mich, »werden es natürlich nicht abschlagen, an der gewaltsamen Befreiung der im Tschigiriner Prozeß zu Zwangsarbeit verurteilten Genossen Mischkin Wojnoralski und Murawski, welche in verschiedenen Gefängnissen interniert sind, Anteil zu nehmen.«

Aber unser Freund hatte, wie man sagt, die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Meinen Plan, über Petersburg ins Ausland zu gehen, teilten auch schon lange Stefanowitsch und Bochanowski. Ossinski war nicht weniger darüber erstaunt als die Genossen, denen ich damals im Gefängnis meinen noch ganz unausführbar scheinenden Wunsch aussprach. Die ganze Nacht unterhielten wir uns mit Ossinski und reisten am anderen Morgen zusammen mit der Bahn nach dem Norden ab. Wir drei hatten Bauernkleidung an und gaben uns für Zimmerleute aus, die in ihr Heimatsdorf zu den Feldarbeiten zurückkehrten. Wir überzeugten uns bald, daß diese Kleidung uns vor allen Verdächtigungen schützte, denn auf allen Stationen und auch in den Eisenbahnwagen wimmelte es von Spionen und Gendarmen, die jedem Menschen, der intelligent aussah, frech ins Gesicht starrten und ihn mit einer Photographie verglichen, die sie bei sich hatten. Uns drei beachteten sie nicht im geringsten. Wie damals die Zeitungen berichteten, passierte unter anderem auf einer Station folgendes Geschichtchen: Ein Gendarm hielt einen Geistlichen, der eilig in den Zug steigen wollte, an, gab ihm einen Kamm und befahl ihm, sich zu kämmen.

»Bist du noch bei Verstand?« fragte ihn dieser.

»Kämmen Sie sich, sonst verhafte ich Sie,« wiederholte drohend der Gendarm. Das Publikum, welches sich ringsumher versammelt hatte, drückte laut seinen Unwillen über solch eine freche Zumutung aus. Der Geistliche aber, welcher befürchtete, den Zug zu versäumen, war genötigt, der abgeschmackten Forderung des Hüters der Ordnung nachzukommen.

»Entschuldigen Sie, Väterchen!« sagte er, »ich habe Sie für den verkleideten Revolutionär Deutsch gehalten, welcher unlängst aus dem Gefängnis zu Kiew entflohen ist, und glaubte, Sie hätten eine Perücke auf.«

Nach unserer Ankunft in Petersburg richteten wir uns auf einer Datscha (Landhaus) im Vorort Ljesnoi ein, von wo aus wir ziemlich oft die Hauptstadt besuchten. Bald darauf teilte uns eine gut unterrichtete Person mit, daß aus Kiew ein Beschließer namens Worobjew eingetroffen sei, der, wie es sich nun herausstellte, unser Gespräch belauscht hatte, in welchem ich den Wunsch geäußert hatte, mich nach meiner Befreiung nach der Residenz zu begeben. Nach unserer Flucht erbot er sich, uns dort aufzusuchen. Als ich eines Tages am finnländischen Bahnhof aus der Pferdebahn stieg, begegnete ich diesem freiwilligen Spion. Das Blut stieg mir zu Gesicht. Noch einen Augenblick und ich war verloren. Zum Glück beeilte er sich, einen Platz oben auf dem Verdeck zu erlangen, streifte mich nur mit einem kurzen Seitenblick, und da ich rasiert war, erkannte er mich nicht.

Ungefähr nach zwei Monaten gelang es uns, mit Sundelewitschs Hilfe über die preußische Grenze zu entkommen.

*

Es bleibt nur noch übrig, einige Worte über das Schicksal derjenigen Personen zu sagen, welche wegen der »Tschigiriner Sache« angeklagt waren. Der größte Teil der verhafteten Bauern wurde, da man deutlich sah, daß sie von uns durch Täuschung in die Verschwörung hereingezogen waren, freigesprochen, nur wenige wurden zur Ansiedlung und zu kurzen Gefängnisstrafen verurteilt. Von den intelligenten Teilnehmern traf Malawski die härteste Strafe: das Schicksal zertrümmerte alle seine Hoffnungen und Voraussetzungen! Am Ende des Sommers verwarf der Senat das Urteil des Kiewer Gerichtshofs, welcher ihn zur Ansiedlung verurteilt hatte, und verschickte ihn auf zwölf Jahre in die Zwangsarbeit nach Kara. Unterwegs dorthin machte er einen Fluchtversuch, der mißlang und ihm noch weitere fünfzehn Jahre Zwangsarbeit eintrug. Von Kara brachte man ihn im Jahre 1883 wegen eines ganz unbedeutenden Vergehens nach der Peter-Pauls-Festung, wo er dem dort herrschenden schrecklichen Regime schon nach einem Jahre erlag. Außer Malawski wurde noch Julia Krjukowskaja, die auch erst zur Ansiedlung verurteilt worden war, durch die Kassation des Senats zu dreizehn Jahren vier Monaten Zwangsarbeit verurteilt; auch Scheffer erhielt vier Jahre Zwangsarbeit. Die anderen Angeklagten wurden auf administrativem Wege in verschiedene weit entfernte Orte des Reiches verschickt. Unter ihnen befand sich auch der junge Gutsbesitzer Poletika. Er mußte seine Gastfreundschaft teuer bezahlen: während seiner Kiewer Gefängnishaft hatte er sich eine schwere Lungenkrankheit geholt, welche ihn in der Verbannung bald ins Grab brachte.

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