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Auf dem Wege nach Sibirien

Ich will die Herrlichkeiten dieser Reise in den schmutzigen Sträflingswaggons, den achttägigen Aufenthalt in der Kajüte der Barke, die von einem Dampfer auf den Flüssen Wolga und Kama geschleppt wurde, die Rasttage in den engen, schmutzigen Gefängniszellen nicht schildern. Darüber ist schon mehr als einmal geschrieben worden, und dem lesenden Publikum ist das alles bekannt. Für mich, der ich schon vor vielen Jahren diesen Weg passierte, war die riesige Anzahl Gefangener in allen Gefängnissen, durch die wir kamen, etwas Neues. Der größte Teil waren Arbeiter und meistens Sozialdemokraten. Trotzdem sie schon monatelang im Gefängnis gesessen, waren alle in sehr guter und revolutionärer Stimmung.

Sehr angenehm berührte uns auch diesmal das Verhalten der Bevölkerung den politischen Verschickten gegenüber. In allen Orten, durch die wir kamen, bereitete man uns trotz der energischen Einmischung der Gendarmen und Polizei, wenn nur die geringste Möglichkeit vorlag, einen lauten Empfang und Abschied. Ganz besondere Teilnahme erwies uns die Bevölkerung Sibiriens von Tscheljabinsk an. In großen Massen versammelten sich Arbeiter, Bauern und das intelligente Publikum auf den Eisenbahnstationen, man überschüttete uns mit Fragen, was in Rußland vorgehe, welche Hoffnungen man dort nach der Auflösung der Duma hege? usw. Manche hielten uns für Mitglieder der Duma, die in die Verbannung gingen. Soviel man nach dem Publikum, welches wir sahen, urteilen konnte, war die Stimmung eine mutige und gehobene. Viele sprachen die feste Überzeugung aus, daß die Reaktion nicht lange mehr herrschen und sehr bald die wirkliche Freiheit kommen würde. Wir unterstützten natürlich ihre Hoffnungen. Auch hatten wir sehr oft Gelegenheit, uns zu überzeugen, daß die Strafexpeditionen der Generäle Möller-Sakomelski und Rennenkampf nicht wenig zur Aufwiegelung der sibirischen Bevölkerung beigetragen hatten. Die Namen der »Beruhiger« wurden nur mit der größten Entrüstung genannt, und von ihren Taten erzählte man Entsetzliches.

In den Zügen, die uns entgegenkamen, trafen wir oft Politische, die aus dem Ort ihrer Verbannung geflohen waren; manchmal sahen wir mehrere solche den Tag über. Sie kamen ungehindert an unseren Wagen und erzählten uns von den Lebensbedingungen in der Verbannung und auf welche Weise sie es ermöglicht hätten, zu verschwinden. Einige gaben uns praktische Ratschläge, wie wir ihrem Beispiel folgen könnten, und versahen uns mit zuverlässigen Adressen.

Nach ihren Erzählungen war es gar nicht schwer, aus der Verbannung zu entfliehen, man mußte nur über die nötigen materiellen Mittel verfügen. Alle diese Zurückkehrenden kamen aus den nächsten Orten der Verbannung in Westsibirien; wir begegneten aber den ganzen Tag über nicht einem Politischen, welcher aus dem Turuchansker Gebiet geflohen wäre. Die Nachrichten, welche wir unterwegs über den für uns bestimmten Verbannungsort erhielten, boten ein trostloses Bild.

Wie auch die Lebensbedingungen im Turuchansker Gebiet sein mochten, ich hatte auf alle Fälle, noch als ich im Untersuchungsgefängnis zu Petersburg saß, beschlossen, aus der Verbannung zu fliehen. Daher versah ich mich mit allem Nötigen, wie Geld, Paß und Adressen, und versteckte alles aufs sorgfältigste, damit man es bei den vielen persönlichen Durchsuchungen, welche uns unterwegs bevorstanden, nicht finden konnte. Es gelang mir auch vollkommen. Eine einigermaßen geeignete Gelegenheit, unterwegs oder aus einem der Gefängnisse und Etappen während der Rasttage zu fliehen, bot sich nicht, obwohl ich oft meine ganze Aufmerksamkeit nach dieser Richtung anstrengte. Es wäre ja möglich gewesen, irgend einen gewagten Versuch zu unternehmen; doch meine Lage als administrativer Verbannter war gar nicht so kritisch, daß ich die erste Gelegenheit ergreifen mußte, ohne vorher zu überlegen, ob es sich überhaupt lohne, Leben und Gesundheit dabei in Gefahr zu bringen. Ich war daher entschlossen, das Zusammentreffen von günstigen Bedingungen für einen Fluchtversuch abzuwarten.

Wie ich schon erzählt habe, schilderten alle Nachrichten, die wir unterwegs über das Turuchansker Gebiet erhielten, das dortige Leben als äußerst qualvoll. Das Turuchansker Gebiet liegt im nördlichen Polarkreis, ist ein sehr armes Land, schwach bevölkert und entbehrt der elementarsten Kulturbedingungen.

Die Haupt- und einzige Stadt Turuchansk hatte im ganzen 195 Einwohner, welche nach Aussage der einen in 40 und anderer in 25 elenden Hütten, die eher an Viehställe als an menschliche Wohnungen erinnerten, lebten. Genau entsprechend waren die anderen Bedingungen des dortigen Lebens. Die Verschickten mußten daher auf jedem Schritt alle möglichen Entbehrungen und Leiden ertragen.

Erschwerend war für sie noch, daß es aus diesem öden entfernten Land unmöglich war, zu fliehen, denn das Erscheinen und das Verschwinden eines Menschen würde sofort von jedem bemerkt werden. Da Landwege vollständig fehlen, dauert es sehr lange, bis man zu einem Ansiedlungspunkt kommt. Die nächste Stadt, Jenisseisk mit fünf- bis sechstausend Einwohnern, liegt 1000 Werst von Turuchansk entfernt, und die Reise dorthin dauert je nach der Jahreszeit 10 bis 15 Tage. Diese Verhältnisse machten es notwendig, die Flucht schon unterwegs, noch vor unserer Ankunft in Turuchansk, auszuführen.

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