Egbert Carlssen
Ein Stadtjunker in Braunschweig
Egbert Carlssen

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Vierzehntes Kapitel.

Zündende Blitze.

Als Seine Gestrengen, der erste Bürgermeister der Altstadt, Herr Tile vam Damme, am Morgen des Montags nach Misericordias Domini anno 1374 sich erhoben hatten und die Läden aufstießen, lachte ihnen ein köstlicher, Heller Frühlingstag entgegen. Unwillkürlich blieb der Bürgermeister am offenen Fenster stehen und atmete in tiefen Zügen die erfrischende Luft ein, welche ihn anwehte. Der Marktplatz zu seinen Füßen lag noch still und einsam da, einige Mägde kehrten vor den Hausthüren oder standen auch wohl, den Besen in der Hand, in eifriger Unterhaltung bei einander. Über das hohe Giebeldach des gegenüber liegenden Schuhhofs blitzten die Strahlen der Morgensonne herüber und zeichneten die Umrisse des stattlichen Gebäudes in gigantischen Schatten auf das Pflaster; ein Hausknecht öffnete das große Eingangsthor und ein anderer führte ein gesatteltes Pferd heraus. Nicht lange dauerte es, so folgte, von Meister Jürgens, dem Wirt, geleitet, ein zeitiger Reisender und schwang sich in den Sattel, Meister Jürgens gewahrte Seine Gestrengen am Fenster und zog grüßend die Zipfelmütze, das bemerkend verneigte sich auch der Fremde gegen das Haus mit den sieben Türmen. Tile vam Damme aber dankte mit einer würdevollen Handbewegung und sah dem Reiter nach, wie er langsam quer über den Platz ritt. »Kommt der nach Hause«, dachte er dabei im stillen, »und erzählt von Braunschweig, wird er auch von dessen erstem Bürgermeister berichten und von dem Palast, in welchem dieser wohnt, und von dem Ansehen, in welchem er beim Braunschweiger Volk steht. So dringt in immer weitere Kreise die Kunde von meinem Reichtum und meiner Stellung.«

Acht Uhr! Welches Leben herrscht jetzt schon auf dem vorhin noch so stillen Marktplatz! Im Schuhhof strömt es aus und ein, fremde und einheimische Gildegenossen kommen und gehen, kaufen und verkaufen. Bauernweiber sitzen in langen Reihen, vor sich in hohen Kiepen Eier, Butter, Käse und Geflügel, und feilschend und plaudernd, lachend und scheltend drängen sich durch die Reihen Hausfrauen und Mägde. An den Häusern entlang bieten Handelsleute auf breiten Tischen ihre Waren aus; hier bunte Tücher und schillernde Seide, dort blendendes Leinen und dort wiederum schwere, dunkelfarbige Wollstoffe. Das reich geschmückte Portal des Hauses mit den sieben Türmen ist weit geöffnet und in der Thorwölbung steht eine bunt bemalte und vergoldete Sänfte. Die ist bestimmt, Seine Gestrengen zum Rathaus zu tragen, denn das Gehen wird dem Bürgermeister immer beschwerlicher, das Zipperlein hat ihm im vorigen Winter arg zugesetzt.

Auf dem Rathause erwarteten ihn einige seiner Freunde, unter ihnen Eggeling van Strobecke und Brun van Gustede. Die waren vom Rat bestimmt, Rücksprache mit den Gildemeistern wegen der neuen Steuer zu nehmen. Denn wenn es auch keiner dem andern eingestand, ein gutes Gewissen hatte niemand bei diesem Kornzins und ebenso wenig den Mut, dem Volke den Scheffelpfennig anzusagen. Deshalb war man auf den Gedanken gekommen, sich der Gildemeister als Mittelspersonen zu bedienen, die mochten den ersten Sturm des Unwillens aushalten.

Als Tile vam Damme nun eingetreten war und sich mit seinen Anhängern begrüßt und genügend die Hände geschüttelt, als er sich dann, nicht ohne einiges Stöhnen und Seufzen, in seinen hochlehnigen Sessel niedergelassen hatte, auch die Erkundigungen nach dem gegenseitigen Wohlbefinden und dem Ergehen der werten Familien pflichtgemäß erledigt und einige Tagesneuigkeiten ausgetauscht waren, ließ man die Gildemeister hereinführen.

Tile vam Damme räusperte sich und begann von der Lage der Stadt zu erzählen. Er klagte über die schlechten Zeiten und wie unregelmäßig und weit unter dem Voranschlage Zölle und Steuern eingingen. Trotz der größten Sorgfalt des Rates sei es demselben nicht gelungen, für unvorhergesehene Fälle etwas zurückzuhalten, kaum habe man die laufenden Ausgaben bestreiten können. Jetzt aber sei ein Fall eingetreten, welchen niemand habe berechnen können, die Gildemeister würden wohl wissen, was er meine: das Unglück am Elme. Dieser außerordentliche Fall verlange auch außerordentliche Mittel. Viertausend Mark, nicht mehr und nicht weniger, erheische der Erzbischof von Magdeburg als Lösegeld für die Gefangenen. Nur der geringste Teil davon könne aus den vorhandenen Mitteln gedeckt werden, die Hauptsumme müsse eine neue Steuer aufbringen. Doch habe der Rat eine Steuer ersonnen, deren Druck die Bürgerschaft kaum empfinden werde, nämlich einen Pfennig von jedem eingeführten Scheffel Korn. Wer werde das zahlen müssen? Die zufahrenden Ritter mit ihren Knechten, die Pfaffen, die fremden Kaufleute und andere fremde Gäste, die Bauern, vor allem aber die Geschlechter selbst, deren Hauptbesitz Landgüter, Zehnten und Korngülten seien, unberührt aber würde der eingesessene Bürger davon bleiben. Doch sei immerhin diese Steuer etwas Außergewöhnliches, darum möchten es die Meister an ihre Gilden und Ämter bringen und fragen, ob diese dem Rate darin behilflich sein wollten. »Weiß aber jemand etwas Besseres, so mag er sich vernehmen lassen«, schloß Tile vam Damme, »gern wird sich dann der Rat nach dem Wunsch der Gilden halten.«

Etwas Besseres zu wissen, als der wohlweise Rat von Braunschweig mit Tile vam Damme an der Spitze – das war nun wohl nicht gut möglich. War auch eigentlich nicht so gemeint von Seiner Gestrengen, sondern waren solche gnädigen Schlußworte bestimmt, zur Entlassung auf die Gildemeister einen guten Eindruck zu machen. Aber wunderbarer Weise wußten die Gildemeister in der That heute mancherlei. So zum Beispiel wußten sie, daß den neuen Kornzins alle ohne Ausnahme trügen, welche Brot äßen, und daß nicht die Reichen einen Aufschlag der Brotpreise am härtesten empfinden würden. Auch wußten sie, daß die Gefangenen durch eigene und Schuld des Rates in Magdeburg säßen, welcher ohne Grund mit dem Erzbischof die Fehde begonnen, nun möchten die Ratsverwandten auch sehen, wie sie die ihrigen aus der Haft lösten. Die Gemeine habe nichts damit zu schaffen und ein hoher Rat selbst würde sich auch wenig darum kümmern, wenn die Gefangenen arme Gildegenossen wären. Das alles wußten sie und sagten es gerade heraus, durchaus nicht verblümt, nein, sogar mit groben und heftigen Worten. Zumal der reiche Klaus Lodewiges von der Breitenstraße, welcher die mächtige Gilde der Tuchwirker oder Wollenweber vertrat, bewegte sich in Ausdrücken, welche außerordentlich wenig Achtung vor dem Bürgermeister und den Ratsherren verrieten. Dazu schlug er mit der geballten Faust auf den Tisch, so daß der gewaltthätige Eggeling van Strobecke aufsprang, ihn am Arm faßte und ihm zurief, ob er nicht wisse, wo er sich befinde. Da riß sich Lodewiges los, sprang zum Fenster, öffnete es und rief hinaus: »Gewalt, Gewalt! Mord, Totschlag!«

Schwer atmend erhob sich Tile vam Damme. »Großer Gott, was beginnt Ihr, Meister!« rief er. »Niemand will Euch hier etwas zu Leide thun, Ihr aber bringt ja die ganze Stadt in Aufruhr.«

Heller Hohn zuckte über das Gesicht des Gildemeisters. Aber in Worten fand er keinen Ausdruck. Mit halb geschlossenen Lippen knurrte der reiche Klaus: »Muß ich nicht an Gewaltthat glauben, wenn mich der Ratsmann angreift!«

»Nur Übereilung war es«, sagte Tile vam Damme, indem er Eggeling van Strobecke einen mißbilligenden Blick zuwarf, »der Ratsmann ist zornigen Gemüts. Seht, er ist bereit, Euch dessen zu versichern, keine Gewaltthat und keine Beleidigung lag ihm im Sinn.« Er winkte Strobecke heftig zu, so daß dieser nicht zu widersprechen wagte, ja sich zu einer Zustimmung herbeiließ. Damit erklärte sich der reiche Klaus für befriedigt und man nahm die Beratung wieder auf.

Doch auch jetzt ohne Erfolg! Alle Beredsamkeit Seiner Gestrengen, alles Zureden der Ratsmannen vermochte nicht, die halsstarrigen Gildemeister zu überzeugen. Auch das half nichts, daß vam Damme, wie er es so gut verstand, ihnen einzeln um den Bart ging, sie eins über das andere »bester Freund« und »lieber Gevatter« nannte, auch ihnen zu schmeicheln suchte, indem er ihre Einsicht und das Ansehen, das sie bei den Gilden genössen, in den Himmel erhob. Unentwegt hielten die Meister die beiden Sätze aufrecht: »Die Gefangenen sollten sich aus eigenen Mitteln befreien«, und: »Von allen Steuern sei der Scheffelpfennig für das Volk die drückendste Steuer.«

Da riß endlich Eggeling van Strobecke zum zweiten Mal die Geduld. Heftig rief er, es sei nun genug geredet, jetzt möchten sich die Meister erklären, ob sie des Rates Antrag an die Gemeine übernehmen wollten oder nicht. Und wiederum leuchtete der helle Hohn aus dem Gesicht des reichen Klaus, indem er antwortete: »Das wollen wir freilich thun, wenn es ein hoher Rat für angemessen hält.«

Vam Dammes Augen hingen fest an seinem Antlitz und dessen höhnischer Ausdruck entging ihnen nicht. Der machte den Bürgermeister stutzig. Führten die Gilden etwas im Schilde? Vielleicht war es doch besser, jetzt kein Geld von ihnen zu verlangen. Aber dann hätte ja Kort Doring Recht behalten, welcher dem Kornzins aufs eifrigste widersprochen. Überlegend sah vam Damme vor sich nieder, ehe er das letzte, das entscheidende Wort sprach.

Und indessen stürmte ein Reiter auf der Straße von der Liebenburg nach Braunschweig dahin. Sein Pferd war bespritzt mit dem Kot der Landstraße und mit weißem Schaum, kein Haar an dem Tier war trocken und dennoch stachelten es die Sporen des Reiters zu immer schnellerem Lauf. Die äußerste Angst lag auf dessen Gesicht, jeder seiner Züge drückte ein und dieselbe Frage aus: »Komm ich noch zur rechten Zeit?« –

Vam Damme hatte seinen Entschluß gefaßt. »Des Rates Wunsch habt Ihr erfahren«, sprach er, »geht nun hin und verkündet ihn an den Gildetafeln. Jeder ruhige Bürger wird einsehen, daß die neue Steuer notwendig und zweckdienlich ist.«

Damit waren die Gildemeister entlassen.

»Halsstarriges Volk!« schalt Eggeling van Strobecke und »beschränkte Köpfe!« murmelte Brun van Gustede, Seine Gestrengen aber sagten gar nichts. Mit nachdenklicher, fast sorgenvoller Miene verabschiedete der Bürgermeister sich von seinen Freunden, bestieg seine Sänfte und ließ sich nach Hause tragen.

Elf Uhr! Der Marktplatz bot jetzt wieder ein anderes Bild. Aus den Schornsteinen der hohen Giebelhäuser stieg der Rauch sich kräuselnd zum blauen Frühlingshimmel empor und aus allen Thüren drangen verlockende Gerüche, welche einen knurrenden Magen zur Verzweiflung hätten treiben können. Verschwunden waren die Bauernweiber, auch die Handelsleute packten ihre Waren ein, denn die tiefen Glocken von Sankt Michaelis holten aus und läuteten Mittag. Weithin rauschten die Tonwellen über die Stadt hinaus ins freie Feld, aber der atemlose Reiter war noch nicht in ihren Klangbereich gelangt.

Auch im Innern des Schuhhofs waren sie kaum vernehmbar und nicht wie sonst riefen sie die Meister nach Hause, wo die dampfende Suppe schon auf dem Tisch stand. Die Gerber und Schuster hielten heute Morgensprache und statt des Gildemeisters, welcher auf dem Rathause war, saß derselben Asche Kamta vor. Der leitete bald die Verhandlungen von den inneren Angelegenheiten der Gilden auf die allgemeinen Verhältnisse der Stadt, brachte einzelne Übergriffe von Ratsmannen zur Sprache und forderte die Gildegenossen auf, in Erwägung zu ziehen, ob und wie die augenblickliche unleidliche Lage zu ändern sei. Da war es, als ob ein Wehr aufgezogen würde, ein solcher Schwall von Klagen, von Vorschlägen und Drohungen ergoß sich über die Tafel, Einer steigerte den anderen, immer hitziger wurden die Reden, immer röter wurden die Köpfe, immer häufiger mußte Meister Jürgens, der Wirt, die Zinnkrüge füllen und ihr oft geleerter Inhalt schwemmte Besonnenheit und Überlegung mit sich fort.

Kein Wunder daher, daß in dem Tumult die Mittagsglocke ungehört verhallte. Längst waren es nicht mehr die Meister allein, welche an der Gildetafel saßen, eine Menge Männer des gemeinen Volkes hatten sich eingedrängt, selbst fremdes Gesindel, wilde Gesellen mit durstigen Kehlen und von verzweifeltem Aussehen.

Mitten in diese erhitzte Menge, erhitzt durch Zorn, Schreien und berauschende Getränke, rief plötzlich eine Stimme: »Gewalt, Gewalt! Den Gildemeistern geschieht Gewalt!«

Es war Eckermann, der Kleinschmied aus dem Hagen, der hatte im Vorbeigehen Lodewiges Hilferuf gehört und war schnell zur nächsten Gildetafel geeilt. Alles sprang auf, rannte durch einander, schrie nach Waffen. Wo die Waffen herkamen, wer wußte es, wer dachte daran? Aber sie waren da, Schwerter, Streitkolben, Hellebarden, Morgensterne blitzten fast in jeder Faust; und wer nicht damit bewehrt war, hatte doch wenigstens ein Messer, ein Beil, einen Knüppel, manche griffen auch nach den Schemeln der Wirtsstube. Alles aber drängte mit wildem Geschrei dem Ausgange zu: »Nieder mit dem Rat! Den Gildemeistern zu Hilfe!«

Die Menge stopfte sich im Ausgange, das war ein Drängen, Quetschen, Stoßen und Schimpfen. Einige, die voran gelaufen waren, kamen zurück. »Es sei falsches Geschrei«, hieß es, »auf dem Rathaus sei alles ruhig.«

Holtnicker warf Asche Kamla einen Blick zu, der stürzte sich in das Gedränge und rief mit gellender Stimme: »Ordnung, Ordnung, Freunde! Keine Übereilung! Laßt uns warten, bis der Gildemeister zurückkommt und uns des Rates Verlangen zu wissen thut!«

»Was wird der Rat verlangen«, schrie einer aus der Menge. »Geld, Geld und wieder Geld! Wir wollen hin zum Rathaus und sie bezahlen, aber mit selbstgeprägter Münze!«

Der Sprecher schwang bei den Worten seinen Streitkolben hoch in der Luft und die Menge brüllte ihm lauten Beifall zu. Aber andere, noch nicht aller Besonnenheit ledig, drängten von der Thür zurück, unter ihnen Holtnicker und Asche Kamla mit ihren Vertrauten. Wer die Oberhand behalten würde, schien fraglich, da hieß es plötzlich: »Der Gildemeister, der Gildemeister!«

Man wollte ihm Platz machen, aber in dem Hin- und Herdrängen war das kaum möglich. Da hoben ihn zwei handfeste Bursche auf ihre Schultern, überlieferten ihn zwei anderen, die wiederum anderen, so gelangte der Mann willenlos über die Köpfe der Menge weg, auf seinen Platz am oberen Ende der Tafel.

»Auf den Tisch! Auf den Tisch!« brüllte das Volk. Der Gildemeister mußte gehorchen, es wäre für ihn sonst unmöglich gewesen, sich Gehör zu verschaffen. Auch so drangen nur einzelne seiner Worte in die Ohren der Menge, aber was jeder hörte, war das verhängnisvolle: »Eine neue Steuer!«

»Das Brot soll teurer werden, damit die Burgensen von Magdeburg zurück können«, klang Holtnickers klare, ruhige Stimme. »Wollen wir uns das gefallen lassen?«

Er war neben den Gildemeister auf den Tisch gesprungen, jeder Buchstabe seiner Worte war in dem Getümmel vernehmlich.

»Nein, nein!« brüllte die Menge und hob drohend die Waffen.

»Ist Tile vam Damme nicht reich genug, selbst seinen Schwiegersohn auszulösen?« schrie Asche Kamla.

Holtnicker hob die Hand und wies aus dem geöffneten Fenster auf den freien Platz: »Dort steht das Haus mit den sieben Türmen. Seht zu, ob seine Truhen leer sind!«

»Beim Blut Christi! Was beginnt Ihr?« rief der Gildemeister, Holtnickers ausgestreckte Hand herabziehend. Aber seine Worte verhallten im jauchzenden Toben des Volkes; ja manche glaubten, er drücke dem Sprecher im Einverständnis die Hand. Man hob beide auf die Schultern und trug sie voran zum Schuhhof hinaus.

»Nach dem Hause mit den sieben Türmen!« tobte, johlte, brüllte die Menge, hinterher drängend. Ein Ziel war ihrer sinnlosen Wut gezeigt, und ein Ziel in nächster Nähe. Kein Weg war zurückzulegen, keine Entfernung war zu durchmessen, welche Besonnenheit und Überlegung hätte zurückkehren lassen.

 

Zu derselben Zeit, in welcher das Volk aus dem Schuhhof auf den Altstädter Markt hervordrängte, brach ein anderer Haufe aus einer der auf den Platz mündenden Gassen. Das war die Bäckergilde, wie die Schuster und Gerber untermischt mit gemeinen Leuten, mit fremdem und einheimischem Gesindel. In keiner Gilde herrschte eine so tief eingewurzelte Erbitterung gegen den Rat, als bei den Bäckern; schon vor fünfzehn Jahren, anno 1359, hatten sie sich gegen das Regiment der Geschlechter erhoben und wurden damals blutig unterdrückt. Seitdem hatten sie rachsüchtigen Herzens auf die Gelegenheit zu einem zweiten Versuch gewartet.

Etwa in der Mitte des Marktes vereinigten sich beide Haufen, jubelten einander zu und stürzten sich dann ohne Aufenthalt gegen das Haus mit den sieben Türmen. So plötzlich kamen dessen Bewohnern der Anprall dieser rasenden Menge, daß sie nicht einmal das große Thor des Hauptportals zu schließen Zeit fanden. Noch vor wenigen Minuten war der Platz leer gewesen, ja man hätte hinzusetzen können: still, wenn nicht aus dem Innern des Schuhhofs ein wüster Lärm herausgedrungen wäre. Jetzt war er plötzlich bedeckt mit einer brüllenden und tobenden Flut bewaffneter Menschen – und wieder um ein Kleines später hatte sich diese Flut in das prächtige Gebäude ergossen, rauschte über alle Treppen hinauf, hinab, lärmte durch alle Säle, drang in alle Zimmer bis in die geheimsten Schlupfwinkel. Und welche Zerstörung ließ sie hinter sich! Auf die kostbarsten Geräte sausten die Beile und Morgensterne nieder, die Fenster wurden eingeschlagen und ihre Flügel auf den Platz hinabgestürzt und hinterher flog durch die weiten Öffnungen, was in die Hände der Wilden fiel, Hausgeräte aller Art, Sessel und Tische, zerfetzte Betten und geschlitzte Gemälde. Schränke und Truhen wurden aufgesprengt, ihr Inhalt von gierigen Händen durchwühlt, umhergestreut, zum Fenster hinaus geschleudert, die Prachtgewänder der Frauen, Gold, Juwelen, das reiche Silbergeschirr, alles siel in die Hände der Empörer und nicht weniger die reichen Vorräte von Küche und Keller. Vom prasselnden Feuer wurden die saftigen Braten gerissen, in den Kellern schlug man den Fässern die Böden aus und schöpfte mit Eimern den Malvasier oder den dunkelroten Wein aus dem Lande Frankreich und das feurige, goldfarbene Naß vom Rhein. Der eine riß die Gefäße dem, andern vom Munde fort, einzelne hatten sich unter die aufgedrehten Faßhahnen gelegt und ließen sich die berauschende Flüssigkeit in den Mund laufen, bis sie fortgedrängt wurden, um anderen Gierigen Platz zu machen. Der Boden war überschwemmt mit dem köstlichen Naß und es gab solche, die noch vom Boden auf mit großen Schöpfkellen, mit Löffeln und irdenem Küchengeschirr die Flut ausschöpften und den Hals hinuntergossen.

Und niemand steuerte diesem tollen Gebahren?

Die überraschte Dienerschaft hatte sich beim ersten Anprall zerstreut und die wenigen Mutigen, welche es gewagt, sich der Menge entgegen zu stemmen, waren niedergehauen, unter die Füße getreten, ihre toten Leiber zu unkenntlichen Massen von Fleisch und zersplitterten Knochen geworden.

Aber der Bürgermeister selbst?

Er hatte schon mit Frau und Tochter bei Tische gesessen, da ward von einem hereinstürzenden Diener gerufen: »Sie kommen, sie kommen hierher!«

»Wer?«

Tile vam Damme erhob sich halb bei der Frage, unnötig ward jede Antwort durch das grausige Toben, das von unten herauf drang. Da sank der fette Mann in seinen Stuhl zurück, unartikulierte Laute kamen über seine Lippen, die aus dem Kopf quellenden Augen starrten in entsetzlicher Angst nach der offengebliebenen Thür, während Frau Margarete in ratlosem Jammer die Hände rang.

Nicht so Ilse! Nicht unbekannt mit des Vaters Unfällen, goß sie den nächsten Becher Wassers über ihn aus, riß ihm die Halskrause auf und ihn selbst aus dem Sessel empor, »Fort, Vater, schnell, noch ist Rettung möglich!« rief sie ihm zu und zog ihn mit sich fort. Er folgte, erst halb willenlos und keuchend, nach Atem ringend. Dann aber, wieder Herr seiner selbst werdend, eilt er hier voran, einem versteckten Turmgemache zu.

Aber schon waren sie bemerkt worden. »Da sind sie, da sind sie!« klang es hinter ihnen her und durch die prächtigen Säle stürmte eine wilde Rotte ihnen nach. Ilse schlug die Thür des Turmzimmers hinter ihrem Vater zu und stellte sich selbst davor, keine andere Waffe in der Hand, als einen schweren, eisernen Leuchter, welchen sie im Vorbeieilen ergriffen hatte, aber dennoch entschlossen, die Thür, so lang ihre Kraft aushielt, zu verteidigen. Sie schauerte zusammen, als sie die Verfolger gegen sich heranstürzen sah, diese von Leidenschaft verzerrten Gesichter mit den glühenden Augen, aus denen die Wut wie in feurigen Funken hervorsprühte. Krampfhaft umklammerten ihre Hände den Leuchter.

»Fort, Dirne!« klang es ihr entgegen, ein heißer Atem wehte sie an, ein nerviger Arm suchte sie zu umschlingen, fortzuziehen; da schmetterte sie den Leuchter auf den Kopf des Angreifers, nieder, daß derselbe blutend zurücktaumelte.

Ein Wutgeschrei folgte der schnellen That. Zwanzig Arme erhoben sich gegen Ilse, entrissen ihr den Leuchter, zerrten sie, trotz allen Widerstrebens, von der Thür, schleuderten sie den Nachstürmenden entgegen. Fußtritte donnerten gegen die verschlossene Thür, Axthiebe schlugen die Füllungen heraus, endlich gab dem vereinten Andrang auch das Schloß nach und die Thür war aufgesprengt. Die Menschenwoge stürmte durch die gewonnene Öffnung, in einer unglaublich kurzen Frist war das Zimmer gedrängt voll, alle Ecken wurden durchsucht, alle Winkel durchstöbert, alle Schränke aufgerissen, aber der Gesuchte war nirgends zu finden. Die Enttäuschung stachelte die Wut der Rasenden bis zum äußersten, sie machte sich Luft in einem tobenden Geheul, dann spähte sie nach einem anderen Opfer. Dasselbe war bald gefunden. Die Tochter des Verhaßten, welche sie aufgehalten und seine Flucht ermöglicht, Ilse war ja in ihrer Gewalt. Gegen die Unglückliche kehrte sich jetzt die ganze Wucht der entsetzlichen Flut.

Und erhob sich keine Hand zu ihrer Rettung?

Blitzschnell war die Kunde von dem Sturme auf das Haus mit den sieben Türmen durch die Stadt gelaufen. Einzelne Männer, welche »Nieder mit den Burgensen!« riefen, stürmten durch alle Weichbilde, durch alle Straßen. Aus den einzelnen wurden Haufen und diese Haufen wuchsen mit jeder Minute. Aus allen Gildestuben, aus allen Schenken stürmten die Aufrührer herbei und aus den verrufensten Winkeln nicht am wenigsten. Von St. Michaelis, vom Dom, von St. Autor klangen gellend die Sturmglocken, angstvoll schlossen die bedrohten Geschlechter ihre Häuser, lähmend wirkte das überraschende Entsetzen auf die Thatkraft, dazu das Bewußtsein, daß die Niederlage am Elme sie ihrer tüchtigsten Kräfte beraubt – jeder dachte nur an sich und niemand an gemeinsamen Widerstand.

Ja, wäre nur ein Mittelpunkt dagewesen, um den sie sich hätten scharen können, ein Anführer, der die wenigen Beherzten zusammengerafft und durch seine Zuversicht die Mutlosen mit sich fortgerissen hätte. Aber das Haupt der Stadt war durch eigene Gefährde am schwersten bedroht, und der an seine Stelle hätte treten sollen, weigerte sich dessen. Gleich die erste Kunde des Aufruhrs hatte Kort Doring erhalten. Vom Fronboten war sie ihm überbracht, aber der Bürgermeister hatte sie mit kühlem Achselzucken angehört. Wie teilnahmlos saß er im Erker seines Hauses am Steinmarkt, und als der Bote um Aufträge in ihn drang, ob er nicht den Rat zusammenrufen, die Utridere, die Stadtknechte entbieten solle, herrschte Kort ihn an, er solle schweigen und sich nicht in Sachen mischen, die er nicht verstehe.

Die Utridere kamen von selbst, nicht minder kamen die Stadtknechte und Büttel gelaufen, voller Mut und bereit, ihre Pflicht zu thun; auch einige Ratsmannen stellten sich ein und selbst einzelne der vermögenden Bürger in Eisenhaube und Lendner. Alle drängten in Doring, zu handeln, mit gesamten Kräften dem Aufruhr zu steuern – vergebens! Seine einzige Antwort war: »Was geht es mich an?« Unbeweglich saß er in seinem Erker, dessen Fenster er weit geöffnet hatte, und horchte auf das Toben und Brüllen, das vom Altstädtermarkt herüber drang. Das dünkte ihm eine köstliche Musik. Auch für ihn war der Tag der Rache gekommen!

Und die sich versammelt hatten, zu helfen, genug vielleicht, um jetzt noch dem Aufruhr zu steuern – denn was ihnen an Zahl abging, mochten Mut und Entschlossenheit ersetzen – standen jetzt ratlos, ohne Haupt, sprachen hin und her, ohne sich über das Nächste einigen zu können. Und einer nach dem andern schlich sich davon, die eigene Haut zu retten, das eigene Dach zu schützen, überlassen blieb die unglückliche Stadt den wilden Mächten der Empörung, dem Verderben geweiht das Haus mit den sieben Türmen.

 

Wir haben Ilse in dem Augenblick verlassen, als sich die Wut der enttäuschten Aufrührer gegen sie wandte.

Zu entkommen war ihr nicht möglich gewesen, der kräftigste Mann hätte nicht den Strom der Eindringenden durchbrechen können, geschweige denn ein schwaches Mädchen. So blieb ihr selbst da, als die Wütenden mit dem Sprengen der Thür und dem Suchen nach dem Bürgermeister beschäftigt waren, sie daher nicht beachteten, nichts übrig, als sich in eine Ecke zu drücken und eine günstige Wendung abzuwarten. Aber statt einer solchen trat das Allerungünstigste für sie ein.

»Statt des Vaters die Tochter!«– »Wo ist sie?« – »Her mit der Dirne!« klang es gellend durch einander. Fünfzig, sechzig Augen suchten nach Ilse und nur zu bald war sie gefunden. Man riß sie aus dem Winkel, in welchem sie sich verborgen, schleuderte sie einander zu, freche Worte schlugen an ihr Ohr, heiße Lippen suchten sich auf die ihrigen zu drücken, wohin sie sah, wilde, feindliche Blicke, teuflisches Grinsen. Ihre Kleidung war zerrissen, die sonst so zierlich gesteckten blonden Zöpfe hingen ihr tief auf den Rücken herab. Ein Mensch mit blutüberströmtem Antlitz drängte sich an sie heran.

»Mir gehört sie«, schrie er mit heiserer Stimme, »mit meinem Blut habe ich sie bezahlt! Komm, mein süßes Täubchen!«

Er umschlang sie; aus seinem bluttriefenden Haar tropfte es warm und feucht auf sie herab, einen letzten verzweifelnden Blick warf sie um sich. Da gewahrte sie im Gürtel des Zudringlichen ein blankes, langes und breites Messer. Mit einem Griff war dasselbe in ihrer Hand.

»Zurück, los«, gellte sie, die spitze Waffe zum Stoß zückend und in der That gab der Überraschte sie frei. Auch die Nächststehenden prallten einen Schritt zurück vor der blanken Waffe und den in wilder Entschlossenheit blitzenden Augen der Jungfrau. Das benutzte Ilse, mit einem gellenden Schrei stürzte sie sich in den Haufen, es bildete sich eine augenblickliche Gasse und im nächsten Moment stand sie hoch aufgerichtet in einer der hohen Fensterwölbungen, deren Kreuzstock man längst auf den Platz hinabgeschmettert hatte.

Da stand sie, die Erbtochter dieses stolzen Hauses, dessen heitere Pracht noch heute Morgen die Strahlen der aufgehenden Sonne rosig überglänzt hatten und das nun in der Mittagssonne dalag, ein Bild grausiger Zerstörung. Da stand sie, die Tochter des uralten, freien Sachsengeschlechtes, mit ungebeugtem Stolz den Tod ins Antlitz sehend, wie einst die sächsischen Jungfrauen von ihrer Wagenburg dein Ansturm römischer und fränkischer Feindesscharen entgegengeschaut hatten. Von allem Reichtum, von allem Schmuck des Lebens, von aller Schönheit war ihr nichts geblieben, als nur das eine, der Weg zur Freiheit, zur Freiheit des Todes.

Sie atmete hoch auf und warf einen Blick hinab in die gähnende Tiefe, auf das Pflaster des Marktes, auf dem in kurzer Zeit ihre zerschmetterten Gebeine liegen sollten. Ein Blick nur, und dennoch – wie viel umfaßte dieser eine Blick!

Der ganze Platz war angefüllt mit Menschen, mit rasenden, brüllenden und jauchzenden Menschen, bedeckt mit den Trümmern dessen, was einst dies Haus stolz und prächtig gemacht hatte. Dazwischen schmausende und zechende Gruppen und andere, welche in hellen Streit um die wertvolle Beute geraten waren. Sie sah grinsende und keifende Weiber über den unermeßlichen, rings zerstreuten Leinenvorrat herfallen und andere, die im Begriffe waren, ihre armseligen Lumpen mit den Festkleidern der vam Dammeschen Frauen zu vertauschen. Ja, sie erkannte sogar deutlich, wie sich eine freche Dirne in dem weißseidenen Gewande brüstete, welches sie – Ilse – auf dem Feste Herzog Ernsts im Rathause getragen hatte.

Das alles sah sie mit einem Blicke, zu einem zweiten ließen die Verfolger ihr keine Zeit. Dieselben waren nicht gewillt, ihre schöne Beute sich entgehen zu lassen. Sobald sie sich von ihrer Überraschung erholt, stürzten sie sich mit Wutgeheul auf die Fensternische, in welche sich Ilse geflüchtet. Die Jungfrau schloß die Augen und hob sich zum Sprunge in die grausige Tiefe.

Und mit Blitzesschnelle zog in diesem Moment noch einmal ihr ganzes vergangenes Leben an ihr vorüber. Hastig verdrängte ein Bild das andere und in jedem Bilde wiederholte sich eine Gestalt, »Rolef«, flüsterte sie mit bebenden Lippen.

»Ilse!« War es das geisterhafte Echo ihrer Gedanken, war es Wirklichkeit, dieser Ton, der an ihr Ohr schlug? Sie öffnete die Augen und – keine Täuschung! Sie sah dort unten auf dem Platze mitten in der Menge einen Reiter. Vor den hauenden Hufen seines Rosses, vor dem drohenden Blitzen seines breiten Schwertes wich das Gesindel scheu aus einander. Wonniges Entzücken durchbebte sie, und zugleich ein grenzenloser Schmerz. Er war gekommen sie zu retten, aber – er war zu spät gekommen. Bis er, der Einzelne, sich zu ihr durchgeschlagen hatte, war sie längst der Wut dieser Ruchlosen zum Opfer gefallen oder lag zerschmettert unten auf dem Pflaster.

Da tönte ein zweites Wort an ihr Ohr, dem ein gellendes Angstgeschrei folgte, welches selbst das Brüllen der Menge übertönte und die Köpfe ihrer Verfolger nach rückwärts wandte. »Feuer! Feuer!« gellte es von unten herauf. »Das Haus brennt, rette sich wer kann!«

Es war gekommen, wie es kommen mußte. Nicht zufrieden in ihrer sinnlosen Wut, alles zu zerschlagen und zum Fenster hinaus zu, werfen, hatten die Rasenden Feuer angelegt, das ihrer Zerstörungssucht schnellere Dienste leisten sollte. Die ersten waren Asche Kamla und Holtnicker gewesen. In die Hände des letzteren waren mit den Rentenbriefen, Schuldscheinen und Rechnungsbüchern des Bürgermeisters auch seine beiden Verschreibungen gefallen, denen er den Niedergang seines Glückes zurechnete. Ihr Anblick hatte die unter der äußeren Ruhe kochende Leidenschaft wie einen nichtsachtenden Lavastrom durchbrechen lassen. Mit Asche Kamlas nur zu bereitwilliger Hilfe hatte er zusammengerafft, was Brennbares in der Nähe war, den schnell gebildeten Scheiterhaufen entzündet und jene verhaßten Schriften mit einer Menge ähnlicher Urkunden hineingeworfen. Es war ein Vermögen, das da in Feuer und Rauch aufging, das Vermögen, welches Tile vam Damme in langen Jahren rastloser Thätigkeit, nicht zufrieden mit dem altererbten Reichtum seines Hauses, zu demselben hinzu erworben hatte; ein Vermögen, an welchem der Schweiß der Armen und die Thränen der Witwen und Waisen klebten. Jetzt verzehrten es die lodernden Flammen in reißender Schnelligkeit, und als Holtnicker das helle Feuer so rüstig an der Arbeit sah, wandte er sich lachend ab, anderswo für seinen Zerstörungssinn ein Feld suchend und unbekümmert, was die Flammen noch weiter verzehren würden.

Aber das eine Feuer hatte zur Nachahmung angespornt, auch in anderen Gemächern loderte es bald eben so hoch auf, weiter und weiter griffen die Flammen um sich, umjubelt und geschürt von den Brandstiftern, ohne einen Gedanken an die Hunderte der Ihrigen in den oberen Geschossen und in den Kellern, wo in sinnloser Betäubung die Berauschten bei den aufgeschlagenen Fässern lagen. Erst als die Flammen aus den Fenstern herausschlugen, als erstickender Rauch das Treppenhaus erfüllte und das trockene, mit Ölfarben getränkte Holz der Stiegen selbst in der Hitze knarrend aufsprang und zu qualmen begann, dachten sie an den Rückzug, dachten sie daran, auch ihren Genossen eine Warnung zukommen zu lassen.

Ein kreischender Angstschrei war die Antwort auf diese Warnung, Ilses Bedränger, deren Gesichter soeben noch von Wut gerötet waren und aus deren Augen Rachgier und Bosheit geblitzt, wurden bleich, und ängstlich suchten ihre Blicke den rettenden Ausgang. Alle stürzten demselben zu; die Vordersten, welche beim Anblick des raucherfüllten Treppenhauses einen Moment stutzten, wurden von den Nachdrängenden vorgeschoben, zu Boden gestürzt, mit Füßen getreten, die Schwächeren von den Stärkeren zur Seite geschoben und gegen das reich geschnitzte Treppengeländer gepreßt. Dasselbe wankte, krachte in allen Fugen, wich und brach und mit ihm stürzten Dutzende in die von untenherauf züngelnden Flammen. Entsetzlich grauenvoll für Augen und Ohren war dieser mit Rauch und Feuer, angstverzerrten Gesichtern, zerquetschten Leibern, Flüchen und Jammergeheul angefüllte Raum, eine wahre Hölle auf Erden!

Unbeweglich blieb Ilse auf ihrem Standpunkt. Unerträglich wurden Hitze und Rauch der aus den unteren Fensterhöhlen herausschlagenden Flammen, sie wankte nicht. Unverwandt hing ihr Blick an dem Reiter, welcher sich durch die dichtgedrängte Menge näher und näher an das brennende Haus heran arbeitete.

Sie winkte ihm zu mit der Rechten; ein Abschiedsgruß sollte es sein, keine Aufforderung, sie zu retten. Denn unrettbar blieb sie verloren. Unmöglich war es für sie, für ihn, die dichtgekeilte Masse rasender Menschen zu durchbrechen, welche einander quetschend und in den Flammenpfuhl hinabstoßend über die rauchende Treppe zu entkommen trachteten.

Hochauf züngelten die Flammen und der Wind trieb ihr den aufsteigenden Rauch so voll ins Gesicht, daß sie zu ersticken meinte. Als sich die Rauchwolke wieder verzogen hatte, war auch der Reiter unten auf dem Platz verschwunden.

Ilse fühlte ihre Kräfte weichen, sie stieg zurück ins Gemach, kniete nieder, faltete die Hände auf der Fensterbrüstung und stützte das Antlitz darauf, »Lebe wohl, Rolef«, flüsterten ihre bebenden Lippen, die Sinne vergingen ihr. Noch zuckten wie magische Blitze einige wirre Vorstellungen durch ihr Gehirn, eine Idee von der unsäglichen Wohlhat kühlenden Wassers, eines frischen Luftzuges, vor ihren Augen flimmerte es in allen Farben, vor ihren Ohren erklang ein Brausen wie ferne Meeresbrandung, dann ward dies alles verdrängt durch tiefschwarze stille Nacht – und dann?

Mit dem äußersten Aufgebot starker Willenskraft riß sie sich noch einmal empor. Ihre fliegenden Lungen sogen nur heißen Rauch ein. Aus dem brennenden Treppenhaus drang kein Laut mehr herauf, aber um so deutlicher hörte sie das verdächtige Knistern, das Stöhnen des sich biegenden Holzes der Dielen, auf denen sie stand, und deren Hitze ihre Füße kaum noch ertragen konnten. Selbst die breiten massiven Außenmauern begannen so heiß zu werden, daß sie ihr keinen Stützpunkt mehr zu bieten vermochten, die inneren Zwischenwände, aus Fachwerk errichtet, glühten und dampften und auch in ihnen knisterten und stöhnten die Balken, Drei Schritte von ihr stürzte ein großes Stück vom Kalkanwurf der Zimmerdecke auf den Boden, erschrocken sah sie hinauf, jedoch entsetzt flohen ihre Augen den Anblick, eine gierige Flamme leckte am freigewordenen Gebälk.

Aber durch all diese Schrecknisse, durch all diese grausigen Töne, doppelt beängstigend durch das, was sie verkündeten, durch das Entsetzliche, was mit jeder Minute näher rückte, drang ein anderer Ton, der Klang einer menschlichen Stimme:

»Ilse, Ilse!«

Sie preßte die fiebernden Schläfen mit beiden Händen, war sie schon wirr oder war es noch Wirklichkeit?

»Ilse«, klang es wieder, näher, deutlicher – und nochmals »Ilse!«

Das war kein Traum! Sie nahm die letzte Kraft ihrer Lungen zusammen und antwortete so laut sie konnte: »Rolef!«

Ein betäubender Krach folgte ihrem Ruf, ein sinnverwirrendes Prasseln, donnerndes Aufschlagen schwerer Holz- und Steinmassen. Das Treppenhaus war in sich zusammengestürzt. Ilse glaubte die Mauern um sich her wanken, den Boden brechen, die Decke bersten zu sehen, neue, dichte Rauchmassen wälzten sich heran, sie fühlte, im nächsten Moment mußte ihr Herz stille stehen, Ihre Kniee brachen, sie sank zusammen, da fühlte sie sich von zwei starken Händen ergriffen, krampfhaft schlossen sich ihre Arme um den Hals ihres Retters, dann verlor sie das Bewußtsein.

Ihres Retters?

War denn noch eine Rettung möglich aus dieser rauch- und flammenerfüllten Ruine?

Mußte dieselbe nicht zum Grab für beide werden?

Rolef hatte vorhin in schnellem Überblick erkannt, daß es unmöglich sei, über die Haupttreppe zu Ilse zu gelangen und sich daher zu einem Seiteneingange durchgedrängt, welcher ihm von früheren Jahren her wohl bekannt, aber von der Menge nicht beachtet war. Von hier führte in einem der Türme eine Wendeltreppe aufwärts, unmittelbar in den zweiten Stock.

Die wenigen Aufrührer, welche diese Treppe gefunden, stürzten auf ihrer Flucht vor dem Feuer achtlos an dem Jünglinge vorüber, welcher, das blanke Schwert in der Faust, die Stufen hinanstürmte. So gelangte Rolef ungehindert in den zweiten Stock, dessen Gemächer bereits mit dichtem Rauch erfüllt waren. Aber wo nun Ilse finden? Nur das wußte er, daß sie in einem der nach dem Marktplätze hinausgehenden Zimmer gewesen. Er stürmte durch die lange Flucht derselben, er rief wiederholt ihren Namen, keine Antwort! Doch da – endlich – nur schwach – aber doch deutlich vernehmbar klang es: »Rolef!«

Unbekümmert um das Krachen des zusammenbrechenden Treppenhauses, unbekümmert um Rauch und Flammen stürzte Rolef dahin, woher der Ton gekommen. Er fand die teure Gestalt halb bewußtlos auf dem Boden knieend, hob sie empor und trat nun, mit der Last auf den Armen, den Rückweg an. Die Hitze versengte beiden die Kleider, die Haare, selbst die Augenbrauen, – hinter ihnen schlugen die Flammen zusammen, krachten funkensprühend die schwersten Balken hernieder – nur weiter, weiter! Mehr springend als laufend, trotz der Last, welche er trug, erreichte Rolef endlich den Turm wieder, in welchem er heraufgestiegen war.

Hier ruhte er einen Augenblick. Es herrschte hier eine reinere Luft, da die Gewölbe des Turmes, auch nach dem Innern des Hauses zu, durch dicke Mauern und schwere Thüren abgeschieden waren, von welchen letzteren die Aufrührer nur wenige zu sprengen vermocht hatten. Aber lange durfte er auch hier nicht verweilen. So wenige der Öffnungen waren, so drang durch sie doch auch hierher schon der Rauch in dichten schweren Wolken, schon glühten auch hier die Mauern, ließ sich auch hier das beängstigende Knistern und Stöhnen der Holzteile vernehmen, begann die Treppe zu dampfen und klaffende Risse zu zeigen.

In wenigen Sätzen sprang sie Rolef hinab, langsamer den zweiten, massiv aus Stein errichteten Absatz. So gewann er das Freie. Die noch immer bewußtlose Ilse auf den Armen drängte er durch die Menge, niemand hielt ihn auf. Es waren so viele, welche betäubte, erstickte, verbrannte, zerquetschte und zerschmetterte Körper Anverwandter davon trugen, daß keiner sonderlich des Paares achtete. Und wer hätte in der von Rauch geschwärzten Gestalt in zerfetzter Kleidung die schöne und stolze Ilse vam Damme wieder erkannt?

Auch den Dunkelfuchs fand Rolef noch am Brunnen, inmitten des Marktes, wo er ihn am Gitter festgebunden. Neben dem Pferde lehnte er Ilse gegen das Gitter und schöpfte mit der Hand Wasser aus dem Brunnen, womit er ihr Antlitz netzte. Das ließ sie ins Bewußtsein zurückkehren. Sie schlug die Augen auf und sah ihn erstaunt an.

»Ich lebe noch und Du bist bei mir«, flüsterte sie. Dann fiel ihr Blick auf das Haus mit den sieben Türmen, aus welchem die Flammen hoch zum Himmel emporschlugen. Schaudernd zuckte sie zusammen und verbarg das Gesicht in beiden Händen.

»Mut, Ilse«, flüsterte Rolef ihr zu, »in kurzem seid Ihr bei Eurer Mutter.«

»Wo ist sie?« fragte Ilse aufsehend.

»In der Altewik. Dorthin hat sie sich gerettet, im Glauben, daß Ihr Euch mit dem Vater geborgen. Kommt, ich hebe Euch auf mein Pferd, so mögen auch wir die Altewik erreichen.«

Noch ehe er ausgesprochen, saß sie schon mit seiner Hilfe im Sattel, Er löste die Zügel vom Brunnengitter und führte das Pferd durch die Menge. Auch jetzt hielt man sie nicht auf. Noch war die ganze Aufmerksamkeit dem Feuer zugewendet, und Rolefs gewappnete Gestalt, mit dem blanken Schwert in der Faust, mit der ruhigen Entschlossenheit in Blick und Haltung scheuchte auch diejenigen zurück, welche sich etwa neugierig herandrängen mochten. Ilse sah stumm und unverwandt vor sich nieder. In ihren Augen standen Thränen. Machte sich in ihnen jetzt, da die äußerste Spannung vorüber war, das gepreßte Herz Luft, oder fühlte sie aus Rolefs Benehmen, trotz aller Aufopferung, aller Besorgnis, etwas Förmliches, etwas Fremdes heraus?

Auch Rolef ging stumm neben dem Pferde her. Das, woran er nicht gedacht, so lange es sich um Ilses Rettung gehandelt, das überkam ihn jetzt plötzlich mit unabweisbarer Mahnung, der Gedanke, daß er eines anderen Braut gerettet.

Da klang leise und bebend Ilses Stimme neben ihm: »O Rolef, wie soll ich Euch danken?«

»Laßt das«, erwiderte er fast rauh und ohne sich umzusehen, »ich habe nur meine Pflicht gethan.«

Und weiter sprach die leise, bebende Stimme neben ihm: »Rolef verhärtet Euer Herz nicht gegen mich, weil ich Vörsfeldes Braut geworden bin. Nur der äußerste Zwang hat mich dazu getrieben, des seid versichert; ich war so einsam und allein.«

Er sah sich um und in ihre thränenerfüllten Augen. »So gehört Dein Herz noch mir, Ilse?« fragte er gerührt.

Sie nickte, während sich eine Thräne von ihren Wimpern löste. »Nie hat es einem anderen gehört und nie wird es einem anderen gehören. Als mich vorhin die Schatten des Todes umfingen, warst Du mein letzter Gedanke.«

Er konnte ihr nur die Hand drücken, nur mit, einem innigen Blick der treuen Augen danken, er mußte seine Aufmerksamkeit anderem widmen. Angekommen bei der Brücke bei Unsern Lieben Frauen, welche die Altewik mit den anderen Weichbildern verband, sah er, wie die Altewiker Bürger beschäftigt waren, dieselbe abzubrechen. Denn dieser Stadtteil war der einzige, welcher sich nicht der Empörung angeschlossen hatte. Hier wurde der Rat meist von den Lakenmachern gestellt, welche unter Ackerbürgern und geringeren Handwerkern den größten und angesehensten Teil der Altewiker Gemeinde bildeten. Diesen Rat trennte von seinen Bürgern kein Gegensatz wesentlicher Interessen, mehr ihre natürlichen Vertreter als ihre Herren konnten diese in ihm sehen. Als daher der Auflauf begann, standen hier die Bürger, denen die abgetrennte Lage ihres Weichbildes jenseit der Okerbrücken und der alten Ringmauer zu statten kam, zu ihrem Rate.Vgl. »Die Chroniken der Stadt Braunschweig«, ed. von Hänselmann. 1. Band; der »Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert« sechster Band.

Es war nur natürlich, daß unter diesen Umständen die Altewik der Zufluchtsort aller derjenigen aus den Geschlechtern wurde, denen es noch gelungen war, sich vor der entfesselten Volkswut zu retten. Über eben dies machte es auch notwendig, das Weichbild, gegen einen Überfall aus den anderen Stadtteilen zu schützen.

Man schloß daher das Friesenthor und ebenso die beiden äußeren Stadtthore, warf die Stobenbrücke ab und war so eben beschäftigt, ein Gleiches mit der Brücke bei Unsern Lieben Frauen zu thun, als Rolef und Ilse davor anlangten. Nur mit Mühe vermochte der Knappe noch seine Schutzbefohlene hinüber zu bringen. Drüben wurden sie von einer gaffenden Menge empfangen, aber aus den Neugierigen hervor drängte sich Frau Margareta. Da glitt Ilse vom Pferde und barg das Haupt an der Brust der Mutter.


Die Flammen waren im Begriff, ihre Arbeit zu vollenden, das Haus mit den sieben Türmen war bald nur noch ein rauchender Trümmerhaufen, aus dem die massiven Außenmauern kahl und schwarz zum blauen Frühlingshimmel emporragten. Aber damit war die Wut der Aufrührer noch nicht gesättigt. Bald stiegen auch an anderen Orten der Stadt rote Feuersäulen auf, noch sieben Häuser, so wird berichtet, brannten an diesem Tage vollständig nieder. Es gab kein Schrecknis, welches der unglücklichen Stadt erspart geblieben wäre. Die Gefängnisse waren von den Aufrührern geöffnet und das befreite Gesindel tobte raubend und sengend durch die Straßen.

Und welche Feder mag die entsetzlichen Bilder malen, welche sich nun darstellten. Wie man Väter und Gatten von den Ihrigen riß, um sie beschimpft und mißhandelt in die Kerker zu schleppen, welche sich mit Bürgermeistern und Ratsgenossen anfüllten. Wie die unglücklichen Frauen, ihrer natürlichen Beschützer beraubt, der Wut der Volkshefe preisgegeben waren, nachdem sie vorher hatten mit ansehen müssen, wie man die trauliche Stätte ihrer häuslichen Wirksamkeit und ihrer stillen Freuden verheert, geplündert, den Flammen überliefert.

Wie die rasende Menge alles, was ihr an Schriften in die Hände fiel, zusammenschichtete und verbrannte, dabei vornehmlich auf die Rentenbriefe der Ratverwandten fahndend, wie sie in die Häuser der Ratsherren eindrang, dort Truhen und Kisten aufsprengte, unschätzbare Dokumente zerriß, auf die Straßen streute, verbrannte. Wie die Haufen auch hier in die Weinkeller einbrachen, die Fässer einschlugen, um zu trinken, bis sie endlich in sinnlosem Rausche davor liegen blieben oder durch das feurige Naß zu noch größerer Wut aufgestachelt, wiederum auf die Straße hinausstürzten, neuen Schandthaten entgegen. Wie endlich die Elenden über die Teilung der Beute unter sich selbst in Streit gerieten, denn – so schreibt die Chronik – »wer meist zugriff, meist hatte.«

Herren der Stadt sperrten die Aufrührer die Stadtthore, und da auch die Altemik sich jetzt abgeschlossen hatte, war ihrer Rache verfallen, was sich bisher nicht zu retten vermocht.

Aber wo war derjenige, welchem der größte Haß galt? Wo war Tile vam Damme?

Nachdem seine mutige Tochter ihm die Zeit dazu verschafft hatte, war es ihm gelungen, aus dem von uns erwähnten Turmgemach durch eine geheime, im Getäfel der Wand verborgene Thür auf einen kaum mannesbreiten, in der dicken Außenmauer fortgeführten Gang hinauszutreten, welcher nur durch einige schmale, von außen fast nicht zu bemerkende Mauerspalten Luft und Licht empfing. Derselbe stieg, in spiralförmigen Windungen der Turmmauer folgend, langsam bergab, und endete in einem versteckten Winkel des Hofes, hinter einer Nische, welche samt einer darin angebrachten Steinfigur auf einer Drehscheibe stand. Eine geheime Feder ließ diese Nische eine halbe Wendung machen, wodurch eine Öffnung entstand, groß genug, um einen Menschen durchschlüpfen zu lassen.

Von hier hätte Tile vam Damme immerhin noch entrinnen können, wenn er sofort diesen Ausweg gesucht hätte, so lange die Aufrührer noch lediglich das Haus durchstöberten und ehe sich noch die Empörung durch die ganze Stadt verbreitet hatte. Aber in der Besorgnis, einem der aufständischen Haufen zu begegnen, und in der Hoffnung, daß bald von anderer Seite der Bewegung ein Ende gemacht werden würde, wagte er sich nicht aus seinem Versteck heraus, wo er ja allerdings für den Augenblick am sichersten aufgehoben war.

Aber wie bereute er diesen Entschluß in den Stunden, welche nun folgten, als das Gebrüll und Geheul der Pöbelmasse, statt abzunehmen, mehr und mehr anwuchs und ihm so anzeigte, wie unbegründet seine Hoffnung auf eine baldige Dämpfung des Aufstandes gewesen!

Er schob sich langsam den Gang hinunter – anders konnte man es nicht nennen bei der Enge des Raumes und der Korpulenz seiner Gestalt – bis zu der vorhin beschriebenen Nische, welche durch eine Spalte ihrer hölzernen Rückwand ihm gestattete, einen Blick auf den Hof zu werfen. Entsetzt fuhr er wieder zurück. Den ganzen Hof sah er angefüllt mit einer von Wein und Leidenschaft trunkenen Menge, welche brüllend und jauchzend die aus den oberen Fenstern herabstürzenden Gegenstände begrüßte, kaum ausweichend, wenn die gewichtigsten Geräte herniederfuhren, und unbekümmert darum, ob dem einen oder anderen unter ihnen durch dieselben die gräßlichsten Verstümmelungen zugefügt wurden. Sachen, deren Wert niemand besser zu schätzen wußte, als er, sah er der Wut des Volkes preisgegeben, welches an ihnen und an seinem ganzen Hause seine Rachsucht und Zerstörungswut ungehindert befriedigen konnte.

Zähneknirschend sah er diesem Schauspiele zu, von welchem er den Blick trotz der Pein, die es ihm bereitete, nicht abwenden konnte. Aber er sollte noch mehr sehen!

War das nicht Rauch, was dort aus dem gegenüberliegenden Fenster herausdrang?

Gewiß, er wurde starker und stärker, jetzt quoll er auch zu einem anderen Fenster heraus und nun folgte ihm eine helle Flamme mit gierigem Lecken.

»Feuer! Feuer!« schrie van Damme im ersten Schrecken, ohne zu bedenken, daß der Ruf sein Versteck verraten konnte. Aber seine Stimme verhallte ungehört in dem schaurigen Geheul, welches das Gesindel beim Anblick des hellen Feuers erhob. Unter Jauchzen türmten sie dicht vor der Nische, welche vam Damme verbarg, zusammen, was an Brennbarem im Hofe umher lag, zündeten den Scheiterhaufen an, schürten ihn unverdrossen zu neuer Glut, fortwährend von allen Seiten frische Nahrung herbei schleppend.

Der Bürgermeister zog sich schaudernd von seinem Aufsichtsposten zurück. Hätte ihn jetzt Kort Doring gesehen, sein Gelüste nach Rache wäre befriedigt gewesen! Wie der fette Mann dastand, zwischen die engen Mauern geklemmt, den kalten Angstschweiß auf der Stirne und mit Zähneklappern dem Augenblicke entgegensehend, wo der immer stärker durch die Mauerritzen und Thürspalten hereindringende Rauch ihn erstickt haben oder die Bretterwand, welche ihn jetzt noch vom Feuer schied, auch in Flammen aufgegangen sein würde.

Und was nicht zu sehen war, die innere Seelenpein, das war das Ärgste!

»Es ist Dein eigenes Werk!« schrie ihm sein Gewissen unablässig zu und diese Stimme übertönte das Prasseln und Knistern der Flammen, das Krachen der herabstürzenden Balken und Steine, das jammervolle Kreischen der Unglücklichen, welche keinen Ausweg mehr aus dem brennenden Gebäude hatten finden können oder unter den Trümmern des zusammengebrochenen Treppenhauses begraben waren, und das zu diesem Jammer in entsetzlichem Gegensatze stehende Jubelgeheul der Menge, welche den Palast ihres verhaßten Tyrannen in Feuer und Rauch aufgehen sah.

Ja, es war, als ob diese Laute für ihn in dem einen, jede Folterqual überbietenden Rufe zusammenhallten: »Das ist Dein Werk!«

Glühender war diese Seelenpein als die sich von Minute zu Minute mehr erhitzenden Mauern, zwischen denen er eingeklemmt war, beängstigender als die Atemnot, welche in dem raucherfüllten Gange mit jedem Augenblicke unerträglicher wurde. Und so litt unter den vielen, welche in dieser grausigen Stunde ein jammervolles Ende fanden, dennoch nicht einer solche Qualen, als wie Tile vam Damme.

»Ich kann es nicht mehr ertragen! Hinaus aus dieser Hölle, damit sie mich totschlagen«, stöhnte er und schob sich zwischen den glühenden Mauern durch, wieder der Nische zu. Jetzt hatte er die hölzerne Hinterwand erreicht, er suchte nach der Feder, aber seine Hand fuhr zurück, als sie das heiße Eisen berührte. Mit den Knieen drückte er dagegen, vergebens, die Nische drehte sich nicht. Das Holz mußte in den langen Jahren, in welchen die Maschine nicht benutzt ward, verquollen sein oder die jetzige Glut hatte eine Veränderung in den Metallteilen hervorgebracht. Da nahm er alle Kraft zusammen und drängte, jede Fiber anspannend, gegen die durch die Hitze auseinanderklaffenden Bretter.

Aber eine andere Gewalt war noch stärker als die seine, die Macht des Feuers. Schon leckten durch die Spalten züngelnde Flammen und versengten seine Haare, daß er entsetzt zurückfuhr. Dann raffte er sich zu einem zweiten Stoße auf und nun gab das schon teilweise verkohlte Holz nach. Es wich aus den Fugen und mit ihm stürzte der Bürgermeister durch die Flammen ins Freie.

Noch immer waren einige der Aufrührer beschäftigt, den Scheiterhaufen auf dem Hofe zu schüren. Als sie nun plötzlich mitten hervor aus der Mauer diese runde Gestalt stürzen sahen, einer Feuerkugel vergleichbar, denn schon hatten die Flammen vam Dammes Kleider ergriffen, da fuhren sie zuerst erschrocken zurück und dann stürzten sie sich auf ihn und löschten sein brennendes Gewand. Und als sie ihn jetzt aufhoben, erkannten sie in dem rauchgeschwärzten, blutenden, halb verbrannten Manne, dem die Kleider wie Zunder vom Leibe fielen, denjenigen noch nicht wieder, unter dessen Regiment sie so lange gestanden hatten.

Da rief plötzlich einer: »Es ist vam Damme!« Nun brüllten es alle nach und eine kreischende Weiberstimme setzte hinzu: »Zurück mit ihm in die Flammen, auf den Scheiterhaufen!«

Schon streckten sich zehn, zwanzig Arme nach ihm aus, schon ergriffen sie ihn und hoben ihn empor, um ihn in das Feuer zu schleudern, da rief eine tiefe Stimme:

»Halt, halt, er gehört mir!«

Sie ließen ihr Opfer zur Erde fallen und sahen sich erstaunt um. Es war Holtnicker, der vor ihnen stand.

»Keinen hat er so elend gemacht als mich«, sagte der Gerber in seiner gewöhnlichen, ruhigen Weise, »darum muß auch ich seine Strafe bestimmen. Nicht so schnell soll die vorübergehen, als Ihr meint. Er soll länger leiden.«

Das Gesindel jauchzte Beifall und band ihm auf Holtnickers Geheiß die Hände auf dem Rücken zusammen. So führten sie ihn, halb nackt und kaum noch kenntlich unter Ruß, Blut und Brandmalen nach dem Hause des Schmied Eckermann im Hagen. Da schlossen sie ihn mit Ketten an die Wand »und wachten« – wie der Chronist erzählt – »um ihn in Harnischen.«

 

»Mein Gott, ist es denn möglich? Wahrhaftig Junker, Ihr seid es! O, warum seid Ihr nicht früher gekommen?«

Mit diesen Worten wurde Rolef im Doringschen Hause am Steinmarkt von der alten Beschließerin empfangen. Gefoltert von quälender Sorge um seinen Vater war er hierher geeilt, sobald er Ilse in Sicherheit wußte. Niemand hatte ihn aufgehalten, das Kettengeflecht des Panzerhemdes hatte er vor das Gesicht gezogen, und keiner der Empörer dachte daran, daß sich dahinter der Bürgermeistersohn Rolef Doring verberge.

Aber in welchem Zustande mußte er das Vaterhaus finden! Die Hausthür war aufgesprengt, die Fenster eingeschlagen; zerschmetterte Geräte, zerfetzte Bilder, erbrochene Truhen boten sich überall dem Auge. Dabei waren alle Räume öde, leer, totenstill! Vergebens rief Rolef mit lauter Stimme seines Vaters Namen – keine Antwort! Vergebens rief er nach den Dienstleuten des Hauses – da endlich wagte sich die alte Beschließerin hervor. Zwar prallte sie wieder erschrocken zurück, als sie sich einem gerüsteten Kriegsmanne gegenüber sah; wie aber Rolef das Kettengeflecht vom Gesichte zog, begrüßte sie ihn mit desto größerer Freude.

»O mein lieber, goldener Junker, warum seid Ihr nicht früher gekommen«, wiederholte sie nochmals.

»Wo ist mein Vater?« fragte Rolef zurück.

»Ach, weiß ich's, Junker! Fort ist er, fort! Und als er fort war, kamen diese Unmenschen gleich wilden Tieren –«

»Beim Blute Christi, Gertrud, besinne Dich! Hast Du keine Ahnung, wohin sich mein Vater gewandt hat?«

»Ach, wie soll ich eine Ahnung haben? Hat er denn seit Monaten überhaupt ein Wort mit mir gesprochen? Ach, seit Ihr aus dem Hause seid, Junker – Aber so hört doch, und rennt nicht gleich wieder fort. Der Ratsmann van Sunnenberge war da und drängte den Bürgermeister mit ihm zu gehen –«

»Wohin, wohin?«

»Dem Aufruhr wollten sie steuern, glaube ich, denn Herr van Sunnenberge erzählte, das Volk habe die Thore geschlossen. ›So wollen wir sie wieder öffnen‹, sagte der Bürgermeister. Und dann gingen sie fort.«

»Nach welchem Thore? Beste, liebste Gertrud, besinne Dich! Haben sie nicht gesagt, zu welchem Thore sie hinaus wollten?«

»Ach, ich habe nicht so genau zugehört, auch war von verschiedenen Thoren die Rede, vom Fallersleber Thor, meine ich, dann aber auch vom Michaelis-Thor.«

»Gut, gut, das ist wenigstens ein Anhaltepunkt. Lebe wohl, Gertrud!«

»O, mein goldener Junker, bleibt lieber hier. Es geht auf den Straßen schaurig zu. Wenn sie Euch erkennen, schlagen sie Euch tot.«

Rolef hörte die gut gemeinte Warnung nicht mehr. Mit wenigen Sätzen war er die Treppe hinab, zum Hause hinaus, und eilte dem Michaelis-Thore zu. Nicht einmal daran dachte er, sein Gesicht wieder hinter dem Kettengeflechte zu verbergen.

 

Wir müssen nun um etwa zwei Stunden zurückgreifen.

Als Kort Doring von seinem Erker aus die Flammen in der Gegend des Altstädter Marktes aufsteigen sah und das Geschrei Vorübereilender ihm verkündete, das Haus mit den sieben Türmen sei in Brand geraten – da schob er das breite Fenster in die Höhe und legte sich weit hinaus. Unverwandt hingen seine Augen an der rotgefärbten Rauchwolke, er atmete tief und heftig, und so oft der Wind den Rauch dem Steinmarkte zutrieb, blähten sich seine Nüstern und er sog den brandigen Geruch mit Wonne ein, als sei es der köstlichste Blumenduft.

So traf ihn sein Freund, der Ratsmann van Sunnenberge. »Wie wohl das thut!« rief ihm Kort mit seinem ingrimmigen Lachen zu.

»Du bist von Sinnen«, entgegnete der Ratsmann entsetzt, »Deine Rachgier hat uns, hat die ganze Stadt ins Verderben gestürzt.«

»Nur diejenigen, so es verdient«, sagte der Bürgermeister achselzuckend.

»Rechnest Du auch mich zu denen?«

»Wie sollte ich das?«

»Aber diejenigen thun es, deren Wut Du entfesselt. Kaum habe ich Weib und Kind noch nach der Altewik gerettet, Haus und Hof ist von den Rasenden verwüstet. In Bälde werden sie auch bei Dir anklopfen, darum rette Dich, ehe es zu spät ist.«

Doring strich sich den Bart. »Der Unschuldige muß mit dem Schuldigen leiden«, sagte er nicht ohne Bewegung. »Daß es auch Dich getroffen, schmerzt mich tief.«

Er schüttelte Sunnenberge die Hand. Dieser versuchte ihn mit sich fortzuziehen.

»Komm mit, auch Dir droht Gefahr«, drängte der treue Freund, »Denk an Deinen Sohn, dem Du Dich erhalten mußt, an die Stadt, deren Oberhaupt Du bist.«

»Wer soll mir Gefahr bringen, ich habe keinem von ihnen Unrecht gethan!«

»Fragen sie nach Recht oder Unrecht? Komm mit, ich beschwöre Dich. Schon geberden sie sich als Herren der Stadt, haben die Thore geschlossen –«

»Die Thore geschlossen?« unterbrach ihn Doring verwundert.

»Damit niemand ihrer Rache entkommen kann.«

»Oho, die Thore geschlossen? Herren der Stadt? Sie sollen die Thore wieder öffnen, so wahr ich Kort Doring heiße!«

Er drehte sich noch einmal zum Fenster um und deutete auf die Rauchwolke. »Dem da ist sein Recht geschehen«, sagte er feierlich, »jetzt aber wird es Zeit, Einhalt zu thun.«

Seine hohe, sehnige Figur streckte sich. Er nahm Helm und Schwert von der Wand. »Zum Michaelis-Thor!« rief er Sunnenberge zu und schritt voran.

»Was wird aus uns, wenn Ihr uns verlaßt?« klagte die alte Beschließerin, welche vorhin den Ratsmann hereingeführt und unbemerkt, aber mit Aufmerksamkeit dem Gespräche der Männer gefolgt war.

»Dir thun sie nichts, Alte«, lachte Kort. »Und Schätze, wie bei Tile vam Damme, finden sie hier nicht im Hause. Das Wenige, was darin ist, mag ihnen preisgegeben sein.«

Unbehindert erreichten Doring und Sunnenberge das Michaelis-Thor. Unterwegs hatten sich ihnen noch einige aus den Geschlechtern angeschlossen; aber es war doch weit mehr das Ansehen des alten Doring, als ihre Anzahl, welches die Aufrührer bewog, das Thor wieder zu räumen. Dasselbe war mit einem hohen und starken Turm versehen, leicht zu verteidigen und in Verbindung mit dem offenen Felde. So bot es einen vortrefflichen Stützpunkt, dessen schnelle Wahl Dorings Scharfblick kennzeichnete. Aber auch die stärkste Festung ist nichts ohne Verteidiger, und an denen fehlte es. Der Bürgermeister hatte gehofft, hier die Wehrbaren aus den Geschlechtern sammeln zu können, jedoch wir haben schon oben erzählt, daß diese an dem heutigen Unglückstage einer versprengten Herde glichen und es daher den Aufrührern leicht ward, sie einzeln zu überwältigen, niederzuschlagen oder in den Kerker zu schleppen.

Mit Entsetzen sah Doring von der Höhe des Turmes, wie ein Feuer nach dem anderen in der Stadt aufloderte, sah wie in den benachbarten Straßen die Empörer ihr grausiges Wesen trieben. Da wünschte er wohl, sich nicht so weit von seinem Hasse gegen vam Damme und dessen Anhang haben fortreißen zu lassen und eher gegen den Aufruhr eingeschritten zu sein. Denn konnte er sich verhehlen, daß die Verantwortung für das, was da geschah, auch ihn mit traf?

Dichter und größer wuchs die Volksmenge vor dem Thore, drohende Rufe drangen zu den wenigen Verteidigern empor, untermischt mit Aufforderungen, sich zu übergeben. Hätten die Empörer gewußt, wie wenige ihrer waren, die das Thor hielten, langst hätten sie einen Sturm versucht. Da drängte sich ein einzelner Mann durch die Schreier. Sunnenberge faßte Dorings Arm. »Ist das nicht Rolef?« fragte er überrascht.

»Bei Sankt Autor, er ist's!« rief der Bürgermeister. »Wo kommt der Bursche her?«

»Laßt mich mit ihnen sprechen, Freunde«, rief Rolef der Menge zu; »ich will zum Turm hinauf und ihnen vorstellen, wie unnütz längerer Widerstand sei.«

Damit hatte er sich in die vordersten Reihen geschoben und ehe das Volk sich ihn recht angesehen, war er schon von Doring und Sunnenberge zu einer schmalen Nebenthüre in den Turm hineingezogen, welche sich sofort wieder hinter ihm schloß.

»Der holt die Kerls auch nicht herunter!«

»Wer war's denn?«

»Ich glaube, es war einer von den verfluchten Burgensen selbst!« tönte es durcheinander. Und noch lauter als vorher begann das Volk zu lärmen und zu schimpfen.

Mit fliegendem Atem erzählte indessen Rolef, was ihn hergeführt, wie Herzog Friedrich die Unterredung zwischen dem Quaden und Kyphod belauscht, und daß der letztere den Aufruhr habe schüren helfen.

»Betrogen, betrogen!« stöhnte Kort. »O, warum konnte ich den Wolf im Schafspelz nicht erkennen!« Er stampfte mit dem Fuße auf. »Vorbei, vorbei! Klagen ist unmännlich. Jetzt heißt es wieder gut machen!«

Darauf wandte er sich zu dem kleinen Häuflein, welches mit ihm im Turme war. Er stellte den Männern vor, daß nur noch von außen Hilfe kommen könne und das Wichtigste jetzt sei, möglichst schnell diese Hilfe herbeizuholen. Sie sei nicht weit, Herzog Albrecht von Grubenhagen sei auf dem Wege nach Tangermünde zu Kaiser Karl und raste diese Nacht in Gifhorn. Der Herzog kenne Rolef persönlich, daher sei es das Rätlichste, diesen sofort mit der Nachricht von dem, was geschehen, und der dringenden Bitte um schleunige Unterstützung zu ihm zu schicken. Bis dahin aber müßten sie dieses Thor halten, damit der Herzog ungehindert zur Stadt hinein könne.

Alle erkannten in diesem Vorschlage das einzige Mittel, den Empörern die Herrschaft über die Stadt wieder zu entreißen und diejenigen der Ihrigen zu retten, welche dem Volke in die Hände gefallen waren. Die Zugbrücke wurde herunter gelassen und über sie eilte Rolef nach kurzem Abschiede ins Freie hinaus. Sein nächstes Ziel war einer der Doringschen Meierhöfe. Hier machte er sich beritten und sprengte dann mit verhängten Zügeln Gifhorn zu.

Indessen lärmte die Menge vor dem Thore fort, aber in Unkenntnis der geringen Anzahl der Verteidiger wagte sie immer noch keinen eigentlichen Sturm auf das feste Bollwerk. Manche verliefen sich auch wieder, denen die Sache langweilig wurde, und welche an anderen Orten mehr Unterhaltung und mehr Beute hofften. Dafür kamen andere, und unter diesen erkannte Doring zu seiner Freude mehrere ihm wohlbekannte ruhige Bürger, ehrbare und wohlhabende Leute, welche von altersher in guten Beziehungen zum Hause Doring standen. Die Gelegenheit, dieselben für sich zu gewinnen, wollte er nicht unbenutzt vorübergehen lassen.

Er trat deshalb mit Sunnenberge zu der kleinen Pforte heraus, zu welcher sie vorhin Rolef hineingezogen hatten. Der Pöbel empfing sie mit Gebrüll, aber als die Bessergesinnten Doring und seinen Freund erkannten, bildeten sie einen Kreis um die beiden und hörten aufmerksam des Bürgermeisters Rede zu. Der beschwor sie, zusammenzustehen, bald werde die Reihe auch an sie kommen und der rasende Pöbel auch nach ihrer Habe, nach ihrem Leben schreien. Niemand könne wissen, wohin man treibe, wenn jetzt nicht Einhalt geschehe. Dazu müßten sich jetzt alle vereinigen, Geschlechter und Bürger, wer dem Unwesen länger unthätig zusehe, mache sich zum Mitschuldigen. Die Übelstände, welche den Aufruhr hervorgerufen, verspreche der Rat abzustellen, zunächst aber müsse die Stadt beruhigt werden. Deshalb sollten sie sich jetzt verteilen, Gleichgesinnte zu werben suchen und sich dann hier vor dem Michaelisthore wieder bewaffnet sammeln. Dann würden sie, vereint mit denen im Turme, stark genug sein, Recht und Gesetz wieder zu Ehren zu bringen!

Manch zustimmendes Wort begleitete die Rede des Bürgermeisters und manch' verständiges Kopfnicken. Zum Schluß streckte ihnen Doring die Hände entgegen, die ergriffen viele und schüttelten sie und versprachen nach des Bürgermeisters Worten zu thun. Aber da trat ein Zwischenfall ein, welcher eine neue Wendung herbeiführte.

Entweder durch einen Vertrauten herangeholt oder vom Zufall hergeführt, erschienen in eben diesem Augenblicke Asche Kamla und Klaus Lodewiges mit einem Haufen ihrer Anhänger. Asche Kamlas rohe Natur war durch alles das, was er gesehen und selbst gethan hatte, vollständig tierisch geworden. Von dem fortwährenden Brüllen und Schreien war er so heiser, daß er kaum noch sprechen konnte, aber seine rollenden Augen und seine mit Ruß und Blut besudelten Hände redeten eine Sprache von grauenhafter Deutlichkeit. Männer ähnlichen Schlages und gleicher Wildheit begleiteten ihn. Klaus Lodewiges verleugnete zwar auch jetzt nicht den Mann, der etwas auf sich hielt, aber sein Auge blitzte in dämonischem Hasse auf, als er Doring erkannte.

Die Neuangekommenen drängten sich sofort zwischen das Thor und den Bürgermeister, so daß diesem mit Sunnenberge der Rückzug abgeschnitten war. Im nächsten Augenblicke sah sich Doring Asche Kamlas wutentstelltem Gesicht und Lodewiges höhnischem Grinsen gegenüber, fühlte er sich von zehn, zwanzig Fäusten gepackt und zu Boden geworfen. Er war so überrascht worden, daß er nicht mehr zum Schwert greifen konnte. Während ihn die einen festhielten, banden ihm die anderen Arme und Beine. Nicht anders erging es Sunnenberge. Und diejenigen, welche eben noch Kort Doring gelobt hatten, ihm beizustehen, stoben jetzt erschrocken auseinander, als sie die entmenschten Gesichter und drohenden Waffen von Asche Kamlas Genossen gewahrten. Noch weniger dachten die im Turme daran, den Ihrigen Hilfe zu bringen. Nur die eigene Rettung hatten sie vor Augen, als sie sahen, was Doring und Sunnenberge geschah. Sie ließen die Zugbrücke herunter und flohen aufs freie Feld. So ward es dem Pöbel leicht, auch das letzte Bollwerk zu gewinnen, von dem auch das alte Regiment die Herrschaft der Stadt hätte zurückerobern können. Asche Kamla ließ hinter den Flüchtigen die Zugbrücke aufziehen und lagerte sich selbst mit seinem Haufen zur Bewahrung des wichtigen Punktes.

Klaus Lodewiges aber schleppte im Triumphe die beiden Gefangenen nach dem Hagen. Im Hause dessen van Urde, am Graben zur Linken, wenn man nach dem Fallersleber Thore ging, schloß man sie an die Säulen fest.

Das war das Ende dieses grauenvollen Tages, Der 17. April 1374, Montag nach Misericordias Domini! Noch nach Jahrhunderten wußten die Braunschweiger von ihm zu erzählen.


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