Richard Dehmel
Erlösungen
Richard Dehmel

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Das Erwachen

        Stille füllt die flimmernde Rotunde;
aus den Marmorsäulen
blickt die Mittagsglut.
Götterbilder leuchten,
und ein Mädchen ruht
auf den Stufen mit verträumtem Munde.

Dunkel schmachten ihre Kinderaugen;
eine rote Rose
hebt sie, und entzückt
und die heißen Lippen
tief hineingedrückt
will sie Duft und will sie Kühlung saugen.

Doch da glänzt die Halle, wo ihr gestern
Daidalos, der junge
Gastfreund, bot die Hand.
Und sie sieht ihn wieder,
wie er vor ihr stand,
ihr die Blume gab und nicht den Schwestern.

Sieht und fühlt: er hat mich angesehen,
nicht die großen Schwestern,
und er war so still!
Ach, ich bin wohl kindisch,
weiß nicht, was ich will;
wie ich glühe! ich will baden gehen.

Und sie rafft sich von der warmen Schwelle;
aus dem Schooß der Rose
lockert sich ein Blatt.
Und sie nimmt und küßt es,
immt es mit zum Bad;
noch in Träumen öffnet sie die Zelle.

Öffnet und erbangt und steht in Staunen:
vor ihr liegt der Gastfreund,
schlafend, ohne Kleid.
Immer banger steht sie,
scheu zum Gehn bereit;
selig hört sie seinen Atem raunen.

Selig staunt sie seine nackten Glieder,
staunt sein ruhetrunknes
leises Lächeln an;
will davon und weiß nicht,
was sie hält in Bann,
immer trunkner staunt sie auf ihn nieder.

Da erschrickt sie: purpurn welch ein Wallen,
das ihr jäh vom Herzen
in die Schläfen bäumt!
Und auf einmal weiß sie,
was sie will und träumt,
und die Rose läßt sie zitternd fallen

und entflieht, als könnt er sie erreichen
Da erwacht der Schläfer,
sieht die Rose, sieht,
wo er ist – und jauchzend
stürzt er auf und kniet:
Klytia war hier! o Götterzeichen!

 


 


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