Alphonse Daudet
Der Nabob. Band 3
Alphonse Daudet

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Pariser Trauerspiele

Ach, kurz ist die Zeit,
Die der Liebe geweiht!
Ein Augenblick kaum,
Nicht mehr als ein Traum . . .

In dem Halbdunkel eines großen Salons, der durch die Fülle von Blumen, die weißen Bezüge über den seidenen Möbeln, die verhängten Kronleuchter, niedergelassenen Gardinen und offnen Fenster schon den Sommer ankündigte, saß Madame Jenkins am Piano und spielte das neueste Opus des damaligen Modekomponisten vom Blatte. Klangvolle Accorde begleiten schöne Worte, ein melancholisches Lied, mit unregelmäßigem Tempo, das eigens für den schwermütigen Schmelz ihrer Stimme und ihren gepeinigten Seelenzustand geschrieben zu sein scheint.

»Gar rasch ist entrückt,
Was hoch uns beglückt,«

seufzt die arme Frau, die bei dem Tone ihres Klageliedes selbst tief ergriffen ist. Und während die Töne in dem sonst so stillen Hofe verklingen, wo eine Fontäne inmitten eines Gebüsches von Rhododendren sprudelt, hält die Sängerin plötzlich inne, den angeschlagenen Accord ausklingen lassend, die Augen auf die Noten gerichtet, während der Blick weit, weit wegschweift. . . . Der Doktor ist von Hause abwesend. Die Wahrnehmung seines Berufes und die Pflege seiner eignen Gesundheit hält ihn auf einige Tage von Paris fern, und wie es in der Einsamkeit zu gehen pflegt, haben die Gedanken der schönen Madame Jenkins jene trübe Färbung, diese grüblerische Richtung eingeschlagen, die bisweilen solch vorübergehende Trennungen auch für die einträchtigsten Ehen gefährlich macht. . . . Freilich, einträchtig waren sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Sie sahen sich nur in den Stunden der Mahlzeiten vor den Dienstboten, sprachen kaum miteinander, wenn nicht etwa er, der Mann mit den salbungsvollen Manieren, sich zu irgend einer brutalen und unverbindlichen Bemerkung über ihren Sohn, ihr Alter, dessen Spuren sich schließlich doch bemerklich machten, oder über ein Kleid, das seinen Beifall nicht hatte, hinreißen ließ. Sie blieb stets heiter und sanft, erstickte ihre Thränen, ließ alles über sich ergehen, that, als ob sie es nicht verstünde. Nicht, als ob sie ihn trotz aller grausamen und verächtlichen Behandlung nicht dennoch liebte; aber es war eben die Geschichte, wie sie der Kutscher Joë zu erzählen pflegte, »von einer alten Schachtel, die darauf versessen war, sich zu verheiraten«. Bisher hatte ein schreckliches Hindernis, das Leben der gesetzmäßigen Gattin, ihre entehrende Lage verlängert. Nun, da dies Hindernis nicht mehr vorhanden war, wollte sie dieser Komödie ein Ende machen, teils wegen André, der eines Tages mit Recht seine Mutter verachten durfte, teils wegen der Welt, die seit zehn Jahren getäuscht wurde und mit der sie stets nur mit Herzklopfen in Berührung kam, indem sie sich mit Schaudern den Empfang vergegenwärtigte, der ihr an dem Tage nach Enthüllung der Wahrheit zu teil werden würde.

Auf ihre Anspielungen, auf ihr flehentliches Bitten hatte Jenkins anfangs mit Phrasen und feierlichen Gebärden geantwortet: »Du wirst doch an meiner Ehrenhaftigkeit keinen Zweifel haben? . . . Ist unsre Verbindung nicht etwa ein geheiligtes Band?«

Er pflegte dann auch die Schwierigkeit hervorzuheben, einen Schritt von dieser Bedeutung geheim zu halten. Und schließlich hatte er sich in ein gehässiges Schweigen eingehüllt, das nur mit verletzenden Zornesausbrüchen und giftigen Bemerkungen abwechselte. Der Tod des Herzogs, die Niederlage, die seine wahnsinnige Eitelkeit erlitten, hatten dem häuslichen Frieden den letzten Stoß gegeben, denn das Unglück, welches so häufig dazu dient, die Herzen, die sich verstehen, einander enger zu verbinden, bringt die Uneinigkeit erst recht zum völligen Ausbruche. Und in der That war es ein wirkliches Mißgeschick, das ihn betroffen.

Der Siegeslauf der Jenkins-Perlen war auf einmal gehemmt, die Stellung des fremden, marktschreierischen Arztes war durch den bewährten Dr. Bouchereau in dem Journale der Akademie nur zu deutlich gekennzeichnet, die Lebemänner sahen sich einander entsetzt an, noch blässer infolge ihres Schreckens als infolge des Genusses der Arsenikalien, und schon vermochte der Irländer sehr wohl die niederschmetternden Wirkungen dieser Wetterwendigkeit zu spüren, wodurch die Pariser Modenarrheiten so gefährlich werden.

Deswegen hatte Jenkins es vermutlich für angezeigt gehalten, auf eine Zeitlang zu verschwinden, es der Dame vom Hause überlassend, die Salons, soweit sie ihnen noch offen standen, zu besuchen, um der öffentlichen Meinung den Puls zu fühlen und sie etwas in Respekt zu halten. Es war dies eine schwere Aufgabe für die arme Frau, die überall einen kühlen Empfang fand, als wollte man sie sich etwas vom Leibe halten, wie es ihr bei Hemerlingue begegnet war. Aber sie beklagte sich nicht, da sie hoffte, auf diese Weise sich die Ehe zu verdienen und zwischen sich und ihm als letztes Auskunftsmittel das schmerzliche Band des Mitleids, der gemeinsam getragenen Prüfungen zu knüpfen, Und da sie wußte, daß sie in der Gesellschaft gesucht war wegen ihres Talentes, wegen der künstlerischen Zerstreuung, die sie den intimeren Zusammenkünften verlieh, da sie stets bereit war, ihre langen Handschuhe und ihren Fächer abzulegen, um irgend einem Bruchstücke ihres reichhaltigen Repertoires zu präludieren, so musizierte sie fortwährend und benutzte die Nachmittage, die neuen Musikstücke durchzuspielen, indem sie sich mit Vorliebe mit den ernsten und schwierigen Stücken, mit dieser modernen Musik beschäftigte, die sich nicht mehr daran genügen läßt, eine Kunst zu sein, sondern die eine Wissenschaft geworden ist, die viel mehr unsrer nervösen Erregung, unsrer Unruhe entspricht, als unserm Gefühle zusagt.

Ein Augenblick kaum,
Nicht mehr als ein Traum.
Gar bald ist entrückt,
Was hoch uns beglückt.

Ein greller Lichtstrahl drang plötzlich in das Zimmer und gleichzeitig trat die Kammerjungfer ein, die ihrer Herrin eine Karte überbrachte: Heurteux, Kommissionär.

Der Herr sei unten und bestehe darauf, Madame zu sprechen.

»Haben Sie ihm nicht mitgeteilt, daß der Herr Doktor verreist ist?«

Es war ihm gesagt worden, aber er verlangte Madame zu sprechen.

»Mich?«

Von Besorgnis ergriffen, betrachtete Madame Jenkins die grobe, zerknitterte Karte mit dem gänzlich unbekannten Namen Heurteux. Was mag das für eine Bewandtnis haben?

»Gut, ich lasse bitten.«

Der Kommissionär Heurteux, der aus dem hellen Lichte in das Halbdunkel des Salons eintrat, blinzelte mit den Augen und suchte sich zu orientieren. Madame Jenkins dagegen erkannte sehr deutlich die aus hartem Holze geschnitzte Gestalt mit dem ergrauenden Backenbarte, dem vorspringenden Kinne, eins dieser Raubtiere, die man in der Nähe der Gerichtshöfe herumlungern sieht, die erst mit fünfzig Jahren zur Welt gekommen zu sein scheinen und stets einen herben und gierigen Gesichtsausdruck zur Schau und eine Ledermappe unter dem Arme herumtragen. Er setzte sich auf die Kante eines Stuhles, welchen Madame Jenkins ihm angewiesen hatte, sah sich um, um sich zu überzeugen, daß die Kammerjungfer hinausgegangen sei, und öffnete dann bedächtig seine Mappe, als ob er ein Papier darin suche. Als er keine Miene machte, das Wort zu nehmen, sagte Madame Jenkins in etwas ungeduldigem Tone: »Mein Herr, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß mein Mann abwesend ist und daß ich über seine geschäftlichen Angelegenheiten durchaus nicht unterrichtet bin.«

Der Kommissionär antwortete, ohne eine Miene zu verziehen und fortwährend in seinen Papieren kramend: »Es ist mir um so mehr bekannt, Madame, daß Herr Jenkins« – er legte auf die Worte ›Herr Jenkins‹ einen besondern Nachdruck – »nicht zu Hause ist, da ich in seinem Auftrage hierherkomme.«

Sie sah ihn entsetzt an: »In seinem Auftrag?«

»Ja, allerdings, Madame. . . . Die Verhältnisse des Doktors – Sie werden dies ohne Zweifel wissen – sind im Augenblicke etwas prekär. Unglückliche Fondsspekulationen an der Börse, der Zusammenbruch eines großen finanziellen Unternehmens, bei welchem er sich mit seinem Gelde beteiligt hatte, die bethlehemitische Stiftung, die für ihn allein eine zu drückende Last ist, alle diese Widerwärtigkeiten auf einmal haben ihn gezwungen, einen heroischen Entschluß zu fassen. Er verkauft sein Haus, seine Pferde, alles, was er besitzt, und hat mir zu diesem Behufe Vollmacht erteilt. . . .«

Endlich hatte der Kommissionär gefunden, was er suchte, es war eins jener gestempelten Aktenstücke, die meist von Klauseln und Vorbehalten wimmeln, hinter welchen mit Hilfe des starren Gesetzesbuchstaben so oft Nichtsnutzigkeit und Lügen ihre Zuflucht finden. Madame Jenkins war im Begriffe zu sagen: »Aber ich war ja da, ich würde alle seine Wünsche und Anordnungen auf das genaueste erfüllt haben« . . . als sie plötzlich an dem kecken Benehmen ihres Besuchers, an seinem sicheren, fast frechen Auftreten merkte, daß sie selbst auch in diesem Krach, in diesem Verkaufe des kostspieligen Hauses, dieser unnützen Reichtümer einbegriffen sei und daß ihr Aufbruch das Signal zum Verkaufe sein würde.

Sie erhob sich plötzlich. Der Kommissionär dagegen blieb sitzen und fuhr fort: »Was mir noch zu sagen erübrigt, Madame« – ach! sie wußte es nur zu gut, sie hätte es ihm diktieren können – »ist so peinlich, so heikel, . . . Herr Jenkins verläßt Paris auf lange Zeit, und da er Anstand nimmt, Sie den Zufällen und Abenteuern der neuen Laufbahn, die er einschlägt, auszusetzen, Sie auch nicht von einem Sohne, den Sie lieben, trennen möchte, und in dessen Interesse es auch vielleicht besser sein würde . . .«

Madame Jenkins hörte und sah nichts mehr, und während der Kommissionär seine weitschweifigen Phrasen herleierte, glaubte sie, der Verzweiflung, fast dem Wahnsinne preisgegeben, die sie hartnäckig in diesem furchtbaren Zusammenbruche verfolgende Melodie zu vernehmen, wie in den Augen eines Ertrunkenen das letzte Bild zurückbleibt: »Da kehrte plötzlich ihr ganzer Stolz wieder.«

Ach, bald ist entrückt,
Was hoch uns beglückt . . .

»Kommen wir zu Ende, mein Herr. Alle Ihre Umschweife und Phrasen sind nur eine Beleidigung mehr. Der langen Rede kurzer Sinn ist, man jagt mich fort, setzt mich auf die Straße wie eine Magd.«

»Aber Madame, Madame. . . . Die Verhältnisse sind grausam genug, lassen Sie uns sie nicht noch durch Worte verbittern. Bei dem notgedrungenen Wechsel der Laufbahn seines Lebens trennt sich Herr Jenkins von Ihnen, aber er thut dies, den Tod im Herzen, und die Vorschläge, die ich Ihnen zu übermitteln beauftragt bin, mögen die Gefühle, die er für Sie hegt, bekunden. . . . Zunächst, was Mobiliar und Toilettengegenstände betrifft, so bin ich beauftragt, Ihnen ganz anheimzugeben. . . .«

»Genug! . . .« sagte Madame Jenkins.

Sie stürzte nach der Glocke: »Ich gehe aus. . . . Geschwind meinen Hut, meinen Mantel, einerlei welchen. . . . Ich habe es sehr eilig.«

Und während man ihr brachte, was sie verlangte, sagte sie: »Alles, was hier ist, gehört Herrn Jenkins. Er möge frei darüber verfügen. Ich will nichts von ihm haben . . . bemühen Sie sich nicht . . . es ist zwecklos.«

Der Kommissionär drang nicht weiter in sie. Da er seinen Auftrag erfüllt hatte, so ging ihn das übrige nichts an.

Ruhig und als ob nichts geschehen wäre, setzte sie ihren Hut vor dem Spiegel sorglich auf, während die Kammerjungfer den Schleier befestigte und an den Schultern die Falten des Mantels ordnete. Dann blickte sie einen Augenblick um sich, ob sie auch nichts Kostbares vergessen hätte. . . . Nein, nichts, denn die Briefe ihres Sohnes, von denen sie sich nie trennte, hatte sie in der Tasche.

»Befehlen Madame nicht, daß angespannt wird?«

»Nein.«

Und sie ging fort.

Es war etwa fünf Uhr. Gerade in diesem Augenblicke schritt Bernard Jansoulet mit seiner Mutter am Arme durch das Gitterthor des Parlamentsgebäudes; aber, so herzzerreißend auch das Trauerspiel war, das sich eben dort abgespielt hatte, dasjenige, das so plötzlich, so unvorhergesehen, ohne die mindeste Feierlichkeit, so zwischen den vier Wänden sich ereignet hatte und wie in Paris dergleichen täglich vorkommen, war doch noch ergreifender. Das Wetter war herrlich. Die breiten und schnurgeraden Straßen der vornehmen Quartiere erglänzten in dem Lichte der sich zum Untergang neigenden Sonne, die Fenster waren meistens geöffnet, auf den Balkons standen Blumen und in der Richtung nach den Boulevards sah man grüne Rasenflächen, die wohltätig gegen die harten Umrisse der Steine abstachen. Nach dieser Richtung hin eilte Madame Jenkins, ohne in ihrer schmerzlichen Bestürzung sich ihres Zieles recht bewußt zu sein. Welch furchtbarer Sturz! Vor fünf Minuten noch reich und im Besitze aller Vorteile eines Lebens in der großen Gesellschaft und nun – nichts! Nicht einmal ein schützendes Dach für die Nacht, selbst nicht einmal einen Namen. Nur die Straße blieb ihr.

Wohin sollte sie gehen? Was sollte aus ihr werden?

Anfangs hatte sie an ihren Sohn gedacht. Aber ihm ihren Fehltritt einzugestehen, vor ihrem Sohne, der sie verehrte, zu erröten, in seiner Gegenwart zu weinen, indem sie sich gleichzeitig dadurch des Anspruches auf Tröstung beraubte, das ging über ihre Kräfte. . . . Nein, für sie gab es nur noch den Tod. . . . Lieber sterben, durch ihr völliges Verschwinden der Schande entfliehen, dieses letzte Auskunftsmittel in verzweifelter Lage. . . . Aber wo sterben? . . . Und wie? . . . Es gibt so viele Arten, freiwillig aus der Welt zu gehen! . . . Und im Gehen erwog sie sie alle der Reihe nach. Rings um sie her strömte alles von Leben über; was Paris im Winter fehlt, das ist diese Entfaltung seines Luxus auf offner Straße, diese Eleganz, die zu dieser Tageszeit und in dieser Saison rings um die Madeleine und den Blumenmarkt zu Tage tritt und zwar nur innerhalb der kurzen Frist der Rosenblüte. Auf dem breiten Trottoir, wo die Toiletten so recht zur Geltung kommen, empfand man annähernd das Vergnügen, wie bei den Begegnungen im Salon, die Spaziergänger kannten sich meistens untereinander, lächelten sich zu und wünschten einander mit halblauter Stimme »Guten Tag«.

Und nun mäßigte auch Madame Jenkins, der es plötzlich zum Bewußtsein kam, daß sie mit verstörtem Gesichte blindlings und ganz in Gedanken dahineilte, ihren Schritt, spazierte langsam weiter und hielt von Zeit zu Zeit vor einem Schaufenster still. Diese buntfarbigen, duftigen Stoffe erinnerten sämtlich an Reisen, an den Aufenthalt auf dem Lande; hier leichte Schleppen, die sich für den feinen Sand der Parks eigneten, dort Damenhüte mit Gazeschleiern zum Schutze gegen die Sonne am Seestrande, Fächer, Sonnenschirme und Gürteltäschchen. Ihre starren Augen hefteten sich auf diesen Flitterstaat, ohne ihn gleichwohl zu sehen; aber in dem undeutlichen, blassen Spiegelbilde der Scheiben erblickte sie sich selbst, wie sie auf einem Bette in einem Hotel garni unbeweglich ausgestreckt lag, von einem narkotischen Mittel in bleiernen Schlaf versenkt, oder dort unten, außerhalb der Stadt, den Schlamm unter einem Kahne aufwühlend. Welches von beiden war wünschenswerter?

Sie zauderte, überlegte, verglich; dann, nachdem sie ihren Entschluß gefaßt hatte, ging sie rasch, mit der entschlossenen Bewegung einer Dame, die sich den verführerischen Lockungen der Ladenauslagen mit Bedauern entzieht, davon. Da grüßte sie aus der Ferne der Marquis von Monpavon, der munter tänzelnd, eine Blume im Knopfloch, daherkam, mit jenem verbindlichen Hutabziehen, das der Eitelkeit der Damen so schmeichelt, diesem Gruß vom äußersten Schick, bei welchem die Kopfbedeckung hoch über dem erhobenen Haupte gehalten wird. Sie dankte ihm mit dem niedlichen Gruße der Pariserin, der in einem kaum merklichen Beugen der Taille und in einem Lächeln der Augen besteht; und niemand, der diesen Austausch von Höflichkeiten der feinen Welt inmitten dieser festlichen Frühjahrsstimmung gesehen hätte, würde es für möglich gehalten haben, daß derselbe unheilvolle Gedanke diese beiden Spaziergänger beschäftigte, die sich zufällig auf derselben Straße trafen, die sie nach entgegengesetzter Richtung verfolgten, trotzdem sie demselben Ziele zuschritten.

Die Prophezeiung des Kammerdieners des Herzogs von Mora in Beziehung auf den Marquis war eingetroffen: »Wir können sterben, unsre einflußreiche Stellung verlieren, dann wird man Rechenschaft von Ihnen verlangen und das wird schrecklich sein.« Ja, in der That, es war schrecklich. Mit großer Mühe hatte der Generaleinnehmer eine letzte Frist von vierzehn Tagen erhalten, um den Fiskus schadlos zu halten, indem er sein letztes Auskunftsmittel darin erblickte, daß, wenn die Wahl Jansoulets für gültig erklärt und er wieder in den Besitz seiner Millionen gesetzt worden, dieser ihm nochmals zu Hilfe kommen werde. Die Entscheidung der Kammer hatte ihm auch diese letzte Hoffnung geraubt. Sobald der Marquis diese Entscheidung erfahren hatte, kehrte er sehr gefaßt nach dem Klub zurück, ging dann in sein Zimmer, woselbst ihn Francis in großer Unruhe erwartete, um ihm ein wichtiges Aktenstück einzuhändigen, das im Laufe des Tages angekommen war. Es enthielt eine Vorladung für den Herrn Louis Marie Agénor von Monpavon, am folgenden Tage in dem Geschäftszimmer des Untersuchungsrichters zu erscheinen. Ob wohl diese Vorladung den Verwaltungsrat der Territorialbank oder den früheren Generaleinnehmer mit seinem Kassendefekt betraf? Jedenfalls deutete die schroffe Form der gerichtlichen Vorladung anstatt einer höflichen Einladung genugsam den Ernst der Sache und einen festen Entschluß der Behörde an.

Gegenüber einer solchen seit geraumer Zeit erwarteten und vorausgesehenen Maßregel hatte der alte Geck im voraus eine Entscheidung getroffen. Ein Monpavon vor dem Zuchtpolizeigericht, ein Monpavon im Gefängnis von Mazas! . . . Nimmermehr. . . . Er brachte seine Sachen in Ordnung, zerriß Papiere, leerte sorgfältig seine Taschen, in welche er nur einige Fläschchen gleiten ließ, die er vorher von seinem Toilettentische fortgenommen hatte, alles mit solcher Ruhe und Natürlichkeit, daß, als er im Fortgehen zu Francis sagte: »Gehe baden . . . diese Teufelskammer . . . infernalischer Staub . . .« dieser ihm aufs Wort glaubte. Uebrigens sprach der Marquis auch gar nicht die Unwahrheit. Der lange und aufregende Aufenthalt in dem Staube der Tribüne hatte ihm ebenso zugesetzt wie zwei Nächte im Eisenbahnwagen, und sein Entschluß zu sterben verknüpfte sich mit dem Wunsche, ein erquickendes Bad zu nehmen, und so gedachte der alte Sybarit, in einer Badewanne einzuschlafen, wie Dingsda, pst . . . pst . . . pst . . . und andre berühmte Persönlichkeiten des Altertums. Man muß ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß keiner dieser Stoiker dem Tode mit mehr Kaltblütigkeit entgegengegangen ist als er.

Sein Knopfloch außer mit der Ordensrosette mit einer weißen Kamelie geschmückt, welche ihm die hübsche Bouquetverkäuferin des Klubs im Vorbeigehen gegeben hatte, ging der Marquis leichten Fußes den Boulevard des Capucines hinauf, als der Anblick von Madame Jenkins einen Augenblick seine Heiterkeit trübte. Er fand das Aussehen dieser Dame so jugendlich, ihre Augen so feurig und sie selbst überhaupt so pikant, daß er einen Augenblick stillstand, um sie zu betrachten. Schlank und schön mit ihrem langen schwarzen Gazekleide, in ihrer enganschließenden Spitzenmantille, über welche das Bouquet an ihrem Hute eine Guirlande von herbstlich gefärbten Blättern fallen ließ, entfernte sich Madame Jenkins und verschwand unter andern nicht minder eleganten Damen in einer duftigen Atmosphäre; und der Gedanke, daß seine Augen sich für immer diesem herrlichen Anblick, an welchem er als Kenner so rechten Gefallen fand, schließen würden, trübte die Heiterkeit des ehemaligen Elegants etwas und veranlaßte ihn, seinen Schritt zu mäßigen. Aber gleich darauf gab ihm eine andre Begegnung seinen ganzen Mut zurück.

Ein schäbiges, scheues, durch die Tageshelle geblendetes Geschöpf ging quer über den Boulevard; es war dies der alte Marestang, ehemaliger Senator und Minister, der durch ein Schwindelunternehmen so schwer kompromittiert worden war, daß er trotz seines Alters, der von ihm geleisteten Dienste und des durch einen solchen Prozeß bewirkten Skandals zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt und von der Liste des Ordens der Ehrenlegion, zu deren Großwürdenträgern er gehört hatte, gestrichen worden war. Dieses skandalöse Ereignis hatte bereits vor geraumer Zeit stattgefunden und der arme Teufel, dem ein Teil seiner Strafzeit auf dem Gnadenwege erlassen worden, kam gerade völlig ratlos aus dem Gefängnis, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte, da er gar nichts behalten hatte, um seine unglückliche Lage wenigstens äußerlich besser zu gestalten. Am Rande des Trottoirs stehend, wartete er gesenkten Hauptes, bis die Fahrstraße, die augenblicklich mit Wagen überfüllt war, ihm den Uebergang gestatten würde, welch unfreiwilliger Aufenthalt an einer der lebhaftesten Straßen, inmitten der Spaziergänger und dieser Masse von offnen Wagen, in denen ihm bekannte Personen saßen, ihn sehr zu genieren schien. Als Monpavon an ihm vorbeiging, bemerkte er seinen schüchternen, unruhigen Blick, der einen Gruß zu erflehen und doch zu vermeiden schien. Bei dem Gedanken, daß er eines Tages sich ebenso zu demütigen haben werde, fuhr er empört zusammen. »Aber nein! . . . Ist das denn denkbar?« . . . Und sich hoch aufrichtend, seine Hemdbrust dehnend, setzte er seinen Weg mit neu befestigtem Entschlusse fort.

Herr von Monpavon geht in den Tod. Er schreitet diesem Ziele entgegen durch die lange Reihe der Boulevards, die nach der Madeleine zu wie im Feuer stehen, dieser Boulevards, auf deren elastischem Asphalt er nun zum letztenmal mit stolzem Haupte und mit den Händen auf dem Rücken einherschlendert. Er hat Zeit genug, nichts drängt ihn, er kann das Rendezvous selbst bestimmen. Jeden Augenblick lächelt er, sendet mit den Spitzen seiner Finger einen gnädigen Gruß oder zieht den Hut in der beschriebenen hoch eleganten Weise. Alles entzückt ihn, selbst das Geräusch der Sprengwagen, das Aufziehen der Markisen vor den Kaffeehäusern, die sich bis in die Mitte des Trottoirs ausgebreitet haben. Der nahe Tod verleiht ihm das zarte Empfinden eines Genesenden, macht ihn empfänglich für alle Feinheiten, für die heimliche Poesie eines schönen Sommertages im Strudel des Pariser Lebens, eines schönen Sommertages, der für ihn der letzte ist und den er bis in die Nacht ausdehnen möchte. Darum wohl geht er an dem luxuriösen Badeetablissement, wo er sonst regelmäßig sein Bad zu nehmen pflegt, vorbei, auch bei den chinesischen Bädern hält er nicht still. Er ist hier zu bekannt. Ganz Paris würde noch am selbigen Abend sein Schicksal kennen. Das würde in den Klubs, in den Salons einen widerwärtigen Skandal erregen, es würden häßliche Gerüchte über seinen Tod in Umlauf gesetzt werden; und der alte Lüstling, der Mann des guten Tones, möchte doch vor allen Dingen sich diese Schande ersparen und sich lieber ins Leere stürzen, in der Namenlosigkeit eines Selbstmörders untergehen, ähnlich den Soldaten, die man an dem Tage nach der Schlacht, wenn sie weder gefallen, noch verwundet sind, noch leben, einfach als Vermißte bezeichnet. Das ist auch der Grund, weshalb er sorglich darauf Bedacht genommen hat, nichts bei sich zu behalten, was zu seiner Rekognoszierung führen, was den polizeilichen Nachforschungen als Anhalt dienen könnte, deshalb hat er auch in diesem ungeheuren Paris den äußersten und entlegensten Umkreis aufgesucht, wo ihn das schreckliche, aber vor Nachforschungen sicherstellende Massengrab erwartet. Seit Monpavon unterwegs ist, hat sich das Aussehen der Boulevards bereits geändert. Die Menschenmenge ist dichter geworden, sie macht einen lebhafteren und geschäftigeren Eindruck, die Häuser sind minder groß und mit Firmenschildern bedeckt. Hinter der Porte St. Martin und der Porte St. Denis, zwischen denen das Gewimmel der Vorstädte noch so recht sich geltend macht, nimmt die Stadt mehr und mehr einen provinziellen Charakter an. Der alte Geck kennt hier niemand mehr und kann sich rühmen, von niemand gekannt zu sein.

Die Ladeninhaber, welche ihn neugierig betrachten, mit seiner blendenden Wäsche, seinem modernen Rock, seiner geschniegelten Taille, halten ihn für irgend einen berühmten Schauspieler, der vor Beginn der Vorstellung eine kleine Gesundheitspromenade auf den alten Boulevards macht, welche die Zeugen seiner ersten Triumphe gewesen sind. . . .

Der Wind frischt auf, die Abenddämmerung hüllt die Ferne in unbestimmtes Dunkel, und während auf dem langen bereits zurückgelegten Wege Lichter erglänzen, verfinstert sich die Straße von jetzt an mehr und mehr. Aehnlich ist es mit der Vergangenheit, deren Glanz dem entgegenstrahlt, der mit Wehmut darauf zurückblickt. . . .

Monpavon ist zu Mute, als ob er in die dunkle Nacht hinausträte, ihn fröstelt ein wenig, aber er wird nicht schwach, er geht mit erhobenem Haupte und stramm gespannter Hemdbrust weiter.

Herr von Monpavon geht in den Tod. Jetzt dringt er in dies Wirrsal von geräuschvollen Straßen ein, wo der Lärm der Omnibusse in dem Getöse der unzähligen Handwerkerverrichtungen des Arbeiterviertels untergeht, wo der Rauch aus den Fabrikschloten sich mit der Fieberhitze einer ganzen Bevölkerung vermengt, die gegen den Hunger kämpft. Die Luft erzittert, die Rinnsteine verbreiten eine üble Ausdünstung, die Häuser erbeben bei dem Vorbeifahren der Lastwagen, schwere Karren stoßen gegen die Prellsteine der engen Straßen. Plötzlich steht der Marquis still, er hat gefunden, was er suchte. Zwischen der schmutzigen Verkaufsstelle eines Kohlenhändlers und der Werkstatt eines Mobilienverpackers, in welcher die gegen die Wand gelehnten tannenen Bretter ihm einen Schauer einjagen, befindet sich ein Hofthor, über welchem auf einer ein blasses Licht ausstrahlenden Laterne das Wort »Bäder« geschrieben steht. Der Marquis tritt ein, überschreitet einen kleinen verwitterten Garten, in welchem aus einer Art Grotte Wasser hervorsickert. Das ist so recht der Ungklückswinkel, den er gesucht hatte. Wer würde je glauben wollen, daß der Marquis von Monpavon hierher gekommen sei, um sich den Hals abzuschneiden? Das Haus steht am Ende des Gartens, ein niedriger Bau mit grünen Jalousieen und einer Glasthür, mit dem trügerischen Anstriche einer Villa, den alle derartigen Häuser haben. . . . Er verlangt ein Bad, durchschreitet den engen Korridor, und während man das Bad zubereitet und er das Geräusch des zuströmenden Wassers hinter sich vernimmt, raucht er seine Cigarre am Fenster, betrachtet die kümmerlichen Syringen im Garten und die hohe Mauer, die denselben rings umgibt.

Zur Seite befindet sich ein großer Hof, der Hof einer Pompierskaserne, mit Turngeräten, deren Gerüste und Masten, die nur undeutlich über die Mauer ragen, wie Galgen aussehen. Ein Trompetensignal ertönt im Hofe, und dieses Signal führt den Marquis in Gedanken dreißig Jahre zurück, ruft ihm seine Kriegszüge in Algier, die hohen Wälle von Konstantine, den Eintritt Moras ins Regiment, die Zweikämpfe und die verschwiegenen Rendezvous ins Gedächtnis zurück, . . . Ach, wie hatte sein Leben doch so herrlich begonnen. Wie schade, daß diese verdammten Karten. . . . Pst . . . pst . . . pst. . . . Aber, schließlich ist es doch auch schön, bis zuletzt den Anstand bewahrt zu haben. . . .

»Mein Herr,« sagte der eintretende Aufwärter, »Ihr Bad ist bereit.« – – –

In diesem Augenblicke trat Madame Jenkins bleich und atemlos in das Atelier ihres Sohnes, wohin sie ein Instinkt, der stärker war als ihr Wille, getrieben hatte, das Bedürfnis, ihren Sohn ans Herz zu drücken, ehe sie in den Tod ging. Nachdem sie mit dem ihr von ihrem Sohne gegebenen zweiten Schlüssel die Thür geöffnet hatte, empfand sie nichtsdestoweniger einen Trost darin, daß er noch nicht nach Hause zurückgekehrt war, daß sie Zeit hatte, ihre Aufregung zu bemeistern, die ohnehin durch den weiten, einer reichen, bequemen Dame ungewohnten Weg erhöht worden war. Es war niemand im Zimmer. Aber auf dem Tische lag ein kleiner Zettel, den er stets beim Fortgehen hinterließ, damit seine Mutter, deren Besuche infolge der Tyrannei Jenkins' stets kürzer und seltener wurden, wisse, wo er sei, ob sie ihn erwarten oder aufsuchen könne. Diese beiden Wesen hatten nie aufgehört, sich zärtlich und innig zu lieben, trotz der grausamen Schicksale, durch die sie sich genötigt gesehen hatten, das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn mit den Vorsichtsmaßregeln und der Heimlichkeit einer andern Liebe zu bemänteln.

»Ich bin auf der Probe meines Stückes,« besagte heute der kleine Zettel, »und werde gegen sieben Uhr nach Hause zurückkehren.« Diese Aufmerksamkeit ihres Sohnes, den sie seit drei Wochen nicht aufgesucht hatte und der nichtsdestoweniger sie unermüdlich erwartete, rührte die Mutter so sehr zu Thränen, daß sie ihre Fassung völlig verlor. Es war ihr, als ob sie in eine andre Welt eingetreten sei. Es war so hell, so ruhig in dem kleinen Zimmer, dessen Fenster noch von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtet wurden; es erschien, wie alle Mansarden, wie aus dem Himmel ausgeschnitten, mit seinen kahlen Wänden, deren einzigen Schmuck nur das große Bild der Mutter an dem Ehrenplatze bildete, während den Tisch gleichfalls dasselbe Bild in vergoldetem Rahmen schmückte. Ja, in der That, diese kleine, unscheinbare Räumlichkeit, die noch lange hell blieb, wenn schon ganz Paris in Dunkel gehüllt war, machte trotz der Dürftigkeit der wenigen darin befindlichen Möbel, die noch dazu über zwei Zimmer verteilt waren, trotz der ordinären Kattunüberzüge und trotz des ärmlichen Kamines mit den beiden großen Hyazinthenbouquets, wie sie in den Straßen auf Karren feilgeboten werden, auf Madame Jenkins einen überwältigenden Eindruck. Was hätte sie an der Seite ihres Sohnes André für ein arbeitsames und würdiges Leben führen können! Und in einem Augenblicke, mit der Geschwindigkeit eines Traumes installierte sie ihr Bett in der einen, ihr Pianino in der andern Ecke, sah sich im Geiste Musikunterricht erteilen und für die Häuslichkeit sorgen, zu der sie zu ihrem Teile an Wohlbehäbigkeit und unverdrossener Heiterkeit beisteuerte. Wie war es nur möglich, daß sie diese ihre Pflicht, den Stolz ihres Witwentums so hatte verkennen können? Welche Blindheit, welche unwürdige Schwäche hatte sie geleitet? . . .

Allerdings, dieser Fehltritt war groß, aber man mußte doch auch ihr leicht bestimmbares und hingebendes Naturell, die Gewandtheit und Schurkerei ihres Mitschuldigen mildernd in Betracht ziehen, der allezeit die Heirat im Munde geführt und sie geflissentlich darüber in Unkenntnis gelassen hatte, daß er selbst nicht mehr frei sei, und der, als er endlich die Wahrheit einzugestehen gezwungen gewesen war, ein solches Bild seines freudenlosen Lebens, seiner Verzweiflung, seiner Liebe entworfen hatte, daß das arme Geschöpf, das in den Augen der Welt sich ohnehin so völlig gebunden hatte und sich zu einem jener heroischen Entschlüsse nicht aufzuraffen vermochte, die allein aus einer falschen Lage zu befreien vermögen, schließlich nachgegeben und diese zweideutige Existenz, die so glänzend und so erbärmlich zugleich war und so völlig auf einem Lügengewebe beruhte, das nun schon zehn Jahre dauerte, auf sich genommen hatte.

Zehn Jahre der berauschendsten Erfolge und der unsäglichsten Beängstigungen, zehn Jahre, in denen sie jedesmal, so oft sie sang, zwischen zwei Strophen die Besorgnis hegte, ihr Geheimnis verraten zu sehen, zehn Jahre, in denen das geringste Wort über unregelmäßige Ehen sie wie eine Anspielung kränkte, in denen der Ausdruck ihres Gesichtes sich bis zu der Miene sanfter Unterwürfigkeit verflüchtigt hatte, wie sie eine Schuldige zur Schau trägt, die um Gnade fleht. Hierzu kam noch, daß die Gewißheit, eines Tages verlassen zu werden, ihr selbst diese trügerischen Freuden vergällt und ihr den Luxus zuwider gemacht hatten. Und wie viele Angst, welche in der Stille getragenen Leiden, wie viele unablässige Kränkungen hatte sie bis zu dieser letzten, der schrecklichsten von allen, zu erdulden gehabt!

Während sie in der Frische der Abendluft und in der friedlichen Stille des verlassenen Hauses ihr trauriges Leben Revue passieren läßt, ertönt herzliches Lachen und die laute Fröhlichkeit glücklicher Jugend aus dem unteren Stockwerke herauf; sie erinnert sich der vertraulichen Mitteilungen ihres Sohnes André, seines letzten Briefes, in welchem er ihr die große Neuigkeit mitteilt, sie bemüht sich, unter diesen hellen, ihr fremden Stimmen diejenige ihrer Tochter Elise, der Braut ihres Sohnes, die sie nicht kennt und die sie nie kennen lernen soll, zu erraten.

Dieser Gedanke erhöht noch das Unglück ihrer letzten Augenblicke und überhäuft sie mit so vielen Gewissensbissen und Selbstvorwürfen, daß sie trotz ihres ernstlichen Willens, standhaft zu bleiben, weint und fortwährend weint.

Die Nacht bricht allmählich ein. Dunkle Schatten legen sich auf die Fenster. Die Dächer drängen sich in Haufen zusammen, wie die Soldaten zum Angriffe. Dumpf verkünden die Kirchtürme einander die Zeit, während die Schwalben um ein verborgenes Nest herumflattern und der Wind die Abfälle auf dem benachbarten Holzlager aufwühlt. Heute abend weht der Wind mit einem klagenden Tone, er weht von der Flußseite, als ob er die unglückliche Frau daran erinnern wolle, daß sie dorthin ihre Schritte zu lenken habe. . . . Ach, es fröstelt sie schon im voraus unter ihrer Spitzenmantille. . . . Warum ist sie auch hierher gekommen, um von neuem Geschmack an einem Leben zu finden, das für sie unmöglich ist nach dem Geständnis, das sie abzulegen genötigt ist? . . . Rasche Schritte lassen sich auf der Treppe hören – es ist André, Er singt, er ist vergnügt und vor allem, er ist sehr eilig, denn man erwartet ihn bei Joyeuse zu Tische. Rasch, ein wenig Licht, damit der Verliebte sich schön machen kann. Aber, schon während er die Streichhölzer anreibt, merkt er, daß jemand im Atelier ist, ein beweglicher Schatten unter den unbeweglichen,

»Wer ist da?«

Es antwortet ihm etwas, wie ein ersticktes Lachen oder ein Seufzer. Er glaubt, daß es seine kleinen Nachbarinnen sind, er vermutet einen lustigen Streich der »Kinder«. Er tritt näher. Zwei Hände, zwei Arme drücken ihn an sich, umfassen ihn,

»Ich bin es . . .«

Und mit fieberhafter Stimme, mit überstürzender Hast, durch die sie Festigkeit zu gewinnen sucht, erzählt sie ihm, daß sie im Begriff stehe, eine lange Reise zu unternehmen, und daß sie, bevor sie reise . . .

»Eine Reise . . . Und wohin gehst du denn?«

»Ach, ich weiß es nicht. . . . Wir gehen weit, weit von hier, Geschäfte halber, die er in seiner Heimat hat.«

»Wie? Du wirst zur Aufführung meines Stückes nicht hier sein? . . . Und diese findet doch schon in drei Tagen statt. . . . Und dann gleich nachher unsre Hochzeit. . . . Wahrhaftig, er kann dich doch nicht hindern, meiner Hochzeit beizuwohnen!«

Sie entschuldigt sich, erfindet Vorwände, aber ihre in Fieberhitze brennenden Hände, die in denen ihres Sohnes ruhen, ihre so gänzlich veränderte Stimme lassen André ahnen, daß seine Mutter nicht die Wahrheit spricht. Er will Licht anzünden, sie hindert ihn daran.

»Nein, nein, es ist nicht nötig. Es ist besser so. . . . Uebrigens habe ich noch so viele Reisevorbereitungen zu treffen, daß ich jetzt gehen muß.«

Beide sind aufgestanden, bereit, voneinander Abschied zu nehmen, aber André will sie nicht ziehen lassen, ehe sie ihm nicht gestanden hat, was sie bedrückt, welche traurige Sorge dieses schöne Gesicht in Falten gelegt hat, dessen Augen – oder ist es nur eine Wirkung der Abenddämmerung? – in einem unheimlichen Glänze leuchten.

»Nein, nichts . . . nichts; ich versichere dich. . . . Nur der Gedanke, nicht an deinem Glücke, an deinen Triumphen teilnehmen zu können. . . . Uebrigens weißt du ja, wie ich dich liebe, du zweifelst doch nicht an deiner Mutter, nicht wahr? Bei mir ist nie ein Tag vergangen, ohne daß ich nicht deiner gedacht hätte. . . . Möge es bei dir ebenso sein, bewahre mir deine Liebe. . . . Und nun, küsse mich, damit ich mich rasch entferne. . . . Ich habe schon zu lange gezögert.«

Noch eine Minute, und sie würde nicht mehr die Kraft gehabt haben, das zu vollenden, was ihr noch zu thun erübrigte, Sie stürzte fort.

»Nein, nein, du sollst nicht fortgehen. . . . Ich fühle, daß in deinem Leben etwas Außerordentliches vorgeht, das du mir verschweigst. . . . Ich bin überzeugt, du hast einen großen Kummer. Dieser Mensch wird dir irgend eine Schändlichkeit angethan haben. . . .«

»Nein, nein, . . . Laß mich gehen . . . laß mich gehen. . . .«

Aber André hielt sie im Gegenteil zurück und zwar sehr energisch.

»Nun wohlan, sage mir, was gibt es? Sprich doch! . . .«

Und dann sagte er ganz leise und in zutraulichem Tone, indem er sich zu ihr herabbeugte: »Nicht wahr, er hat dich verlassen?«

Die Unglückliche erbebt und wehrt ab.

»Frage mich nicht . . . ich will nichts sagen . . . lebe wohl. . . .«

Er aber sagte, indem er sie an sein Herz preßte: »Was könntest du mir sagen, was ich nicht ohnehin schon weiß, arme Mutter? . . . Du hast also nicht verstanden, warum ich vor sechs Monaten davongegangen bin. . . .«

»Du weißt also? . . .«

»Alles. . . . Und was dir heute begegnet ist, ich habe es seit langer Zeit bereits geahnt und herbeigesehnt. . . .«

»Ach, ich Unglückliche, ich Unglückliche, warum bin ich gekommen!«

»Weil hier dein Platz ist, weil du mir zehn Jahre einer Mutter schuldig bist. . . . Du siehst also wohl ein, daß ich dich bei mir behalten muß.«

Er sagte dies, indem er vor einem Diwan niederkniete, auf welchen sie, von Thränen überwältigt, und mit einem letzten schmerzlichen Aufschrei ihres verwundeten Stolzes hingesunken war. So weinte sie lange Zeit, ihren Sohn zu ihren Füßen. Aber die Familie Joyeuse, die darüber beunruhigt ist, daß André nicht in ihrer Mitte erscheint, kommt scharenweise, um ihn zu holen. Es ist ein förmlicher kleiner Ueberfall von unschuldigen Gesichtern, in strahlender Fröhlichkeit, wallenden Locken und bescheidenen Kleidern, und über der ganzen Gruppe erglänzt die alte gute Lampe mit ihrem großen Lichtschirme, die Herr Joyeuse feierlich und steif, wie ein Kandelaber, emporhält. Alle stehen vor dieser bleichen und traurigen Dame erstaunt still, die sie gerührt mit ihrer lächelnden Anmut anschaut und namentlich Elise ins Auge faßt, die ein wenig hinter den andern steht und deren etwas beschämte Haltung bei diesem indiskreten Besuche sie als die Braut kennzeichnet.

»Elise, umarme unsre Mutter und sprich ihr unsern Dank aus. Sie will fernerhin bei ihren Kindern wohnen.«

Und nun wird sie von allen diesen liebevollen Armen umschlungen und an diese vier kleinen weiblichen Herzen gepreßt, denen so lange schon die Stütze der Mutter fehlt, und somit ist sie unerwartet in den traulichen, von der Familienlampe beschienenen Kreis eingeführt, der etwas erweitert ist, damit sie ihren Platz dort einnehmen, ihre Augen trocknen und ihr Gemüt an dieser kräftigen Flamme stärken und erwärmen kann, die in diesem kleinen Künstleratelier über den Dächern mit ruhigem Scheine brennt, in diesem Zimmer, in welchem noch soeben unheilvolle Stürme rasten, die nunmehr der Vergessenheit anheimfallen.

Derjenige, der dort unten in seiner blutigen Badewanne röchelt, er hat sie nie gekannt, diese heilige Flamme. Egoistisch und hartherzig hat er bis an sein Ende gelebt, seine Hemdbrust über einen Schwulst von Eitelkeit aufblähend. Und doch war diese Eitelkeit noch das beste an ihm, denn sie war es, die ihn bis zuletzt aufrecht erhalten hat, die ihm noch im Todesröcheln die Zähne zusammengepreßt. In dem verwitterten Gärtchen tröpfelt das Wasser traurig in sein Becken. Der Trompeter der Pompiers bläst das Lichterlöschsignal. »Sieh doch nach auf Nr. 7,« sagt die Herrin vom Hause, »der wird ja gar nicht fertig mit seinem Bade.« Der Aufwärter geht hin und stößt einen Schrei des furchtbarsten Entsetzens aus! »Ach Madame, er ist tot, . . . aber das ist ja gar nicht derselbe. . . .« Man eilte hinzu, und in der That niemand vermag den feinen Mann, der eben erst eingetreten war, in dieser entstellten Leiche wiederzuerkennen, deren Kopf über den Rand der Badewanne hängt, während die Schminke mit Blut vermischt herabläuft und die Glieder welk und schlaff hingestreckt sind, als ob die bis zu Ende gespielte Rolle sie erschöpft und den Komödianten getötet hätte. Zwei Schnitte mit dem Rasiermesser, und alle diese trügerische Herrlichkeit hat sich in dies namenlose Schreckensbild aufgelöst, in die formlose und ekle Masse, in welcher der Marquis Louis Marie Agénor de Monpavon, der Mann der Eleganz, bis zur Unkenntlichkeit entstellt daliegt.


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