Alphonse Daudet
Der Nabob. Band 3
Alphonse Daudet

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Achtzehntes Kapitel

Die Jenkins-Perlen

Ungefähr eine Woche nach seiner Begegnung mit Moëssard fuhr der Nabob, der seine ohnehin schon mehr als bedenkliche Lage durch diesen Straßenskandal nur noch verschlimmert hatte, an einem Donnerstag, nach der Kammersitzung, zu Mora ins Palais. Seit der fatalen Geschichte war er nicht mehr dort gewesen, und jetzt überlief ihn bei dem Gedanken, dem Herzog gegenüberzutreten, etwas von der Gänsehaut eines Quartaners, der, nach einer Balgerei in der Klasse, zum Herrn Gymnasialdirektor hinaufgeht. Aber die Pein dieser ersten Unterredung ließ sich unmöglich länger hinausschieben, denn schon ging in den Büreaus das Gerücht, daß Le Merquier seinen Prüfungsbericht, ein Meisterwerk hämischer Logik, bereits ausgearbeitet habe und seinen Antrag auf Kassierung der Wahl mit Glanz durchbringen werde, falls nicht der vielvermögende Mora in der Kammer erschiene, um der getreuen Majorität ein Stichwort im entgegengesetzten Sinne zu geben. Die Lage war also ernst genug, um dem armen Nabob Fieberhitze in die Wangen zu treiben, während er, sich in der Spiegelscheibe seines Wagenfensters betrachtend, lächelnde Höflingsmienen einstudierte, um sich auf einen wirkungsvollen Eintritt vorzubereiten, einen jener gemütlich unverschämten Knalleffekte, mit denen er beim Bey sein Glück gemacht hatte und die ihm auch bei der französischen Excellenz durchhalfen; aber er hatte Herzklopfen dabei und jenes charakteristische Frösteln im Rücken, welches allen entscheidenden Schritten voranzugehen pflegt, selbst wenn man ihnen in vergoldeten Karossen entgegenkutschiert.

Zu seinem lebhaften Erstaunen wurden vom Thore auf der Wasserseite, wo auch er auszusteigen gedachte, sämtliche Wagen durch den Schweizer nach der Rue de Lille gewiesen, um, wie an den großen Empfangsabenden, den Quai zur Ausfahrt zu benutzen.

»Was mag denn los sein?« sagte er, schon etwas verdutzt, zu sich selber; vielleicht ein Konzert bei der Herzogin, ein Wohlthätigkeits-Bazar oder irgend welche Festlichkeit, von der er, wegen des kürzlich gegebenen Aergernisses, ausgeschlossen worden. Noch verdutzter wurde er aber, als er unter einem anhaltenden Geräusch von zugeschlagenen Wagenthüren und dumpf über den Sand hinrollenden Fuhrwerken die Freitreppe hinangestiegen war und in den ungeheuren Vorsaal trat, denn dort stieß er auf eine dichte Menschenmenge, die, anstatt den Eingangsthüren der Gemächer zuzuströmen, sich ganz ängstlich zum Tische des Schweizers hindrängte, wo ein Register auflag, das alle berühmten Namen der Pariser vornehmen Welt in sich aufnahm. Es war, als hätte ein verhängnisvoller Windstoß diese Hallen durchbraust und etwas von ihrer pompösen Ruhe mit sich fortgetragen, Gefahr und Sorgen inmitten all der behaglichen Pracht zurücklassend.

»Ist das ein Unglück!«

»Ach, geradezu entsetzlich!«

»Und so ganz unerwartet!«

Mit diesen oder ähnlichen Worten ging man aneinander vorüber. Da zuckte es wie ein Blitz durch Jansoulets Hirn.

»Ist der Herzog erkrankt?« fragte er einen der Bedienten.

»Er liegt in den letzten Zügen, gnädiger Herr. Er wird die Nacht nicht überleben.«

Wenn jetzt die Zimmerdecke eingestürzt wäre, hätte sie den Nabob nicht gründlicher zerschmettern können. Er sah rote Schmetterlinge vor den Augen herumflattern, und wankend ließ er sich auf eine gepolsterte Bank neben dem großen Affenkäfig niedergleiten, dessen Bewohner, durch den allgemeinen Wirrwarr aufgeregt, die Gitterstäbe mit ihren zusammengemergelten Schwänzen oder ihren kleinen langdaumigen Tatzen umklammernd, gruppenweise herumbaumelten und halb neugierig, halb verschüchtert, mit ihren possierlichsten Grimassen zu dem dicken, niedergedonnerten Manne hinübergrinsten, der mit gesenktem Kopfe und stieren Blicken ganz laut vor sich hinsprach: »Verloren – ich bin verloren!«

Der Herzog lag wirklich im Sterben. Am Sonntag, nach dem Spazierritt ins Bois de Boulogne, hatte es ihn plötzlich gepackt, ein unerträgliches Brennen in den Eingeweiden, das ihm, wie mit einem rotglühenden Eisen, sein inneres anatomisches Bild nachzeichnete, mit Todeskälte und langen Ohnmachten abwechselnd. Jenkins, der sofort gerufen wurde, war ziemlich wortkarg und verschrieb ein paar schmerzstillende Mittel. Am nächsten Tage kehrten die Schmerzen in verstärktem Maße zurück und darauf folgte wieder, nur noch ausgeprägter, das Froststadium, als ob das aller Widerstandskraft bare Leben in diesen furchtbaren Anfällen entwiche. In der nächsten Umgebung des Kranken war indessen niemand besonders ängstlich geworden. »Der Katzenjammer von Saint-James,« flüsterte man sich im Vorzimmer zu, und Jenkins' schönes Antlitz blieb heiter wie zuvor; er hatte es nicht einmal der Mühe wert gehalten, bei seinen Morgenbesuchen mehr als zwei oder drei Personen gegenüber des Herzogs Unwohlsein zu erwähnen, ganz leichtweg, so daß es kaum beachtet worden war.

Mora selber, trotzdem er sich aufs äußerste erschöpft und im Kopfe so öde fühlte, daß er, wie er sich ausdrückte, keinen einzigen Gedanken mehr hinter der Stirn hatte, war weit entfernt, sich der Bedenklichkeit seines Zustandes bewußt zu sein. Erst am dritten Tage, als er beim Aufwachen an seinem Kopfkissen und seinem Schnurrbart Blutspuren bemerkte, schrak er zusammen; dieser elegante Weltmann, dem alles menschliche Elend ein Greuel war, und der es nun in der ihm verhaßtesten Form, als Siechtum, hinterlistig heranschleichen sah, ihm mit schmutziger, entnervender Hand die erste Konzession an den Tod, das Aufgeben seiner selbst, abzulocken. Monpavon, der eben hinter Jenkins eintrat, konnte den bestürzten Blick, mit dem der große Herr die fürchterliche Wahrheit anstarrte, gerade noch wahrnehmen und bemerkte zu gleicher Zeit mit Entsetzen, welche Verwüstung die letzten paar Stunden in Moras abgemagertem Antlitz angerichtet hatten; es war allenthalben zerfurcht von schmerzlichen, über Nacht zum Vorschein gekommenen Falten des Alters und zeigte in jedem seiner Muskeln jene Erschlaffung, die auf ein schweres inneres Leiden hindeutet. Während man dem Weltmanne ein ganzes Arsenal von Toilettenrequisiten ans Bett brachte, deren Krystallflacons und Silberdosen neben der gelblichen Blässe des Kranken grell abstachen, nahm der Marquis den Doktor beiseite: »Hören Sie einmal, Jenkins, der Herzog scheint sehr übel daran zu sein.«

»Ich fürchte, ja,« flüsterte der Irländer.

»Also heraus mit der Sprache! Was hat er eigentlich?«

»Mein Gott, genau das, was er haben wollte!« erwiderte der andre zornig. »In seinen Jahren ist niemand ungestraft jung. Diese Passion wird ihm teuer zu stehen kommen! . . .«

Und das hämische Gefühl, das die Oberhand in seinem Inneren gewonnen hatte, plötzlich wieder zurückdrängend, drückte er dem alten Edelmanne beide Hände und setzte, tief aufseufzend, in gänzlich verändertem Tone hinzu: »Unser lieber, armer Herzog! . . . Freund, Freund, ich bin ganz außer mir! . . .«

»Seien Sie nicht unvorsichtig, Jenkins,« bemerkte Monpavon sehr kühl, indem er seine Hände losmachte. »Sie laden sich da eine furchtbare Verantwortlichkeit auf den Hals – was? So schlimm steht es um den Herzog . . . ps – ps – ps . . . und ziehen niemand bei? . . . Konsultieren keinen Kollegen?«

Der Irländer erhob den Arm, als wollte er sagen: Was hilft uns das? Doch der andre ließ sich's nicht nehmen, daß man Brisset, Jousselin, Bouchereau, kurzum alle Celebritäten zu Rate ziehen müsse.

»Aber es wird ihn erschrecken.«

»Erschrecken,« versetzte Monpavon und warf sich mit dem Stolz eines alten, zu schanden gerittenen Schlachtengaules in die Brust. »Mein Bester, sie hätten uns sehen sollen, Mora und mich, in den Laufgräben vor Konstantine! . . . ps – ps . . . Nicht einmal geblinzelt . . . Wissen nichts von Furcht . . . Avisieren Sie nur gleich die Kollegen! . . . Will ihn selber schon in Kenntnis setzen.«

Abends fand die Beratung der Aerzte statt – auf des Herzogs ausdrückliches Verlangen ganz im geheimen, denn er schämte sich gewissermaßen seiner Krankheit, dieser Schwäche, die ihn entthronte, ihn den anderen Sterblichen gleichstellte. Wie jene afrikanischen Herrscher, die sich im hintersten Winkel ihres Palastes verbergen, um zu sterben, so hätte auch er alle Welt an ein übernatürliches Verschwinden in den Wolken, an eine Apotheose glauben lassen mögen. Und überdies empfand er eine unüberwindliche Abneigung gegen die Beileidsbezeugungen und die rührselige Teilnahme um sein Siechbett herum, insbesondre gegen alle Thränen, denn sie kamen ihm stets verdächtig vor, und hielt er sie einmal für aufrichtig, so mißfielen sie ihm aus ästhetischen Gründen erst recht. Ueberhaupt war ihm nichts verhaßter als sogenannte Szenen, übertriebene Gefühlsausbrüche und Aufregungen, die das harmonische Gleichgewicht seiner Existenz zu stören drohten. In seiner Umgebung wußte man das und hielt deshalb auch von jeher an der Parole fest, alle die Jammernden und Verzweifelnden fern zu halten, die sich, von einem Ende des Landes bis zum anderen, an Mora wendeten, wie verirrte Wanderer in der Einöde bei Nacht und Wetter an das erleuchtete Fenster eines rettenden Asyls pochen. Nicht daß er hartherzig gegen Unglückliche gewesen wäre, vielleicht fühlte er sich sogar dem Mitleiden zu sehr zugänglich, dem Mitleiden, das er für etwas Untergeordnetes, für eine des Starken unwürdige Schwäche hielt und die er, gerade weil er sie anderen versagte, aus einer gewissen Besorgtheit um die Integrität seiner selbständigen Kraft, für sich in Anspruch zu nehmen sich gescheut hätte. Außer Monpavon und Louis, dem Kammerdiener, erfuhr also kein einziger Bewohner des Palais, was die drei Herren wollten, die so geheimnisvoll zum Staatsminister eingelassen wurden. Selbst die Herzogin wußte von nichts. Von ihrem Manne durch alle Schranken getrennt, welche das politische und gesellschaftliche high-life in solchen Ausnahmsehen zwischen den Gatten aufrichtet, vermutete sie weiter nichts als ein leichtes Unwohlsein, ein zum größten Teil eingebildetes Leiden – und so fern lag ihr jeder Gedanke an eine Katastrophe, daß just im Moment, wo die Aerzte die halbdunkle Haupttreppe hinanstiegen, am andern Ende des Palais, in ihren Privatgemächern, die Lichter zu einem sogenannten Lämmerhüpfen angezündet wurden, eine jener Tanzunterhaltungen für weißgekleidete Backfische, die in den müßigen, neuerungssüchtigen Kreisen von Paris eben Mode zu werden anfingen.

Wie alle derartigen Konsultationen war auch diese feierlich und düster. Zwar tragen die heutigen Aerzte keine großen Perücken mehr wie zu Molières Zeiten, aber immer noch hüllen sie sich in die gravitätische Würde von Astrologen und Isispriestern ein und werfen mit kabbalistischen Formeln um sich unter Kopfbewegungen, denen, um komisch zu wirken, nur die spitzige Mütze von dazumal fehlt. Hier verlieh die Umgebung dem Kolloquium einen ganz besonders imposanten Charakter. In dem geräumigen Gemache, das durch die Unbeweglichkeit seines Bewohners verwandelt, fast erweitert erschien, umstanden die ernsten Gesichter das Bett, wo hell beleuchtet auf den weißen Polstern zwischen den purpurroten Gardinen sein Antlitz ruhte, zerklüftet und entfärbt von den Lippen bis hinauf zu den Augen, aber mit Gleichmut übergossen wie mit einem Schleier oder, besser gesagt, wie mit einem Leichentuch. Die Herren besprachen sich leise, warfen sich nur hin und wieder einen verstohlenen Blick, ein lateinisches Wort zu und blieben gelassen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken; doch dies einsilbige, verschlossene Gebaren, das Aerzten und Richtern eigen ist, diese feierliche Außenseite, die Wissenschaft und Justiz herauskehren, um ihre Blößen oder ihre Unfähigkeit zu verdecken, brachte den Herzog nicht im mindesten aus der Fassung. In sitzender Stellung, mit jenem durchgeistigten Blick, in dem die Seele vor ihrem Hinscheiden noch einmal aufzuflackern scheint, unterhielt er sich mit Monpavon ruhig weiter, der, die eigne Erregung niederkämpfend, von dem Freunde eine letzte Lektion in der Bewahrung des äußeren Anstandes nahm und ihm deshalb womöglich noch ruhiger Rede stand, während Louis im Hintergrunde an der Verbindungsthür zu den Gemächern der Herzogin lehnte, wie der Inbegriff des verschwiegenen Lakaientums, dem teilnahmlose Gleichgültigkeit zur Pflicht gemacht wird. Der einzig Unruhige, fieberhaft Aufgeregte war Jenkins. Voll unterthäniger Zuvorkommenheit gegen »seine hochverehrten Kollegen«, wie er die andern mit freundlich gespitzten Lippen titulierte, schlich er um die Beratenden herum, in deren Gespräch er sich nach Kräften hineinzumischen suchte; doch die Kollegen behandelten ihn ablehnend, würdigten ihn kaum einer Antwort, und wenn sie es thaten, so geschah es von oben herab, etwa wie Fagon, der Leibarzt Ludwig XVI., mit irgend einem Quacksalber verkehrt hätte, der an das Krankenlager des Königs gerufen worden wäre. Der alte Bouchereau ganz besonders betrachtete den Erfinder der Jenkins-Perlen mit scheelem Blick.

Endlich, nachdem der Patient gründlich untersucht und ausgefragt war, zogen sich die Herren, um unter sich schlüssig zu werden, in einen kleinen ganz mit Lackarbeit ausgetäfelten Nebensalon zurück, dessen farbig leuchtende Decken- und Wandflächen eine Sammlung von chinesischen Sächelchen widerspiegelten, die in ihrer Nichtigkeit einen wunderlichen Gegensatz zu der Tragweite der Verhandlung bildeten.

Ein feierlicher Moment – das beklommene Harren des Angeklagten auf den Richterspruch: auf Leben, Begnadigung, Aufschub oder Tod!

Mora fuhr indessen kaltblütig ohne alle Effekthascherei fort, sich mit seiner langen weißen Hand, wie er gern zu thun pflegte, den Schnurrbart zu streichen und sich mit Monpavon über den Klub, über das Foyer der Varietés zu unterhalten. Nachdem er sich auch nach den Neuigkeiten aus der Kammer und nach dem Schicksal von Jansoulets Wahl erkundigt hatte, überkam ihn offenbar eine Mattigkeit oder vielleicht auch die Furcht, sein Blick, der immer wieder von jener Portiere gegenüber angezogen wurde, aus welcher ihm demnächst das Urteil gesprochen werden sollte – dieser Blick möchte denn doch die Aufregung verraten, die im Grunde seines Herzens ja vorhanden sein mußte; er lehnte den Kopf in die Kissen zurück, schloß die Augen und öffnete sie erst dann wieder, als die Doktoren mit demselben düsterkalten Gesichtsausdruck wie zuvor hereintraten, das reine Richterkollegium, dem das verhängnisvolle Machtwort des Schicksals auf den Lippen schwebt, jenes letzte Wort, das die Gerichte ohne Grauen aussprechen, das aber von den Aerzten, deren ganzem Können es hohnlacht, geschickt umgangen und nur in Umschreibungen angedeutet wird.

»Nun, meine Herren, was spricht die Fakultät?« fragte der Kranke.

Hierauf erfolgten in gezwungenem, erkünsteltem Tone einige ermutigende Redensarten nebst nichtssagenden Vorschriften, und dann brachen die drei Gelehrten auf, um jede Mitverantwortung an dieser Katastrophe durch einen schleunigen Abgang im voraus von sich abzuwälzen. Während Monpavon ihnen nachstürzte, blieb Jenkins bei dem Patienten zurück, ganz starr vor Entsetzen über die fürchterlichen Wahrheiten, die er im Verlauf des Konsiliums zu hören bekommen. Wie oft er auch die Hand ans Herz gedrückt und seinen Wahlspruch wiederholt hatte, Bouchereau war schonungslos mit ihm umgegangen und hoffte, obschon der Herzog nicht der erste Patient des Irländers war, der so urplötzlich in sich zusammenbrach, im vorliegenden Falle ganz bestimmt, daß das unselige Ereignis für die vornehme Welt eine heilsame Warnung, für den Polizeipräfekten aber ein triftiger Grund sein werde, den bekannten »Kantharidenhändler« mitsamt einer anrüchigen Ware über den Kanal heimzuspedieren.

Der Herzog begriff sofort, daß weder Jenkins noch Louis ihm über das Resultat der Beratung reinen Wein einschenken würden. Er drang also gar nicht besonders in sie, ließ ihre geheuchelte Zuversicht über sich ergehen und gab sich sogar den Anschein, als teilte er sie selber und nähme sogar ihre trostreichen Mitteilungen für bare Münze; aber als Monpavon zurückkam, rief er ihn sofort zu sich ans Bett und sagte, da er sogar durch die Uebertünchung dieser Ruine die Lüge durchschimmern sah: »Nur jetzt keine Faxen! Zwischen dir und mir reine Wahrheit! Wie lautet der Spruch? Ich bin recht übel dran, nicht wahr?«

Monpavon schickte seiner Antwort eine inhaltsschwere Pause voran und platzte dann, um nur ja nicht weich zu werden, ganz brutal, ganz cynisch heraus: »Kaputt bist du, mein armer August! . . .«

Der Herzog empfing dies »Kaputt« mitten ins Gesicht, ohne nur eine Miene zu verziehen, und sagte nichts als: »So!« Mechanisch spielte er mit seinem Schnurrbarte; doch seine Züge blieben regungslos. Er hatte sich sogleich mit seinem Lose abgefunden.

Daß ein Unglücklicher, der im Spital stirbt, ohne Heimat, ohne Familie, ohne einen andern Namen als die Nummer über seinem Bett, den Tod wie einen Befreier begrüßt oder ihn als letzte Prüfung hinnimmt; daß ein alter Bauer, der in seiner finsteren, qualmigen Maulwurfshöhle gekrümmt, gebrochen und gelähmt entschläft, ohne Klage von hinnen geht mit einem tröstenden Vorgeschmack jener frischen Erde, die er so oft geackert und gepflügt – das läßt sich begreifen, trotzdem auch unter diesen so mancher, den weiter nichts als das Elend ans Leben fesselt, sich an sein bißchen armseligen Trödel festklammert und hinausschreit: »Ich will nicht sterben!« und zuletzt nur mit zerrissenen, blutenden Nägeln losgezerrt wird. Aber hier, welch ein Unterschied: Wenn man alles hat und alles verliert, welch ein Zusammenbruch! Wie fern schon, wie unwiederbringlich versunken mußten diesem Manne Macht und Ehren und Reichtümer, mußte ihm all der Glanz erscheinen, um dessenwillen er das Dasein geliebt – jetzt in dem ersten Schweigen dieses entsetzlichen Augenblickes, bei den gedämpften Klängen der Tanzmusik in den Gemächern der Herzogin! Es gehörte wahrlich ein ungewöhnlich gestählter Mut dazu, solch einem Schlage so zu widerstehen, und zwar ohne die Mitwirkung des aufgestachelten Ehrgefühles, denn außer dem Freunde, dem Arzte und dem Diener, den drei Vertrauten, vor denen kein Dekorum gewahrt zu werden brauchte, war niemand zugegen; die beiseite gestellten Lichter ließen das Bett im Dunkeln, und der Sterbende hätte sich gegen die Wand kehren und sich ungesehen selber beweinen können. . . . Aber nein! Er unterlag keiner unnützen Rührung, keiner schwachen Sekunde. Ohne einen Zweig an den Kastanienbäumen des Gartens zu knicken, ohne auch nur eine Blume im großen Treppenhause zu entfärben, lautlos einherwandelnd über die dichten Teppiche, hatte der Tod zur Thür dieses Mächtigen hereingeschaut und ihm gewinkt: »Komm mit!« und der Mächtige hatte kurzweg geantwortet: »Ich bin bereit.« Ein Abgang, wie er sich so recht für den Weltmann ziemt: unerwartet, rasch und taktvoll.

Ein Weltmann! Der Ausdruck ist für Mora der einzig bezeichnende. In Maske, Handschuhen und Brustleder – dem atlasüberzogenen weißen Brustleder der Fechtmeister bei einem großen Schaufechten – schritt er durchs Leben, beflissen, seinen Schild blank und fleckenlos zu erhalten, denn diese leuchtende Oberfläche, die ihm jeden Opfers wert schien, wappnete ihn gegen alles. Vom Salon zu einer geräumigeren Bühne übertretend, war er, innerhalb der Grenzen seiner Stegreifpolitik, ein Staatsmann ersten Ranges gewesen, lediglich auf Grund seiner weltmännischen Eigenschaften, seiner Kunst, zuzuhören und zu lächeln, seiner Erfahrung im Umgang mit Menschen und seiner skeptischen Kaltblütigkeit, die ihn auch im letzten Momente nicht verließ.

Mit sicherem Blicke wog er die Dauer der ihm vergönnten Frist ab und überschätzte sie nicht: der schwarze Mahner hatte es so eilig, daß er die Thür offen stehen ließ, und der Gemahnte, dem von dort schon der kalte Luftzug des Grabes über die Wangen strich, war nur noch darauf bedacht, die Zeit möglichst auszunutzen und seine Pflichten gegen die Ueberlebenden zu erfüllen; denn ein Sterbender von seiner Stellung darf weder die Getreuen unbelohnt lassen, noch die Freunde in Verlegenheit bringen. Er diktierte also die Liste der Personen, die er zu sehen wünschte und zu denen auch sofort geschickt wurde; dann ließ er seinen Kabinettschef von der Sachlage in Kenntnis setzen. – »Stehen Sie mir denn gut dafür, daß ich morgen früh noch erwachen werde?« sagte er zu Jenkins, der vor Uebermüdung warnte. »Ich verspüre gerade ein Aufflackern von Kraft. Lassen Sie mich sie ausnutzen!«

Louis fragte nun, ob er die Herzogin nicht benachrichtigen solle. Der Herzog lauschte, bevor er Antwort gab, eine kleine Weile den Accorden der Tanzmusik, die drüben zu den offnen Fenstern hinausschwirrten und sich wie von unsichtbaren Bogenstrichen getragen, durch die Nacht hinzogen.

»Noch nicht,« sagte er dann. »Erst muß ich aufräumen.«

Hierauf ließ er sich das Lacktischchen ans Bett bringen, um die Briefe herauszusuchen, die vernichtet werden sollten; da er jedoch fühlte, daß seine Kräfte nachließen, rief er Monpavon zu sich heran,

»Verbrenne das alles!« sagte er mit erloschener Stimme.

Monpavon trat zum Kamin, in welchem, trotz der schönen Jahreszeit, eine große Flamme emporloderte.

»Nein – nicht hier! . . . Es würde zu viel werden . . . Es könnte jemand dazwischen kommen.«

Da nahm Monpavon den zierlichen Schreibtisch und befahl dem Kammerdiener, ihm hinauszuleuchten. Aber Jenkins stürzte herbei: »Bleiben Sie hier, Louis . . . der Herzog möchte Sie brauchen!«

Damit griff er nach der Lampe, und nun bewegten sich die beiden behutsam vorwärts über den langen Flur und musterten in Wartezimmern und Galerieen die Kamine durch, überall fanden sie aber, hinter einem ganzen Flor von künstlichen Pflanzen, bloß ein Häuflein Asche und so irrten sie denn wie Nachtgespenster immer weiter durch die stillen Räume des ungeheuren Hauses, das nur noch drüben, nach rechts zu, lebendig war, wo die Freude ihr Liedchen sang, gleich einem Vogel unter dem Dache eines Gebäudes, welches mit nächstem einstürzen wird,

»Nirgends ist mehr Feuer. Was fangen mir mit all dem Zeug an?« fragten sie einander voller Verlegenheit, zwei Dieben ähnlich, die eine Geldkiste fortschleppen und sie nicht aufbrechen können.

Endlich ging Monpavon in seiner Ungeduld auf eine Seitenthür zu, die einzige, welche sie noch nicht geöffnet hatten.

»Wenn alle Stränge reißen und wenn wir's nicht verbrennen können, so wollen wir's ertränken. Da, Jenkins, leuchten Sie her!«

Und sie traten hinein.

Wo hinein? Das hätte nur Saint-Simon sagen können in einem Berichte über den Zusammenbruch solch einer souveränen Existenz und über das Reißaus alles Ceremoniells, aller Würde und Herrlichkeit vor dem Tode, zumal vor einem so plötzlichen Tode. . . . Mit seinen zarten, wohlgepflegten Händen hielt der Marquis von Monpavon den Drücker der Wasserleitung, während der andre ihm die zerrissenen Briefe reichte, ganze Bündel von Briefen auf farbigem, parfümiertem Atlaspapier mit Initialen, Wappen, kunstvollen Spruchbändern, mit seinen, eiligen, verschnörkelten, gesudelten, umstrickenden, überredungseifrigen Schriftzügen – und dann wirbelten die leichten Blätter, eins nach dem andern, in dem Strudel herum, der sie quetschte, aufweichte und mit der eignen zarten Tinte besudelte, bis er sie mit dem Gegurgel eines Abzugskanales in die ekle Kloake hinuntergespült hatte. Es waren galante und sonstige intime Korrespondenzen, vom Briefchen der Abenteurerin: »Gestern, Herr Herzog, sah ich Sie durch das Bois de Boulogne reiten,« bis hinauf zu den aristokratischen Vorwürfen der vorletzten Geliebten, den Klagen der Verlassenen und der noch frischen Schrift der jüngsten Geständnisse. Monpavon, der um all diese Geheimnisse wußte, nannte jedesmal einen Namen dazu: »Das ist von der Frau Moor,« oder »Ei! Von Frau von Athis!« Und so wurde der ganze Mischmasch von Wappenkronen und Initialen, von flüchtigen Launen und altgewohnten Beziehungen in diesem Augenblicke durch die Vermischung miteinander gleichmäßig in den Schmutz gezogen, in dem abscheulichen Winkel, beim Schein der Lampe, unter dem Rauschen einer intermittierenden Sündflut von der Tiefe verschlungen. Ein Weg in die Vergessenheit, wie es sich schimpflicher sicherlich nicht wandeln läßt. . . .

Da hielt Jenkins mitten in dem Zerstörungswerke plötzlich inne. Zwischen seinen Fingern zitterten zwei Briefchen von grauem Atlaspapier. . . .

»Von wem ist der Brief?« fragte Monpavon, dem die Handschrift unbekannt war, und den die nervöse Verwirrung des Irländers aufmerksam machte. . . . »Aber, Doktor, wenn Sie alles lesen wollen, kommen wir nie zu Ende . . .«

Jenkins, dessen Wangen vor Aufregung gerötet waren, hielt die beiden Briefe in der Hand, von der Begierde beseelt, sie zu behalten, um sie in Gemächlichkeit zu lesen und sich selbst bei der Lektüre derselben zu quälen, vielleicht auch, um aus dieser Korrespondenz sich eine Waffe gegen die unvorsichtige Briefstellerin zu schmieden. Aber die Strenge des Marquis schüchterte ihn ein. Wie sollte er seine Aufmerksamkeit ablenken, wie ihn entfernen? Die Gelegenheit bot sich von selbst. In dieselben Blätter hatte sich auch ein Schriftstück von kleinem Format verloren, welches durch die greisenhafte und zitternde Handschrift die Aufmerksamkeit des Wunderdoktors erregte, der mit naivem Erstaunen ausrief: »Nun, dies hat wenigstens nicht das Ansehen eines Liebesbriefes . . . ›Zu Hilfe, Herr Herzog, ich bin verloren. Der Rechnungshof hat von neuem seine Nase in meine Papiere gesteckt. . . .‹«

»Was lesen Sie denn da? . . .« sagte Monpavon barsch, indem er den Brief seinen Händen entriß. Und plötzlich trat ihm die furchtbare Lage vor Augen, in welche ihn der Tod seines Beschützers versetzte, der in seiner gewöhnlichen Nachlässigkeit so höchst intime Briefe umherliegen ließ. In seinem Kummer hatte er hieran noch gar nicht gedacht. Er erwog bei sich, daß der Herzog, bei allen diesen Vorbereitungen für den Tod, seiner vergessen könne, und indem er es daher Jenkins überließ, die Liebesbriefe allein zu vernichten, eilte er rasch nach dem Schlafzimmer zurück. Im Begriff einzutreten, wurde er von einem Wortwechsel hinter der niedergelassenen Portiere zurückgehalten. Es war die Stimme des Kammerdieners Louis, der, in dem weinerlichen Tone eines Bettlers vor einer Kirchenthür, den Herzog für seine eigne unglückliche Lage mitleidsvoll zu stimmen suchte und um die Erlaubnis bat, einige Goldrollen, die in der Schublade lagen, an sich zu nehmen. Ach, welche heisere, kaum vernehmbare Antwort, der man die Anstrengung des Kranken anmerkte, sich in seinem Bette umzuwenden und seinen Blick von einem schon fast sichtbaren Jenseits abzuwenden: »Ja, meinetwegen. . . . Nimm dir nur. . . . Aber ums Himmels willen, laß mich schlafen . . . laß mich schlafen . . .«

Schubladen wurden geöffnet und wieder verschlossen, ein kurzer und keuchender Atemzug ließ sich vernehmen. Monpavon hörte nichts mehr und kehrte, ohne einzutreten, um. Die wilde Habgier dieses Bedienten hatte seinem Stolze eine heilsame Lehre gegeben. Lieber alles erdulden, als sich bis zu einem solchen Grade erniedrigen.

Dieser Schlaf, nach welchem der Herzog so dringend verlangte, oder vielmehr diese Lethargie dauerte eine ganze Nacht und auch noch den Morgen, nur hin und wieder von halbem Erwachen und heftigen Schmerzen unterbrochen, die durch betäubende Mittel gelindert wurden.

Man pflegte den Herzog nicht mehr, man suchte nur ihm seine letzten Augenblicke erträglich zu machen, ihm über die letzte schreckliche Stufe, deren Ueberschreiten so schmerzlich ist, hinwegzuhelfen. Seine Augen hatten sich wieder geöffnet, aber ihre Sehkraft war verdunkelt, und sie nahmen nur unbestimmt die Gestalten wahr, wie der Taucher sie durch die rollenden Wogen schimmern sieht. Am Donnerstag Nachmittag gegen drei Uhr kam der Herzog völlig wieder zum Bewußtsein, und Monpavon, Cardailhac und zwei oder drei andre Vertraute erkennend, lächelte er ihnen zu, indem er seine einzige Sorge mit einem Worte verriet: »Was sagt man in Paris darüber?«

Man sprach darüber in sehr verschiedener und widersprechender Weise, aber so viel war gewiß, man sprach nur von ihm, und die seit dem Morgen bekannt gewordene Nachricht, daß der Herzog sich in höchster Lebensgefahr befinde, brachte die Straßen, die Salons, die Cafés, die Ateliers in Aufruhr, belebte die politischen Tagesfragen in den Redaktionen der Zeitungen, in den Klubs und selbst in den Portierlogen und auf den Omnibussen, überall, wo nur die entfalteten Zeitungen diese niederschmetternde Neuigkeit des Tages mit Kommentaren begleiteten.

Der Herzog war der glänzendste Typus des Kaiserreiches. Was man von weitem bei einem Gebäude erblickt, das ist nicht sein solides oder wankendes Fundament, die architektonische Masse, sondern das ist der zierliche, vergoldete feingearbeitete Giebel, der zur Befriedigung der Schaulust angebracht ist. Was man in Frankreich und in ganz Europa vom Kaiserreich sah, das war Mora. Mit seinem Falle war auch das Gebäude seiner ganzen Eleganz entkleidet und von einem tiefen und unheilbaren Risse von oben bis unten gespalten. Und wie viele Existenzen wurden in diesen plötzlichen Sturz mitverwickelt, wie viele Vermögen wurden durch das Nachzittern dieses Unglücksfalles in Mitleidenschaft gezogen! Keins aber in einem so hohen Grade, wie dasjenige des starken Mannes, der dort unten unbeweglich neben dem Affenkäfig saß.

Für den Nabob war dieser Todesfall sein eigner Tod, der Ruin, das Ende von allem. Dessen war er sich so wohl bewußt, daß er, als er bei seinem Eintritte in das Hotel den hoffnungslosen Zustand des Herzogs erfuhr, weder Bedauern äußerte, noch in andrer Weise sein Beileid zur Schau trug, sondern nur dies eine Wort des menschlichen Egoismus hervorstieß: »Ich bin verloren.« Und dies Wort kam ihm immer wieder auf die Lippen, er wiederholte es maschinenmäßig in plötzlichen Wiederholungen, so oft die ganze Entsetzlichkeit seiner Lage sich ihm vor Augen drängte, ähnlich wie bei den gefährlichen Gewittern in den Gebirgen ein zuckender Blitzstrahl den Abgrund mit all seinen gefahrdrohenden Zacken und Schlünden plötzlich bis auf den Boden erhellt.

Diese Hellsichtigkeit, welche gewöhnlich die Katastrophen begleitet, ersparte ihm auch nicht die kleinste Einzelheit. Er sah nun, da Mora nicht mehr für ihn eintreten konnte, die Ungültigkeitserklärung seiner Wahl als gewiß voraus und dann, als Folgen dieser Niederlage, sein Fallissement, sein Elend und noch etwas Schlimmeres, denn, wenn solche unberechenbare Reichtümer einmal zusammenstürzen, dann bleibt an ihren Trümmern stets ein wenig von der Ehrenhaftigkeit eines Mannes haften. Aber, welche Dornen, welche Stacheln, welche grausamen Verletzungen und Wunden, ehe auch nur dies Ziel erreicht war! In acht Tagen waren die Schmalbachschen Wechsel, d. h. achthunderttausend Franken fällig, dann die Schadenersatzforderung von Moëssard, der hunderttausend Franken oder die Autorisation von der Kammer begehrte, den Nabob vor dem Zuchtpolizeigericht zu belangen, und dann ein noch viel unheilvollerer Prozeß, der von den Familien zweier kleiner Märtyrer aus der Bethlehemstiftung gegen die Begründer der Anstalt angestrengt war, und zu dem allem noch das drohende Gespenst der Territorialkasse mit ihren Verwicklungen. Und dem gegenüber nur ein einziger Hoffnungsstrahl, der von Géry bei dem Bey unternommene Schritt, aber wie unbestimmt, wie chimärisch, wie fernliegend war diese Hoffnung!

»Ach, ich bin verloren . . . ich bin verloren . . .«

In dem geräumigen Empfangssalon bemerkte niemand seine Niedergeschlagenheit. Diese Menge von Senatoren, Deputierten, Staatsräten, die gesamte hohe Verwaltung kam und ging um ihn herum, ohne ihn zu sehen, sich in geheimnisvollen Gruppen, mit unruhiger Wichtigthuerei und geheimnisvollem Köpfe zusammenstecken, um die weißen Marmorkamine drängend, die an beiden Enden des Zimmers angebracht waren. So viel betrogener und jäh zu Boden gestürzter Ehrgeiz traf bei diesem Besuche in extremis zusammen, daß neben der eignen Besorgnis alles andre in den Hintergrund trat.

In den Gesichtern prägte sich eigentümlicherweise weder Mitleid noch Schmerz, sondern vielmehr eine Art Zorn aus. Alle diese Leute schienen dem Herzog seinen Tod wie eine Fahnenflucht übelzunehmen. Man hörte Aeußerungen, etwa in der Art: »Es ist auch wirklich kein Wunder, bei einer solchen Lebensweise!« Und durch die hohen Bogenfenster zeigten sich die Herren, zwischen den ab und zu fahrenden Equipagen auf dem Hofe, ein kleines Coupé, das draußen hielt und aus dem eine zierlich beschuhte Hand dem Diener, welcher die neuesten Nachrichten brachte, eine eingebogene Karte überreichte.

Von Zeit zu Zeit erschien in diesem Gedränge einer der Vertrauten, die der sterbende Herzog zu sich hatte rufen lassen, erteilte einen Befehl und verschwand wieder, indem er den Widerschein seines eignen erschreckten Antlitzes auf zwanzig andern Gesichtern zurückließ.

Auch Jenkins zeigte sich auf einen Augenblick, mit gelöster Krawatte, offner Weste und zerknitterten Manschetten, in der Unordnung, wie sie der Schlacht entsprach, die er dort oben einem furchtbaren Gegner lieferte. Er wurde sofort von allen Seiten umringt und mit Fragen bestürmt. In der That, die Affen, die durch den ungewohnten Lärm in Aufregung geraten ihre stumpfe Nase an dem Gitter ihres Käfigs platt drückten und aufmerksam auf alles achteten, was um sie herum vorging, als ob sie Studien über menschliche Gesichter anstellten, hatten in dem irländischen Arzte ein ausgezeichnetes Vorbild. Sein Schmerzensausdruck war vorzüglich, ein schöner männlicher, starker Schmerz, der ihm die Lippen zusammenpreßte und unter dem seine Brust keuchte.

»Der Todeskampf hat begonnen,« sagte er mit einer tieftraurigen Miene. . . . »Es handelt sich nur noch um Stunden.«

Und als Jansoulet sich ihm näherte, sagte er ihm in emphatischem Tone: »Ach, mein Freund, was für ein Mann! . . . Welcher Mut. . . . Er hat an alles gedacht. Noch eben in diesem Augenblicke sprach er mit mir von Ihnen.«

»In der That?«

»›Der arme Nabob‹ sagte er, ›wie steht es denn mit seiner Wahl?‹«

Das war alles. Kein Wort hatte der Herzog mehr gesagt.

Jansoulet ließ das Haupt sinken. Was hatte er auch zu hoffen? War es nicht genug, daß ein Mann, wie Mora, in einem solchen Augenblicke seiner gedacht hatte? . . . Er setzte sich wiederum auf die Bank und verfiel aufs neue in diesen Zustand gänzlicher Vernichtung, aus welchem ihn eine tolle Hoffnung momentan aufgerüttelt hatte. Der Saal war, ohne daß er es bemerkte, fast völlig verödet, und er wurde erst inne, daß er der einzige und letzte Besucher sei, als er beim Anbruche des Abends die Bedientensippe sich ganz laut unterhalten hörte:

»Ich, ich habe genug verdient, ich brauche nicht mehr zu konditionieren.«

»Ich bleibe bei der Herzogin.«

Und diese Pläne, diese Entschlüsse, die schon einige Stunden vor dem Hinscheiden gefaßt wurden, sprachen dem edeln Herzoge viel sicherer das Urteil als die Fakultät.

Dem Nabob wurde es nun klar, daß es Zeit sei, sich zurückzuziehen, vorher wollte er sich aber in dem bei dem Portier aufliegenden Buche einschreiben. Er näherte sich dem Tische und beugte sich darüber, um besser zu sehen. Die Seite war voll. Man zeigte ihm noch eine unbeschriebene Stelle unter einer kleinen kritzligen Handschrift, wie sie den zu dicken Fingern eigen zu sein pflegt, und als er seinen Namen eingeschrieben hatte, fand er, daß der Name Hemerlingue oberhalb des seinigen stand, diesen zu erdrücken und mit einem hinterlistigen Zuge zu umgarnen schien. Da er abergläubisch war, wie ein richtiger Südfranzose, machte diese Vorbedeutung auf ihn einen niederschmetternden Eindruck, deren Schrecken er mit sich fortnahm.

Wo sollte er zu Mittag speisen? . . . Im Klub? . . . Am Vendômeplatz? . . . Immer aufs neue von diesem Todesfalle sprechen hören, der ohnehin auf ihm lastete! . . . Er zog es vor, auf gut Glück geradeaus zu gehen, wie es diejenigen zu thun pflegen, die von einem quälenden Gedanken erfüllt sind, dessen sie im Gehen sich zu entledigen hoffen.

Es war eine laue, balsamische Abendluft. Der Nabob folgte den Quais, erreichte die Allee von Cours la Reine und gelangte dann in die von seinem Staube geschwängerte und durch Sprengen aufgefrischte Atmosphäre, die für die schönen Abende in Paris so charakteristisch ist. Um diese Stunde war alles wie verödet. Hier und da wurden Lampen für die Konzerte angezündet und leuchteten Gasflammen aus den Gebüschen hervor. Ein Geräusch von Gläsern und Tellern, das aus einem Restaurant drang, gab ihm den Gedanken ein, dort einzutreten.

Dieser robuste Plebejer hatte trotz alledem Hunger. Man trug ihm unter einer mit Schlingpflanzen bewachsenen Glasveranda auf; dieselbe lag dem großen Portikus des Industriepalastes gegenüber, woselbst der Herzog in Gegenwart von Tausenden ihn als Abgeordneten begrüßt hatte. Das feine aristokratische Gesicht in dem abendlichen Dunkel der Vorhalle stand ihm vor Augen, während er es gleichzeitig auf dem weißen Trauerkissen erblickte; und plötzlich, als er die Speisekarte, die der Kellner ihm überreicht hatte, ansah, wurde er mit Entsetzen gewahr, daß sie das Datum vom 20. Mai trug. . . . Also noch war nicht einmal ein Monat seit Eröffnung der Ausstellung verflossen. Er hatte den Eindruck, als müßten seit jener Zeit zehn Jahre vergangen sein. Allmählich aber versetzte ihn die Mahlzeit wieder in eine behagliche Stimmung. Im Korridor hörte er die Kellner miteinander sprechen: »Weiß man etwas von Mora? Es scheint, daß er sehr krank ist . . .«

»Ach, laß den nur, der wird schon noch einmal davonkommen. . . . Das Glück ist ja doch nur für Leute seines Schlages da.«

Und die Hoffnung klammert sich so fest im menschlichen Herzen, daß, trotz allem, was Jansoulet gesehen und gehört hatte, diese wenigen Worte unter Beihilfe von einigen Flaschen Burgunder genügten, um seinen Mut wieder zu beleben. Ueberdies, hatte man nicht Menschen, die viel schwerer krank waren, genesen sehen? Die Aerzte übertreiben oft die Krankheit, um ihr Verdienst bei der Bekämpfung derselben zu erhöhen. Wenn ich nun selbst ginge, um mich zu überzeugen. . . .

Er kehrte voll Illusionen nach dem Hotel zurück, indem er auf einen jener Glücksfälle rechnete, die so oft im Leben ihm zur Seite gestanden hatten. Und in der That, das Aussehen der fürstlichen Wohnung war dazu angethan, ihm Hoffnung einzuflößen, dieselbe hatte das ruhige und in Sicherheit einwiegende Aussehen, wie an einem gewöhnlichen Abend, von der majestätischen und einsamen, hie und da durch Lampen erleuchteten Allee bis zur Freitreppe, an deren Fuße eine große Karosse von altertümlichem Aussehen wartete. In dem gleichfalls friedlichen Vorzimmer brannten zwei große Lampen. Ein Kammerdiener schlief in einer Ecke, der Portier las vor dem Kamine. Derselbe warf dem Ankömmlinge, über seine Brille hinwegsehend, einen Blick zu, ohne ein Wort zu sagen, und Jansoulet wagte auch nicht zu fragen. Ganze Stapel von Zeitungen lagen auf dem Tische und schienen mit ihren Kreuzbändern, mit dem Namen des Herzogs, als unnütz dort hingeworfen zu sein. Der Nabob nahm eine Zeitung und versuchte zu lesen, aber ein schneller und leiser Schritt, ein halblauter Singsang ließ ihn aufblicken, und er gewahrte einen gebückten Greis mit weißen Haaren, dessen Gewand wie eine Altardecke geschmückt war und der, indem er mit großen Schritten sich entfernte, Gebete murmelte, während seine lange rote Soutane auf dem Teppiche nachschleppte. Es war der Erzbischof von Paris in Begleitung zweier Priester. Diese murmelnde Gruppe ging rasch an Jansoulet vorüber, setzte sich in die große Karosse und verschwand, indem sie seine letzte Hoffnung mit sich fortnahm.

»Sache der Konvergenz, mein Lieber,« sagte Monpavon, der plötzlich neben ihm auftauchte. . . . »Mora ist Epikuräer, auferzogen in den Grundsätzen von Dingsda . . . wie heißt es doch? . . . des achtzehnten Jahrhunderts. . . . Aber sehr schlimm für die Massen, wenn ein Mann von seiner Stellung, ps, ps, ps. . . . Ach! Er ist unser aller Meister . . . ps, ps . . . tadellose Haltung.«

»Dann ist es also zu Ende?« sagte Jansoulet zu Boden geschmettert. »Es ist keine Hoffnung mehr?«

Monpavon machte ihm ein Zeichen, aufzumerken. Ein Wagen rollte dumpf in die Allee am Quai, die Anmeldeglocke ließ plötzlich mehrere Schläge ertönen. Der Marquis zählte mit lauter Stimme: Eins, zwei, drei, vier! . . . Beim fünften Schlage erhob er sich: »Nun ist keine Hoffnung mehr. Da kommt Er an!« sagte er, indem er auf einen Aberglauben der Pariser anspielte, wonach ein solcher Besuch des Staatsoberhauptes den Todkranken stets unheilbringend war. Die Lakaien stürzten von allen Seiten herbei, öffneten die Flügelthüren und bildeten Spalier, während der Portier mit seinem Tressenhut salutierend durch Aufschlagen mit seinem Stabe die Ankunft von zwei hohen Persönlichkeiten ankündigte, die Jansoulet nur undeutlich hinter den Livreen zu unterscheiden vermochte, die er aber in einer langen Perspektive von geöffneten Thüren, unter dem Vortritt eines Kammerdieners, der einen Kandelaber in der Hand trug, die große Treppe hinansteigen sah. Die Dame ging aufrecht und stolz, in ihre schwarze spanische Mantille gehüllt; der Herr langsam und ermüdet aussehend, er hielt sich an dem Geländer, während ein krampfhaftes Seufzen sich seiner etwas eingesunkenen Brust entrang.

»Lassen Sie uns gehen, Nabob, es ist hier nichts mehr zu thun,« sagte der alte Geck, indem er Jansoulet beim Arm nahm und mit sich fortzog. Auf der Schwelle stand er still und winkte mit erhobener Hand dem Sterbenden einen letzten Gruß zu: »Leb wohl, Lieb . . .« Die Bewegung und der Ton waren tadellos, aber seine Stimme zitterte etwas.

Der Klub in der Rue Royale, dessen Spielpartieen bekannt sind, sah selten eine so entsetzliche, wie an diesem Abend. Obgleich schon um elf Uhr begonnen, dauerte sie doch bis fünf Uhr morgens. Enorme Summen rollten auf der grünen Tischplatte umher, indem sie fortwährend ihren Herrn wechselten, sich hier aufhäuften, dann wieder in alle Winde zerstoben und schließlich sich wieder in einer Hand vereinigten. Ganze Vermögen wurden in dieser Partie verschlungen, bei deren Beendigung der Nabob, welcher dieses Spiel angeregt hatte, um in den Wechselfällen des blinden Zufalls sein eignes Entsetzen zu vergessen, nach wunderbaren Kontrasten und Schicksalssprüngen, bei denen sich einem Neulinge die Haare gesträubt hatten, sich mit einem Gewinne von fünfmalhunderttausend Franken zurückzog. Am folgenden Tage sprach man auf den Boulevards von fünf Millionen, und alle Welt schrie Zeter über den Skandal, besonders der »Messager«, der zu dreiviertel mit einem Artikel gefüllt war, der auf gewisse Abenteurer gemünzt war, die in den Klubs geduldet würden und die Ursache des Ruins ehrenwerter Familien seien.

Aber ach, was Jansoulet gewonnen hatte, war kaum für den ersten der Schwalbachschen Wechsel ausreichend. . . .

Während dieser wahnwitzigen Partie, deren unfreiwillige Ursache und gleichsam Seele Mora gewesen war, wurde sein Name nicht ein einziges Mal ausgesprochen. Weder Cardailhac noch Jenkins erschienen. Monpavon, der angegriffener war, als er sich den Anschein geben wollte, hatte sich zu Bett legen müssen. So war man ohne alle Nachrichten.

Ist er tot? fragte Jansoulet sich beim Verlassen des Klubs, und ihn wandelte die Lust an, sich selbst zu überzeugen, ehe er seinen Heimweg antrat. Es war nun nicht mehr die Hoffnung, die ihm den Antrieb gab, sondern eine krankhafte und nervöse Neugier, wie sie nach einem großen Feuer die unglücklichen obdachlosen Abgebrannten nach den Ruinen ihrer früheren Wohnstätte zurücktreibt.

Obgleich es noch sehr früh am Morgen war, so war das Hotel doch wie für eine feierliche Ausfahrt weit geöffnet. Auf den Kaminen brannten noch immer qualmend die Lampen. Der Nabob erstieg inmitten dieser unerklärlichen Verlassenheit die Treppe bis zum ersten Stock, wo er endlich eine ihm bekannte Stimme, diejenige Cardailhacs, der Namen diktierte, und das Kratzen von Federn auf Papier vernahm. Der Mann, der so geschickt die Festlichkeiten für den Bey in Szene gesetzt hatte, organisierte mit derselben Hingebung das feierliche Leichenbegängnis des Herzogs von Mora. Und welche rastlose Thätigkeit! Der Herzog war erst am Abend gestorben, und seit dem Morgen waren schon zehntausend Briefe gedruckt und alles im Hause, was eine Feder zu führen vermochte, war damit beschäftigt, Adressen zu schreiben. Ohne diese improvisierten Büreaus zu durchschreiten, gelangte Jansoulet nach dem sonst so belebten Wartesalon, dessen Lehnsessel heute sämtlich unbesetzt waren. In der Mitte lagen auf einem Tische der Hut, der Stock und die Handschuhe des Herzogs, die stets für plötzliche Ausgänge bereit waren, um ihm selbst die Mühe eines Befehls zu ersparen. Die geschweifte Form des Hutes erinnerte an den Schnurrbart des Trägers, die hellen Handschuhe schienen im Begriffe zu stehen, das elastische und kräftige chinesische Rohr zu ergreifen: das Ganze atmete Leben, als ob der Herzog sofort erscheinen, die Hand im Plaudern nach diesen Gegenständen ausstrecken und ausgehen müßte.

Aber nein, der Herzog sollte nicht mehr ausgehen . . . Jansoulet brauchte sich nur der halbgeöffneten Thüre zu nähern, um auf dem erhöht stehenden Bette – immer auf der Estrade, selbst im Tode noch – eine starre, stolze Gestalt liegen zu sehen, ein unbewegliches und gealtertes Profil, das durch den in einer Nacht gewachsenen grauen Bart wie umgewandelt war.

Das Haupt an das Kopfkissen gelehnt, in die weißen Vorhänge niedergesunken, kniete eine Dame, deren blonde Haare aufgelöst herabwallten, als ob sie unter der Schere ewiger Witwenschaft zu fallen sich bereit machen wollten; außerdem waren noch ein Priester und eine Nonne da, die in dieser Atmosphäre einer Totenwache, in der die Ermüdung schlafloser Nächte und das Flüstern von Gebeten miteinander abwechseln, sich zusammengefunden hatten.

Dieses Zimmer, der Schauplatz so vielen Ehrgeizes, so vieler Hoffnungen und getäuschter Erwartungen, es war nunmehr ganz der Ruhe des Todes geweiht. Kein Laut, kein Seufzer. Nur in der Richtung des Pont de la Concorde übertönte trotz der frühen Morgenstunde der gellende Ton einer Klarinette das Rollen der ersten Wagen, aber der angreifende Spott dieses Instrumentes ging nunmehr spurlos an demjenigen verloren, der nun kalt und bleich dort schlief und dem entsetzten Nabob das Spiegelbild seines eignen Schicksals vor Augen führte.

Andre als Jansoulet haben dieses Sterbezimmer noch trauriger gesehen, mit weit offenen Fenstern, dem Nachtwind preisgegeben, der ungehindert vom Garten hereinblies. Auf einem Schragen eine Gestalt, der Leichnam, den man eben einbalsamiert hatte. Die Schädelhöhle mit einem Schwamm ausgefüllt, das Hirn in einem Becken. Das Gewicht dieses staatsmännischen Gehirns war wirklich erstaunlich. Es wog . . . es wog . . . die Zeitungen haben die Ziffer seinerzeit gebracht. Aber wer weiß sie heute noch?


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