Alphonse Daudet
Der Nabob. Band 1
Alphonse Daudet

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Siebentes Kapitel.

Jansoulet daheim.

Verheiratet war Jansoulet bereits volle zwölf Jahre, aber er hatte seiner gesamten Pariser Umgebung nach der Gewohnheit des Orients, wo man über dergleichen nicht zu reden pflegt, kein Sterbenswörtchen davon gesagt. Plötzlich erfuhr man, daß die gnädige Frau erwartet werde, und daß für sie, ihre Kinder und Frauen Quartier gemacht werden müsse. Der Nabob mietete den ganzen zweiten Stock des Hauses am Vendômeplatz, dessen Bewohner mit einer nabobmäßigen Entschädigungssumme abgefunden wurden. Zu gleicher Zeit wurden auch die Stallungen erweitert und das Dienstpersonal verdoppelt. Dann begaben sich eines Tages Kutscher und Wagen zum Lyoner Bahnhof, um die Gnädige abzuholen, die samt einem Gefolge von Negerinnen, Gazellen und Mohrenknaben mit dem Extrazuge von Marseille angedampft kam.

Sie traf in einem entsetzlich derangierten Zustande ein, völlig erschöpft und abgespannt von der langen Eisenbahnfahrt, der ersten in ihrem Leben, denn sie hatte Tunis, wohin sie in frühester Kindheit gebracht worden, noch nie verlassen. Vom Wagen aus trugen zwei Neger sie in ihre Wohnung hinauf, vermittelst eines Armsessels, welcher fortan für solche schwierige Ortsveränderungen stets unten im Hausflur in Bereitschaft stand. Frau Jansoulet konnte keine Treppe steigen, weil ihr davon schwindlig wurde, und wollte sich auch nicht im Aufzug hinaufbefördern lassen, weil die Maschinerie unter ihrer Körperlast ächzte. Sie that überhaupt keinen Schritt. Ihr Körper war dermaßen aufgedunsen, daß man unmöglich ihr Alter genauer als zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahren schätzen konnte. Sie hätte ein ziemlich hübsches Gesicht gehabt, wären nicht alle Züge verschwommen gewesen. Mit ihrem erloschenen Blicke unter Augenlidern, die wie Muscheln zuklappten, mit ihren aufgeputzten Toiletten – lauter Exportware – den Diamanten und Juwelen, mit denen sie im Geschmack der indischen Götzen beladen war, konnte sie für ein Prachtexemplar jener verpflanzten europäischen Weiber gelten, die man Levantinerinnen nennt. Es ist das ein sonderbares Geschlecht von feisten Kreolinnen, die nur noch der Sprache und der Kleidung nach mit unserm Weltteil zusammenhängen, sonst aber ganz dem Einfluß der betäubenden orientalischen Atmosphäre erlegen sind, deren giftiger, opiumgeschwängerter Hauch alles schlaff und stumpf macht, vom Zellgewebe der Haut bis auf die Kleidertaillen und selbst bis auf die seelischen Eigenschaften, auf die Denkkraft. Diese Levantinerin war die Tochter eines ungeheuer reichen Belgiers, der in Tunis den Korallenhandel betrieb und bei welchem Jansoulet als neuer Ankömmling einige Monate lang angestellt gewesen war. Damals war Fräulein Afchin ein allerliebstes zehnjähriges Püppchen mit berückendem Teint und Haar und von strotzender Gesundheit. Oft holte sie in der großen, vergoldeten, von Maultieren gezogenen Karosse den Vater vom Comptoir ab, nach seiner schönen Villa in der Umgegend von Tunis, und die flüchtige, vom Luxus umgebene Erscheinung dieses kleinen Dinges mit dem ausgeschnittenen Kleide und den glänzenden Schultern hatte dem Abenteurer dermaßen in die Augen gestochen, daß seine Wahl auf dasselbe fiel, als er ein reicher Mann, ein Günstling des Beys geworden war und mit dem Gedanken umging, sein eignes Haus zu gründen. Das Kind war mittlerweile zu einem plumpen, schwerfälligen, blassen Mädchen herangereift, dessen ohnehin schon recht spärlich zugemessener Verstand sich im Dusel einer Siebenschläferexistenz noch dichter umwölkt hatte; der Trägheit ihres flämischen Blutes hatte sich durch den Genuß der Rosenölkonfitüren und des opiumhaltigen Tabaks die orientalische Apathie zugesellt, und so war denn dank der Fahrlässigkeit ihres Vaters, der nur seinem Geschäfte lebte, die Perle der Levantinerinnen aus ihr geworden, ein ungezogenes, naschhaftes, sinnliches, anmaßendes Geschöpf. Aber Jansoulet sah nichts von alledem. Für ihn war sie und blieb sie auch bis zu ihrer Ankunft in Paris ein höheres Wesen, eine Dame aus der feinsten Gesellschaft, ein Fräulein Afchin eben. Er redete sie respektvoll an, in einer etwas gebückten, schüchternen Haltung, versorgte sie mit Geld, ohne es nur nachzuzählen, befriedigte ihre kostspieligsten Launen, ihre albernsten Marotten, alle Grillen eines durch Nichtsthun und Langeweile aus Rand und Band geratenen Odaliskenhirnes. »Sie war eine geborene Afchin« und mithin ein für allemal entschuldigt. Innigere Beziehungen bestanden zwischen den beiden nicht: er war immer in der Kasbah oder im Bardo, um dem Bey aufzuwarten, oder ging seinen Geschäften nach, sie brachte den ganzen Tag im Bette zu, mit einem Perlendiadem auf dem Kopfe, das dreimalhunderttausend Franken wert war und von dem sie sich nie trennte. Es war das reine Haremleben: sich dumm rauchen, sich im Spiegel betrachten und herausputzen in Gesellschaft einiger andrer Levantinerinnen, deren liebster Zeitvertreib darin bestand, ihre an Körperfülle wetteifernden Arme und Beine mit der Halskette abzumessen; nebenbei gab sie Kindern das Leben, um die sie sich weiter nicht kümmerte, die sie nicht einmal in Schmerzen gebar, weil man sie bei jeder Niederkunft chloroformierte.

Jansoulet aber sagte gleichwohl mit stolzem Bewußtsein! »Ich habe eine geborene Afchin zur Frau!«

Erst unter dem abkühlenden Einfluß des Pariser Himmels fing der Nabob an, enttäuscht zu werden. So wie er mit sich selbst darüber einig geworden, hier festen Fuß zu fassen, Leute bei sich zu sehen und Feste zu geben, hatte er seine Frau hercitiert, um sie an die Spitze seines Hauswesens zu stellen, aber als er diese Ausstellung von schreienden Stoffen, von Bijouterieen des Palais Royal und alles, was noch drum und dran hing, ankommen sah, machte sie ihm etwa den Eindruck einer Königin Pomare im Exil. Jetzt hatte er eben wirkliche Damen der feinen Gesellschaft gesehen und stellte Vergleiche an. Den großen Ball, den er zur Feier des Ereignisses geplant, gab er wohlweislich auf. Uebrigens wollte Frau Jansoulet selber ungestört bleiben. Zu ihrer natürlichen Trägheit gesellte sich nunmehr das Heimweh, das, gleich bei ihrer Ankunft, durch einen frostigen, gelbgrauen Nebel und den rieselnden Regen in ihr wachgerufen wurde. Mehrere Tage hindurch verließ sie das Bett nicht, wies sogar jegliche Hilfeleistung ihrer Frauen zurück und weinte wie ein Kind, indem sie behauptete, man habe sie nach Paris geführt, um sie unter die Erde zu bringen. Mit einem Gestrüppe von ungekämmten Haaren um ihr Diadem, heulte sie in einem fort in die spitzenbesetzten Kopfkissen hinein, bei verschlossenen Fenstern und Gardinen – Tag und Nacht brannten die Lampen – und schluchzte in abgebrochenen Lauten: »Ich will wieder heim, wieder heim!« In der That, ein kläglicher Anblick bei dieser Katafalkbeleuchtung: die auf den Teppichen herumstehenden halb ausgepackten Koffer, die scheuen Gazellen und die hingekauerten Negerinnen, welche die Nervenzuckungen ihrer Herrin anstaunten, winselnd und mit stieren Augen, wie jene Hunde, die auf Polarreisen irrsinnig werden, weil sie die Sonne nicht mehr sehen! Doktor Jenkins, den man zu diesen Jammerszenen herbeirief, erzielte mit seinen honigsüßen Manieren und seinen väterlichen Redensarten gar keinen Erfolg. Die Levantinerin wollte von den stimulierenden Arsenikperlen durchaus nichts wissen und der Nabob war ganz verzweifelt. Was sollte er thun? Sie mit den Kindern nach Tunis zurückschicken? Das ging kaum an; er war dort entschieden in Ungnade gefallen. Die Hemerlingues triumphierten und ein letzter Schimpf hatte das Maß vollgemacht. Jansoulet war nämlich vor seiner Abreise vom Bey beauftragt worden, durch die Pariser Münze neue Goldstücke im Werte von einigen Millionen prägen zu lassen, diese Bestellung ward ihm aber plötzlich entzogen und auf Hemerlingue übertragen. Vor aller Welt beleidigt, gab Jansoulet den Stoß ebenso offenkundig zurück, er bot seine sämtlichen Besitztümer feil, sein Palais am Bardo, ein Geschenk des verstorbenen Beys, seine Landgüter, lauter weißer Marmor mit wundervollen Gärten, seine Handelslokalitäten, die geräumigsten, prächtigsten in der ganzen Stadt, und zu guter Letzt, um seine Auswanderung in recht eklatanter Weise zu betonen, ließ er Frau und Kinder durch den intelligenten Bompain nach Frankreich bringen. Nach einem so auffälligen Bruche konnte er schwerlich mehr zurückkehren. Er suchte das seiner geborenen Afchin auch begreiflich zu machen, aber sie antwortete nur mit einem anhaltenden Gewimmer. Er wollte sie trösten, zerstreuen, doch welches Vergnügen konnte sich Bahn brechen zu einer so unmenschlich apathischen Natur? Und wenn er auch eins fand, den afrikanischen Himmel konnte er der Armen doch nicht herzaubern, und die Halle mit den Marmorplatten, wo sie lange Stunden hindurch in süßem, kühlendem Hindämmern dem Plätschern des Wassers in den drei übereinander liegenden Becken der großen Alabasterfontaine zu lauschen pflegte, und den vergoldeten Kahn mit dem Purpurzelt, in dem sie nach Sonnenuntergang von acht flinken, kräftigen marokkanischen Ruderern auf dem schönen See El-Baheira spazieren gefahren wurde. Wie prunkvoll die Wohnung am Vendômeplatz auch sein mochte, den Verlust solcher Herrlichkeiten konnte sie nicht ersetzen, und tiefer denn je ging die Levantinerin in ihrer Trübsal unter, bis es einem dienstbaren Geiste gelang, sie wieder ans Land zu ziehen. Es war dies ein starker, untersetzter, nach Knoblauch und Pomade riechender Mensch, Namens Cabassu, breitschulterig, schwarz und haarig bis um die Augen herum, der sich auf seinen Visitenkarten »Professor der Massage« titulierte und der Pariser Serailgeschichten und sonstigen Schnickschnack zu erzählen wußte, kurz Dinge, die dem Auffassungsvermögen der Gnädigen entsprachen, so daß sie, nachdem er einmal hergekommen war, um sie zu massieren, ihn wiedersehen wollte, ihn für sich behielt. Seine übrigen Kunden mußte er nun aufgeben und avancierte dafür mit einem Jahresgehalte, das eines Senators würdig gewesen wäre, zum Spezialartisten der stattlichen Frau, zu ihrem Pagen, ihrem Vorleser, ihrem Leibwächter. Jansoulet war so entzückt, seine Gattin endlich zufriedengestellt zu sehen, daß er die groteske Komik einer solchen Intimität gar nicht herausfühlte.

Man konnte Cabassu auf der Fahrt nach dem Bois de Boulogne in der kolossalen Prachtkalesche neben der Lieblingsgazelle sehen, man sah ihn in den Theaterlogen hinter der Levantinerin, welche, durch die Behandlung des Baders aus ihrer Erstarrung aufwachend, nunmehr mit dem festen Vorsatz, sich zu amüsieren, aus ihrer Zurückgezogenheit heraustrat. Sie bekam eine Liebhaberei für das Theater, besonders für derbe Possen und Melodramen. Ihre natürliche Unempfindlichkeit wurde durch das unnatürliche Lampenlicht gekitzelt, galvanisiert. Am meisten stand Cardailhacs Theater in ihrer Gunst, denn dort war der Nabob wie zu Hause, von ihm lebte ja das ganze Personal, vom ersten Kontrolleur bis zur letzten Logenschließerin herab. Dafür hatte er aber auch einen Schlüssel zur Verbindungsthür zwischen dem ersten Rang und der Bühne und hinter seiner Loge einen orientalisch dekorierten Salon mit einer in der Form eines Bienenkorbes gewölbten Decke, kamelhaarenen Diwans und einer kleinen maurischen Laterne um die Gasflamme; wenn die Zwischenakte sich in die Länge zogen, ließ sich dort eine kleine Siesta halten. Der Direktor hatte eben gegen die Frau seines Protektors galant sein wollen. Und er that des Guten noch mehr, dieser affenschlaue Cardailhac; so wie er die Liebhaberei der geborenen Afchin fürs Theater wahrnahm, redete er ihr mit aller Gewalt ein, daß sie auch ein tieferes Verständnis dafür habe, und ersuchte sie schließlich, in verlorenen Momenten einen kritischen Kennerblick in die eingereichten Stücke zu werfen, ein probates Mittel, die Geschäftsverbindung fester zu knüpfen.

Ach, ihr armen Manuskripte, die ihr, mit dünnen Fäden der Hoffnung geheftet, von ehrgeizigen Träumen getragen, in blauem oder gelbem Umschlag hinausfliegt, wer kann wissen, welche Hände euch aufs Geratewohl durchblättern, was für plumpe, unberufene Finger euch den Reiz der Neuheit abstreifen, jenen duftigen Blütenstaub des frischentfalteten Gedankens, und was für ein Richter euch verdammt?! Wenn Jansoulet, bevor er in die Gesellschaft ging, zuweilen hinaufstieg zu seiner Frau, lag sie rauchend, mit zurückgelehntem Kopfe, unter Manuskriptenbündeln auf ihren Diwan hingestreckt, und Cabassu las ihr, den Rotstift schwingend, mit schnarrender Stimme in südfranzösischem Bänkelsängertone irgend ein dramatisches Produkt vor, welches er bei der geringsten Ausstellung der Dame unbarmherzig zusammenstrich und verstümmelte. Auf den Fußzehen, mit einem Wink, der so viel hieß, wie: »Laßt euch ja nicht stören,« trat der gute Nabob herein, hörte zu und betrachtete seine Frau mit einem mehr als beifälligen Nicken des Kopfes: »Erstaunlich, wirklich!« Da er von Litteratur absolut nichts verstand, wurde ihm wenigstens nach dieser Richtung hin die Ueberlegenheit seiner geborenen Afchin wieder klar.

Sie habe, wie Cardailhac behauptete: »theatralischen Instinkt.« Dafür fehlte ihr leider ein andrer Instinkt, der der Mutterliebe, denn mit ihren Kindern beschäftigte sie sich nie, das überließ sie fremden Händen und begnügte sich, den Kleinen, die einmal im Monat zu ihr gebracht wurden, zwischen zwei Zügen aus der Cigarette, ihre schlaffen, welken Wangen hinzuhalten, ohne jene eingehende und liebevolle Sorge für ihr Wohlergehen an den Tag zu legen, in welcher sich der physische Zusammenhang zwischen Mutter und Kind gleichsam fortsetzt, so daß einer echten Mutter vom geringfügigsten Weh eines ihrer Kinder das Herz blutet.

Es waren drei dicke, schwerfällige Knaben von elf, neun und sieben Jahren, die vom Vater die gutmütigen schwarzen Samtaugen, von der Mutter den wächsernen Teint und die verfrühte Körperfülle geerbt hatten, alle drei unwissend wie Herrensöhnchen aus dem Mittelalter. In Tunis hatte Herr Bompain ihre Studien geleitet, hier aber wollte ihnen ihr Vater die Wohlthaten einer Pariser Erziehung angedeihen lassen, und so waren sie im teuersten, im »feudalsten« Institut untergebracht worden, im Collège Bourdaloue, dessen wackere Patres weniger bestrebt waren, ihren Zöglingen Kenntnisse beizubringen, als vielmehr weltmännische Manieren und guten Ton. Auf diese Weise bildeten sie lauter kleine Ungeheuer heran, lächerlich würdevolle und jammervoll altkluge Ignoranten, die sich geschämt hätten, wie Knaben zu spielen, weil ihnen jede kindliche Ursprünglichkeit abhanden gekommen war. Trotz der bevorzugten Stellung, die sie in Anbetracht des ungeheuren Vermögens ihres Vaters dort einnahmen, fanden die drei Kleinen an dieser Treibhausexistenz wenig Gefallen, sie waren auch gar zu verlassen. Sogar ihre Mitschüler, die Kreolen, hatten Bekannte, die sich ihrer annahmen, und empfingen Besuche, sie aber wurden nie in das Sprechzimmer gerufen. Von ihren Angehörigen ließ sich niemand blicken, nur trafen zuweilen ganze Ladungen von Backwerk, ein Platzregen von Leckereien für sie ein. Der Nabob hatte unterwegs die Vorräte eines Konditors rein ausgeplündert und zu seinen Söhnen hinschleppen lassen, in einer jener Herzenswallungen, die, mit der Prahlsucht eines Negers verschmolzen, all sein Thun und Lassen kennzeichneten, und so hielt er's auch mit dem Spielzeug, immer zu prunkhafte, unpraktische Sachen, Schaustücke, die ein Pariser niemals kauft. Doch was vor allen andern Dingen den drei Kleinen die Achtung ihrer Mitschüler und Lehrer sicherte, war ihr goldstrotzendes Portemonnaie, welches bei den Sammlungen zu milden Zwecken und zu einem Namenstagsgeschenk für einen der Professoren stets offen stand, wie auch bei den Wohlthätigkeitsbesuchen, jener berühmten Spezialität des Collège Bourdaloue, die in seinem Prospektus so verlockend, auf zartfühlende Gemüter so imponierend wirkte. Die Patres hatten nämlich innerhalb ihres Institutes eine kleine Gesellschaft zum heiligen Vinzenz von Paulo gestiftet, nach dem Vorbild der großen, und diejenigen Zöglinge, welche dieser Gesellschaft angehörten, begaben sich in kleinen Abteilungen und selbständig wie Erwachsene der Reihe nach wöchentlich zweimal mitten in die bevölkertsten Vorstädte, um die Armen zu unterstützen und zu trösten. Sie sollten dadurch zur praktischen Nächstenliebe erzogen werden, zu der Kunst, die Leiden und Bedürfnisse des Volkes wahrzunehmen und auf seine stets etwas abschreckenden Wunden den Balsam guter Worte und christlicher Ermahnungen zu träufeln. Die Massen durch die Vermittlung der Kleinen tröstend zu erbauen und den Unglauben durch die Jugend und Einfalt der Apostel zu entwaffnen, das war der Zweck der Gesellschaft, ein übrigens total verfehlter Zweck, da diese gesunden, wohlgekleideten und wohlgenährten Kinder nur an voraus bestimmte Orte geschickt wurden, wo sie lauter besser situierte, zuweilen zwar kränkliche, aber immer ganz reinliche Leute vorfanden, die schon regelmäßig durch die reichen Kirchenstiftungen unterstützt wurden. Niemals gerieten sie in eine jener Ekel erregenden Spelunken, wo der Moder an den Wänden und die tiefen Falten auf den Stirnen von Hunger, Trauer und Verkommenheit, kurz, von jedem physischen und moralischen Elend erzählen. Ihr Besuch kam so wenig unerwartet, wie der eines Fürsten, der in eine Wachtstube tritt, um die Suppe der Mannschaften zu kosten; man ist eben davon benachrichtigt worden und hat die Suppe für einen königlichen Gaumen gewürzt. – In gewissen Büchern zur Erbauung der Jugend sieht man häufig einen kleinen Kommunikanten abgebildet, schön frisiert, mit der Schleife um den Arm und der Wachskerze in der Hand, der an dem Schmerzenslager eines armen, die Augen himmelwärts verdrehenden Alten steht und ihm zuspricht. Just nach ganz derselben Schablone wurden die Wohlthätigkeitsbesuche inszeniert und aufgeführt. Die abgezirkelten Bewegungen der kurzarmigen Miniaturprediger wurden durch die schielende Unnatur auswendig gelernter Worte ergänzt, und die possierlichen Ermahnungen und Erörterungen im Traktätchenstil, die sie mit der krähenden Stimme heiserer junger Hähne »aus vollem Herzen spendeten«, durch rührselige Segenswünsche und klägliche, winselnde Faxen erwidert, wie von Bettlern an den Kirchenthüren beim Ausgang der Vesper. Waren jedoch die jungen Leute wieder draußen, dann brach die Lustbarkeit los in der Dachkammer, unter johlendem Gelächter umtanzte man die zurückgelassenen Liebesgaben, stieß den Armsessel, auf dem man eben noch den Kranken gespielt, beiseite und goß das Tränklein ins Feuer, in eine unter der Asche höchst kunstvoll verborgen gehaltene Glut.

Wenn die Kleinen einen Tag bei ihren Eltern zubrachten, wurden sie dem Manne mit dem Fes, dem unentbehrlichen Bompain anvertraut. Mit Bompain gingen sie dann nach den Champs-Elysées in ausgesuchter Toilette: englische Jacketts, kürbisförmige Hüte nach der neuesten Mode – mit sieben Jahren! – und hundslederne Handschuhe mit einem Spazierstöckchen dazu; oder sie fuhren mit Bompain, der eine ganze Ladung Proviant mitnahm, in offnem Wagen zum Pferderennen mit einem zusammengerollten grünen Schleier um den Hut und der aufgesteckten Eintrittskarte daran, jenen liliputanischen Pantomimenfiguren nicht unähnlich, deren Komik auf dem Mißverhältnis zwischen den großen Köpfen, den kurzen Beinchen und den zwerghaften Armbewegungen beruht. Man trank und rauchte, daß es ein Jammer war. Zuweilen konnte sich der Mann mit dem Fes kaum mehr aufrecht halten und brachte die Kinder in einem erbärmlichen Zustande heim – und doch hatte sie der Nabob lieb, »seine Kleinen«, besonders den Jüngsten, der ihn mit seinem langen Haar und seinem geschniegelten Wesen an die kleine Afchin erinnerte, wie sie einst in ihrer Karosse vorgefahren kam, aber sie waren noch in dem Alter, wo die Kinder der Mutter gehören und wo nichts, weder der feine Schneider, noch die mustergültigen Lehrer, noch die patente Erziehungsanstalt, noch die eigens für solche Miniaturmännchen gesattelten Ponies Ersatz bieten für die aufmerksame, sorgfältige Pflege im traulich-warmen heimischen Nest. Diese Pflege konnte ihnen ein Vater nicht angedeihen lassen, und ihr Vater hatte noch obendrein so viel zu thun! Ihm machten tausenderlei Dinge zu schaffen. Die Territorialkasse, die Einrichtung der Bildergalerie, die Einkäufe im Tattersall mit Bois-Landry, die Besichtigung dieser oder jener Rarität bei Kunstliebhabern, die mit Schwalbach in Verbindung standen, stundenlange Verhandlungen mit Pferdehändlern, Bereitern, Antiquitätenhändlern, kurz die vielseitigen, zeitraubenden Angelegenheiten eines Emporkömmlings, der den Kavalier spielt. So schliff er sich mit jedem Tage etwas mehr ab und wurde überall heimisch, in Monpavons Klub, im Konversationszimmer der großen Oper, hinter den Coulissen, dabei gab er noch immer seine wohlbekannten Junggesellenfrühstücke; es war dies die einzige Form geselligen Verkehrs, die sich mit seinen häuslichen Verhältnissen vertrug. Wirklich, ein bewegtes Leben, trotzdem ihm Paul von Géry die schwerste Last, die Abfertigung der Antrag- und Bittsteller, abgenommen hatte und nun an seiner Stelle all die verwegenen und verrückten Erfindungen, all die tragikomischen Zumutungen eines großstädtischen Bettelwesens über sich ergehen ließ, das so gut seine Organisation hat wie ein Verwaltungszweig, und dessen zahlloses Heer von Vertretern sich Zeitungen hält und das Adreßbuch auswendig kann. Da kam die junge und doch schon verblühte Dame, welche die Kleinigkeit von hundert Louisdor verlangt mit der Drohung, sich sofort ins Wasser zu stürzen, wenn ihr nicht willfahrt wird, und die wohlbeleibte, freundliche, ungenierte Matrone, die bereits unter der Thür anfängt: »Sie kennen mich nicht, mein Herr, und auch ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen, aber die gegenseitige Bekanntschaft wird bald gemacht sein. Nehmen Sie gefälligst Platz und hören Sie mir zu. . . .« Und der abgehetzte Geschäftsmann, der – was zuweilen die Wahrheit ist – am Vorabend eines Bankrottes uns beschwört, ihm die Ehre zu retten, und aus dessen Brusttasche schon etwas vorsteht, wie das Pistol des Selbstmörders – zuweilen ist es wirklich nicht bloß ein großes Pfeifenfutteral – und dann wieder die aufrichtige, aber durch ihren unklaren Ausdruck ermüdende Not, Leute, die nicht einmal ordentlich sagen können, wie wenig Talent sie besitzen, ihr Brot zu verdienen. Zu diesen direkten Betteleien kamen solche, die ein vornehmeres Aussehen hatten und unter der Firma: Wohlthätigkeit und Philanthropie auftraten, Unterstützungen aller Art, Aufmunterung nach Brot gehender Künstler, Sammlungen für Krippen, Kirchen, Besserungshäuser, milde Stiftungen, Volksbibliotheken und endlich, in weltlicher, verlockenderer Gestalt, die Konzerte und Benefizvorstellungen, Eintrittskarten in allen Farben, natürlich reservierte Plätze oder erster Rang. Da der Nabob derartige Anträge ein für allemal genehmigt wissen wollte, war es wenigstens ein Fortschritt, daß er sie nicht mehr persönlich erledigte. Geraume Zeit hindurch hatte er diese gleisnerische Ausbeutung geradezu groß gezogen. Ein Konzertbillet irgend einer Zitherschlägerin aus dem Zillerthale oder eines Trommelflötisten aus dem Languedoc, das in den Tuilerien oder beim Herzog von Mora auf zehn Franken geschätzt worden wäre, honorierte er mit einem Fünfhunderter. Es gab Tage, wo Paul von Géry nach solchen Audienzen einen unsäglichen Ekel empfand; seine jugendliche Rechtschaffenheit bäumte sich auf, und er rückte dann mit Reformversuchen heraus, aber schon beim ersten Worte spiegelte sich in den Zügen des Nabob jener Ueberdruß, der schwache Naturen anwandelt, wenn man sie vor eine Entscheidung stellt, oder er antwortete mit einem wuchtigen Achselzucken: »Wir leben einmal in Paris, liebes Kind, Sie brauchen nicht irre zu werden. Lassen Sie mich nur gewähren. Ich weiß schon, wohin ich steure und was ich will.«

Dazumal wollte der Nabob zweierlei; einen Sitz in der Kammer und das Kreuz der Ehrenlegion. Das waren in seinen Augen die zwei ersten Stufen zu dem hohen Ziele, dem sein Ehrgeiz zustrebte. Der Sitz in der Kammer war ihm gesichert, weil er an der Spitze der Territorialkasse stand; wie oft hatte ihm Paganetti von Portovecchio nicht gesagt: »Wenn wir erst so weit sind, wird ganz Korsika sich erheben wie ein Mann und Ihnen seine Stimme geben!« Nur genügte es nicht, die Wähler für sich zu haben, es mußte auch ein Mandat frei werden, und gegenwärtig waren die Volksvertreter für Korsika vollzählig. Allerdings wäre vielleicht einer von ihnen unter besondern Umständen gern zurückgetreten, z. B. der alte Popolasca, welcher schon so gebrechlich und infolgedessen seiner Aufgabe so wenig gewachsen war, daß er sich fast immer beurlauben lassen mußte. Wenn auch etwas heikler Natur, so war die Angelegenheit doch nichts weniger als aussichtslos, da der gute Mann außer einer zahlreichen Familie und vielen Ländereien, die so gut wie nichts abwarfen, nur noch sein Palais in Bastia besaß, in welchem er sich von Polenta nährte, und weil er in Paris sich mit einem Absteigequartier in einem Gasthofe achtzehnten Ranges begnügte. Wem es auf hundert- oder zweihunderttausend Franken nicht ankam, der konnte mit dem ausgehungerten Tribunen schon handelseinig werden, welcher, als ihm Paganetti auf den Zahn gefühlt, weder ja noch nein gesagt hatte, weil er zwischen dem Reiz der großen Summe und seinem kindischen, parlamentarischen Ehrgeiz schwankte. Bei dieser Lage der Dinge stand eine Entscheidung tagtäglich bevor, und dann war der Erfolg der Wahl fast eine mathematische Gewißheit, denn durch den Herzog von Mora konnte man auf die Unterstützung der Regierung zählen, und andrerseits fing der Name Jansoulet in Korsika bereits an, populär zu werden infolge alles dessen, was er für die Insel that, für ihren Bergbau, ihren Eisenbahnverkehr, ihr Forstwesen.

Was die Ehrenlegion anbelangte, so war die ganze Sachlage eine noch günstigere. Unzweifelhaft hatte die bethlehemitische Stiftung auf die Tuilerien einen verteufelten Eindruck gemacht und es wurde dort nur noch Herrn von Perrières Besuch und sein Bericht erwartet, der ja nicht anders als vorteilhaft ausfallen konnte, um für den 16. März – einen gnadenreichen kaiserlichen Gedenktag – Jansoulets ruhmgekrönten Namen in die Liste der Bevorzugten einzutragen. Bis zum 16. März war kein ganzer Monat mehr. . . . Was würden sie alle für Gesichter dazu machen? Der dicke Hemerlingue, der sich noch immer mit seinem Nishamorden begnügen mußte, und der Ben, dem man versichert hatte, daß die Pariser Gesellschaft Jansoulet in Acht und Bann erklärt habe, und drunten in St. Andéol das alte Mütterchen, das von jeher so stolz gewesen auf ihres Sohnes Erfolge! . . . Verlohnte sich's dafür nicht, einige hunderttausend Franken geschickt zu vergeuden und vor die Raubvögel auszustreuen auf jenem Wege zum Ruhm, den der Nabob wie ein Kind betreten hatte, ohne zu bedenken, daß er noch kurz vor Erreichung des Zieles in Stücke gehackt werden konnte? Waren denn diese äußerlichen Erfolge, diese Triumphe und dieses teuer erkaufte Ansehen keine Entschädigung für alle sonstigen Enttäuschungen des Orientalen, der, dem europäischen Leben wiedergewonnen, nur einen Harem besaß, wo er eine Häuslichkeit haben wollte, und, wo er eine Frau suchte, bloß eine Levantinerin fand?


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