Alphonse Daudet
Fromont junior
Alphonse Daudet

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.

Die Brauerei der Rue Blondel

Seit seiner Heirat hatte Risler den Besuch der Brauerei aufgegeben. So gern es Sidonie gesehen hatte, wenn er abends in einen eleganten Klub, in eine Gesellschaft reicher, gut gekleideter Männer gegangen wäre, so unerträglich war ihr der Gedanke, daß er in den Pfeifenqualm und zu den Gefährten seiner Vergangenheit, Sigismund Planus, Delobelle und ihrem Vater, zurückkehren könnte. Geradezu unglücklich war sie darüber, und so schwer es ihm wurde, er gab es auf. Für Risler war die kleine, in einem verlorenen Winkel des alten Paris gelegene Brauerei gleichsam ein Stückchen Heimat gewesen; die kleine Rue Blondel mit ihrem geringen Wagenverkehr, den hohen, vergitterten Parterrefenstern und dem frischen Geruch der Droguerieläden erinnerte an gewisse Gäßchen in Basel oder Zürich, und da der Besitzer der Brauerei ein Schweizer war, bestand ein großer Teil der Stammgäste aus seinen Landsleuten. Wenn die Thür geöffnet wurde, sah man in einen großen, niedrigen, von Pfeifenqualm und harten deutschen Lauten erfüllten Saal, an dessen Balkendecke geräucherte Schinken hingen. An den Wänden standen große Bierfässer, der Fußboden war dick mit Sägespänen bedeckt und auf dem Schenktisch standen große Salatnäpfe mit rötlichen, wie Kastanien aussehenden Kartoffeln neben Körben voll frischer, mit Salz bestreuter, goldig glänzender Bretzeln.

Hier hatte Risler zwanzig Jahre lang seine Pfeife gehabt – eine lange Pfeife, die, mit seinem Namen bezeichnet, am Hakenbrett der Stammgäste hing – und seinen Tisch, an welchem einige seiner Landsleute bescheiden Platz nahmen, um in schweigender Bewunderung den endlosen, ihnen ganz unverständlichen Auseinandersetzungen der Herren Chèbe und Delobelle zuzuhören. Seit Risler nicht mehr kam, waren auch diese beiden aus verschiedenen guten Gründen der Brauerei untreu geworden. Einer dieser Gründe war, daß Monsieur Chèbe jetzt zu weit weg wohnte, denn dank der Großmut seiner Kinder sah er den Traum seines Lebens erfüllt.

»Wenn ich einmal reich werde,« pflegte der kleine Mann zu sagen, als er in der traurigen Wohnung im Marais hauste, »will ich vor einem Thore von Paris, beinahe auf dem Lande, mein eignes Häuschen haben und meinen eignen kleinen Garten, den ich selbst umgrabe und begieße. Das wird mir viel besser bekommen als die Aufregungen der Hauptstadt.«

Dies Häuschen hatte er nun – aber glücklich fühlte er sich nicht, das kann ich versichern.

Es lag in Montrouge, am Rondenwege. »Schweizerhäuschen mit Garten« stand auf dem Mietzettel, dessen Quadrat gleichsam der Plan der Besitzung zu sein schien. Die ländlich aussehenden Tapeten waren neu, der Anstrich überall frisch, eine Regentonne, die neben der Laube von wildem Wein angebracht war, diente zum Begießen und ersetzte den fehlenden Teich. Zu allen diesen Vorzügen kam, daß dieses Paradies nur durch eine Hecke von einem ganz gleichen »Schweizerhaus mit Garten« getrennt war, das der Kassierer Sigismund Planus mit seiner Schwester bewohnte. Für Madame Chèbe war diese Nachbarschaft sehr angenehm, denn sobald sie sich langweilte, begab sie sich mit einem Vorrat von Strickereien und Flickereien in die Laube der alten Jungfer und blendete sie mit der Schilderung vergangener Tage voll Glück und Glanz. Ihrem Gatten standen leider derartige Zerstreuungen nicht zu Gebot.

Anfangs ging alles gut. Es war mitten im Sommer und Monsieur Chèbe, der sich beständig in Hemdärmeln zeigte, war mit der Einrichtung beschäftigt. Jeder Nagel, der im Hause eingeschlagen werden sollte, wurde zum Gegenstand reiflicher Ueberlegung, endloser Diskussionen. Ebenso war es im Garten. Anfangs hatte er beschlossen, einen englischen Park daraus zu machen mit immergrünen Rasenflächen und verschlungenen Pfaden zwischen dichtem Gebüsch. Wenn das Buschwerk nur nicht so verteufelt lange Zeit zum Wachsen brauchte!

»Es wäre doch vielleicht besser, einen Nutzgarten anzulegen«, sagte der ungeduldige kleine Mann und nun träumte er von Gemüsebeeten, Stangenbohnen und Pfirsichspalieren. Ganze Vormittage war er mit Hacken beschäftigt, runzelte die Stirn mit sorgenvoller Miene und trocknete sich geflissentlich in Gegenwart seiner Frau die Stirn, damit sie ihm sagen sollte: »Ruhe dich doch aus . . . du wirst dich tot arbeiten.«

Das Ende vom Liede war, daß der Garten eine Art Mischling wurde, Parkanlagen und Gemüsebeete, Blumen und Früchte enthielt. Monsieur Chèbe versäumte denn auch nie, wenn er nach Paris ging, sein Knopfloch mit einer Rose seines Blumengartens zu schmücken.

Solange das Wetter schön blieb, wurden die guten Leute nicht müde, das Untergehen der Sonne hinter den Festungsmauern, die Länge der Tage und die erquickende Landluft zu preisen. Hin und wieder, wenn sie abends am offnen Fenster saßen, sangen sie zweistimmige Lieder, und beim Anblick der Sterne, die gleichzeitig mit den Gaslaternen der Ringbahn aufleuchteten, wurde Ferdinand lyrisch gestimmt. Um so trauriger aber sah es aus, als die Regenzeit kam und an Ausgehen nicht mehr zu denken war! Madame Chèbe, eine Vollblut-Pariserin, sehnte sich nach den engen Straßen des Marais, nach ihren Marktgängen auf den Platz des Blancs-Manteaux, ihren Einkäufen in den Läden des Stadtviertels.

Da saß sie nun am Fenster auf ihrem Arbeitsplatze und Beobachtungsposten, sah in den kleinen, feuchten Garten hinaus, wo sich verblühte Winden und Kapuzinerkresse lebensmüde von den Stengeln lösten, sah die lange, gerade Linie der Böschungen und weiterhin an einer Straßenecke die Station der Pariser Omnibusse, auf deren lackierten Außenseiten in verlockenden Inschriften zu lesen war, wohin sie fuhren. So oft sich einer dieser großen Wagen in Bewegung setzte und abfuhr, blickte sie ihm nach, wie der nach Cayenne oder Numea verbannte Beamte dem nach Frankreich heimkehrenden Postschiffe mit den Augen folgt; in Gedanken fuhr sie mit, wußte, wo er stillhielt, um welche Ecken er zu biegen hatte und wo seine Räder die Scheiben der Ladenfenster in Gefahr brachten.

Geradezu fürchterlich wurde Monsieur Chèbe in dieser Gefangenschaft. An Gartenarbeiten war nicht mehr zu denken; Sonntags blieben die Festungswerke verödet; er konnte nicht mehr wie bisher in gestickten Pantoffeln mit der Miene eines reichen Hausbesitzers aus der Nachbarschaft zwischen den Arbeitergruppen umhergehen, die, mit ihren Angehörigen im Grase gelagert, die mitgebrachten Vorräte verzehrten. – Gerade das fehlte ihm am meisten, denn er wurde förmlich gequält von dem Verlangen, andre mit sich und seinen Angelegenheiten zu beschäftigen. Seit ihm das versagt war, wußte er nichts mit sich anzufangen, und da er niemand hatte, vor dem er sich wichtig machen, niemand dem er seine Pläne und Erlebnisse mitteilen oder von dem Unfall erzählen konnte, der den Herzog von Orleans betroffen hatte – dasselbe, wissen Sie, war ihm in seiner Jugend widerfahren – so blieb dem unglücklichen Ferdinand nichts weiter übrig, als seine Frau mit Vorwürfen zu überhäufen.

»Deine Tochter hat uns in die Verbannung geschickt . . . Deine Tochter schämt sich unsrer . . .«

Den ganzen Tag war nichts weiter zu hören, als »Deine Tochter . . . Deine Tochter . . . Deine Tochter . . .« denn in seiner Erbitterung gegen Sidonie verleugnete er sie und bürdete die ganze Verantwortlichkeit für dies abscheuliche, unnatürliche Kind seiner Gattin auf. Eine wahre Erleichterung war es für die arme Madame Chèbe, wenn ihr Mann einen der Omnibusse an der Station bestieg, um Delobelle, der immer zum Flanieren bereit war, aufzusuchen und den Groll gegen Tochter und Schwiegersohn in seinen Busen auszuschütten.

Auch der berühmte Delobelle war mit Risler unzufrieden und geneigt, von ihm zu sagen: »Er ist ein Waschlappen!«

Der große Mann hatte sich nämlich der Hoffnung hingegeben, in dem neubegründeten Haushalt eine große Rolle zu spielen, in Fragen der Eleganz und des Anstandes die entscheidende Stimme zu haben. Statt dessen behandelte ihn Sidonie mit verletzender Kälte und Risler nahm ihn nicht einmal mehr mit in die Brauerei. Dennoch beschwerte sich der Schauspieler nicht allzu laut, und so oft er mit dem alten Freunde zusammentraf, überhäufte er ihn mit Schmeicheleien und Verbindlichkeiten, denn er hatte die Absicht, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Delobelle war des Wartens auf den einsichtsvollen Direktor und die ersehnte Rolle müde und hatte beschlossen, selbst ein Theater zu kaufen und zu leiten; das Kapital dazu sollte ihm Risler geben. Auf dem Boulevard du Temple war in diesem Augenblick ein kleines Theater zu verkaufen, dessen Direktor Bankerott gemacht hatte. Delobelle begann Risler darauf hinzuweisen, bemerkte: »Da ließe sich 'was machen,« und Risler, der ihm mit seinem gewöhnlichen Phlegma zuhörte, gab zur Antwort: »Ja, das könnte möglicherweise für Sie passen.« – Eine direkte Anfrage Delobelles hatte er nicht sogleich mit entschiedenem Nein zurückzuweisen gewagt, hatte sich hinter ein: »Ich werde sehen . . . später vielleicht« geflüchtet und endlich das unglückselige Wort fallen lassen: »Man müßte einen Kostenanschlag haben.«

Darauf hatte der Schauspieler acht Tage lang hart gearbeitet, Pläne gezeichnet und Zahlen zusammengestellt. Frau und Tochter saßen an seiner Seite, sahen ihm voll Bewunderung zu und berauschten sich an diesem neuen Traume. Im ganzen Hause hieß es: »Monsieur Delobelle wird ein Theater kaufen;« auf dem Boulevard, im Schauspieler-Kaffeehause war es Tagesgespräch. Delobelle gab zu verstehen, daß er das nötige Kapital gefunden habe, und die Folge davon war, daß er von einer Anzahl stellenloser Schauspieler umdrängt wurde, ehemaligen Kameraden, die ihn vertraulich auf die Schulter schlugen und sich ihm mit den Worten: »Alter Junge, du weißt doch noch . . .« in Erinnerung brachten. Delobelle versprach Engagements, frühstückte im Kaffeehause, schrieb daselbst allerlei Briefe, grüßte die Eintretenden mit freundlicher Handbewegung, führte in den Winkeln lebhafte, vertrauliche Zwiegespräche und schon hatten ihm zwei schäbige Dramatiker ein Stück in sieben Bildern vorgelesen, das er für die Eröffnung seiner Bühne passend fand. Er sagte bereits »Mein Theater« und erhielt Briefe, die an den »Herrn Direktor Delobelle« adressiert waren.

Nachdem er Prospekt und Kostenanschläge fertig hatte, ging er damit zu Risler in die Fabrik, fand denselben aber sehr beschäftigt und wurde von ihm in die Rue Blondel bestellt. Delobelle, der erste, der abends in der Brauerei erschien, setzte sich an den ehemaligen Stammtisch, bestellte einen Krug Bier mit zwei Gläsern und wartete. Er wartete lange, das Auge in zitternder Ungeduld der Thüre zugewendet – Risler kam nicht. So oft jemand eintrat, fuhr der Schauspieler in die Höhe; er hatte seine Papiere auf den Tisch gelegt, und sah sie immer aufs neue durch, wobei er allerlei Gebärden machte und Kopf und Lippen bewegte.

Das Unternehmen war einzig in seiner Art – ein glänzendes Geschäft. Schon sah er sich auf der Bühne – denn das war die Hauptsache – sah sich auf seinem eignen Theater in Rollen auftreten, die eigens für ihn geschrieben, seinem Talente angepaßt waren und alle Effekte in sich vereinigten . . .

Plötzlich öffnete sich die Thür und inmitten des Pfeifenqualms erschien Monsieur Chèbe. Dies Zusammentreffen war dem einen ebenso unangenehm wie dem andern, denn auch Chèbe wünschte seinen Schwiegersohn in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen, hatte ihm das geschrieben, ihn aufgefordert, nach der Brauerei zu kommen, und hinzugefügt, es handle sich um eine Ehrensache, über die sie sich unter vier Augen, Mann gegen Mann aussprechen müßten.

Diese sogenannte Ehrensache war übrigens weiter nichts, als daß Monsieur Chèbe sein Häuschen in Montrouge gekündigt und statt dessen in der Rue du Mail, also in einem der besten Geschäftsviertel von Paris, einen Laden nebst Halbetage gemietet hatte. – Einen Laden? – Mein Gott, ja! und nun war er in einiger Sorge wegen dieses dummen Streiches, besonders in Unruhe, wie sich seine Tochter dazu stellen würde. Der Laden war bedeutend teurer als das Haus in Montrouge und bedurfte überdies bedeutender Reparaturen. Darum wünschte Chèbe, der seinen Schwiegersohn kannte, zuerst mit ihm zu sprechen; er gab sich der Hoffnung hin, ihn für die Sache gewinnen, ihm die Verantwortlichkeit für seinen häuslichen Staatsstreich zuschieben zu können – aber an Rislers Stelle fand er Delobelle.

Verdrießlich, mit dem bösen Blicke zweier Hunde, die an einem Futternapfe zusammentreffen, sahen sie sich an. Jeder begriff, wen der andre hier zu finden wünschte, und sie versuchten auch nicht, sich darüber zu täuschen.

»Ist mein Schwiegersohn nicht hier?« fragte Chèbe, indem er die auf dem Tische liegenden Papiere mit einem Seitenblick streifte und die Worte mein Schwiegersohn gleichsam unterstrich, um anzudeuten, daß Risler nur ihm, keinem andern gehöre.

»Ich erwarte ihn,« antwortete Delobelle, schob seine Schriftstücke zusammen und fügte mit wichtiger, geheimnisvoller Miene in seiner theatralischen Weise hinzu: »Es handelt sich um eine Sache von höchster Bedeutung.«

»Mir geht es ebenso!« versicherte Monsieur Chèbe und seine drei Haare sträubten sich, wie die Stacheln eines Igels. Dann setzte er sich neben Delobelle, bestellte wie dieser einen Krug Bier mit zwei Gläsern, steckte die Hände in die Taschen und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, um in dieser gespreizten Stellung ebenfalls zu warten. Die beiden leeren Gläser, die nebeneinander stehend für denselben nicht Anwesenden bestimmt waren, schienen sich drohend anzusehen.

Risler kam noch immer nicht.

Die beiden stummen Trinker wurden ungeduldig, rückten auf dem Diwan hin und her, und jeder hoffte, daß der andre des Wartens müde werden sollte.

Endlich kam ihre üble Laune zum Ausbruch und es verstand sich von selbst, daß ihr der arme Risler zum Opfer fiel.

»Wie unschicklich, einen Mann meines Alters so lange warten zu lassen!« begann der kleine Chèbe, der sein hohes Alter nur bei solchen Gelegenheiten geltend zu machen pflegte.

»Es sieht wirklich aus, als ob man uns zum besten haben wollte,« erwiderte Delobelle.

»Wer weiß . . . Monsieur hat vielleicht Tischgäste!« meinte der andre.

»Und was für Gäste!« fiel der berühmte Delobelle, in dessen Seele peinliche Empfindungen erwachten, verächtlich ein.

»Soviel ist gewiß . . .« begann Monsieur Chèbe aufs neue und damit rückten sie zusammen und begannen vertraulich zu plaudern. Beide hatten gegen Risler und Sidonie allerlei auf dem Herzen, das sprachen sie jetzt aus. Dieser Risler war, trotz seines gutmütigen Wesens, im Grunde doch nur ein Egoist, ein Emporkömmling: sie spotteten über seine Aussprache, seine Haltung, ahmten einige seiner Angewohnheiten nach, kamen endlich auf seinen Ehestand und flüsterten sich in gedämpftem Tone allerlei lächerliche Geschichtchen über ihn zu. Sie waren wieder die besten Freunde. Monsieur Chèbe ging weit in seinen Bemerkungen.

»Er mag sich nur in acht nehmen! Es ist die größte Thorheit, daß er die Tochter in solcher Weise von den Eltern fernhält. Passiert ihm etwas, so darf er uns keine Vorwürfe machen. Wenn eine Tochter nicht mehr das Beispiel der Eltern vor Augen hat . . . Sie verstehen mich.«

»Gewiß . . . gewiß!« antwortete Delobelle. »Um so mehr, da Sidonie sehr kokett geworden ist. – Aber was wollen Sie, ihm geschieht nur, was er verdient hat . . . wie durfte ein Mann in seinem Alter.  . . still! da ist er.  . .«

Risler war eingetreten und kam, rechts und links Hände schüttelnd, auf sie zu.

Die drei Freunde begrüßten sich mit einer gewissen Verlegenheit. Risler entschuldigte sich so gut er konnte. Er hatte sich zu Hause verspätet. Sidonie hatte Gesellschaft; – Delobelle stieß Chèbe mit dem Fuße unter dem Tische an, und während er sprach, sah er unbehaglich auf die beiden leeren Gläser, die für ihn bereit standen, und wußte nicht, vor welches er sich setzen sollte.

Delobelle war großmütig.

»Sie haben miteinander zu reden, meine Herren; bitte genieren Sie sich nicht!« Und indem er Risler zublinzelte, fügte er flüsternd hinzu: »Ich habe die Papiere mitgebracht.«

»Die Papiere?« fragte der andre erstaunt.

»Die Kostenanschläge!« flüsterte der Schauspieler, dann drückte er sich mit auffallend zur Schau getragener Diskretion in eine Ecke, stützte den Kopf in die Hände, mit denen er sich gleichzeitig die Ohren zuhielt, und vertiefte sich in seine Papiere.

Die beiden andern begannen zu plaudern, erst leise, dann lauter, denn Monsieur Chèbes scharfe, kreischende Stimme ließ sich nicht lange mäßigen. Er war, zum Teufel auch, noch nicht alt genug, sich ins Grab zu legen! In Montrouge hätte er freilich vor Langeweile sterben müssen. Nein, die Rue du Mail oder du Sentier, der rege Geschäftsverkehr jener Stadtviertel, das war, was er brauchte.

»Gut . . . aber was soll der Laden?« wagte Risler schüchtern einzuwerfen.

»Der Laden? was der Laden soll?« wiederholte Monsieur Chèbe, rot wie ein Osterei, in den höchsten Tönen seiner Stimmlage, »den Laden, Herr Risler, brauche ich, weil ich Kaufmann bin . . . und nicht allein Kaufmann, sondern einer Kaufmannsfamilie entsprossen . . . Oh! was Sie sagen wollen, weiß ich schon, weiß es ganz genau! . . . Ich habe augenblicklich kein Geschäft . . . aber wer ist daran schuld? . . . Wenn die Leute, die mich in Montrouge, in der Nähe der Irrenanstalt von Bicêtre eingesperrt haben, so vernünftig gewesen wären, mir das nötige Kapital zur Begründung eines Geschäftes vorzustrecken . . .« Hier gelang es Risler, ihn zum Schweigen zu bringen, und fortan wurden nur noch abgerissene Sätze ihrer Unterhaltung hörbar: »Bequemeren Laden . . . hohe Decke . . . leichteres Atmen . . . Zukunftspläne . . . riesiges Unternehmen . . . seiner Zeit weitere Aufschlüsse geben . . . gar viele werden sich wundern . . .« Während Delobelle diese abgerissenen Sätze auffing, schien er sich mehr und mehr in seine Schriftstücke zu vertiefen und zeigte den runden Rücken eines Mannes, der durchaus nichts hören will. Risler, der sich in großer Verlegenheit befand, trank – um äußerlich seine Haltung zu bewahren – hin und wieder einen Schluck Bier. Endlich, als sich Monsieur Chèbe, aus triftigen Gründen, beruhigt hatte, wendete sich sein Schwiegersohn mit freundlichem Lächeln zu dem berühmten Delobelle dieser warf ihm jedoch einen kalten, strengen Blick zu, der zu fragen schien: »Soll ich ewig warten?«

»Großer Gott. . . er hat recht!« dachte der arme Risler, wechselte Stuhl und Glas und setzte sich dem Schauspieler gegenüber. Aber Monsieur Chèbe besaß nicht Delobelles Lebensart; anstatt bescheiden beiseite zu rücken, schob er sein Bier näher heran, drängte sich zwischen die beiden, und der große Mann, der in seiner Gegenwart nicht sprechen wollte, steckte zum zweitenmale seine Papiere in die Tasche, indem er zu Risler gewendet sagte: »Wir wollen später darauf zurückkommen.«

Es wurde sehr spät, ehe das geschah, denn Monsieur Chèbe hatte sich selbst gesagt: »Mein Schwiegersohn ist so gutmütig . . . wenn ich ihn mit diesem Glücksjäger allein lasse, kann niemand wissen, was der ihm abschwatzt.«

So blieb er denn, um Risler zu beaufsichtigen. Der Schauspieler war wütend; die Besprechung auf einen andern Tag verschieben? . . . unmöglich! Risler hatte eben erzählt, daß er am folgenden Morgen auf vier Wochen nach Savigny gehe.

»Auf vier Wochen nach Savigny?« fragte der kleine Chèbe empört; er fürchtete, daß ihm sein Schwiegersohn entschlüpfen könnte. »Was wird dann aus den Geschäften?«

»Ich komme täglich mit Georges in die Stadt . . . Herr Gardinois verlangt danach, seine kleine Sidonie wiederzusehen.«

Monsieur Chèbe schüttelte den Kopf; er fand das höchst unvorsichtig. Geschäft ist nun einmal Geschäft . . . Man muß immer da sein . . . darf seinen Posten unter keiner Bedingung verlassen! . . . Wie leicht könnte nachts in der Fabrik Feuer ausbrechen. Mit weiser Miene bemerkte er denn auch: »Das Auge des Herrn, mein Bester, das Auge des Herrn!« während der Schauspieler, dem diese Abwesenheit ebenfalls unbequem war, seine großen Augen rollen ließ und ihnen einen herrschgewaltigen Ausdruck gab – den Ausdruck, der »das Auge des Herrn« bezeichnet.

Endlich, gegen Mitternacht, wurde der tyrannische Schwiegervater durch den letzten Omnibus nach Montrouge entführt und Delobelle konnte sprechen.

»Hier ist vor allen Dingen der Prospekt,« sagte er, um nicht gleich mit der Geldfrage beginnen zu müssen, und die Lorgnette auf der Nase, las er, als ob er auf der Bühne stände, in hochpathetischem Tone: »Wenn wir mit kaltem Blute den Grad des Verfalls betrachten, bis zu welchem in Frankreich die dramatische Kunst herabgesunken ist, wenn wir die Entfernung bemessen, durch welche das Theater Molières von . . .« so ging das weiter mehrere Seiten lang. Risler hörte eifrig rauchend zu und wagte nicht, sich zu regen, denn alle Augenblicke warf ihm der Vorlesende über die Brillengläser einen Blick zu, um sich von dem Eindruck seiner Worte zu überzeugen. Unglücklicherweise wurde, als er noch mitten im Lesen war, das Lokal geschlossen. Man löschte die Lampen aus – die letzten Gäste mußten gehen. Aber die Kostenanschläge? Die Freunde beschlossen, sie unterwegs vorzunehmen. Unter jeder Laterne standen sie still, und der Schauspieler ließ seine Ziffern aufmarschieren: so und so viel für das Haus, so viel für Beleuchtung, so viel für Armensteuer, so viel für Gagen. Zu diesem Posten gab er einen Kommentar.

»Das beste bei der Geschichte ist, daß wir keinen ersten Heldenspieler zu bezahlen haben,« sagte er. »Die Heldenrollen übernimmt Bibi . . . (wenn Delobelle von sich selbst sprach, pflegte er sich so zu nennen). Ein erster Heldenspieler wird mit zwanzigtausend Franken bezahlt. Da wir sie nicht zu zahlen haben werden, ist's, als ob Sie zwanzigtausend Franken in die Tasche steckten . . . habe ich nicht recht? . . . was meinen Sie?«

Risler gab keine Antwort und sah halb zerstreut, halb verlegen aus, als ob er in Gedanken mit andern Dingen beschäftigt wäre. Delobelle, der mit seinen Berechnungen zu Ende gekommen war und mit Schrecken bemerkte, daß sie der Ecke der Rue des Vieilles Haudriettes immer näher kamen, ermannte sich endlich zu der unumwundenen Frage: ob Risler das Geschäft machen wolle, oder nicht?

»Kurz gesagt, nein!« antwortete Risler, von einem Heldenmut beseelt, den ihm teils die Nähe der Fabrik einflößte, teils der Gedanke, daß sein häusliches Glück auf dem Spiele stehe. Delobelle erstarrte; er war der Ueberzeugung gewesen, daß alles so gut wie abgemacht sei, und sah nun, mit den Papieren in der Hand, tief erschüttert, seinen Gefährten mit großen Augen an.

»Nein,« wiederholte Risler; »ich kann auf Ihren Vorschlag nicht eingehen . . . das Warum will ich Ihnen erklären.«

Langsam, mit seiner gewöhnlichen Schwerfälligkeit setzte der wackere Mann seinem Zuhörer auseinander, daß er nicht reich sei und – obwohl er Associé eines großen Handelshauses geworden – kein verfügbares Kapital besitze. Georges und er bezogen monatlich eine gewisse Summe aus der Kasse des Hauses, und wenn zum Jahresschluß Inventur gemacht wurde, teilten sie den Gewinn. Was sich Risler bisher erspart gehabt, war durch die Einrichtung seines Hausstandes verschlungen; Inventur fand erst in vier Monaten statt; woher also die dreißigtausend Franken nehmen, die beim Ankauf des Theaters, zur ersten Anzahlung augenblicklich da sein mußten? Ueberdies konnte das Unternehmen fehlschlagen.

»Unmöglich! . . . dafür steht Bibi gut!« . . . Bei diesen Worten richtete sich der arme Bibi hoch auf; aber Risler blieb fest und alle Beweisgründe, alles Zureden Bibis stieß auf denselben abweisenden Bescheid: »Vielleicht später . . . in zwei oder drei Jahren.«

Der Schauspieler kämpfte lange, verteidigte sein Terrain Schritt für Schritt. Er wollte neue Kostenanschläge machen . . . das Unternehmen ließ sich wohl auch billiger in Gang bringen.

»Es wäre immer noch zu teuer für mich,« fiel Risler ein. »Auch mein Name gehört mir nicht mehr . . . er ist ein Teil der Firma geworden und ich habe nicht das Recht, ihn zu verpfänden . . . Bedenken Sie, wenn ich Bankerott machte!« – Seine Stimme zitterte, als er das Wort »Bankerott« aussprach.

»Es würde ja alles unter meinem Namen gehen,« erwiderte Delobelle, der sich durch keinerlei Ahnungen beirren ließ. Er versuchte alles mögliche; rief die heiligen Interessen der Kunst zu Hilfe und ging selbst so weit, von hübschen, kleinen Schauspielerinnen zu sprechen, deren verheißungsvolle Blicke . . .

Mit lautem Auflachen fiel ihm Risler ins Wort; »Oho, Spaßvogel, der Sie sind! . . . mit solchen Dingen dürfen Sie mir nicht kommen. Vergessen Sie nicht, daß wir beide verheiratet sind, daß es sehr spät ist und daß unsre Frauen auf uns warten. Und nun keine Feindschaft . . . nicht wahr? . . . ich habe Ihren Vorschlag durchaus nicht zurückgewiesen, das lassen Sie sich gesagt sein. Wenn unsre Inventur gemacht ist, kommen Sie wieder, dann sprechen wir weiter über die Angelegenheit . . . Aha, eben löscht Vater Achilles das Gas aus . . . ich muß mich beeilen, daß ich ins Haus komme. Gute Nacht!«

Es war über ein Uhr morgens, als der Schauspieler heimkam. Wie gewöhnlich erwarteten ihn auch heute Frau und Tochter bei der Arbeit, aber es lag eine fieberhafte Aufregung in ihrem Wesen, die ihnen sonst nicht eigen war. Die große Schere, mit welcher Mutter Delobelle den Draht zu durchschneiden pflegte, geriet jeden Augenblick in ein seltsames Zittern, und die Schnelligkeit, mit der sich die zarten Finger Désirées beim Zusammenstellen eines Kopfputzes bewegten, war geradezu Schwindel erregend. Selbst die langen Federn der Kolibris, die vor ihr auf dem Tische lagen, schienen glänzender, farbenprächtiger zu sein, als sonst . . . eine mächtige Zauberin, Hoffnung genannt, war diesen Abend flüchtig dagewesen, hatte sich nicht gescheut, die fünf dunkeln Treppen hinaufzusteigen und hatte die Thür der kleinen Wohnung halb geöffnet, um einen strahlenden Blick hineinzuwerfen. Wie mancherlei Täuschungen das Leben gebracht haben mag, dieser Zauberglanz blendet uns immer aufs neue.

»Ach! wenn es dem Vater doch gelänge!« sagte Madame Delobelle von Zeit zu Zeit, als wollte sie eine Uebermacht glückseliger Gedanken, denen sie sich träumend überlassen hatte, in wenige Worte zusammenfassen.

»Es wird ihm gelingen, verlaß dich darauf! Monsieur Risler ist so gut . . . ich möchte für ihn einstehen, und auch Sidonie hat uns lieb, obwohl sie uns seit ihrer Heirat etwas vernachlässigt. Aber man muß auf die Verhältnisse Rücksicht nehmen . . . überdies werde ich nie vergessen, was sie für mich gethan hat.«

Bei der Erinnerung an das, was Sidonie für sie gethan, arbeitete die kleine Lahme noch fieberhafter als bisher. Wie elektrisiert bewegten sich ihre Finger, als strebten sie, etwas Flüchtiges, Unfaßbares zu halten, das Glück zum Beispiel oder die Liebe eines Menschen, der keine Gegenliebe fühlt.

»Was hat sie denn für dich gethan?« hätte die Mutter fragen müssen, aber was die Tochter sagte, war ihr im Augenblick ziemlich gleichgültig. Sie dachte nur an ihren großen Mann. »Denke nur, Kind, wie schön es wäre, wenn der Vater ein eignes Theater bekäme und wieder spielen könnte, wie in früheren Zeiten! Du kannst dich nicht daran erinnern . . . du warst damals noch zu klein. Aber wenn du wüßtest, welchen Beifall er hatte . . . wie er herausgerufen wurde . . . In Alençon hat er eines Abends von den Theaterabonnenten einen goldnen Kranz bekommen . . . Er war aber auch herrlich zu jener Zeit . . . und so heiter, so lebensfroh. Wer ihn jetzt wieder sieht, wird ihn kaum erkennen, so sehr hat das Unglück den Aermsten verändert . . . Und doch, ich bin fest überzeugt, daß er nur ein bißchen Erfolg zu haben brauchte, um wieder jung und fröhlich zu werden. Außerdem kann man mit einer Theaterdirektion viel Geld verdienen: der Direktor in Nantes hatte Equipage . . . denke 'mal, wenn wir Equipage hätten . . . Nein! denke nur . . . Wie gut wäre das auch für dich . . . du könntest ins Freie, könntest deinen Lehnstuhl verlassen . . . der Vater brächte uns aufs Land . . . du sähest Wasser und Bäume, nach denen du so große Sehnsucht hast . . .«

»Ach ja, Bäume!« sagte die arme kleine Gefangene mit leisem Beben vor sich hin.

In diesem Augenblick wurde unten die Hausthür heftig zugeschlagen und der gleichmäßige Schritt Monsieur Delobelles ertönte im Flur und auf den Treppen. Ein Augenblick stummer, atemloser Spannung . . . Mutter und Tochter wagten nicht, sich anzusehen, und die große Schere der Mama Delobelle zitterte so stark, daß sie den Messingdraht an der falschen Stelle abschnitt.

Es war ein harter Schlag, der den armen Mann getroffen hatte, und während er in nächtlicher Stille die fünf Treppen hinaufstieg, stand ihm sein ganzes Elend vor Augen: seine zerstörten Hoffnungen, das Demütigende der Abweisung, der Spott seiner Kameraden, die Rechnung im Kaffeehause, wo er während der ganzen Zeit seiner Direktion auf Borg gefrühstückt hatte, und die nun zu bezahlen war. Sein Herz blutete . . . aber die Komödiantennatur war so mächtig in ihm, daß er auch diesem wahren Schmerze die konventionelle, tragische Maske gab.

Sobald er die Schwelle überschritten hatte, blieb er stehen und warf einen langen, verzweiflungsvollen Blick auf den Arbeitstisch, sein kleines Abendessen, das in der Ecke für ihn bereit stand, und die beiden lieben, angstvollen Gesichter, die mit glänzenden Augen zu ihm aufsahen. Eine volle Minute lang sprach der Schauspieler nicht ein Wort – was eine minutenlange Pause auf der Bühne sagen will, wissen wir alle – dann trat er drei Schritte vor, sank auf einen niedrigen Stuhl neben dem Arbeitstische und stöhnte: »Ich bin verdammt!« und schlug dabei so gewaltig mit der Faust auf den Tisch, daß die Vögel und Käfer für Modewaren in alle vier Stubenecken flogen. Erschreckt sprang seine Frau vom Stuhle, um ängstlich an seine Seite zu treten, während Désirée mit einem Ausdruck der Angst, die ihre Züge entstellte, in ihrem Sessel emporfuhr.

Der Schauspieler fiel in sich zusammen, ließ die Arme schlaff herabhängen, senkte den Kopf auf die Brust und erging sich in einem aus abgerissenen Ausrufungen bestehenden Monologe, der, von Seufzern und theatralischem Aufschluchzen unterbrochen, eine Reihenfolge leidenschaftlicher Verwünschungen gegen das grausame, egoistische Bürgertum enthielt, dem der Künstler sein Fleisch und sein Blut zur Speise dahingibt.

Sein ganzes Bühnenleben ließ er an sich vorüberziehen: seine ersten Triumphe, den goldnen Kranz der Abonnenten in Alençon; seine Verheiratung mit »dieser Heiligen«. Dabei zeigte er auf die arme Frau, die in Thränen aufgelöst, mit zitternden Lippen neben ihm stand und jedes Wort des Gatten mit greisenhaftem Kopfnicken begleitete.

Auch wer bis dahin nichts von der Lebensgeschichte des berühmten Delobelle gewußt hätte, wäre nach diesem Monologe im stande gewesen, seine Laufbahn in allen Einzelheiten nachzuerzählen. Er gedachte seiner Ankunft in Paris, seiner Enttäuschungen, seiner Entbehrungen. Leider verriet der Vergleich seines dicken, blühenden Gesichts mit dem hagern, angegriffenen Gesicht seiner Frau und Tochter, daß nicht er die Entbehrungen getragen hatte. Aber darauf kam es dem Schauspieler nicht an; er fuhr fort, sich in hochtönenden Worten zu berauschen.

»Oh!« rief er aus, »so lange gekämpft zu haben . . . zehn, fünfzehn Jahre lang . . . während diese treuen Wesen mir zur Seite gestanden, für mein tägliches Brot gearbeitet haben.«

»Papa, lieber Papa, sprich nicht so!« bat Désirée mit gefalteten Händen.

»Ja, ja für mein tägliches Brot gearbeitet haben . . . ich schäme mich dessen nicht; denn um der Kunst, um der heiligen Kunst willen habe ich alle diese Opfer angenommen. Damit ist es nun vorbei . . . ich bin zu tief verwundet . . . ich gebe es auf!«

»Was sagst du!« rief Mutter Delobelle, indem sie auf ihn zustürzte.

»Laß mich, ich bitte dich! . . . Meine Kraft ist erschöpft . . . den Künstler in mir haben sie getötet . . . es ist vorbei . . . ich entsage der Bühne.«

Es war rührend zu sehen, wie ihn Frau und Tochter mit den Armen umfaßten, ihn anflehten, weiter zu kämpfen, ihn zu überzeugen suchten, daß er nicht das Recht habe, seine Künstlerlaufbahn aufzugeben.

Eine Weile widerstand Delobelle, dann ergab er sich und versprach, ihnen zuliebe noch eine Weile auszuharren; aber es hatte der inständigsten Bitten, der zärtlichsten Liebkosungen bedurft, um ihn so weit zu bringen.

Eine Viertelstunde später saß der große Mann, erschöpft von seinem Monologe, erleichtert durch den Ausbruch seiner Verzweiflung, am Ende des Tisches und verzehrte mit gutem Appetit sein Abendessen. Die einzige Nachwirkung der letzten Stunden war jene leichte Abspannung, die nach der Darstellung einer großen, leidenschaftlichen Rolle zurückzubleiben pflegt.

Aber der Schauspieler, der eben ein volles Haus gerührt und auf der Bühne wirklich Thränen vergossen hat, vergißt seine Rolle, sobald die Vorstellung aus ist, läßt seine Erregung wie Kostüm und Perücke in der Garderobe zurück, während die Zuschauer einen nachhaltigen Eindruck mitnehmen, mit rotgeweinten Augen und beklemmtem Herzen nach Hause gehen und von den aufgeregten Nerven noch lange wachgehalten werden.

Auch die kleine Désirée und Mama Delobelle konnten diese Nacht nur wenig schlafen.


 << zurück weiter >>