Alphonse Daudet
Fromont junior
Alphonse Daudet

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Drittes Kapitel.

Geschichte der kleinen Chèbe. – Glasperlen.

Nach zwei bis drei Jahren vertraulichen Verkehrs und gemeinsamer Spiele, in deren Verlauf Sidonie sich an Luxus gewöhnt und das anmutige Wesen eines Kindes aus reichem Hause angenommen hatte, wurde die Freundschaft plötzlich zerrissen.

Vetter Georges, dessen Vormund Monsieur Fromont war, befand sich schon seit längerer Zeit in einem Lyceum, und nun wurde auch Claire, mit der Ausstattung einer kleinen Königin, ins Kloster geschickt, indes gleichzeitig bei Chèbes die Rede davon war, Sidonie einen Beruf erlernen zu lassen. Die Freundinnen versprachen, sich lieb zu behalten und sich monatlich zweimal, an den Ausgehsonntagen, zu sehen.

Die kleine Chèbe ging denn auch wirklich noch einigemal hinüber, um mit ihren Freunden zu spielen, aber je mehr sie heranwuchs, um so fühlbarer wurde ihr der Abstand, der sie und Claire trennte; auch fand sie für den Salon der Madame Fromont ihre Kleidung gar zu einfach.

Blieben die drei Spielgefährten allein, so ließ die Kinderfreundschaft, die sie einander gleich machte, kein Mißbehagen aufkommen. Aber zuweilen erschienen Besuche, Pensionsfreundinnen, unter ihnen ein großes, reichgekleidetes Mädchen, das Sonntags von der Kammerfrau ihrer Mutter hergebracht wurde, um mit den kleinen Fromonts zu spielen.

Wenn Sidonie dies geputzte, hochmütige Geschöpf nur die Freitreppe heraufkommen sah, wäre sie am liebsten auf und davon gegangen, denn die ungeschickten Fragen des Mädchens: wo sie wohne? – wer ihre Eltern wären? – ob sie Equipage hätten? brachten sie in Verlegenheit.

Wenn Sidonie die andern vom Kloster und ihren Freundinnen sprechen hörte, fühlte sie, daß jene in einer Welt lebten, die tausend Meilen weit von der ihrigen lag, und eine tiefe Traurigkeit kam über sie; besonders wenn ihre Mutter, sobald sie nach Hause zurückkehrte, wieder davon anfing, daß sie als Lehrmädchen bei einem Fräulein Le Mire eintreten solle – einer Freundin der Delobelles, die in der Rue du Roi-Doré eine große Glasperlenhandlung besaß.

Risler war mit diesem Plane durchaus einverstanden. »Laßt sie einen Beruf erlernen,« sagte der wackre Mann; »ein Geschäft will ich ihr später schon kaufen.« – Da Fräulein Le Mire davon sprach, sich in einigen Jahren zur Ruhe setzen zu wollen, war hier eine günstige Gelegenheit geboten.

Eines Morgens – es war ein trauriger Novembertag – wurde Sidonie von ihrem Vater nach der Rue du Roi-Doré, in die vierte Etage eines alten Hauses geführt, in dem es noch düsterer aussah, als in dem ihrigen.

Unten, an der Ecke des Hausganges waren zahlreiche Schilder mit goldnen Inschriften angebracht: »Lederwarenfabrik« – »Ketten von Talmigold« – »Spielwaren« – »Optische Instrumente« – »Brautkränze und Sträuße für Brautjungfern, Spezialität in Feldblumen«, und über dem allem ein kleiner verstaubter Aushängekasten, in welchem vergilbte Perlenhalsbänder nebst einigen Glastrauben und Glaskirschen den anspruchsvollen Namen »Angelina Le Mire« umrahmten.

Ein abscheuliches Haus!

Hier gab es nicht einmal den weiten Vorplatz der Chèbeschen Wohnung, dessen Altersgrau durch das hohe Fenster und die freie Aussicht über die Fabrik erheitert wurde. Eine enge Treppe, eine enge Thür, eine Flucht kleiner kalter Räume mit Backsteinfußboden, und in dem letzten derselben ein altes Fräulein mit falschen Locken und Halbhandschuhen von schwarzem Filet, die in einem schmutzigen Heft des »Journals für alle« las und sich zu ärgern schien, daß sie in ihrer Lektüre gestört wurde.

Mademoiselle Le Mire (den Namen in zwei Worten geschrieben) empfing Vater und Tochter ohne aufzustehen, sprach ein Langes und Breites von ihrer verlorenen Stellung, von ihrem Vater, einem »alten Edelmann« aus der Romagne – es ist merkwürdig, wie viele alte Edelleute schon daher gekommen sind! – und von einem ungetreuen Administrator, der mit ihrem ganzen Vermögen durchgegangen war. Der wackre Chèbe, der für alle im Leben Herabgekommenen im voraus eingenommen war, fühlte sich sofort zu ihr hingezogen, und ging entzückt von dannen, nachdem er seiner Tochter versprochen, sie der Verabredung gemäß um sieben Uhr abends abzuholen.

Das neue Lehrmädchen wurde nun sogleich in das noch leere Arbeitszimmer geführt und Mademoiselle Le Mire wies ihr vor einer großen, mit einem wirren Durcheinander von Perlen, Nähnadeln, Pfriemen und billigen Unterhaltungsblättern gefüllten Schublade ihren Platz an.

Sidonie wurde angewiesen, die Perlen auszusuchen und auf Schnüre von gleicher Länge zu reihen, die zusammengebunden an Kleinhändler verkauft werden. Binnen kurzem würden übrigens die andern jungen Mädchen eintreffen und ihr genaue Anweisungen über ihre Aufgaben erteilen. Mademoiselle Le Mire (in zwei Worten geschrieben) kümmerte sich nicht um solche Dinge und überwachte ihr Geschäft nur aus weiter Ferne, aus jenem kleinen, dunkeln Zimmer, in welchem sie ihr Leben mit dem Lesen von Feuilletons zubrachte.

Um neun Uhr erschienen die Arbeiterinnen, fünf große, blasse, verwelkte Mädchen, die schlecht gekleidet, aber in der anspruchsvollen Weise jener armen Arbeiterinnen frisiert waren, welche barhaupt durch die Pariser Straßen gehen.

Zwei oder drei von ihnen gähnten, rieben sich die Augen und versicherten, daß sie vor Müdigkeit umsänken. Wer mochte sagen, womit sie die Nacht zugebracht hatten!

Endlich gingen sie an die Arbeit, an einem langen Tische, wo jede ihre besondre Schublade und ihre Werkzeuge hatte. Eine Bestellung von Trauerausputz mußte schnell erledigt werden, und Sidonie, der von der Directrice mit unbeschreiblicher Ueberlegenheit ihre Arbeit angewiesen wurde, begann in melancholischer Stimmung eine Unzahl schwarzer Perlen, Akazienkerne und Krappähren zu sortieren.

Die andern, die sich nicht im mindesten um das Lehrmädchen kümmerten, unterhielten sich während der Arbeit über eine prächtige Hochzeitsfeier, welche denselben Tag in der Kirche von St. Gervais stattfinden sollte.

»Laßt uns hingehen,« sagte ein vierschrötiges, rothaariges Mädchen, die von den Kameradinnen Malwine genannt wurde. »Die Trauung ist um zwölf . . . wir hätten gerade Zeit, sie mit anzusehen.«

Als die Freistunde gekommen war, sprangen sie denn auch wirklich in großen Sätzen die Treppen hinunter, während Sidonie, die wie ein Schulkind ihr Essen im Körbchen mitgebracht hatte, schweren Herzens an der Ecke des Tisches zum erstenmal allein frühstückte. Wie traurig und öde erschien ihr das Leben und in welcher schrecklichen Art und Weise sollte sie sich dereinst für die Pein dieser Stunden zu entschädigen suchen! Um ein Uhr kamen die Arbeiterinnen lärmend und aufgeregt zurück.

»Habt ihr das Kleid von weißem Grosgrain und den englischen Spitzenschleier bemerkt? Was die für ein Glück hat!«

So nahmen sie im Arbeitszimmer die Bemerkungen wieder auf, welche sie bereits in der Kirche, während der Trauung flüsternd ausgetauscht hatten. Den ganzen Tag wurde das Thema der reichen Heiraten und kostbaren Toiletten besprochen und die Arbeit hatte nicht darunter zu leiden – im Gegenteil.

Durch die kleinen Pariser Industriezweige, welche dem Frauenputz gewidmet sind und seine geringfügigsten Zuthaten liefern, werden die Arbeiterinnen von jedem Wechsel der Mode unterrichtet und ihre Phantasie wird mit Bildern der Eleganz und des Luxus erfüllt. Auch für die armen Mädchen, welche im vierten Stock bei Mademoiselle Le Mire arbeiteten, gab es keine geschwärzten Mauern, keine enge Straße, während sie sich wieder und wieder fragten: »Sag 'mal, Malwine, was thätest du, wenn du reich wärest? . . . Ich würde die Champs Elysées bewohnen, . . .« und für einen Augenblick stiegen die großen Bäume des Rundteils nebst den eleganten, langsam vorüberfahrenden Wagen als köstliches, erfrischendes Traumbild vor ihnen auf.

Die kleine Chèbe hörte aus ihrem Winkel stumm und aufmerksam zu, indes sie mit dem Geschmack und der früh ausgebildeten Geschicklichkeit, die sie bei Désirée Delobelle erworben hatte, ihre schwarzen Beeren zu Trauben vereinigte. Herrn Chèbe wurde, als er abends kam, die Tochter abzuholen, viel Schönes darüber gesagt.

Von nun an verflossen alle Tage in derselben Weise, nur daß es morgen statt der schwarzen Perlen weiße aufzuziehen gab, und dann wieder rote, von nachgemachten Korallen. Bei Mademoiselle Le Mire wurde eben nur Unechtes, nur Flitterwerk verarbeitet – eine passende Lehrzeit und Lebensvorbereitung für die kleine Chèbe.

Eine Zeitlang fühlte sich das neue Lehrmädchen, das jünger und besser erzogen war als die andern, ziemlich vereinsamt. Später, als sie heranwuchs, wurde sie mit der Freundschaft, dem Vertrauen der Gefährtinnen beehrt, nahm jedoch an ihren Vergnügungen keinen Anteil. Sie war zu stolz, um sich in der Mittagsstunde die Trauungen mit anzusehen, und wenn sie von den nächtlichen Bällen im Vauxhall, oder den Délices du Marais, einem feinen Souper bei Bouvalet, oder den Quatre Sergents de la Rochelle erzählen hörte, empfand sie jedesmal eine stille Verachtung.

Wir hatten Höheres im Sinn, nicht wahr, kleine Chèbe? Ueberdies wurde sie jeden Abend von ihrem Vater abgeholt.

Zuweilen aber, in der Neujahrszeit, mußte sie, um dringende Bestellungen auszuführen, mit den andern tief in die Nacht hinein arbeiten. Diese bleichen Pariser Mädchen im Gaslicht Perlen von einem matten, krankhaften Weiß auslesen zu sehen, das ihrer Gesichtsfarbe ähnlich war, that dem Herzen weh. Sie selbst hatten gleichsam den trügerischen Glanz, die Vergänglichkeit falschen Geschmeides. – Ihre Unterhaltung drehte sich nur um Theater und Maskenbälle.

»Hast du Adèle Page in den ›Drei Musketieren‹ gesehen? . . . und Mélingue? . . . und Marie Laurent! . . . Oh, Marie Laurent!« – Und die Wämser der Schauspieler, das gestickte Kleid einer Melodramenkönigin tauchten in dem weißen Glanz der Perlenschnüre, die durch ihre Finger glitten, vor ihnen auf.

Im Sommer gab es nicht so viel zu thun – es war die tote Jahreszeit. Während die Arbeiterinnen an heißen Tagen durch die geschlossenen Jalousieen auf der Straße unten gelbe Pflaumen und Reineclauden ausrufen hörten, legten sie den Kopf auf den Tisch und versanken in dumpfen Schlaf, oder Malwine ging in das Hinterzimmer zu Mademoiselle Le Mire, erbat sich eine Lieferung des »Journal für alle« und las den Gefährtinnen daraus vor. Die kleine Chèbe machte sich aber nichts aus diesen Romanen – derjenige, den sie in ihrem Köpfchen trug, war schöner, als sie alle miteinander. – Sie hatte die Fabrik noch immer nicht vergessen. Jedesmal, wenn sie morgens am Arm des Vaters fortging, warf sie derselben einen Seitenblick zu. Die Werkstätten erwachten; aus der Esse wirbelte die erste schwarze Rauchwolke auf; im Vorübergehen hörte Sidonie das Rufen der Arbeiter, die schweren Schläge der Druckerpressen, das gewaltige, gleichmäßige Schnauben der Dampfmaschine, und dieser Arbeitslärm, der sich in ihrer Erinnerung mit Bildern von Festlichkeiten und blauen Coupés vermischte, verfolgte sie ohne Aufhören.

Für sie übertönte er das Rasseln der Omnibusse, das Geschrei der Straßenverkäufer, das Plätschern der Brunnen; selbst im Arbeitszimmer, wenn sie ihre falschen Perlen sortierte, oder abends bei den Eltern, wenn sie nach der Mahlzeit am Fenster des Treppenflurs Luft schöpfte und im nächtlichen Dunkel nach der schweigenden, finsteren Fabrik hinübersah, klang ihr das lebhafte Summen im Ohre fort und bildete die Begleitung aller ihrer Gedanken.

»Die Kleine langweilt sich, Madame Chèbe . . . wir müssen ihr ein Vergnügen machen . . . nächsten Sonntag führe ich Sie alle aufs Land.« Diese sonntäglichen Spaziergänge, die der gute Risler zu Sidoniens Zerstreuung veranstaltete, machten sie jedoch nur noch trübsinniger.

Um vier Uhr mußte aufgestanden werden, denn arme Leute haben ihr Vergnügen schwer zu erkaufen. Immer gab es im letzten Moment irgend ein Läppchen auszuplätten oder das ewige lila und weiß gestreifte Kleidchen, das Madame Chèbe von Jahr zu Jahr verlängerte, mit irgend einem Besatz aufzufrischen.

In Gemeinschaft brachen sie auf: die Chèbes, die beiden Risler und der berühmte Delobelle; nur Désirée und ihre Mutter gingen nicht mit. Die arme, kleine Gelähmte, die ihr Gebrechen als Demütigung empfand, mochte ihren Lehnstuhl nicht verlassen und Mama Delobelle leistete ihr Gesellschaft. Ueberdies war weder die eine noch die andre im Besitz eines Anzuges, in dem sie sich zur Seite ihres großen Künstlers zeigen konnten. Der ganze Eindruck seiner Erscheinung wäre durch sie vernichtet.

Der Aufbruch pflegte Sidonie etwas aufzuheitern. Paris im rosigen Nebel eines Julimorgens, die Bahnhöfe voll heller Sommerkleider, die weite, vor den Wagenfenstern liegende Landschaft, die erfrischende Bewegung, das Sichbaden in der freien, vom Wasserhauch der Seine erfüllten, von Waldgeruch gewürzten Luft, der Duft der Feldblumen und des in Aehren stehenden Getreides, das alles zerstreute sie für einen Augenblick. Aber nur zu bald erfüllte sie wieder der Ekel vor der Trivialität ihres Sonntages.

Es war immer ein und dasselbe.

An einer Schenke, in der Nähe irgend eines lärmenden, viel besuchten ländlichen Festes wurde Halt gemacht; Delobelle bedurfte eines Publikums, und während er, von seiner Künstlerchimäre erfüllt, im grauen Anzuge, mit grauen Gamaschen, ein leichtes Hütchen auf dem Ohr, den hellen Ueberzieher auf dem Arme einherschritt, bildete er sich ein, die Bühne stelle ein Dorf in der Nähe der Hauptstadt vor und er spiele einen Pariser auf dem Lande.

Was Monsieur Chèbe betrifft, der sich rühmte, die Natur zu lieben, wie der selige Jean Jacques Rousseau, so verstand er unter derselben Schießbuden, Karussells, Sacklaufen, viel Staub und viel zu essen – was auch für Madame Chèbe das Ideal des Landlebens war.

Sidoniens Ideal war ein andres und diese Pariser Sonntage, dies Spazierengehen in lärmenden Dorfstraßen, erfüllte sie mit unüberwindlichem Mißbehagen. Ihr einziges Vergnügen inmitten des Menschengewühls war das Bewußtsein, beachtet zu werden. Die tölpelhafte Bewunderung eines Bauernburschen, die neben ihr laut wurde, zauberte für den ganzen Tag ein Lächeln in ihr Gesicht, denn sie gehörte zu den weiblichen Wesen, welche keine Art von Schmeichelei verschmähen.

Hin und wieder ließ Risler das Ehepaar Chèbe mit Delobelle allein, indes er mit seinem Bruder und der Kleinen Felder und Wiesen durchstreifte, um Blumen zu pflücken, Muster für seine Tapeten. Franz bog mit langen Armen die Weißdornranken nieder, oder kletterte auf eine Parkmauer, um sich des leichten Mauerwerks zu bemächtigen, das von der andern Seite herübernickte.

Ihre reichste Ernte fanden sie jedoch am Rande der Gewässer. Da wuchsen jene langen, biegsamen Halme, die auf Tapeten so anmutig aussehen, hohes, gerades Schilf und Winden, deren Blumenkelch, wenn er aus einer phantastischen Zeichnung hervorsteht, einem Menschenangesicht gleicht, das uns aus dem Blättergewirr anblickt. Risler ordnete alles mit künstlerischem Geschmack zum Strauß, suchte das Wesen jeder Pflanze zu erfassen und sich ihr volles, frisches Leben einzuprägen, das nach einem langen, heißen Tage nicht mehr zu erkennen ist.

War der Strauß geordnet und mit einem breiten Grashalme, wie mit einem Bande zusammengeknüpft, so wurde Franz damit beladen und es ging weiter. Risler, der immer mit seiner Kunst beschäftigt war, suchte im Wandern nach neuen Vorbildern, neuen Zusammenstellungen.

»Sieh 'mal, Kleine, dieser Maiblümchenstengel mit seinen weißen Glöckchen zwischen den Heckenrosen . . . Nun, was meinst du? . . . würde das auf wassergrünem, oder hellgrauem Grunde nicht sehr hübsch sein?«

Aber Sidonie machte sich aus Maiblümchen ebensowenig wie aus Heckenrosen. Feldblumen erschienen ihr wie Blumen der Armen, wie Ebenbilder ihres lila Kattunkleidchens.

Sie erinnerte sich, bei Monsieur Gardinois, im Schlosse von Savigny, in den Gewächshäusern, auf den Balustraden und in den großen Vasen, welche den mit Kies bestreuten Hof umgaben, ganz andre Blumen gesehen zu haben. Das waren die Blumen, die sie liebte . . .

Bei jedem Schritt wachte die Erinnerung an Savigny in ihr auf. Kamen sie an einem Parkthore vorbei, so blieb sie stehen und betrachtete die gerade, gutgehaltene Allee, die zur Freitreppe führen mußte. Jeder von großen Bäumen beschattete Rasenplatz, jede stille Terrasse am Ufer eines Gewässers rief ihr andre Rasenplätze, andre Terrassen ins Gedächtnis, und diese aus ihrer Erinnerung auftauchenden Bilder des Luxus machten ihre Sonntage noch trauriger. Am qualvollsten war ihr jedoch die Heimkehr.

Die kleinen Bahnhöfe in der Umgegend von Paris sind an solchem Abend so überfüllt, so erstickend heiß! Dazu alle die erkünstelte Lustigkeit, das alberne Lachen, das heisere Singen erschöpfter Stimmen, die nur noch zu heulen vermögen. Monsieur Chèbe freilich fühlte sich hier in seinem Element.

Er konnte sich am Schalter drängen und stoßen lassen, sich über verspätete Züge ärgern, auf den Bahnhofsinspektor, die Eisenbahngesellschaft, die Regierung schimpfen und laut genug, um von den Umstehenden gehört zu werden, gegen Delobelle bemerken: »Was meinen Sie . . . wenn etwas Aehnliches in Amerika geschähe? . . .« worauf dieser berühmte Künstler mit so ausdrucksvoller, überlegener Miene, ein: »Gewiß! gewiß!« zur Antwort gab, daß sich ihren Nachbarn die Ueberzeugung aufdrängen mußte, die beiden wüßten ganz genau, was unter ähnlichen Umständen in Amerika geschehen würde. – Natürlich wußte der eine so wenig davon wie der andre, aber der Menge imponierten sie.

Während des langen Wartens auf die Abendzüge saß Sidonie neben Franz, hatte die Hälfte seines Straußes auf dem Schoße und fühlte sich wie vernichtet inmitten des lärmenden Treibens. Von dem Bahnhofe aus, der von einer einzigen Lampe beleuchtet war, sah sie draußen dunkles Gebüsch, hin und wieder von der verlöschenden Illumination des ländlichen Festes durchbrochen, eine dunkle Dorfstraße, Gruppen herankommender Fahrgäste oder eine schwankende Laterne über einem verödeten Perron.

Von Zeit zu Zeit flog ohne anzuhalten, einen Funkenregen vorsprühend und seinen Dampf aushauchend, ein Zug hinter den Glasthüren vorüber. Dann erhob sich im Bahnhofe stürmisches Geschrei und Gestampfe, von Monsieur Chèbes dünner Stimme übertönt, die in schrillen Möwenlauten ausrief: »Stoßt die Thüren ein! stoßt die Thüren ein!« Dergleichen selbst zu thun, würde sich der kleine Mann nicht erkühnt haben, da er vor den Gendarmen tödliche Angst hatte. Nach wenigen Augenblicken legte sich denn auch der Sturm; müde Frauen, deren Haar vom Winde zerzaust war, schliefen auf den Bänken ein; überall gab es zerdrückte und zerrissene Gewänder, weiße, ausgeschnittene, mit Staub bedeckte Kleider.

Die ganze Luft war von Staub erfüllt; mit jedem Atemzuge wurde er eingesogen; er fiel von den Kleidern, stieg unter den Füßen auf, verdunkelte die Lampe, umschleierte die Augen, umgab jedes Antlitz mit einem Nebelschleier. Auch die Waggons, in die man nach stundenlangem Warten einstieg, waren davon durchdrungen. – Sidonie öffnete das Fenster und sah auf die dunkle Ebene, die endlose schwarze Linie des Horizontes hinaus, bis in der Nähe der Festungswerke die Laternen der äußeren Boulevards wie zahllose Sterne aufleuchteten.

Damit war der traurige Feiertag aller dieser armen Leute abgeschlossen, denn bei dem Anblick der Stadt fiel jedem die Arbeit des folgenden Tages wieder ein. Auch Sidonie, so freudlos ihr Sonntag gewesen war, beklagte nun sein Ende; sie gedachte der Reichen, für welche das ganze Leben aus Feiertagen besteht, und undeutlich wie im Traume stieg das Bild der langen, schattigen Gartenwege vor ihr auf, die sie heute gesehen hatte. Auf ihrem feinen Kies lustwandelten jene Glücklichen, während draußen vor dem Parkgitter, im Staube der Landstraße der Sonntag der Armen hastigen Schrittes vorüberging und kaum Zeit fand, einen Augenblick stillzustehen, um jene Reichen zu betrachten und zu beneiden.

So war das Leben der kleinen Chèbe vom dreizehnten bis zum siebzehnten Jahre.

Ohne die mindeste Aenderung herbeizuführen gingen diese Jahre dahin. Madame Chèbes Kaschmirshawl hatte sich noch mehr abgenutzt und das lila Kleidchen hatte noch einige Auffrischungen erfahren, das war alles. Außerdem aber begann Franz, der inzwischen ein junger Mann geworden war, die heranwachsende Sidonie mit stiller Erregung zu betrachten und sie mit Aufmerksamkeiten zu überhäufen, die seine Liebe allen verständlich machten, nur dem kleinen Mädchen nicht.

Ueberhaupt schien nichts im stande, der kleinen Chèbe Interesse einzuflößen. Im Atelier that sie schweigend und gewissenhaft ihre Pflicht, ohne dabei an die Zukunft oder den Erwerb zu denken. Alles, was sie that, machte den Eindruck, als ob es nur in Erwartung andrer Dinge geschähe.

Franz dagegen arbeitete seit einiger Zeit mit ungewöhnlichem Eifer, mit jener Anspannung, die einem fernen Ziele zustrebt. So geschah es, daß er mit einundzwanzig Jahren als »Zweiter« und mit dem Grade eines Ingenieurs aus der Ecole centrale entlassen wurde.

Am Abend dieses denkwürdigen Tages führte Risler die Familie Chèbe ins Gymnasetheater und während der ganzen Vorstellung tauschten er und Madame Chèbe, hinter dem Rücken der Kinder, vielbedeutende Zeichen und Blicke aus. Beim Fortgehen legte Madame Chèbe feierlich Sidoniens Arm in den des jungen Mannes, und sah dabei aus, als ob sie zu dem Verliebten sagen wollte: »Vorwärts, mein Junge, die Geschichte ins reine zu bringen ist deine Sache.«

Franz versuchte denn auch wirklich, das zu thun.

Es ist ein weiter Weg vom Gymnasetheater nach dem Marais. Nach wenigen Schritten ist der Glanz der Boulevards verschwunden, die Trottoirs werden immer dunkler und menschenleerer. Franz begann von der Aufführung zu sprechen . . . er liebte so gefühlvolle Stücke, wie das heutige.

»Und Sie, Sidonie?«

»Ich? Sie wissen ja, Franz, daß es mir nur auf das Kostüm ankommt.«

Das war denn auch wirklich das einzige, worauf sie im Theater acht gab: sie gehörte nicht zu den empfindsamen Wesen à la Bovary, die eine Blumenlese schön klingender Liebesbeteuerungen und ein konventionelles Ideal aus dem Theater heimtragen. Nein! was in ihr durch das Schauspiel geweckt wurde, war nur ein wahnsinniges Verlangen nach Eleganz und Luxus, und das einzige, was sie daraus forttrug, waren neue Kleiderschnitte und Haarfrisuren. Die übertrieben modernen Anzüge der Schauspielerinnen, ihre Art zu gehen, ihre gezierte Sprache erschienen Sidonie als höchste Feinheit; dazu der brutale Glanz der Vergoldungen, die Lichter, die Wagenreihe vor dem Eingange, alles das ungesunde Lärmen und Treiben, welches durch ein beliebtes Stück veranlaßt wird – das war es, was ihr gefiel, was sie interessierte.

»Wie gut haben sie die Liebesscene gespielt!« begann Franz Risler aufs neue, und als er das Wort »Liebe« aussprach, beugte er sich zärtlich zu dem hübschen Köpfchen nieder, aus dessen weißwollener Kapuze das lockige Haar hervorquoll.

Sidonie seufzte.

»Ach ja, die Liebesscene! . . . und die Schauspielerin hatte so schöne Diamanten!«

Es entstand eine kurze Pause; die Erklärung wurde dem armen jungen Manne schwer; er fand die rechten Worte nicht und plötzlich überfiel ihn unüberwindliche Angst, so daß er die Entscheidung hinausschob.

»Wenn wir an der Porte Saint Denis vorüber sind . . . wenn wir den Boulevard verlassen haben,« sagte er zu sich selbst. Aber als sie dort ankamen, plauderte Sidonie von so gleichgültigen Dingen, daß ihm das Wort auf den Lippen erstarrte, oder sie wurden durch einen Wagen aufgehalten, so daß die Eltern wieder herankamen.

Endlich, als sie den Marais erreichten, nahm er seinen Mut zusammen: »Höre mich an, Sidonie . . . ich liebe dich . . .« – – – – – – –

Mutter und Tochter Delobelle waren diesen Abend lange aufgeblieben. Die beiden fleißigen Frauen hatten sich gewöhnt, ihren Arbeitstag bis tief in die Nacht zu verlängern, und ihre Lampe war immer eine der letzten, welche in der stillen Rue de Braque ausgelöscht wurden, und niemals gingen sie vor der Heimkehr des großen Mannes zu Bette, für den in der warmen Kaminasche ein kräftiges Abendbrot bereit stand.

Solange er in Thätigkeit gewesen war, hatte das seine Berechtigung. Schauspieler essen früh zu Mittag und verlassen die Bühne mit einem Heißhunger, den sie befriedigen müssen, wenn sie nach Hause kommen. Delobelle spielte nun zwar schon lange nicht mehr, da er jedoch, wie er zu sagen pflegte, nicht das Recht hatte, dem Theater zu entsagen, nährte er seine Chimäre mit allen möglichen Angewohnheiten, die den Schauspielern eigen sind. Auch das Abendessen nach der Heimkehr gehörte dazu, und ebenso, daß diese nicht eher erfolgte, als bis das letzte Boulevardtheater seine Gaslaternen ausgelöscht hatte. Ohne Abendessen und zu derselben Stunde zu Bett zu gehen, wie andre Bürgersleute, hieß seiner Meinung nach auf den Kampf verzichten. – Zum Teufel auch – er verzichtete nicht!

An dem Abend, von dem wir erzählen, war der Schauspieler noch nicht heimgekommen, und die Seinigen warteten arbeitend und plaudernd auf sein Erscheinen. Trotz der späten Stunde waren sie lebhaft angeregt, denn sie hatten den ganzen Abend von Franz gesprochen, von seinem Erfolge und der Zukunft, die ihn erwartete.

»Das einzige, was ihm noch fehlt, ist eine gute, kleine Frau,« meinte Mutter Delobelle.

Auch Désirée war derselben Meinung: Franz brauchte nichts mehr zu seinem Glücke, als eine gute, kleine, thätige Frau, die arbeitsam und fröhlichen Mutes war und in der Liebe zu ihm sich selbst vergaß. Wenn Désirée das mit so großer Bestimmtheit aussprach, so geschah es, weil sie mit der Frau, deren Franz Risler bedurfte, auf dem vertrautesten Fuße stand. Sie war nur um ein Jahr jünger als er, gerade das richtige Verhältnis, daß der Mann älter ist, als die Frau, sie aber doch mit mütterlicher Sorgfalt ihm zur Seite stehen kann.

War sie hübsch? . . .

Nein, das eigentlich nicht, aber auch nicht häßlich, und anmutig trotz ihres Gebrechens – denn sie hinkte, die arme Kleine. Dabei war sie feinsinnig, klug und liebte ihn so sehr. Niemand außer Désirée konnte wissen, wie innig die Zuneigung des kleinen Wesens für Franz Risler war, seit wie vielen Jahren sie bei Tag und Nacht an ihn dachte. Er selbst schien das nicht bemerkt zu haben und hatte nur Augen für das Backfischchen Sidonie. Aber was lag daran? Stille Liebe ist so beredt – verschwiegene Empfindung kann so mächtig wirken . . . wer weiß, ob nicht eines Tages . . .

Und wieder einmal nahm die kleine Lahme, indes sie sich über die Arbeit beugte, ihren Flug in das Gebiet der Träume, in welchem sie häufig vom Krankensessel aus, einen Schemel unter den Füßen, weite Reisen machte. – Wunderbare, glückselige Reisen, von denen sie mit dem Vertrauen einer geliebten Frau, auf den Arm Franz Rislers gestützt, lächelnd heimkehrte. Auch ihre Hände nahmen teil an diesen Träumen, und das Vögelchen, dessen zerdrückte Schwingen sie wieder glättete, sah bald danach aus, als ob es sich an der Reise beteiligen, leicht und fröhlich wie sie selbst in alle Weite hinaus fliegen wolle.

Plötzlich wurde die Thür geöffnet.

»Ich störe doch nicht?« fragte eine triumphierende Stimme.

Die Mutter, die ein bißchen eingeschlafen war, schrak empor.

»Sie, Monsieur Franz ? . . . Bitte, treten Sie näher . . . wir warten noch auf meinen Mann, wie Sie sehen. Die Künstler sind nun einmal Nachtvögel . . . Setzen Sie sich und essen Sie mit ihm zu Abend.«

»Nein, ich danke sehr!« antwortete Franz, dessen Lippen vor Gemütsbewegung blaß waren. »Ich danke sehr . . . aufhalten will ich mich nicht . . . aber ich sah noch Licht durch die Thürspalten und komme nur, um Ihnen zu sagen . . . um Ihnen ein großes Ereignis mitzuteilen, über das Sie sich freuen werden . . . weiß ich doch, daß Sie mich lieb haben . . .«

»Großer Gott! was gibt es denn?«

»Ihre Verlobung beehren sich anzuzeigen, Franz Risler und Sidonie Chèbe.«

»Wirklich! . . . und ich habe eben erst gesagt, daß Sie zu Ihrem Glücke nichts weiter brauchten, als eine gute kleine Frau!« rief Mama Delobelle, indem sie aufstand und ihm um den Hals fiel.

Désirée war unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Sie beugte sich nur noch tiefer auf ihre Arbeit, und da Franz nur sein eignes Glück vor Augen hatte und da Mama Delobelle nur das Zifferblatt der Uhr beobachtete, um die Rückkehr des großen Mannes zu berechnen, bemerkte niemand, wie tief bewegt die kleine Lahme war, wie blaß ihr Gesicht, und wie krampfhaft das Vögelchen zitterte, das mit zurückgesunkenem Kopfe, wie zum Tode verwundet, in ihren Händen lag.


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