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IV.

Laverdure selbst war der Gesandte Rosettes gewesen. In Sorgen darüber, wie er sich in Sainte Pelagie einführen könne, war es ihm eingefallen, sich als Frau zu verkleiden. Die halben Kosten dieser Verkleidung trug für ihn die Natur. Er ist klein, mager, seine Stimme ist schwach, seine Taille schlank und er hat nur schwachen Bartwuchs. Als Mann schon passabel, hatte er als Frau eine ganz besondere Physiognomie. Ohne Zweifel wagte er viel für dieses Zusammentreffen; es gibt jedoch Dinge, die man für andere tut, während man für sich selber vielleicht nicht daran dächte.

Bei solchen kritischen Anlässen hat man eine bessere Idee vom Glück seines Freundes, als von seinem eigenen. Ich werde Ihnen, lieber Marquis, keine Beschreibung geben vom Aufzug Laverdures. Um sich für die Mühe zu entschädigen, mit der er es aufgetrieben hatte, zwang er mich, das komische Ganze eins nach dem andern zu bewundern. Obgleich ich nicht in der Stimmung war, zu lachen, konnte ich mich nicht enthalten, es sehr lustig ausgedacht zu finden. Die Kapuze, in die er sich gesteckt hatte, verhüllte ihn aufs beste. Der Regen, der den ganzen Tag dauerte, hatte ihn veranlaßt, sie zu nehmen. Das schlechte Wetter brachte viele Leute zur Verzweiflung, aber ich muß sagen, für unsere Kriegslist konnte es gar kein schöneres und günstigeres geben.

Laverdure begab sich alsbald zum Kloster. Nach einigen Einleitungen mit einer neugierigen Pförtnerin, die nach seinem Stand fragte und die er auch ganz entsprechend täuschte, wurde er ins Sprechzimmer der Frau Oberin zugelassen. Nachdem die ersten Komplimente erledigt waren, erklärte er ihr bescheidentlich den Gegenstand seines Besuches und sagte ihr, er sei die sehr nahe Verwandte eines jungen Mädchens, namens Rosette, die auf königlichen Befehl und zu ihrem Nutzen am Morgen in das Haus gebracht worden wäre; sie hätte große Freude darüber empfunden, daß die Vorsehung sie einem Hafen des Heils zugeführt habe, in dem ihr die guten Beispiele nicht fehlten, die sie auf den Weg der Tugend bringen könnten, von dem sie nur allzulange abgewichen wäre. Es sei zum Entzücken, daß nun gute Seelen sie nötigten, zu bereuen, und sie hätten einsperren lassen. Schon vor mehreren Monaten hätte sie diese Tat der Barmherzigkeit an ihr geübt, wenn ihre Mittel ihr erlaubt hätten, sie auszuführen. Kurz, Laverdure spielte die Verwandte so pathetisch, daß die Oberin davon gerührt war: er fing an zu weinen; die Gabe der Tränen ist eine Schauspielergabe, unser Schalk hat sie in Vollkommenheit. Die Tränen sind ein Übel, das ansteckt. Wenn eine Frau weint, wird es eine andere auch tun, wie alle, die kommen, und das bis ins Unendliche. Das Gespräch schloß damit, daß er der Priorin sagte, es verlange ihn, mit Rosette zu reden; obgleich sie ein liederliches Mädchen wäre, liebe er sie doch noch genug, um nicht ganz an ihr zu verzweifeln, und er käme, um ihr einige Erleichterung zu verschaffen. Damit zog er aus seiner Tasche zwei Louisdor und händigte einen der Dame ein, indem er sie bat, ihn Rosette allmählich zukommen zu lassen, je nachdem sie ihre Pflicht täte, und er würde Sorge tragen, ihr jeden Monat die gleiche Summe zukommen zu lassen. Diese Freigebigkeit hatte ihre Wirkung; die Oberin bewunderte das gute Herz der vermeintlichen Verwandten, machte ihr ein recht artiges Kompliment und versicherte sie, daß Rosette binnen kurzem imstande sein sollte, aus ihren Ratschlägen und ihrer Güte Nutzen zu ziehen. Ohne zu denken, machte Laverdure eine ziemlich ausgesprochen männliche Verbeugung; dieser Mangel an Aufmerksamkeit mußte ihn verraten, aber alles gelingt dem, der im Glück ist, man war im Gegenteil davon erbaut, daß die Sittsamkeit ihm nicht gestatte, jene weltlichen Referenzen nachzuahmen, die im Grunde sehr unziemlich sind, und die nur aus einem geheimen Geist der Lüsternheit herrühren.

In Erwartung von Rosettes Ankunft beschäftigte sich Laverdure, der weiß, daß Müßiggang die Mutter aller Laster ist, damit, die Bilder zu untersuchen, die das Sprechzimmer ausschmückten. Er war sehr erbaut von den Gegenständen, die darauf dargestellt waren. Es gab keinen darunter, der nicht höchst regelmäßig war; aber er gestand mir, obgleich er sonst nicht skrupellos sei, habe er Anstoß genommen, darunter ganz nackte Figuren zu sehen; wohlgestaltete und zum Entzücken geschaffene schöne junge Männer, die unter dem Vorwand, sie seien Engel, darum nicht weniger fähig wären, dem ganzen Kloster sehr wenig engelhafte Versuchungen nahezubringen.

Die Pförtnerin führte Rosette herein. Machen Sie sich ein Bild von ihrem Zustand, lieber Marquis: Noch ermüdet von den Freuden der Nacht, voll von Kümmernissen, die Augen in Tränen gebadet, und sie wagte sie kaum aufzuschlagen, mit frisiertem Haar, aber der Hälfte ihres Anzugs entblößt und in einem Hausgewand, das nicht nach Vorschrift war. Sie näherte sich traurig und hatte alle Mühe, Laverdure in seiner erborgten Gestalt zu erkennen. Ihr Erstaunen war außerordentlich, und sie gab es zu erkennen, indem sie zurückwich. Die Pförtnerin beruhigte sie; die gute Frau hatte keine Ahnung von dem Grund des Erstaunens und sagte ihr mit ziemlich trockener Miene, ein Fräulein ihres Standes dürfe keinen Schreck vor einer Verwandten zeigen, die so barmherzig wäre, sie in ihrem Unglück trösten zu kommen. Wer Intelligenz hat, dem genügt ein Wort; Rosette ahnte die Geschichte und dachte, die Pförtnerin sei nur das Echo dessen, was Laverdure ihr erzählt hatte. Sie begann zu weinen; der Gedanke an ihre Gefangenschaft, in Gegenwart desjenigen, der ihren Triumph in der Welt gesehen hatte, brachte sie zur Verzweiflung. Nur mit Mühe konnte sie, wie sie mir später erzählt hat, seinen Anblick ertragen. Ohne unruhig zu werden oder seine Kaltblütigkeit zu verlieren, gab ihr Laverdure mit ernstem Ton eine sehr lebhafte Lektion über ihr ehemaliges Betragen, er malte es ihr mit den stärksten und kräftigsten Zügen. Dann milderte er unmerklich seine Stimme und schloß, wie es alle Verwandten machen, damit, daß er der Unglücklichen Trost einflößte. Er sagte, er habe ihr etwas Geld zu überbringen, die Frau Priorin habe schon gern eine Summe übernommen, um für ihre Bedürfnisse aufzukommen, aber nur, wenn sie sich ordentlich aufführe. Dann gab er Rosette einen Louisdor und steckte ihr zugleich meinen Brief zu; sie nahm ihn voll Eifer und verbarg ihn in ihrem Busen. Ach! Um wieviel lieber hätte der Autor an Stelle seines Werkes sein mögen. Laverdure forderte, sie solle ihrer Mutter, die nach seiner Angabe in Paris war, schreiben, sie sei zufrieden in der Zurückgezogenheit, wohin die Vorsehung sie versetzt habe, und sie strenge sich nach Kräften an, darin besser zu werden. Die Pförtnerin holte Papier und Tinte. Laverdure benutzte ihre Abwesenheit, um Rosette den Rest der Summe zuzustecken und ihr zu versichern, man würde nichts unterlassen, sie sobald als möglich zu befreien; er befahl ihr, alsbald den Brief zu lesen, den sie bekommen habe. Die geringe Achtsamkeit der Pförtnerin ließ ihnen Zeit zu einem ziemlich ausgedehnten Gespräch. Nachdem Rosette die zum Schreiben benötigten Dinge besaß und einiges Widerstreben geheuchelt hatte, setzte sie sich an einen Tisch zur Seite. Sie brauchte nicht lange, um fertig zu werden, der Bote nahm es an sich und verließ das Kloster, nachdem er der guten Schwester, die so gefällig gewesen war, mit einigen Schokoladentafeln ein kleines Geschenk gemacht hatte. Unverweilt begab er sich in meine Wohnung; ich bewunderte die Geistesgegenwart dieses Burschen, und da ich gerade nichts besaß, womit ich ihn belohnen konnte, überhäufte ich ihn mit Dankesworten.

Hier die Antwort Rosettens:

Ich habe Ihren Brief erhalten, lieber Freund; ich erkannte Ihr gutes Herz an Ihrem Verhalten. Muß ich unglücklich sein, weil ich einen Mann angebetet habe, der es so sehr verdient! Ich weiß noch nicht, wieso ich hier bin; ich habe keine Zeit gehabt, mich wiederzufinden. Lassen Sie mir Nachrichten zukommen; betreffs meiner Befreiung verlasse ich mich auf Sie. Laverdure ist ein unbezahlbarer Bursche; er hat mir das Geld überreicht, das Sie mir senden. Adieu, ich werde mein Unglück beweinen. Ewig die Ihrige.

Rosette.

Sie können nicht glauben, lieber Marquis, welchen Gedanken ich mich da überließ. Ich dachte nur mehr an die schleunigsten Mittel, Rosette zu befreien. Ich entließ Laverdure, der mir versprach, mich nicht im Stich zu lassen. Man ließ mir sagen, das Souper sei bereit; ich ging hinunter. Die Gesellschaft war gut zusammengestellt. Es waren verschiedene Damen zugegen, die mir zu andrer Zeit reizend erschienen wären, und die es in der Tat waren. Die glänzende Madame Ducoeurville und ihre liebenswürdige Freundin hatten sich ein Rendezvous gegeben. Sie waren nur zwei ihrer Art, aber der Gott der Liebe, der sie verschönte, war der dritte im Bunde, und sie hatten keinen Grund, sich darüber zu beklagen. Die sittsame Rosalie hatte ihren Gatten hierher begleitet. Die Tugend, die in ihrem Herzen lebt, malt sich in ihren Augen. Man würde die Tugend stets anbeten, wenn sie das Talent hätte, sich so vorteilhaft in Erscheinung zu setzen. Die kokette Madame Blazamond hatte ihren ganzen Zierat mitgebracht; aber an diesem Abend machte sie ein so neues Spiel daraus, daß ich davon überrascht war wie von einer neuen Dekoration, mit der man in der Oper erfreut wird. Die beiden kleinen Schwestern trugen nicht wenig zum Schmuck des Soupers bei. Die eine sang zum Entzücken, und die andere riß alle Herzen durch ihre genialen Einfälle hin. An Männern waren da der Präsident und der Chevalier von Mirval; sie stritten sich einige Zeit zur Genugtuung der Versammlung und zum Ruhm ihrer spöttischen Geister. Der dicke Mathematiker gab uns viele Rechnungsauszüge über den Champagner, und der Abbé Desétoille parodierte uns alle Pächtersgattinnen. Kurz, ohne den Kummer, der sich meiner Seele bemächtigt hatte, wäre ich höchlichst erfreut gewesen. Der Mensch wäre zu glücklich, wenn er nach seinem Gefallen über die Zustände seines Herzens verfügen könnte. Wie übel war es mit dem meinen bestellt! Herr Le Doux war gleichfalls anwesend: mein Vater hatte dieses Außerordentliche bei ihm erreicht, um ihn mit der alten Gräfin von Saint-Etienne wieder auszusöhnen. Von dieser unausstehlichen Frömmlerin haben Sie hundertmal reden hören. Früher recht hübsch und eine allbekannte Kokette, war sie jetzt mit demselben Aufwand bigott geworden. So wie viele ihresgleichen, hat sie sich der Leitung unsers heiligen Mannes unterstellt, der sie recht auf den Weg des ewigen Lebens führt. Bei den Frömmlern, lieber Marquis, gibt es ebenso wie bei den Weltleuten gewisse Momente der Gleichgültigkeit, wo der Eifer nachläßt, manchmal entstehen sogar fromme Zänkereien, die in der Folge nur dazu dienen, der Barmherzigkeit eine Note zu geben. Dem Boden einer Flasche Champagner entstieg die Versöhnung unter Leuten, die sich Feinde der Sinnenlust nannten.

Der Präsident von Mondorville kam vom Land herein und war noch ganz unbekannt mit meinem Abenteuer. Es war keine Zeit; es ihm zu erzählen, und für einen derartigen Bericht erschien auch der Ort nicht passend. Die Ahnungslosigkeit, in der er sich befand, ließ ihn in bezug auf mich sehr nette Reden führen, die um so lustiger waren, je zutreffender sie waren. Die ganze Gesellschaft lachte darüber. Ich war im Innersten böse gegen ihn, zürnte ihm aber nicht darum, und ich muß sagen, unter diesen Umständen legte der Präsident unendlichen Geist an den Tag, ohne es zu wissen.

Nach dem Souper nahm ich Herrn Le Doux auf die Seite und bat ihn inständig, mir die Ehre zu erweisen und mich am andern Morgen zu besuchen, da ich ihm etwas Wichtiges mitzuteilen hätte. Er dachte, es handle sich um eine Gewissenssache oder sogar um meine Bekehrung. Diesen Herren kommt kein Gedanke, daß es andere, interessantere Dinge auf der Welt gebe. Er versicherte mir, er würde sich gegen neun Uhr zu mir begeben. Ich versprach ihm, ihn mit einer Tasse Schokolade zu erwarten, die er annahm, nachdem ich ihn überzeugt hatte, die meine sei der vorzuziehen, die er gewöhnlich tränke.

Kurze Zeit danach kam der Präsident auf mein Zimmer, ich erzählte ihm mein Abenteuer. Er bat mich um Entschuldigung wegen der Scherze, mit denen er die Gesellschaft belustigt hatte, und versprach mir, er würde dafür sorgen, daß Rosette schon am andern Morgen freigelassen würde, wenn ich wollte. Er hätte es fertig gebracht, in gewissen Dingen ist sein Kredit bei den Ministern grenzenlos. Er war in voller Fröhlichkeit. Ich bat ihn, niemandem davon zu reden und abzuwarten, was wir mit ruhigem Kopf darüber beraten hätten. Er stimmte zu und ging weg, nachdem er mir mehrere Geschichten zum Knacken und Beißen gegeben hatte, eine amüsanter als die andere.

Es war mir unmöglich zu schlafen. Unaufhörlich gaukelte Rosette vor meiner Einbildungskraft. Um mich zu zerstreuen, ließ ich mir meine Kupferstichmappen geben, und begann eine Generalrevue darüber. Je nachdem sie frei oder amüsant waren, erinnerte ich mich der Situationen, in denen ich mich mit der befunden, die man mir geraubt hatte. Dieses Erinnern betäubte wenigstens meinen Schmerz.

Endlich war die Natur erschöpft; ein matter Schlaf bemächtigte sich meiner und überraschte mich inmitten meiner unordentlich über das ganze Bett verstreuten Stiche. Ich habe manchmal in den Armen der Wirklichkeit geschlafen, aber in diesem Augenblick hielt ich die Illusion umschlungen.

Es war kaum erst sieben Uhr morgens, als ein Diener mich weckte, weil mir die Haushälterin des Herrn Le Doux einen Brief bringe und sie mich durchaus im Namen ihres Herrn sprechen wolle. Ich befahl, sie hereinzuholen. Sie machte etwas Geräusch beim Eintreten, um ihr Kommen anzuzeigen. Ich streckte den Kopf vor und erblickte durch meine geöffneten Vorhänge hindurch ein sehr anmutiges Gesichtchen. Ich habe stets einen glücklichen Blick gehabt. Ich stand auf, und indem ich meine Decke zurückschlug, warf ich mehrere Kupfer hinunter. Das junge Mädchen hob sie sorgfältig auf, und warf, da sie nicht gesehen zu sein glaubte, einen sinnlichen, prüfenden Blick darauf. Daraus prophezeite ich mir Gutes für die Befriedigung eines jener im Augenblick entstehenden Wünsche, deren Wirkung sich gerade in mir erstaunlich geltend machte, und die die Schönheit in jedem jungen Mann leicht erweckt. Ich glaubte zu bemerken, daß das Blatt, das sie, obgleich sehr rasch in Augenschein genommen, einen angenehmen Eindruck auf sie gemacht hatte. Ein Nichts verrät die herrschende Leidenschaft, und es gibt niemanden, der keine hätte. Ein Zeichen auf dem Gesicht enthüllt die Falten der besten Seele in bezug auf das, wogegen sie sich verteidigt. Nanette, so war ihr Name, machte mir eine einfache und anmutige Verbeugung und übergab mir ohne Affektation den an mich gerichteten Brief. Ich ließ die Augen darüber hingleiten und auch über seine Überbringerin; sie verdiente recht wohl, von einem feinen Weltmann angesehen zu werden.

Denken Sie sich, lieber Marquis, ein schönes Mädchen mit einer nicht außergewöhnlichen aber wohlgebildeten Gestalt und fest auf den schlanken Beinen, mit großen schwarzen Augenbrauen, schönen Zähnen, einem Teint, der dazu geschaffen war, Farbe zu bekommen, der aber für jetzt nur von Weiße leuchtete. Ein Busen, der nicht sichtbar war, der aber, mit Absicht versteckt, den Neugierigen sagte, daß er ihrer Bewunderung und ihrer Lust würdig sei. Ihre Frisur und ihre Kleidung entsprachen der Schlichtheit ihres ganzen Äußern. Sie erschien mir als eine angenehme fromme Dame, die, im Alter von achtundzwanzig bis dreißig Jahren stehend, nur den Umständen nach Entschlüsse faßte. Ich ließ sie Platz nehmen und las das Schreiben. Herr Le Doux teilte mir mit, daß er verzweifelt sei, sich nicht um neun Uhr, seinem Versprechen gemäß, bei mir einfinden zu können, weil er gezwungen sei, mit einer Dame, die seit zwei Tagen feierlich der Welt entsagt habe, die armen Gefangenen des Petit-Chatelet zu besuchen. Gegen zwei Uhr oder drei Uhr, sobald er seinen Kaffee zu sich genommen, würde er nicht verfehlen, sich in meiner Wohnung einzustellen.

Ich beglückwünschte Nanette dazu, die Haushälterin des Herrn Le Doux zu sein, der ein sehr anständiger Mann und mein besonderer Freund sei. Sie erwiderte mir schlicht, er sei ein sehr guter Herr, und seit drei Jahren, die sie in seinem Dienst stände, könne sie sich nur beglückwünschen zu seiner Gleichmäßigkeit und seiner Freundlichkeit. Da sie sich in ihrer Lobeshymne auf ihn nicht übermäßig erging, schloß ich, daß eine engere Verbindung zwischen ihnen nicht bestand. Während ich sie fragte, warum sie sich an Herrn Le Doux angeschlossen habe, trat ich, ohne es zu merken, sehr nahe an sie heran. Endlich brachte ich, wie ein Wort das andere gibt, das Gespräch auf jenes Thema, das die Frauen so sehr zu behandeln lieben, und über das sie Erröten heucheln. Blumen wachsen unter den Schritten derer, die diesen Pfad wandeln; es ist immer einer da, der sie pflückt.

Indessen stieg mir das Feuer ins Gesicht, ich nähere mich dem schönen Mädchen, das von seinem Stuhl aufstand, ohne allzuviel Lust zur Flucht zu bezeigen. Ich fasse sie an der Hand, die ich zum Entzücken weiß finde; ich wiederhole ihr, daß sie reizend ist, daß sie anbetungswürdig ist; ich gebe ihr einen leichten Kuß, dem ein zweiter folgt, dem sie sich nur so viel entzog, als nötig war, damit er keinen zu deutlichen Eindruck auf ihren Lippen hinterließ. Ich weis nicht, ob es die Frömmigkeit ist, die diese Vorsicht lehrt. Ist das der Fall, so will ich mich ihr zu meiner Lust ergeben. Mein augenblicklicher Zustand entschuldigte von meiner Seite einige Kühnheit. Es ist nie verlangt worden, daß ein Mann im Hausgewand so keusch ist, wie wenn er in die Amtstracht seiner richterlichen Würde eingepackt dasteht. Meine Hände, die allmählich unternehmend wurden, wagten die Hülle zu heben, die meinen Augen Schätze verbarg; da rief mich Nanette beim Namen und warf mir vor, früher habe ich sie nicht anzusehen geruht, als sie noch Ladenfräulein bei Madame Fanfreluche in der Cour Dauphine war. Was! rief ich aus, Ihnen, Charmanteste, habe ich damals wenig Gerechtigkeit erwiesen! Ich will meinen Fehler bessern und Sie von ganzem Herzen umarmen. In der Tat, Marquis, sie war die Freundin einer kleinen Jugendgeliebten von mir, die ich bis zur Anbetung ins Herz geschlossen hatte und dann verlassen, wie viele andere. Zwei Worte über meine entschwundenen Liebeshändel gaben mir Gelegenheit, auf die ihrigen zu kommen, und verliehen mir eine Art Recht, eine Ergänzung nach meinem Geschmack zu machen; damit begann ich denn.

Vergebens stellte sie mir vor, sie sei seit fast drei Jahren fromm geworden und ich brächte wieder die Unruhe in ihr Leben. Ihre Frömmigkeit regte meine Glut auf, und die drei Jahre Keuschheit, die sie mir entgegenhielt, was mich gegen die Furcht vor der Gefahr sicherte, gaben mir neue Kräfte; ich bekümmerte mich nicht darum, ihre Kleider wieder in Ordnung zu bringen. Eine Tugend, die sich nur wegen der Anordnung der Falten wehrt, ist sehr geneigt dazu, sich selbst verwirren zu lassen. Nanette war so. Ich preßte sie an mich, sie seufzte; und nach der in solchen Fällen gebräuchlichen Art und Weise raubte ich der schönen Botin alles Bewußtsein, ausgenommen das des Vergnügens. Sie ließ im Feuer unserer Umarmungen mich argwöhnen, daß es nicht außerordentlich lange her sei, seitdem sie die reizende Gewohnheit verloren hatte, sie unendlich mannigfaltig zu gestalten. Lächerlicher Verdacht, ungehöriger Gedanke! Als ob man der Übung bedürfte, um die nur natürlichen Dinge in Vollkommenheit auszuüben! Meine übers Bett gestreuten Kupferstiche spielten ihre Rolle mit und vereinigten ihr leises Rauschen mit einem bestimmten Geräusch, veranlaßt durch die Ausübung dessen, was sie zumeist darstellten. Nachdem Fräulein Nanette sich endlich von der Verwirrung befreit hatte, in die ich ihre Frömmigkeit und ihre Gewänder versetzt hatte, machte sie sich vor dem Spiegel wieder zurecht und begrüßte mich schelmisch und anmutig. Ich geleitete sie hinaus und versprach ihr einen Phantasieschmuck für ihr Haar und häufige Besuche, weil ich sicherlich ihre Protektion nötig hätte. Sie zog sich zurück, mit Befriedigung in den Augen, andererseits mit Begehrlichkeit; denn ich bin nicht hochmütig genug, um zu glauben, daß ich in einem Augenblicke hätte die Leere ausfüllen können, die drei Jahre der Enthaltsamkeit in ihrer Seele zurückgelassen hatten. Nicht wahr, lieber Marquis, ich bin ein Bursche mit heftigem Temperament; wenn ich nicht von Zeit zu Zeit eine Gelegenheit fände, mich zu ergötzen, käme ich um vor Kummer.

Ich hätte dieses Mädchen bei dem Herrn Le Doux für wenig keusch gehalten. Keineswegs; es gibt Temperamente, die jenen Maschinen gleichen, die nur Gewalt haben, wenn sie in Gang gebracht sind. Sie hat mir seitdem hundertmal versichert, ihr Herr sei ein Mann, über den die Natur keine Rechte ausübte, und dessen einzige Beschäftigung sei, sich in die Angelegenheiten der andern zu mengen, die alten Damen zu leiten, ihnen zu predigen oder sie einzuschläfern.

Ich war im Justizpalast, wo ich den Präsidenten antraf; nachdem die Sitzung aufgehoben war, waren wir bei ihm zusammen; wir ließen unsre Amtskleider da und verabredeten, bei Fräulein Laurette einen kurzen Besuch zu machen. Sie begann zu lachen, als sie uns sah; sie wußte von Rosettens Mißgeschick; sie unterhielt mich über das Thema und warf mir meine geringe Klugheit vor; und mit einem Ton hochmütigen Klagens versicherte sie mir, sie sei vom Schicksal ihrer guten Freundin gerührt. Sie bot uns an, bei ihr zu speisen, wir dankten ihr; ihre Reize und ihr Aussehen, mit dem sie paradierte, luden uns ein, ihr Gesellschaft zu leisten. Mein Feuer hatte sich jedoch schon am Morgen frei gemacht, und der Präsident fand sich, ohne in meiner ersten Lage gewesen zu sein, wie gewohnt in der zweiten.

Wir gingen bei der schönen Schmuckverkäuferin der Rue Saint-Honoré vorbei, wo wir nach dem Prüfen, Kritisieren, Kontrollieren und Feilschen von tausend verschiedenen Dingen uns entfernten, ohne ein einziges mitzunehmen. Ich kam heim, um zu Hause zu essen, und blieb da, bis Herr Le Doux kam. Er hielt sein Versprechen und machte mir ein wenig vor drei Uhr seinen Besuch. Er begrüßte meinen Vater, ihre Unterredung war sehr kurz. Dann traf er mich im Garten; und nachdem er mir einen Artikel mit geistlichen Neuigkeiten vorgelesen, in dem mit einem konstitutionellen Bischof auf eine höchst amüsante Weise verfahren wurde, und nachdem er mir verschiedene Anekdoten über den Verweis von zwei anderen wiedererzählt, fragte er mich nach dem Gegenstand der vertraulichen Mitteilung, die ich ihm machen wollte. Ich antwortete ihm, ich könne mich erst bei dem Präsidenten von Mondorville eröffnen, mein Wagen stände im Hofe für uns bereit, und wenn er zustimmte, wollten wir hinfahren. Wir fuhren ab. Ich wäre entrüstet, lieber Marquis , wenn man mich nicht für einen jungen Rat hielte; ich fahre immer im schnellsten Galopp durch Paris, meine Pferde sind daran gewöhnt. Herr Le Doux, der nur mit frommen und alten Damen in den Wagen steigt, war erschreckt über meine Gangart und bat mich, meinen Leuten zu befehlen, sich nicht so zu überstürzen. Er fügte hinzu, es sei nicht Sitte, einen Geistlichen wie einen jungen Mann fahren zu sehen, er zitierte mir sogar eine lateinische Stelle aus einem Jerusalemer Konzil, das den Kutschern verbietet, ihren Herren zu gehorchen, wenn sie ihnen befehlen, schneller als im Schritt zu fahren. Ich gestehe Ihnen, lieber Marquis, daß ich unterwegs sehr gedemütigt wurde; ich begegnete mehreren großen Herren, die nur recht schlechte Pferde hatten, und die sich aus ihrer schnellen Fahrt eine Riesenehre machten. Unsere Unterhaltung auf dem Weg war wenig interessant; ich lachte bloß darüber, daß Herr Le Doux, als wir an der Oper vorüberkamen, ein Kreuz schlug. Der Präsident empfing uns mit einer heiteren Miene, und nachdem er Herrn Le Doux aufgefordert hatte, Erfrischungen zu nehmen, gingen wir zum Thema über. Wenn man in Gesellschaft ist, benimmt man sich kühner. Ich setzte ihm auseinander, daß ich Rosette liebte, daß ich Ursache ihres Unglücks sei; und daß ich zum Äußersten schreiten würde, wenn mein Vater sie noch lange eingesperrt hielte; ich würde einwilligen, sie nicht mehr wiederzusehen, aber ich wollte auch sicher sein, daß sie nicht mehr im bejammernswertesten Zustand zu leben brauche. Der heilige Mann hörte mich, entgegen meiner Erwartung, sehr friedevoll an, er verbreitete sich sehr wenig über die Moral und erließ mir eine schöne und treffliche Predigt, die er das Recht hatte, zu verzapfen. Nach einer ernsten Einleitung über die Weisheit meines Vaters und die Leichtfertigkeit meines Betragens, sagte er mir, nach Gott und seinem Gewissen sei es ihm unmöglich, sich mit dieser Angelegenheit zu befassen. Vergebens machte ich ihm verschiedene Vorstellungen. Taub gegen meine Bitten, bat er mich seinerseits sehr ernstlich, niemals in dieser Art zu ihm zu sprechen. Ich war schon im Begriff, mit verzweifeltem Herzen davonzulaufen, als der Präsident wie zufällig fallen ließ: Es ist wirklich schade darum, denn das Mädchen macht sich schon recht sehr Gedanken über die Verhältnisse der Zeit; sie hat sogar schon Krämpfe infolgedessen gehabt.

Rosette, lieber Marquis, hat niemals etwas über diese Dinge gedacht, weil sie sie gar nicht kennt. Und Krämpfe hat sie nie gehabt, außer beim Lieben. Das Wort des Präsidenten brachte mir eine große Hilfe, denn es wurde in der Folge die Ursache der Befreiung Rosettes, und die wäre ohne Herrn Le Doux gar nicht geglückt.

Unser heiliger Mann hatte eine Schwäche, und diese Schwäche war ein grenzenloser Eifer, wenn es sich darum handelte jemandem zu helfen, der nur einen Schimmer von Jansenismus an sich trug. Ich hielt ihn an der kritischen Stelle fest und unterließ nichts, um mein Unternehmen zu Ende zu bringen. Man kann die Menschen machen lassen, was man will, wenn man nur die Kunst gefunden hat, bestimmte Triebfedern in Bewegung zu setzen, die ihre ganze Maschine lenken.

Nachdem Herr Le Doux einige Zeit nachgedacht hatte, fragte er uns, ob wir dessen gewiß wären, was wir ihm in bezug auf Rosette versicherten. Sollten wir so einfältig sein, es ihm nicht authentisch zu bestätigen? Seine Barmherzigkeit war ziemlich gut gestimmt, sein Herz erweichte, und er gab uns sein Wort, er würde binnen kurzem eine längere Unterredung mit uns haben, in der er uns seine Gedanken mitteilen würde. Damit ging er hinweg. Mein Wagen brachte ihn in eine fromme Versammlung, und der des Präsidenten brachte uns geradewegs in die Oper; man gab, glaube ich: Die Schule der Verliebten. Wir gaben uns der schönsten Zuversicht über den Erfolg unserer Sache hin, da Herr Le Doux sich damit befaßte. Das Stück nahm unsre Aufmerksamkeit nicht sehr in Anspruch; wir amüsierten uns nur, den Putz von ein paar Damen zu betrachten, über die wir den ganzen Abend grausam lästern mußten. Gleich am andern Morgen schrieb ich Rosette die Idee, die uns gekommen war, sie für ein Mädchen auszugeben, das der antikonstitutionellen Partei anhing. Ich empfahl ihr, darauf vorbereitet zu sein, diese Rolle zu spielen, wenn man es verlangte. Was muß man nicht tun, um frei zu werden? Ich schickte ihr sogar ein paar hierauf bezügliche Bücher, besonders eins, das die Geschichte dieser ganzen Begebenheit im Grundriß darstellt. Das verfluchte Buch kam meiner jungen Neubekehrten teuer zu stehen. Diese abenteuerliche Sache sollte mit komischen Zwischenfällen gewürzt werden. Ich sagte ihr auch, ich müßte mit meinem Vater ein paar Wochen aufs Land gehen, und sie solle nicht verzweifeln, Laverdure würde ihr häufig Nachrichten von mir überbringen.

Beachten Sie, lieber Marquis, daß ich dem Präsidenten nicht habe anvertrauen mögen, daß sich sein Diener in meinem Dienst verkleidete. Dieses zu vermerken wird für die Folge notwendig sein. Wir gingen auf das Landgut meines Vaters. Rosette las unterdessen mit Eifer die Bücher, die ich ihr mitgeschickt hatte. Sie bereitete sich auf die Rolle vor, deren Bild ich ihr in meinem letzten Brief gegeben hatte. Es war ihr nur zu viel Zeit vergönnt, sich darin zu üben und über diese unglückselige Erfindung zu weinen. Doch wir wollen den Tatsachen nicht vorgreifen.

Das Landgut, auf das ich meinen Vater begleitete, lieber Marquis, liegt in der Pikardie; die Luft da ist heiter, das Land ziemlich schön und unser Haus trefflich eingerichtet. Es ist etwas alt, doch ähnelt es gewissen Damen vom Hofe, die die Blüte ihrer Jugend verloren haben, die aber kultiviert sind, und bei näherem Zusammentreffen vorteilhaft. Einige Tage lang sahen wir niemand; wir kümmerten uns um keine Gesellschaft, da mein Vater diese Reise nur unternommen hatte, um seine Geschäfte in diesem Bezirk in Ordnung zu bringen. Allmählich beehrten uns verschiedene Edelleute aus der Umgebung mit ihren Besuchen. Die Höflichkeit erlaubte uns nicht, hinter ihnen zurückzustehen. Wir hatten sie zu gut behandelt; sie setzten es sich in den Kopf, uns ebenso zu bewirten. Die Pikarden sind im allgemeinen gute Leute, für gewöhnlich offen, achtbar, wenn sie sich von der guten Seite geben, aber größere Bösewichte und Betrüger als die Normannen, wenn sie ihre angeborenen Eigenschaften ablegen.

Die verschiedenen Orte, an denen wir empfangen wurden, verdienen nicht, daß ich Ihnen davon rede. Hier war's ein alter Offizier, der einen Rest des Schlosses bewohnte, das der Wut der Überschwemmung entgangen war, und der, kaum im Besitz des Nötigen, voll Stolz den Verkehr mit seinen Nachbarn verschmähte, die ihm hätten Dienste erweisen können, und das, weil ihnen nicht, wie ihm, einer ihrer Vorfahren neben Philipp in der Schlacht bei Bovines getötet war. Dort kam ich in ein ziemlich gut ausgestattetes Haus, doch schienen seine Tapisserien von Händen der Zeit gearbeitet, als diese noch in ihren Anfängen stand. Man nahm mich freundlich auf, aber ich begegnete nur Zimperlieschen der Provinz, die nur die recht anständige Geschichte vom Papageien gelesen und bewundert hatten. In einer andern Gegend kam ich zu Mönchen, die mir herrliche Feste gaben; sie hätten mir gefallen, wenn nicht alles, was diese Leute tun, stets einen Kuttengeschmack besäße, der mir unerträglich ist. Kurz, lieber Marquis, sechs Wochen lang brachte ich nur damit zu, bald allein, bald in Gesellschaft meines Vaters, die kleinen Edelhöfe durchzugehen, wo ich nur gute Herzen ohne Feinheit oder Höflichkeit ohne Geschmack entdeckte, wie sie von unsern guten Vorfahren geübt worden waren. Eins unserer kleinen Wintersoupers wiegt eine Unzahl von diesen ländlichen Vergnügungen auf. Vergebens ging ich auf die Suche nach irgendeinem amüsanten Abenteuer; die Gelegenheit bot sich nicht, und manchmal, wenn ich glaubte, eine meinen Wünschen günstige gefunden zu haben, war bei den hübschesten Pikardinnen just nur das Köpfchen heiß.

Wie die Liebhaber von Blumen überall welche finden, pflückte ich ebenfalls einige bei Gelegenheit; aber ich rühme mich dessen nicht, übrigens waren sie nicht aus Gartenbeeten entnommen, die, wie in Paris, auch den gewöhnlichsten einen gewissen Glanz verleihen. Im folgenden schildere ich nun das einzige Zusammentreffen, bei dem ich mich ein wenig amüsiert habe. Die Pikarden sind einfältig; wenn der Glaube im Weltall verloren gegangen wäre, bei ihnen fände man ihn noch; sie sind ihm ergeben, wie dem Aberglauben; der eine ist der beste Nachbar des andern.


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