Charles Darwin
Die Entstehung der Arten durch Naturauslese
Charles Darwin

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7. Kapitel.

Vermischte Einwendungen gegen die Lehre von der Naturauslese.

Langlebigkeit. Ummodelungen, die nicht gleichzeitig notwendig sind. Ummodelungen, die anscheinend keinen unmittelbaren Nutzen haben. Fortschreitende Entwicklung. Merkmale, die für die Lebensthätigkeit geringe Wichtigkeit haben, sind am beständigsten. Angebliche Unfähigkeit der Naturauslese die Anfangsstufen nützlicher Bildungen zu erklären. Ursachen, die der Erwerbung nützlicher Bildungen durch die Naturauslese Eintrag thun. Abstufungen des Baues bei umgewandelten Tätigkeiten. Sehr verschiedene Organe bei Mitgliedern derselben Klasse, die sich aus ein und demselben Ursprung entwickelt haben. Gründe für den Zweifel an groben und plötzlichen Ummodelungen.

* * *

Ich will dieses Kapitel der Betrachtung der verschiedenartigen vermischten Einwendungen widmen, die gegen meine Lehre vorgebracht worden sind, da einige der vorhergehenden Erörterungen vielleicht dadurch an Klarheit gewinnen werden. Aber sie alle zu erörtern würde nutzlos sein, da viele von ihnen von Schriftstellern gemacht worden sind, die sich nicht die Mühe genommen haben, den Gegenstand kennen zu lernen. So hat ein hervorragender deutscher Naturforscher behauptet, der schwächste Teil meiner Lehre sei, daß ich alle organischen Wesen als unvollkommen betrachte. Was ich wirklich gesagt habe, ist, daß nicht alle so vollkommen sind, wie sie im Verhältnis zu ihren Bedingungen sein könnten, und daß dies der Fall ist, zeigt sich darin, daß in vielen Teilen der Welt so viel eingeborene Formen ihre Plätze eindringenden Fremden überlassen haben. Auch können die organischen Wesen, selbst wenn sie zu einer gewissen Zeit ihren Lebensbedingungen vollkommen angepaßt waren, nicht so geblieben sein, wenn die Bedingungen sich umwandelten, wofern sie selbst sich nicht ebenfalls umwandelten. Niemand wird aber bestreiten, daß sowohl die natürlichen Bedingungen eines jeden Landes, als die Anzahl und die Arten seiner Bewohner viele Veränderungen durchgemacht haben.

Ein Kritiker hat kürzlich mit einigem Aufwand mathematischer Genauigkeit hervorgehoben, daß Langlebigkeit für alle Arten ein großer Vorteil ist, so daß derjenige, der an die Naturauslese glaubt »seinen Stammbaum so einrichten muß«, daß alle Abkömmlinge ein längeres Leben haben als ihre Vorfahren. Kann unser Kritiker nicht begreifen, daß eine zweijährige Pflanze oder eins der niedrigeren Tiere sich in einen kalten Erdstrich verbreiten und dort jeden Winter eingehen kann und doch infolge der durch die Naturauslese gewonnenen Vorteile mittels seiner Samen oder Eier von Jahr zu Jahr erhalten bleibt? E. Ray Lankester hat kürzlich hierüber geschrieben und kommt, soweit der überaus verwickelte Gegenstand ihm erlaubt, ein Urteil zu bilden, zu dem Schluß, daß Langlebigkeit gewöhnlich sowohl zu dem Platz jeder Art auf der Stufenleiter der Lebensformen, wie zu dem Maß des Kräfteaufwandes bei der Fortpflanzung und der allgemeinen Thätigkeit im Verhältnis steht. Diese Bedingungen sind wahrscheinlich vielfach durch die Naturauslese bestimmt worden.

Man hat behauptet, daß, da sich die Tiere und Pflanzen Ägyptens, von denen wir etwas wissen, während der letzen drei oder vier Jahrtausende nicht umgemodelt haben, es wahrscheinlich in keinem Teil der Welt geschehen ist. Aber, wie G. H. Lewes bemerkt hat, beweist diese Schlußreihe zu viel; denn die alten Hausrassen, die auf den ägyptischen Denkmälern dargestellt oder die einbalsamiert sind, sind ganz ähnlich oder sogar die gleichen wie die jetzt lebenden. Dennoch geben alle Naturforscher zu, daß solche Rassen durch die Ummodelung ihrer ursprünglichen Formen hervorgebracht worden sind. Die vielen Tiere, die seit dem Beginn der Eiszeit unverändert geblieben sind, würden einen unvergleichlich stärkeren Einwand abgeben; denn sie sind großen Veränderungen des Klimas ausgesetzt gewesen und haben weite Strecken durchwandert, wohingegen in Ägypten, soweit wir wissen, die Lebensbedingungen während mehrerer Jahrtausende durchaus gleichförmig geblieben sind. Die Thatsache, daß seit der Eiszeit keine oder nur eine geringe Ummodelung erfolgt ist, würde diejenigen, die an ein angeborenes und notwendiges Gesetz der Entwicklung glauben, etwas in die Enge getrieben haben; aber sie ist machtlos gegen die Lehre von der Naturauslese oder dem Überleben der Tauglichsten. Denn diese besagt, daß zufällig entstehende Abänderungen oder Verschiedenheiten der Einzelwesen, wenn sie nützlicher Art sind, erhalten werden; aber dies wird nur unter gewissen besonders günstigen Umständen geschehen.

Der berühmte Paläontologe Bronn fragt am Ende seiner deutschen Übersetzung dieses Werkes, wie nach dem Grundgesetz der Naturauslese eine Spielart neben der Elternart leben kann. Wenn beide für ein wenig verschiedene Lebensgewohnheiten und Bedingungen tauglich geworden sind, könnten sie zusammen leben, und wenn wir die polymorphischen Arten, bei denen die Veränderlichkeit von besonderer Natur zu sein scheint, und alle bloß zeitweiligen Abänderungen wie Größe, Albinismus u. s. f. bei Seite lassen, so werden wir gewöhnlich finden, daß die ausdauernderen Spielarten, soweit ich entdecken kann, getrennte Stellen bewohnen, wie Hochland oder Tiefland, trockene oder feuchte Bezirke. Überdies scheinen bei den Tieren, welche viel umherwandern und sich ungehindert kreuzen, die Spielarten gewöhnlich auf bestimmte Gegenden beschränkt zu sein.

Bronn hebt auch nachdrücklich hervor, daß verschiedene Arten sich niemals nur in einzelnen Merkmalen, sondern in vielen Körperteilen voneinander unterscheiden, und er fragt, wie es komme, daß viele Teile des Körperbaus sich zu gleicher Zeit durch Abänderung und Naturauslese umgemodelt haben. Aber es liegt keine Notwendigkeit für die Annahme vor, daß alle Teile eines Wesens zugleich umgemodelt worden sind. Die auffallendsten Ummodelungen, die irgendeinem Zweck ausgezeichnet angepaßt sind, könnten, wie früher bemerkt wurde, durch allmähliche Abänderungen erworben werden, die erst in einem, dann in einem anderen Teil in geringem Grade auftreten, und da sie alle zusammen übermittelt werden würden, würde es uns scheinen, als ob sie sich gleichzeitig entwickelt hätten. Die beste Antwort auf die oben erwähnte Einwendung gewähren jedoch jene Hausrassen, die hauptsächlich durch das Vermögen des Menschen zur Auslese für irgendeinen besondern Zweck umgemodelt worden sind. Man betrachte das Rasse- und das Zugpferd und das Windspiel und die Bulldogge. Ihr ganzer Körperbau und selbst ihre geistigen Merkmale sind umgemodelt worden; aber wenn wir jedem Schritt ihrer Umwandlung nachspüren – und den letzten können wir nachspüren, – würden wir nicht große und gleichzeitige Veränderungen sehen, sondern entdecken, daß zuerst ein Teil und dann ein anderer leicht umgemodelt und verbessert wird. Selbst wenn der Mensch die Auslese auf irgendein Merkmal allein anwendet, wird – wovon unsere angebauten Pflanzen die besten Beispiele bieten – man stets finden, daß, obgleich dieser eine Teil, seien es nun die Blüten, die Früchte oder die Blätter, sich sehr umgewandelt hat, auch beinahe alle anderen Teile sich ein wenig umgemodelt haben. Das kann man teils dem Grundgesetz der Wechselbeziehungen des Wachstums und teils der sogenannten von selbst geschehenden Abänderung zuschreiben.

Eine viel ernsthaftere Einwendung ist von Bronn und kürzlich von Broca gemacht worden, nämlich daß viele Merkmale für die Geschöpfe von gar keinem Nutzen zu sein scheinen und daher nicht durch die Naturauslese beeinflußt worden sein können. Bronn führt die Länge der Ohren und des Schwanzes bei den verschiedenen Hasen- und Mäusearten, die Schmelzfalten bei den Zähnen vieler Tiere und eine Menge anderer Fälle an. Mit Bezug auf die Pflanzen ist dieser Gegenstand von Nägeli in einer bewundernswerten Abhandlung erörtert worden. Er giebt zu, daß die Naturauslese viel bewirkt hat, aber er hebt hervor, daß die Pflanzenfamilien sich hauptsächlich in Merkmalen ihrer Gestalt voneinander unterscheiden, die für die Wohlfahrt der Arten ganz unwichtig sind. Er glaubt infolge dessen an eine angeborene Neigung zu fortschreitender und vollkommenerer Entwicklung. Er schildert im einzelnen die Anordnung der Zellen in den Geweben und der Blätter um die Achse als Fälle, in denen die Naturauslese nicht gewirkt haben kann. Dazu kann man die zahlenmäßige Einteilung der Blütenteile, die Stellung der Samenknospen, die Gestalt des Samens, wenn sie für die Aussaat nicht von Nutzen ist, und manches andere fügen.

Der obige Einwand besitzt großes Gewicht. Nichtsdestoweniger sollten wir erstens äußerst vorsichtig bei der Äußerung von Urteilen darüber sein, welche Bildungen irgendeiner Art jetzt von Nutzen sind oder es früher gewesen sind. Zweitens sollten wir immer daran denken, daß, wenn irgendein Teil umgemodelt wird, auch die anderen Teile es werden, und zwar sowohl aus gewissen undeutlich erkannten Gründen, wie dem vermehrten oder verminderten Nahrungszufluß zu einem Teile, dem gegenseitigen Drucke, dem Einfluß eines früh entwickelten Teils auf einen später entwickelten u. s. w., wie aus anderen Gründen, die zu den vielen rätselhaften Fällen der Wechselbeziehung führen, die wir ganz und gar nicht verstehen. Diese Kräfte können wir der Kürze halber unter dem Namen der Wachstumsgesetze zusammenfassen. Drittens müssen wir mit der unmittelbaren und endgiltigen Wirksamkeit der umgewandelten Lebensbedingungen und mit den sogenannten von selbst geschehenden Abänderungen rechnen, bei denen die Natur der Bedingung offenbar eine ganz untergeordnete Rolle spielt. Knospenabänderungen, wie z. B. das Erscheinen einer Moosrose an einem gewöhnlichen Rosenstock oder einer Aprikosenpflaume auf einen Pfirsichbaum, bieten gute Beispiele für die von selbst geschehenden Abänderungen. Aber sogar in diesen Fällen sollten wir im Sinne behalten, daß ein winziger Gifttropfen die zusammengesetzten Galläpfel hervorbringen kann, und nicht zu zuversichtlich annehmen, daß die angegebenen Abänderungen nicht durch irgendeine örtliche Wandlung in der Natur das Saftes, die eine Folge irgendeiner Wandlung der Bedingungen ist, hervorgerufen werden können. Irgendeine wirkende Ursache muß sowohl für jede geringfügige Verschiedenheit der Einzelwesen wie für die gelegentlich auftretenden stärker ausgeprägten Abänderungen vorhanden sein. Und wirkte die unbekannte Ursache beständig, so würden fast sicher alle Vertreter der Art in gleicher Weise umgemodelt werden.

In den früheren Auflagen dieses Werkes unterschätzte ich, wie jetzt wahrscheinlich scheint, die Häufigkeit und Bedeutung der durch von selbst geschehende Veränderlichkeit veranlaßten Ummodelungen. Aber es ist unmöglich, dieser Ursache die zahllosen Bildungen zuzuschreiben, die den Gewohnheiten einer jeden Art so gut angepaßt sind. Ebenso leicht könnte ich glauben, daß die gut angepaßte Gestalt eines Rassepferdes oder eines Windspiels, die sich bei dem Grundgesetz der Auslese durch den Menschen so gut verstehen läßt, und die älteren Naturforscher so sehr in Erstaunen versetzte, auf diese Weise ihre Erklärung findet.

Es dürfte der Mühe wert sein, bei der Erläuterung einiger der vorigen Bemerkungen sich etwas aufzuhalten. Mit Bezug auf die angebliche Nutzlosigkeit mancher Teile und Organe braucht man wohl kaum daran zu erinnern, daß sogar bei den höheren und bestbekannten Tieren viele Bildungen vorkommen, an deren Wichtigkeit infolge ihrer hohen Entwicklung niemand zweifelt, deren Nutzen aber bisher überhaupt noch nicht oder erst ganz vor kurzem dargethan worden ist. Wenn Bronn die Länge der Ohren und des Schwanzes bei einzelnen Mäusearten als, wenn auch unbedeutende, Beispiele von Bildungsverschiedenheiten anführt, die keinen besonderen Nutzen haben können, so darf ich erwähnen, daß nach Dr. Schöbel die Ohrmuschel der gemeinen Maus einen außerordentlichen Reichtum von Nerven besitzt und zweifellos als Tastwerkzeug dient. Daher kann die Länge der Ohren kaum ganz unwesentlich sein. Wir werden auch gleich sehen, daß der Schwanz für manche Arten ein höchst nützliches Greifwerkzeug ist, und seine Länge trägt wesentlich dazu bei.

Unter den Pflanzen, bei denen ich mich mit Rücksicht auf Nägelis Abhandlung auf die folgenden Bemerkungen beschränken werde, zeigen, wie man zugeben wird, die Blüten der Knabenkräuter eine Fülle merkwürdiger Bildungen, die man noch vor einigen wenigen Jahren für bloße Verschiedenheiten in der Gestalt ohne irgend einen besonderen Zweck angesehen hätte. Aber man weiß jetzt, daß sie für die Befruchtung der Arten mit Hilfe der Kerbtiere von größter Bedeutung und wahrscheinlich durch die Naturauslese gewonnen worden sind. Bis vor kurzem würde sich niemand eingebildet haben, daß bei den zweigestaltigen und dreigestaltigen Pflanzen die verschiedene Länge der Staubgefäße und Stempel und ihre Anordnung irgendwie von Nutzen sein könnte; aber jetzt wissen wir, daß es doch der Fall ist.

In gewissen ganzen Pflanzengruppen stehen die Samenknospen aufrecht, in anderen hängen sie herab. Und in demselben Fruchtknoten einiger weniger Pflanzen steht die eine Samenknospe aufrecht, während die andere herabhängt. Diese Stellungen scheinen auf den ersten Blick nur Merkmale der Gestalt zu sein und keinen physiologischen Wert zu haben. Aber Dr. Hooker teilt mir mit, daß in einem Fruchtknoten in manchen Fällen nur die oberen und in anderen nur die unteren Samenknospen befruchtet werden, und er nimmt an, daß dies wahrscheinlich von der Richtung abhängt, in der die Blütenstaubröhren in den Fruchtknoten eintreten. Ist dem so, so würde die Stellung der Samenknospen, sogar in dem Fruchtknoten, in dem eine aufrecht steht und die andere herabhängt, die Folge der Auslese einiger leichter Abweichungen der Stellung sein, die die Befruchtung der Samenknospen und die Hervorbringung von Samen begünstigten.

Mehrere Pflanzen, die zu getrennten Ordnungen gehören, haben zweierlei Blüten, eine gewöhnlich gebaute offene, eine zweite geschlossene und unvollkommene. Diese zweierlei Blüten unterscheiden sich oft erstaunlich in ihrem Bau, doch sieht man sie auf derselben Pflanze ineinander übergehen. Die gewöhnlichen und offenen Blüten können gekreuzt werden, und die nützlichen Folgen, die dieser Vorgang gewiß hat, werden so gesichert. Die geschlossenen und unvollkommenen Blüten sind jedoch offenbar von großer Wichtigkeit, da sie mit der äußersten Zuverlässigkeit bei dem Aufwand von merkwürdig wenig Blütenstaub einen großen Vorrat von Samen liefern. Die zweierlei Blüten weichen oft, wie eben angegeben, im Bau sehr voneinander ab. Die Blütenblätter der unvollkommenen Blüten bestehen fast immer nur aus bloßen Andeutungen, und der Durchmesser der Blütenstaubkörner ist verkleinert. Bei Ononis columnae sind fünf der wechselständigen Staubgefäße sehr unvollkommen entwickelt, und bei einigen Veilchenarten sind drei Staubgefäße in diesem Zustande, während zwei ihre eigentliche Thätigkeit behalten, aber von sehr geringer Größe sind. In sechs unter dreißig der geschlossenen Blüten eines indischen Veilchens (der Name ist unbekannt, denn die Pflanzen haben bei mir nie vollkommene Blüten hervorgebracht) ist die gewöhnliche Anzahl von fünf Kelchblüten auf drei verringert, in einer Abteilung der Malpighiaceen sind nach A. de Jussieu die geschlossenen Blüten noch weiter umgemodelt. Denn die fünf Staubgefäße, die den Kelchblättern gegenüberstehen, sind alle in der Entwicklung zurückgeblieben, nur ein sechstes Staubgefäß, das einem Blütenblatt gegenübersteht, ist entwickelt; und dies Staubgefäß findet sich in den gewöhnlichen Blüten dieser Art nicht. Der Stempel ist in der Entwicklung zurückgeblieben, und die Zahl der Fruchtknoten ist von drei auf zwei verringert. Wenn nun auch die Naturauslese die Macht gehabt haben kann, die Ausbreitung einiger der Blüten zu verhindern und die Menge des Blütenstaubs zu verringern, wenn er durch die Verschließung der Blüten überflüssig wurde, kann doch kaum eine der erwähnten besonderen Ummodelungen auf diese Weise bestimmt worden sein. Sie müssen vielmehr aus den Gesetzen des Wachstums folgen, die es veranlassen, daß während der fortschreitenden Verringerung des Blütenstaubs und der Schließung der Blüten die Lebensthätigkeit der Teile außer Wirksamkeit gesetzt wird.

Auf die bedeutenden Wirkungen der Wachstumsgesetze müssen wir ein solches Gewicht legen, daß ich noch einige weitere Fälle anderer Art anführen will, nämlich von Verschiedenheiten desselben Gliedes oder Organs, die aus Verschiedenheiten der Stellung auf derselben Pflanze folgen. Bei der spanischen Kastanie und gewissen Föhren unterscheiden sich nach Schacht die Richtungswinkel der Blätter an den beinahe wagerechten und an den aufrechten Zweigen. Bei der gemeinen Raute und einigen anderen Pflanzen öffnet sich eine, gewöhnlich die Mittel- oder Endblüte, zuerst und hat fünf Kelchblätter, ebenso viele Blütenblätter und einen fünffach geteilten Fruchtknoten, während alle anderen Blüten auf der Pflanze vierteilig sind. In der britischen Adoxa hat die oberste Blüte gewöhnlich zwei Kelchzipfel und sonst vierteilige Organe, während die umgebenden Blüten gewöhnlich drei Kelchzipfel und sonst fünfteilige Organe haben. Bei vielen Korbblütlern und Doldengewächsen (und bei einigen anderen Pflanzen) haben die Randblüten viel entwickeltere Blumenkronen als die Mittelblüten, und das scheint oft mit der Mißbildung der Fortpflanzungsorgane zusammenzuhängen. Eine noch sonderbarere, schon vorher erwähnte Thatsache ist, daß die achenes oder Samen des Randes und der Mitte zuweilen in Form, Farbe und anderen Merkmalen sehr verschieden sind. Beim Saflor und einigen anderen Korbblütlern sind die Samen der Mitte allein mit einer Federkrone versehen, und bei Hyoseris bringt dieselbe Blüte Samen von drei verschiedenen Formen hervor. Bei gewissen Doldengewächsen sind die Samen vom Rande innen voll und die von der Mitte innen hohl, und dies ist ein Merkmal, das de Candolle bei anderen Arten als höchst wichtig für die Systematik angesehen hat. Prof. Braun erwähnt eine Erdrauchgattung, bei der die Blüten am unteren Teil der Rispe eiförmige, gerippte einsamige Nüßchen und am oberen Teil lanzettliche, zweimalige und zweisamige Schoten tragen. Bei diesen verschiedenen Fällen kann mit Ausnahme der gutentwickelten Strahlenblumen, die dazu dienen, die Blüten für die Kerbtiere auffällig zu machen, soweit wir urteilen können, die Naturauslese keine oder nur eine ganz untergeordnete Rolle gespielt haben. Alle diese Ummodelungen folgen aus der Stellung und der gegenseitigen Beeinflussung der Teile, und es kann kaum bezweifelt werden, daß, wenn alle Blüten und Blätter derselben Pflanze denselben äußeren und inneren Bedingungen unterworfen gewesen wären, wie es die Blüten in gewissen Stellungen sind, sich alle in derselben Weise umgemodelt hätten.

In zahlreichen anderen Fällen finden wir von den Botanikern gewöhnlich für sehr wichtig angesehene Ummodelungen des Baus, die nur einige Blüten an einer Pflanze beeinflussen oder auf getrennten Pflanzen vorkommen, die unter denselben Bedingungen nahe bei einander wachsen. Da diese Abänderungen für die Pflanzen von keinem besonderen Nutzen zu sein scheinen, können sie von der Naturauslese nicht beeinflußt worden sein. Über ihre Ursache wissen wir gar nichts. Wir können sie nicht einmal annäherungsweise, wie in der vorigen Klasse von Fällen, einer wirkenden Ursache, wie der Stellung, zuschreiben. Ich will nur einige Beispiele geben. Man beobachtet auf derselben Pflanze unterschiedslos vierteilige, fünfteilige Blüten u. s. w. so häufig, daß ich kein Beispiel zu geben brauche. Aber da Abweichungen in der Zahl bei wenigen Teilen verhältnismäßig selten sind, so möchte ich erwähnen, daß nach de Candolle die Blüten des Papaver bracteatum entweder zwei Kelchblätter mit vier Blütenblättern (was die gewöhnliche Form beim Mohn ist) oder drei Kelchblätter mit sechs Blütenblättern zeigen. Die Weise, in der die Blütenblätter in der Knospe gefaltet sind, ist in den meisten Gruppen ein sehr beständiges Gestaltsmerkmal. Aber Professor Asa Gray stellt fest, daß bei einigen Arten von Mimilus die Übersommerung der Rhinantideen beinahe ebenso häufig wie die der Antirrhinideen ist, zu welcher letzteren Familie die Gattung gehört. August St. Hilaire giebt die folgenden Fälle an: Die Gattung Xanthoxylon gehört zu einer Abteilung der Rautengewächse mit einem einzigen Fruchtknoten; aber bei einigen Arten kann man auf derselben Pflanze und sogar auf derselben Rispe Blüten finden, die einen oder zwei Fruchtknoten haben. Bei der Sonnenblume beschreibt er die Kapsel als einfächerig und dreifächerig, und bei der veränderlichen Sonnenblume »erstreckt sich ein mehr oder weniger breiter Streifen zwischen dem Samengehäuse und dem Samenlappen.« Schließlich fand St. Hilaire nahe der südlichen Grenze des Verbreitungsgebiets von Gomphia oleoformis zwei Formen, die er zuerst zweifellos für zwei getrennte Arten hielt, die er aber nachher an demselben Busch wachsen sah, und er fügt hinzu: »Hier sind also in einem Wesen Zellen und ein Griffel vorhanden, die bald an einer senkrechten Achse, bald an einem Fruchtknotenwulst befestigt sind.«

Wir können demnach bei den Pflanzen viele Umwandlungen der Gestalt den Wachstumsgesetzen und der gegenseitigen Beeinflussung der Teile unabhängig von der Naturauslese zuschreiben. Aber können wir im Anschluß an Nägelis Lehre von einem eingeborenen Streben nach Vervollkommnung oder fortschreitender Entwicklung bei den stark ausgesprochenen Abänderungen wirklich sagen, die Pflanzen seien beim Fortschreiten zu einer höheren Entwicklungsstufe angetroffen worden? Ich würde aus der bloßen Thatsache, daß die erwähnten Teile sich an derselben Pflanze sehr unterscheiden oder abändern, im Gegenteil schließen, daß solche Ummodelungen für die Pflanzen selbst von äußerst geringer Bedeutung sind, was für eine Bedeutung sie auch für uns zum Zwecke der Einteilung haben mögen. In der Erwerbung eines nutzlosen Teiles kann man aber schwerlich das Zeichen des Aufwärtssteigens einer Lebensform auf der Stufenleiter der Natur sehen. Muß man bei den oben beschriebenen unvollkommenen geschlossenen Blüten ein neues Grundgesetz zu Hilfe rufen, so wäre es eher eins des Rückschritts als des Fortschritts. Und ebenso muß es bei den Schmarotzer- und entarteten Tieren stehen. Wir wissen nicht, welche Ursache die oben einzeln erörterten Ummodelungen hervorruft. Würde aber diese unbekannte Ursache in der Länge der Zeit fast gleichmäßig wirken, so dürften wir schließen, daß das Ergebnis fast das gleiche wäre. Und dann würden alle Vertreter der Art auf dieselbe Weise umgemodelt werden.

Da die oben erwähnten Merkmale für die Wohlfahrt der Art keine Bedeutung haben, so würden etwaige geringfügige Abänderungen an ihnen nicht von der Naturauslese angehäuft und vermehrt worden sein. Wenn eine Bildung, die sich durch lang andauernde Auslese entwickelt hat, aufhört für die Art nützlich zu sein, so wird sie gewöhnlich veränderlich, wie wir an den verkümmerten Organen sehen. Denn sie wird künftig nicht mehr durch die Macht der Auslese beherrscht. Aber wenn nach der Natur der Lebensformen und der Bedingungen Ummodelungen eingeführt worden sind, die für die Wohlfahrt der Art keine Bedeutung haben, so können sie in fast dem gleichen Zustande auf zahlreiche anders umgemodelte Nachkommen übertragen werden. Und offenbar ist dies häufig geschehen. Für die Mehrzahl der Säugetiere, Vögel und Kriechtiere muß es ziemlich gleichgiltig gewesen sein, ob sie mit Haaren, Federn oder Schuppen bedeckt waren. Und doch sind die Haare auf fast alle Säugetiere, die Federn auf alle Vögel und die Schuppen auf alle wirklichen Kriechtiere übertragen worden. Eine Bildung, welcher Art auch immer, die vielen verwandten Formen gemeinsam ist, sehen wir für systematisch äußerst wichtig an und vermuten infolge dessen häufig, sie sei für das Leben der Art sehr bedeutsam. So erschienen, wie ich zu glauben geneigt bin, Verschiedenheiten in der Gestalt, die wir als bedeutsam betrachten, z. B. die Anordnung der Blätter, die Teilungen der Blüte und des Fruchtknotens, die Stellung der Samenknospen u. s. w., in vielen Fällen zuerst als schwankende Abänderungen, die früher oder später durch die Natur der Lebensform und der umgebenden Bedingungen, wie durch die Kreuzung verschiedener Einzelwesen, aber nicht durch die Naturauslese fest wurden. Denn da diese Merkmale der Gestalt die Wohlfahrt der Art nicht beeinflussen, konnten irgendwelche geringfügige Abweichungen in ihnen nicht durch diese letztere Kraft beherrscht und angehäuft werden. So kommen wir zu dem sonderbaren Ergebnis, daß Merkmale, die für das Leben der Art nur geringfügige Bedeutung haben, für den Systembildner am bedeutsamsten sind. Wie wir aber nachher bei der Betrachtung des Grundsatzes der Einteilung nach der Geschlechtsfolge sehen werden, ist dies keineswegs so seltsam, wie es auf den ersten Blick scheint.

Obwohl wir keinen sicheren Beweis für das Vorhandensein eines angeborenen Strebens nach fortschreitender Entwicklung bei den organischen Wesen haben, so ergiebt sich doch dies Streben notwendig, wie ich im vierten Kapitel zu zeigen versucht habe, aus der fortdauernden Wirksamkeit der Naturauslese. Denn man kann die Höhe des Standes der Körperbildung überhaupt am besten nach dem Grade bestimmen, bis zu dem die Köperteile für besondere Zwecke eingerichtet und getrennt worden sind, und die Naturauslese strebt nach diesem Ziel, insofern als die Teile dadurch befähigt werden, ihre Thätigkeit wirksamer auszuüben.

Der hervorragende Zoologe St. Georg Mivart hat kürzlich alle Einwände, die von mir oder anderen je gegen die Naturauslese erhoben worden sind, als von Wallace und mir vorgebracht, gesammelt und mit bewundernswerter Kunst und großem Nachdruck beleuchtet. Unter solcher Führung bilden sie eine furchtbare Schlachtreihe, und da es nicht in Mivarts Plan liegt, auch die mannigfaltigen Thatsachen und Betrachtungen anzuführen, die seinen Schlüssen entgegenstehen, so bedarf der Leser, der etwa den Wunsch hat, die Zeugnisse auf beiden Seiten abzuwägen, einer nicht geringen Anstrengung des Verstandes und Gedächtnisses. Wenn Mivart einzelne Fälle erörtert, geht er über die Wirkungen des wachsenden Gebrauches und Nichtgebrauches der Körperteile hinweg, deren hohe Wichtigkeit ich immer betont habe, und die ich in meinem Buch »Abänderung unter dem Einfluß der Hauspflege« ausführlicher behandelt habe, als, glaube ich, irgendein anderer Schriftsteller. Auch nimmt er oft an, daß ich der von der Naturauslese unabhängigen Abänderung nichts zugeschrieben habe, während man in dem angeführten Buch eine größere Anzahl gut beglaubigter Fälle finden kann, als in irgendeinem anderen mir bekannten Werke. Mein Urteil mag nicht vertrauenswürdig sein; aber nachdem ich Mivarts Buch sorgfältig gelesen und jede Abteilung mit dem verglichen habe, was ich über denselben Punkt gesagt habe, bin ich stärker als jemals von der allgemeinen Richtigkeit der Schlüsse überzeugt, zu denen ich hier gelangt bin, und die natürlich bei einem so schwierigen Gegenstande im einzelnen häufig dem Irrtum unterworfen sind.

Mivarts sämtliche Einwendungen sind schon oder werden in dem vorliegenden Bande noch erwogen werden. Der eine neue Punkt, der viele Leser stutzig gemacht zu haben scheint, ist, »daß die Naturauslese unfähig sei, die Anfangstufen nützlicher Bildungen zu erklären«. Dieser Gegenstand steht in engem Zusammenhange mit dem der Abstufung der Merkmale, die oft von einer Umwandlung der Thätigkeit begleitet ist, – z. B. die Umwandlung einer Schwimmblase in Lungen, – Punkte, die im vorigen Kapitel unter zwei Überschriften erörtert wurden. Nichtsdestoweniger will ich hier mehrere der von Mivart vorgebrachten Fälle mit einiger Ausführlichkeit behandeln, wozu ich diejenigen wähle, die am bezeichnendsten sind, da der Mangel an Raum mich hindert, alle zu betrachten.

Die Giraffe ist durch ihren hohen Wuchs, ihren sehr verlängerten Hals, die langen Vorderbeine, den langen Kopf und die lange Zunge, kurz ihre ganze Gestalt sehr schön dazu angepaßt, die höheren Zweige der Bäume abzuweiden. Sie kann so Nahrung erlangen, die außer dem Bereich der anderen dasselbe Land bewohnenden Huftiere ist, und das muß in Zeiten der Dürre ein großer Vorteil für sie sein. Das Niata-Rindvieh in Südamerika zeigt uns, daß ein sehr kleiner Unterschied des Körperbaus in solchen Zeiträumen für die Erhaltung des Tieres eine große Bedeutung hat. Diese Rinder können ebenso gut wie andere das Gras abweiden, aber wegen des hervorspringenden Unterkiefers können sie während der oft wiederkehrenden Zeiten der Dürre nicht Baumzweige, Schilf u. s. w. abweiden, die Nahrung, zu der das gewöhnliche Rindvieh und die Pferde dann getrieben werden, so daß die Niatarinder in diesen Zeiten eingehen, wenn sie nicht von ihren Eigentümern gefüttert werden. Bevor ich zu Mivarts Einwendungen komme, ist es vielleicht gut, noch einmal auseinanderzusetzen, wie die Naturauslese in allen gewöhnlichen Fällen wirken wird. Der Mensch hat einige seiner Tiere umgemodelt, ohne notwendig auf besondere Punkte des Baus zu achten, indem er einfach die schnellsten Tiere erhielt und züchtete, wie das Rassepferd und das Windspiel, oder den Kampfhahn, indem er die siegreichen Vögel fortpflanzte. So werden im Naturzustande beim Entstehen der Giraffe die Geschöpfe, welche am höchsten weideten und während der Dürre auch nur einen oder zwei Zoll höher als die anderen reichen konnten, oft erhalten worden sein; denn sie werden auf der Suche nach Futter im ganzen Lande umhergestreift sein. Daß die Vertreter derselben Arten oft in der Länge aller Körperteile unbedeutend voneinander abweichen, kann man in vielen naturgeschichtlichen Werken finden, in denen sorgfältige Messungen gegeben werden. Diese geringen Verhältnisunterschiede, die aus den Wachstums- und Abänderungsgesetzen folgen, haben für die meisten Arten nicht den geringsten Nutzen oder die geringste Bedeutung. Aber es wird beim Entstehen der Giraffe in Anbetracht ihrer wahrscheinlichen Lebensgewohnheiten anders gewesen sein. Denn diejenigen Tiere, bei denen ein oder mehrere Körperteile etwas mehr als gewöhnlich verlängert waren, werden gewöhnlich am Leben geblieben sein. Diese werden sich gekreuzt und eine Nachkommenschaft hinterlassen haben, die entweder dieselben Körpereigentümlichkeiten erbte oder die Neigung hatte, sich ebenso abzuändern, während die Tiere, die in dieser Hinsicht weniger begünstigt waren, der Vernichtung am meisten ausgesetzt waren.

Wir sehen hier, daß es nicht nötig ist, einzelne Paare abzusondern, wie es der Mensch thut, wenn er eine Rasse planmäßig veredelt. Die Naturauslese wird alle überlegenen Geschöpfe erhalten und so absondern, indem sie sie frei kreuzen läßt, und wird alle geringeren Tiere vernichten. Durch dies lange fortgesetzte Verfahren, das genau mit dem übereinstimmt, was ich die unbewußte Auslese des Menschen genannt habe, und das zweifellos in höchst bedeutungsvoller Verbindung mit den ererbten Wirkungen des vermehrten Gebrauchs der Teile steht, könnte, wie mir fast sicher scheint, ein gewöhnliches Huftier in eine Giraffe verwandelt werden.

Gegen diesen Schluß bringt Mivart zwei Einwände vor. Der eine ist, daß die vermehrte Körpergröße augenscheinlich eine vermehrte Nahrungszufuhr verlangt, und er betrachtet es als »sehr fraglich, ob die daraus entstehenden Nachteile nicht in Zeiten des Mangels die Vorteile mehr als aufwiegen würden«. Aber da thatsächlich die Giraffe in großer Zahl in Südafrika lebt, und da einige der größten Antilopen der Welt, die größer als ein Ochse sind, dort im Überfluß vorhanden sind, warum sollten wir da zweifeln, daß, soweit die Größe in Betracht kommt, dort früher Zwischenstufen gelebt haben können, die wie jetzt schwere Hungersnot auszuhalten hatten. Sicherlich wird die Fähigkeit, auf jeder Stufe der Größenzunahme einen Nahrungsvorrat zu erlangen, den die anderen Huftiere des Landes unberührt gelassen, für die entstehende Giraffe von Vorteil gewesen sein. Auch dürfen wir die Thatsache nicht übersehen, daß vermehrter Körperumfang als Schutz gegen beinahe alle Raubtiere außer dem Löwen zu wirken pflegt, und gegen dieses Tier dient der Giraffe ihr langer Hals – und je länger um so besser –, wie Chauncey Wright bemerkt hat, als ein Wartturm. Aus diesem Grunde ist, wie Sir S. Baker bemerkt, kein Tier schwerer zu beschleichen, als die Giraffe. Sie benutzt auch ihren Hals als Angriffs- und Verteidigungswaffe, indem sie ihren mit stumpenförmigen Hörnern bewaffneten Kopf heftig schwingt. Die Erhaltung einer Art kann selten durch einen Vorteil allein, vielmehr nur durch die Vereinigung aller, der großen wie der kleinen, bestimmt werden.

Mivart fragt weiter (und das ist sein zweiter Einwand), warum, wenn die Naturauslese so mächtig und das Hochweiden ein so großer Vorteil ist, außer der Giraffe und in geringerem Grade dem Kamel, dem Guanako und dem langhalsigen Lama, kein anderes Huftier einen langen Hals und hohen Wuchs bekommen hat. Oder, warum kein Glied der Gruppe einen langen Rüssel erhalten hat. Für Südafrika, das früher von zahlreichen Giraffenherden bewohnt war, ist die Antwort nicht schwer und kann am besten durch ein Beispiel gegeben werden. Auf jeder englischen Wiese, auf der Bäume wachsen, sieht man die niederen Zweige bis zu einer bestimmten gleichen Höhe durch das Weiden der Pferde und des Rindviehes abgestutzt oder geglättet; und was für ein Vorteil würde es z. B. für die Schafe sein, falls sie hier gehalten würden, einen ein bißchen längeren Hals zu bekommen? In jedem Bezirk wird beinahe sicher eine Tierart imstande sein, höher als die anderen die Zweige abzuweiden, und fast ebenso sicher wird diese den verlängerten Hals zu diesem Zwecke durch die Naturauslese und die Wirkungen des zunehmenden Gebrauchs bekommen haben. In Südafrika müssen die Giraffen beim Abweiden der höheren Zweige der Akazien und anderer Bäume untereinander, nicht mit anderen Huftieren in Wettbewerb gestanden haben.

Warum in anderen Weltteilen verschiedene Tiere, die zu dieser selben Ordnung gehören, nicht einen längeren Hals oder einen Rüssel bekommen haben, kann nicht bestimmt beantwortet werden. Aber auf eine solche Frage eine bestimmte Antwort zu erwarten, ist ebenso unvernünftig, wie wissen zu wollen, warum irgendein Ereignis in der Menschheitsgeschichte sich in einem Lande nicht zugetragen hat, während es doch in einem anderen vorgekommen ist. Wir kennen die Bedingungen nicht, die für die Menge und die Verbreitung einer Art maßgebend sind, wir können sogar nicht einmal vermuten, welche Wandlungen im Körperbau ihre Vermehrung in einem neuen Lande begünstigen würden. Wir können indessen im allgemeinen erkennen, daß mannigfache Ursachen zur Entwicklung eines langen Halses und eines Rüssels beigetragen haben mögen. Um, ohne zu klettern, wozu der Körperbau der Huftiere sich äußerst wenig eignet, das Laubwerk in beträchtlicher Höhe zu erreichen, ist ein sehr vergrößerter Körperumfang nötig. Bekanntlich ernähren aber manche Länderflächen äußerst wenige große Vierfüßler, so z. B. trotz seiner Üppigkeit Südamerika, während sie in Südafrika in unverhältnismäßig großer Anzahl vorhanden sind. Warum dies der Fall ist, wissen wir nicht; auch nicht, wieso die spätere Tertiärzeit ihr Auftreten mehr begünstigt hat als die Gegenwart. Was für Ursachen es aber auch gewesen sein mögen, wir sehen jedenfalls, daß gewisse Bezirke und Zeiten für die Entwicklung eines so großen Vierfüßlers wie der Giraffe weit günstigere Bedingungen geboten hätten.

Wenn bei einem Tiere irgend ein Körperteil in besonderer Art und in hohem Grade sich entwickeln soll, so ist es fast unerläßlich, daß mehrere andere Körperteile sich ummodeln und mitanpassen. Wenn auch jeder Körperteil sich ein wenig abändert, so folgt daraus noch nicht, daß die nötigen Teile sich immer in der angemessenen Richtung und dem richtigen Grade abändern. Bei den verschiedenen Arten unserer Zuchttiere wissen wir, daß die Teile sich in verschiedener Weise und verschiedenem Grade abändern, und daß einige Arten weit veränderlicher als andere sind. Sogar wenn die tauglichen Abänderungen entstehen, so folgt daraus noch nicht, daß die Naturauslese auf sie wirken und eine Bildung hervorbringen kann, die von augenscheinlichem Nutzen für die Art wäre. Wenn z. B. die Zahl der Vertreter der Art, die in einem Lande vorhanden sind, hauptsächlich von der Vertilgung der Raubtiere durch äußere und innere Schmarotzer abhängt, was oft der Fall zu sein scheint, dann würde die Naturauslese dadurch, daß sie einen besonderen Körperteil zur Erlangung der Nahrung ummodelt, wenig bewirken können oder sehr gehindert werden. Schließlich ist die Naturauslese ein langsamer Vorgang, und die gleichen günstigen Bedingungen müssen lange andauern, wenn auf diesem Wege irgendeine merkliche Wirkung hervorgebracht werden soll. Nur durch so allgemeine und unbestimmte Ursachen können wir erklären, warum in vielen Teilen der Welt die Huftiere nicht einen sehr verlängerten Hals oder andere Hilfsmittel zum Abweiden höherer Baumzweige bekommen haben.

Einwände derselben Art, wie die vorigen, sind von einer ganzen Reihe von Schriftstellern vorgebracht worden. In jedem Fall haben neben den eben angeführten Hauptursachen wahrscheinlich noch mannigfache andere vermittelst der Naturauslese Bildungen hervorbringen helfen, die man als nützlich für gewisse Arten betrachtet. Ein Schriftsteller fragt, warum der Strauß keine Flugkraft erhalten hat. Aber ein Augenblick Überlegung genügt, um zu zeigen, welch ungeheurer Nahrungsaufwand nötig gewesen wäre, um diesem Wüstenvogel die Kraft zu verleihen, seinen riesigen Körper durch die Luft zu tragen. Inseln im Weltmeere werden von Fledermäusen und Seehunden, aber nicht von Landsäugetieren bewohnt. Aber da einige dieser Fledermäuse eigentümliche Arten sind, müssen sie ihre gegenwärtige Heimat seit lange bewohnen. Deshalb fragt Sir C. Lyell und giebt gewisse Ursachen als Antwort an, warum Seehunde und Fledermäuse auf solchen Inseln nicht Formen erzeugt haben, die sich zum Leben auf dem Lande eigneten. Aber Seehunde würden sich notwendig zuerst in fleischfressende Landtiere von beträchtlicher Größe und Fledermäuse in kerfenfressende Landtiere verwandelt haben. Für die ersteren wäre aber keine Beute vorhanden; für die Fledermäuse könnten die Erdkerfen als Nahrung dienen. Diesen würde aber schon reichlich durch die Kriechtiere und die Vögel nachgestellt werden, die sich zuerst auf den meisten Inseln im Weltmeer ansiedeln und dort zahlreich vorhanden sind. Abstufungen im Körperbau, bei denen ein jeder Schritt für die sich umwandelnde Art nützlich wäre, werden nur unter gewissen eigenartigen Bedingungen begünstigt werden. Ein vollkommenes Landtier, das gelegentlich, um Nahrung aufzusuchen, in seichtes Wasser, dann in Flüsse und Seeen geht, könnte sich schließlich in ein so vollkommenes Wassertier verwandeln, daß es sich in das offene Weltmeer wagt. Aber Seehunde würden auf Inseln im Weltmeer nicht die Bedingungen finden, die die stufenweis erfolgende Rückkehr zur Landtierform begünstigen würden. Die Fledermäuse haben, wie früher gezeigt worden ist, ihre Flügel wahrscheinlich bekommen, indem sie zuerst wie die sogenannten Flughörnchen, um ihren Feinden zu entgehen oder das Fallen zu vermeiden, von Baum zu Baum durch die Luft glitten. Nachdem sie aber die wirkliche Flugkraft einmal erhalten hatten, werden sie niemals, wenigstens nicht zu den angeführten Zwecken, die weniger wirksame Fähigkeit, durch die Luft zu gleiten, wieder annehmen. Bei den Fledermäusen hätte in der That, wie bei vielen Vögeln, die Größe der Flügel infolge von Nichtgebrauch sich sehr verringern oder diese ganz verloren gehen können. Dann hätten die Tiere aber notwendig zuerst die Fähigkeit erlangen müssen, mittels ihrer Hinterbeine allein rasch an der Erde zu laufen, so daß sie den Wettbewerb mit den Vögeln oder anderen an der Erde lebenden Tieren aufnehmen konnten. Und für solch eine Umwandlung scheint die Fledermaus ausnehmend wenig tauglich. Diese Vermutungen habe ich nur vorgebracht, um zu zeigen, daß ein Übergang im Körperbau, bei dem jeder Schritt nützlich ist, etwas höchst Schwieriges, und daß es gar nicht sonderbar ist, daß wir einen solchen noch in keinem besonderen Fall angetroffen haben.

Schließlich hat mehr als ein Schriftsteller gefragt, wieso es käme, daß einige Tiere höher entwickelte Geisteskräfte haben als andere, während doch eine solche Entwicklung für alle von Nutzen sein würde. Warum haben die Affen nicht das menschliche Verstandesvermögen erworben? Mannigfache Gründe könnten angeführt werden, aber da sie auf Vermutungen beruhen und man das Verhältnis ihrer Wahrscheinlichkeit nicht abwägen kann, wäre es nutzlos, sie anzugeben. Eine endgiltige Antwort auf die letztere Frage dürfen wir nicht erwarten, da wir sehen, daß niemand die einfachere beantworten kann, woher von zwei Rassen von Wilden die eine größere Fortschritte in der Bildung gemacht hat als die andere. Und das ist doch sicher ein Ergebnis der Vermehrung der Gehirnkraft.

Wir kehren zu Mivarts weiteren Einwänden zurück. Kerbtiere gleichen oft, ihrer Sicherheit halber, mannigfachen Gegenständen, z. B. grünen oder verwelkten Blättern, abgestorbenen Zweigen, Stückchen Flechte, Blüten, Dornen, Vogelmist und lebenden Kerbtieren. Aber auf diesen letzteren Punkt will ich später zurückkommen. Die Ähnlichkeit ist oft erstaunlich groß und beschränkt sich nicht auf die Farbe, sondern betrifft auch die Form und sogar die Art, in der sich die Kerbtiere selbst zeigen. Die Raupen, welche von den Sträuchern, auf denen sie leben, bewegungslos wie abgestorbene Zweige herabhängen, bieten ein vorzügliches Beispiel einer derartigen Ähnlichkeit. Die Fälle von Nachahmung solcher Dinge wie des Vogelmists sind selten und bilden eine Ausnahme. Über diesen Punkt bemerkt Mivart: »Da nach Darwins Lehre eine beständige Neigung zu unbegrenzter Abänderung besteht, und da die kleinen beginnenden Abänderungen nach allen Richtungen gehen werden, so müssen sie darnach streben, einander aufzuheben und zuerst so unbeständige Ummodelungen bilden, daß es schwer, wenn nicht unmöglich ist, zu begreifen, wie so unbegrenzte Schwankungen unendlicher Anfänge je einen Gegenstand aufbauen können, dessen Ähnlichkeit mit einem Blatt, Bambusrohr oder einem anderen Dinge so merklich ist, daß die Naturauslese sie fassen und verewigen kann«.

Aber in allen vorhergehenden Fällen boten die Kerbtiere in ihrem ursprünglichen Zustande zweifellos eine rohe und zufällige Ähnlichkeit mit einem Gegenstande, der sich gewöhnlich an den von ihnen aufgesuchten Stellen findet. Auch ist dies durchaus nicht unwahrscheinlich, wenn man die beinahe unendliche Zahl der umgebenden Gegenstände und die Verschiedenartigkeit in Form und Farbe bei den Scharen von Kerbtieren betrachtet, die vorhanden sind. Da irgend eine rohe Ähnlichkeit für den ersten Beginn notwendig ist, können wir verstehen, wie es kommt, daß die größeren und höheren Tiere, soweit ich weiß mit Ausnahme eines Fisches, um ihrer Sicherheit willen nicht besonderen Gegenständen, sondern nur der Umgebung, in der sie gewöhnlich leben, und zwar hauptsächlich in der Farbe gleichen. Wenn man annimmt, daß ein Kerbtier ursprünglich einem abgestorbenen Zweig oder einem verwelkten Blatt zufällig einigermaßen glich, und daß es sich mannigfach unbedeutend abänderte, so werden alle Abänderungen, die das Kerbtier irgendwie einem solchen Gegenstande ähnlicher machten und so sein Entkommen begünstigten, erhalten worden sein, während andere Abänderungen vernachlässigt wurden und schließlich verloren gingen; oder wenn sie das Kerbtier dem nachgeahmten Gegenstand irgendwie unähnlicher machten, würden sie beseitigt worden sein. Mivarts Einwand würde in der That von Gewicht sein, wenn wir versuchen würden, die oben erwähnten Ähnlichkeiten unabhängig von der Naturauslese bloß durch die schwankende Veränderlichkeit zu erklären. Aber wie der Fall liegt, ist er es nicht.

Auch kann ich der Schwierigkeit, welche Mivart bei »den letzten vollendenden Züge in der Mimikry« anführt, kein Gewicht beilegen, wie in dem von Wallace gegebenen Fall eines Spazierstock-Kerbtiers (Ceroxylus laceratus), welches »einem von kriechendem Moos oder Jungermannia« überwachsenen Stock gleicht. So groß war diese Ähnlichkeit, daß ein eingeborener Dyak behauptete, die laubartigen Vorsprünge wären wirkliches Moos. Auf Kerbtiere machen Vögel und andere Feinde Jagd, deren Gesicht wahrscheinlich schärfer ist als das unsere, und jede Ähnlichkeit, die einem Kerbtiere hilft, dem Bemerktwerden oder der Entdeckung zu entgehen, würde zu seiner Erhaltung beitragen. Und je vollkommener die Ähnlichkeit wäre, um so besser wäre es für das Tier. In Anbetracht der Natur der Unterschiede zwischen den Arten der Gruppe, zu der der obengenannte Ceroxylus gehört, ist es nicht unwahrscheinlich, daß das Kerbtier sich in den Unregelmäßigkeiten seiner Oberfläche und darin, daß diese mehr oder weniger grün gefärbt worden sind, abgeändert hat. Denn in jeder Gruppe sind die Merkmale, die die verschiedenen Arten unterscheiden, am leichtesten veränderlich, während die allen Arten gemeinsamen Gattungsmerkmale am beständigsten sind.

* * *

Der grönländische Wal ist eines der merkwürdigsten Tiere auf der Welt, und seine Barten oder das Fischbein eine der größten Eigentümlichkeiten. Die Barten bestehen auf jeder Seite des Oberkiefers aus einer Reihe von ungefähr 300 Platten oder Laminae, die dicht bei einander und quer zu der Längsachse des Mundes stehen. Innerhalb der Hauptreihe befinden sich einige Nebenreihen. Die oberen Seiten und die inneren Ränder aller Platten werden zu steifen Borsten zerrieben, die den ganzen riesenhaften Gaumen auskleiden und dazu dienen, das Wasser durchzuseihen oder abzusondern und so die kleine Beute zu sichern, von denen diese großen Tiere leben. Die mittlere und längste Platte beim grönländischen Walfisch ist zehn, zwölf oder sogar fünfzehn Fuß lang; aber bei den verschiedenen Walarten giebt es Längenabstufungen. Die mittlere Platte ist bei einer Art nach Scoresby vier Fuß, bei einer anderen drei Fuß, bei noch einer anderen achtzehn Zoll und bei dem Zwergwal (Balaenoptera rostrata) nur ungefähr neun Zoll. Auch die Beschaffenheit des Fischbeins ist bei verschiedenen Arten verschieden.

Bezüglich der Barten bemerkt Mivart, daß, wenn sie »einmal eine solche Größe und Entwicklung erreicht hatten, die durchaus nützlich war, ihre Erhaltung und Vergrößerung in den dienlichen Grenzen durch die Naturauslese allein befördert werden würde. Aber wie war der Anfang einer solchen nützlichen Entwicklung zu erreichen?« In der Antwort könnte man fragen, warum die früheren Vorgänger der mit Barten versehenen Wale nicht einen Mund besessen haben sollen, der dem mit Blättchen belegten Schnabel der Ente glich. Enten ernähren sich, wie Walfische, indem sie Schlamm und Wasser voneinander sondern, und die Familie ist zuweilen Criblatores oder Siebschnäbler genannt worden. Ich hoffe, daß man mich nicht dahin mißverstehen wird, daß ich sagen wollte, die Vorfahren der Wale besaßen wirklich einen dem Schnabel der Ente ähnlichen, mit Blättchen belegten Mund. Ich will nur zeigen, daß das nichts Unglaubliches ist, und daß die ungeheuren Fischbeinplatten beim grönländischen Walfisch durch seine Abstufungen, von denen jede dem Tiere von Nutzen war, sich aus solchen Blättchen entwickelt haben könnten. Der Bau des Schnabels der Löffelente (Spatula clypeata) ist schöner und zusammengesetzter als der des Mundes des Walfisches. Der obere Kinnbacken ist (bei dem von mir untersuchten Vogel) auf jeder Seite mit einer Reihe oder einem Kamm von 188 dünnen, biegsamen Blättchen ausgekleidet, die schräg geschnitten und also spitzig sind und quer zur Längsachse des Mundes stehen. Sie beginnen beim Gaumen und sind durch eine dehnbare Haut an den Seiten der Kinnbacken befestigt. Die gegen die Mitte zu stehenden sind die längsten, nämlich ungefähr ein Drittelzoll lang, und sie verkleinern sich bis zu einem Vierzehntelzoll unten an der Ecke. An ihrem Grunde findet sich eine Nebenreihe von verkehrt querlaufenden Blättchen. In diesen Punkten sind sie den Fischbeinplatten im Munde des Walfisches ähnlich. Aber gegen das Ende des Schnabels unterscheiden sie sich von ihnen sehr, indem sie nach innen zulaufen, statt gerade nach unten. Die Länge des ganzen Kopfes der Löffelente beträgt, obwohl er verhältnismäßig viel weniger massig ist, ein Achtzehntel von dem eines mäßig großen Zwergwals, bei dem die Barten nur neun Zoll lang sind. Machten wir den Kopf einer Löffelente ebenso lang wie einen Zwergwalkopf, so würde die Länge der Blättchen sechs Zoll, d. h. zwei Drittel der Bartenlänge bei dieser Walart betragen. Der untere Kinnbacken der Löffelente ist mit ungefähr ebenso langen, aber feineren Blättchen ausgelegt und unterscheidet sich so deutlich von dem Unterkiefer des Wals, der keine Barten hat. Andererseits sind die äußersten Teile dieser unteren Blättchen in feine Borstenspitzen zerrieben, so das; sie den Fischbeinplatten merkwürdig ähnlich sind. In der Gattung des Entensturmvogels die zu der getrennten Familie der Sturmvögel gehört, ist nur der obere Kinnbacken mit Blättchen ausgelegt, die gut entwickelt sind und bis unten an den Rand laufen, so daß der Schnabel dieses Vogels in dieser Hinsicht dem Munde des Wals gleicht.

Von dem hochentwickelten Schnabel der Löffelente können wir, wie ich aus einer Mitteilung und aus Exemplaren ersehen habe, die mir Herr Salvin gesandt hat, wenn wir nur die Tauglichkeit des Schnabels zum Durchsieben berücksichtigen, ohne große Lücke zu dem Schnabel der Merganetta armata und in gewisser Hinsicht zu dem der Brautente übergehen, bis wir zu dem Schnabel der gemeinen Ente kommen. Bei dieser sind die Blättchen viel gröber als bei der Löffelente und sitzen fest auf den Seiten des Kinnbackens. Ihre Zahl beträgt nur fünfzig auf der Seite, und sie reichen durchaus nicht über dem Rand weg. Sie sind rautenförmig und von einem härtlichen, durchscheinenden Gewebe umgeben, das wahrscheinlich zum Zerquetschen der Nahrung dient. Die Ränder des unteren Kinnbackens durchziehen zahlreiche feine Erhöhungen, die nur wenig hervorragen. Obwohl also der Schnabel für die Aufgabe des Durchsiebens lange nicht so ausgebildet ist, wie bei der Löffelente, so gebraucht ihn doch, wie jeder weiß, die gemeine Ente beständig zu diesem Zweck. Wie ich von Salvin höre, giebt es noch andere Arten, bei denen die Blättchen bedeutend weniger entwickelt sind als bei der gemeinen Ente, aber ich weiß nicht, ob sie ihren Schnabel zum Wasserdurchsieben benutzen.

Wir kommen jetzt zu einer anderen Gruppe derselben Familie. Bei der ägyptischen Fuchsgans ist der Schnabel dem der gemeinen Ente sehr ähnlich; aber die Blättchen sind weder so zahlreich, noch so getrennt voneinander, noch reichen sie so weit nach innen. Wie mir aber E. Bartlett mitgeteilt hat, »gebraucht diese Gans ihren Schnabel wie eine Ente, indem sie das Wasser aus den Ecken ausstößt.« Ihr Hauptfutter ist indessen Gras, das sie wie die gemeine Gans abrupft. Die Blättchen des oberen Kinnbackens sind bei diesem letzteren Vogel viel gröber als bei der gemeinen Ente, gehen fast ineinander über, sind in einer Anzahl von siebenundzwanzig auf jeder Seite vorhanden und endigen oben in zahnförmigen Kuppen. Auch der Gaumen ist mit harten, runden Kuppen bedeckt. Die Ränder des unteren Kinnbackens sind mit weit mehr hervorstehenden, gröberen und schärferen Zähnen ausgestattet als bei der Ente. Die gemeine Gans siebt das Wasser nicht durch, sondern gebraucht ihren Schnabel nur, um das Gras abzureißen und auszurupfen, wozu er so gut taugt, daß sie das Gras beinahe besser als irgendein anderes Tier abweiden kann. Wie ich von Bartlett höre, giebt es auch andere Gänsearten, bei denen die Blättchen weniger entwickelt sind als bei der gemeinen Gans.

So sehen wir, daß ein Mitglied der Entenfamilie, das einen Schnabel wie die gemeine Gans besitzt, der nur zum Grasrupfen geeignet ist, oder sogar eins, dessen Schnabel noch weniger gut entwickelte Blättchen hat, durch kleine Umwandlungen in eine Art wie die ägyptische Fuchsgans, diese in eine wie die gemeine Ente und schließlich in eine wie die Löffelente verwandelt werden könnte, die mit einem beinahe ausschließlich zum Durchsieben des Wassers geeigneten Schnabel versehen ist. Denn dieser Vogel könnte kaum irgendeinen Teil seines Schnabels außer der hakigen Spitze gebrauchen, um feste Nahrung zu ergreifen oder zu zerreißen. Der Schnabel einer Gans könnte auch, wie ich hinzufügen will, durch kleine Umwandlungen in einen mit hervorstehenden, zurückgebogenen Zähnen versehenen wie den des Gänsesägers (eines Mitgliedes derselben Familie) verwandelt werden, der zu dem ganz anderen Zwecke dient, lebende Fische zu fangen.

Kehren wir zu den Walen zurück. Der Hyperoodon bidens entbehrt wirklicher wirksamer Zähne, aber sein Gaumen ist nach Lacepède durch kleine, ungleichmäßige, harte, hornige Erhöhungen rauh gemacht. Es liegt daher nichts Unwahrscheinliches in der Annahme, daß irgendeine frühe Walform mit ähnlichen Hornerhöhungen auf dem Gaumen versehen war, die aber etwas regelmäßiger standen und wie die Kuppen im Schnabel der Gans dem Tier beim Ergreifen und Zerreißen der Nahrung behilflich waren. Wenn dem so ist, wird man kaum leugnen können, daß die Erhöhungen durch Abänderung und Naturauslese in ebenso gut entwickelte Blättchen wie die der ägyptischen Gans hätten verwandelt werden können. Dann würden sie gebraucht worden sein, um Gegenstände zu ergreifen wie um das Wasser durchzusieben. Darauf hätten sie in Blättchen wie die der Hausente verwandelt werden können, und so fort, bis sie so gut gebaut waren, wie die der Löffelente, in welchem Falle sie ausschließlich als eine Art Sieb gedient hätten. Von dieser Stufe, auf der die Blättchen zwei Drittel der Länge der Fischbeinplatten beim Zwergwal haben würden, führen uns Abstufungen, die man in noch vorkommenden Walen beobachten kann, weiter bis zu den ungeheuren Fischbeinplatten beim grönländischen Wal. Auch ist nicht der mindeste Grund, zu bezweifeln, daß, indem die Thätigkeiten der Teile sich während des Fortschritts der Entwicklung ebenfalls langsam umwandelten, jeder Schritt auf dieser Stufenleiter für gewisse frühere Wale hätte ebenso von Nutzen sein können, wie es die Abstufungen in den Schnäbeln der verschiedenen Mitglieder der Entenfamilie sind. Wir sollten uns erinnern, daß jede Entenart einem schweren Kampf ums Dasein ausgesetzt ist, und daß der Bau jedes Teils ihrer Gestalt ihren Lebensbedingungen gut angepaßt sein muß.

Die Pleuronektiden oder Flachfische sind wegen ihres unsymmetrischen Körpers merkwürdig. Sie liegen auf einer Seite, und zwar die größte Anzahl der Arten auf der linken, einige indessen auf der rechten, und hin und wieder kommen umgekehrte ausgewachsene Tiere vor. Die untere Seite, auf der sie liegen, gleicht auf den ersten Blick der Bauchseite eines gewöhnlichen Fisches. Sie ist von weißer Farbe und nach vielen Richtungen weniger entwickelt als die Oberseite und hat oft kleinere Seitenflossen. Aber die Augen bieten die bemerkenswerteste Eigentümlichkeit. Denn sie stehen beide in der Oberseite des Kopfes. In der ersten Jugend stehen sie jedoch einander gegenüber. Der ganze Körper ist dann symmetrisch, und beide Seiten sind gleich gefärbt. Bald aber beginnt das Auge der unteren Seite langsam um den Kopf nach der oberen Seite zu gleiten; doch es geht nicht gerade durch den Schädel, wie man früher annahm. Es liegt auf der Hand, daß, wenn das untere Auge nicht so herum wanderte, es von dem Fische in seiner gewöhnlichen Lage auf einer Seite nicht gebraucht werden könnte und außerdem in Gefahr käme, auf dem sandigen Boden abgerieben zu werden. Daß die Flachfische durch ihren flachen und unsymmetrischen Bau ihren Lebensgewohnheiten bewundernswert angepaßt sind, offenbart sich darin, daß mehrere Arten, wie Zungen, Flundern u. s. w. außerordentlich gewöhnlich sind. Die so gewonnenen Hauptvorteile scheinen in dem Schutz vor ihren Feinden und in die Leichtigkeit, ihre Nahrung auf dem Grunde zu suchen, zu bestehen. Die verschiedenen Mitglieder der Familie bieten jedoch, wie Schiödte bemerkt, »eine lange Reihe von Formen, die einen stufenweis erfolgenden Übergang darstellt vom Hippoglossus pinguis, der die Gestalt, in der er das Ei verläßt, nicht beträchtlich ändert, bis zu den Zungen, die gänzlich auf der einen Seite liegen«.

Mivart hat diesen Fall aufgegriffen und bemerkt, daß eine plötzliche, von selbst geschehende Umformung in der Stellung der Augen kaum begreiflich ist, worin ich ganz mit ihm übereinstimme. Er fügt dann hinzu: »Wenn der Übergang allmählich war, dann ist es in der That ganz und gar nicht klar, wie es für ein Geschöpf von Nutzen sein konnte, daß ein Auge einen geringen Bruchteil der Reise von einer Seite des Kopfes zur anderen zurücklegte. Es scheint sogar, daß eine solche beginnende Umwandlung eher schädlich hätte sein müssen.« Aber er hätte eine Antwort auf seinen Einwand in den ausgezeichneten Beobachtungen finden können, die Malm im Jahre 1867 veröffentlicht hat. Die Flachfische können, solange sie sehr jung und noch symmetrisch sind und ihre Augen auf den entgegengesetzten Seiten des Kopfes stehen, infolge der außerordentlichen Höhe ihres Körpers, der geringen Größe ihrer Seitenflossen und des Fehlens der Schwimmblase nicht lange eine senkrechte Lage behalten. Daher werden sie bald müde und fallen auf die eine Seite auf den Grund. Während sie so ausruhen, drehen sie, wie Malm bemerkt hat, oft das untere Auge aufwärts, um über sich zu blicken. Und das thun sie so kräftig, daß das Auge hart gegen den oberen Teil der Augenhöhle gedrückt wird. Die Stirn zwischen den Augen wird daher, wie man deutlich sehen kann, zeitweise in der Breite zusammengezogen. Bei einer Gelegenheit sah Malm einen jungen Fisch das untere Auge in einen Winkel von ungefähr siebzig Grad erheben und niederschlagen.

Wir müssen bedenken, daß der Schädel in diesem frühen Alter knorpelig und biegsam ist, sodaß er der Muskelthätigkeit leicht nachgiebt. Bei den höhern Tieren gibt sogar noch nach der ersten Jugend der Schädel nach und verändert seine Gestalt, wenn infolge einer Krankheit oder eines Unfalls Haut und Muskeln beständig zusammengezogen werden. Wenn bei langohrigen Kaninchen das eine Ohr vorwärts herabhängt, so zieht sein Gewicht alle Schädelknochen auf derselben Seite nach vorn, wie ich durch eine Zeichnung verdeutlicht habe. Malm behauptet daß die eben ausgekrochenen Jungen des Barsches, Lachses und anderer symmetrischer Fische die Gewohnheit haben, gelegentlich auf der einen Seite am Grunde zu bleiben, und er hat beobachtet, daß sie dann oft ihr unteres Auge so anspannen, daß sie nach oben sehen, und ihr Schädel wird so ziemlich gebogen. Diese Fische sind jedoch bald imstande, sich in senkrechter Lage zu halten, und so wird keine bleibende Wirkung hervorgebracht. Die Flachfische andererseits bleiben infolge der wachsenden Flachheit ihres Körpers umsomehr auf einer Seite, je älter sie werden, und so wird eine bleibende Wirkung auf die Form ihres Körpers und die Stellung ihrer Augen hervorgebracht. Wenn man nach ähnlichen Fällen urteilt, würde die Neigung zur Verzerrung zweifellos durch das Grundgesetz der Vererbung vermehrt werden. Schiödte glaubt im Gegensatz zu einigen anderen Naturforschern, daß die Flachfische sogar im Keimzustand nicht ganz symmetrisch sind, und wenn dies der Fall wäre, könnten wir verstehen, wie es kommt, daß gewisse Arten in der Jugend gewöhnlich umfallen und auf der linken Seite, und andere Arten auf der rechten Seite bleiben. Malm fügt als Bestätigung der oben erwähnten Ansicht hinzu, daß der ausgewachsene Trachypterus arcticus, der nicht zu den Flachfischen gehört, auf dem Grunde auf der linken Seite liegt und quer durch das Wasser schwimmt. Bei diesem Fisch sollen die beiden Seiten des Kopfes etwas ungleich sein. Unser größter Fischkenner Dr. Günther schließt seinen Auszug aus Malms Abhandlung mit der Bemerkung, daß »der Verfasser eine sehr einfache Erklärung des regelwidrigen Zustandes der Flachfische gebe«.

So sehen wir, daß die ersten Stufen des Überganges des Auges von einer Seite des Kopfes zur anderen, welche, wie Mivart meint, schädlich sein würden, der ohne Zweifel für das einzelne Tier wie für die Gattung nützlichen Gewohnheit angeschrieben werden können, sich zu bemühen, mit beiden Augen aufwärts zu blicken, während das Tier auf dem Grunde auf einer Seite liegt. Wir können den ererbten Wirkungen des Gebrauchs auch die Thatsache zuschreiben, daß der Mund bei mehreren Arten der Flachfische nach der unteren Seite gebogen ist, daß die Kieferknochen auf dieser, der augenlosen Seite des Kopfes stärker und kräftiger sind, damit, wie Dr. Traquair vermutet, die Tiere bequem auf dem Grunde ihre Nahrung suchen können. Der Nichtgebrauch wird andererseits die geringere Entwicklung der ganzen unteren Hälfte des Körpers mit Einschluß der Seitenflossen erklären, obgleich Yarrell meint, daß die verringerte Größe dieser Flossen für die Fische vorteilhaft ist, da »für ihre Wirksamkeit so viel weniger Raum ist als bei den größeren Flossen oben«. Vielleicht kann die geringere Anzahl der Zähne in den oberen Hälften der beiden Kiefer der Scholle, in denen sich vier bis sieben befinden gegen fünfundzwanzig bis dreißig in den unteren Hälften, ebenfalls durch den Nichtgebrauch erklärt werden. Aus dem farblosen Zustande der Bauchseite der meisten Fische und vieler anderer Tiere können wir mit Grund schließen, daß das Fehlen der Farbe auf der unteren Seite der Flachfische, mag es nun die rechte oder die linke sein, aus dem Ausschluß des Lichtes folgt. Aber man kann nicht annehmen, daß das eigentümlich gefleckte Aussehen der Oberseite der Seezunge, das dem sandigen Bett der See so ähnlich ist, oder das Vermögen einiger Arten, ihre Farbe in Übereinstimmung mit der umgebenden Fläche zu ändern, das kürzlich von Pouchet erwiesen worden ist, oder das Vorkommen knochiger Knötchen auf der Oberseite des Steinbutts durch die Wirkung des Lichts veranlaßt wird. Hier hat die Naturauslese wahrscheinlich mitgewirkt, indem sie sowohl die allgemeine Körpergestalt dieser Fische, wie viele andere Eigentümlichkeiten ihren Lebensgewohnheiten anpaßte. Wie ich vorher betont habe, müssen wir daran denken, daß die ererbten Wirkungen des vermehrten Gebrauchs der Körperteile und vielleicht ihres Nichtgebrauchs durch die Naturauslese eine Verstärkung erfahren werden. Denn alle in der passenden Richtung von selbst geschehenden Abänderungen werden so bewahrt werden, ebenso wie die Geschöpfe, welche die Wirkungen des vermehrten oder nützlichen Gebrauchs irgendeines Körperteils im höchsten Grade erben. Zu entscheiden, wieviel man in jedem einzelnen Fall den Wirkungen des Gebrauches und wieviel man der Naturauslese zuschreiben muß, ist unmöglich.

Noch ein Beispiel von einer Bildung könnte ich geben, die offenbar ihren Ursprung ausschließlich dem Gebrauch oder der Gewohnheit verdankt. Das Ende des Schwanzes ist bei einigen amerikanischen Affen in ein wunderbar vollkommenes Greifwerkzeug verwandelt worden und dient als fünfte Hand. Ein Beurteiler meines Buches, der in jeder Einzelheit mit Mivart übereinstimmt, bemerkt über diese Bildung: »Es ist unmöglich zu glauben, daß während einer noch so langen Reihe von Jahrhunderten die erste geringe Anfangsneigung, zu greifen, das Leben der Geschöpfe, die sie besaßen, erhalten oder ihre Aussicht, Nachkommenschaft zu bekommen und aufzuziehen, begünstigen konnte.« Aber es liegt gar keine Notwendigkeit zu solcher Annahme vor. Die Gewohnheit – und diese schließt beinahe ein, daß irgend ein kleiner oder großer Nutzen so erzielt wird – würde aller Wahrscheinlichkeit nach für die Aufgabe genügen. Brehm sah, wie die Jungen eines amerikanischen Affen, der Meerkatze, sich mit ihren Händen an die Unterseite ihrer Mutter klammerten und gleichzeitig ihre kleinen Schwänze um den ihrer Mutter hakten. Prof. Hanslow hielt einige Feldmäuse (Mus messorius), die keinen ausgebildeten Greifschwanz besitzen, in Gefangenschaft. Aber er beobachtete häufig, daß sie ihre Schwänze um die Zweige eines in den Käfig gestellten Busches wanden und sich so beim Klettern halfen. Einen ähnlichen Bericht habe ich von Dr. Günther erhalten, der gesehen hat, wie sich eine Maus so selbst aufhängte. Wenn die Feldmaus sich mehr an die Bäume gewöhnt hätte, würde ihr Schwanz vielleicht ein ausgebildeter Greifschwanz geworden sein, wie es bei einigen Mitgliedern derselben Ordnung der Fall ist. Warum die Meerkatze in Anbetracht ihrer Gewohnheiten in der Jugend nicht mit einem solchen ausgestattet worden ist, würde schwer sein zu sagen. Indessen ist es möglich, daß der lange Schwanz dieses Affen von größerem Nutzen für ihn ist, indem er ihn bei seinen wunderbaren Sprüngen im Gleichgewicht hält, als wenn er zum Greifwerkzeug ausgebildet worden wäre.

* * *

Die Brustdrüsen sind der ganzen Klasse der Säugetiere gemeinsam und für ihr Leben unentbehrlich. Sie müssen sich daher in einer weit entlegenen Zeit entwickelt haben, und wir können über die Art ihrer Entwicklung nichts Sicheres wissen. Mivart fragt: »Ist es denkbar, daß das Junge irgendeines Tieres jemals dadurch vor der Vernichtung bewahrt blieb, daß es zufällig einen Tropfen einer kaum nahrhaften Flüssigkeit aus einer übermäßig ernährten Hautdrüse seiner Mutter saugte? Und sogar, wenn das einmal geschah, welche Aussicht war für die Fortsetzung einer solchen Abänderung vorhanden?« Aber der Fall ist hier nicht richtig dargestellt. Es wird von den meisten Anhängern der Entwicklungslehre zugegeben, daß die Säugetiere von einer Beuteltierform stammen, und wenn dem so ist, werden sich die Brustdrüsen zuerst in dem Beutel entwickelt haben. Bei dem Seepferdchen werden die Eier ausgebrütet und die Jungen eine Zeitlang in einem derartigen Beutel aufgezogen. Und der amerikanischer Naturforscher Lockwood glaubt nach dem, was er von der Entwicklung der Jungen gesehen hat, daß sie durch eine Absonderung aus den Hautdrüsen des Sacks ernährt werden. Ist es nun nicht wenigstens möglich, daß bei den früheren Vorfahren der Säugetiere, beinahe ehe sie diesen Namen verdienten, die Jungen ähnlich ernährt wurden? Und in diesem Falle würden die Geschöpfe, die eine Flüssigkeit absonderten, die irgendwie nahrhafter war, so daß sie sich der Natur der Milch näherte, in der Länge der Zeit eine größere Anzahl gut ernährter Nachkommen aufgezogen haben, als die Geschöpfe, die eine weniger nahrhafte Flüssigkeit absonderten. So würden die Hautdrüsen, die den Brustdrüsen entsprechen, verbessert oder brauchbarer gemacht worden sein. Es stimmt mit dem weit ausgedehnten Grundgesetz der Zweckbeschränkung überein, daß die Drüsen über einer gewissen Stelle des Sacks sich höher entwickelt haben würden als die übrigen, und sie würden dann eine Brust gebildet haben, aber zuerst ohne Warze, wie wir es beim Schnabeltier sehen, das in der Reihe der Säugetiere ganz unten steht. Durch welche Kraft die Drüsen über einer gewissen Stelle besser für ihre Thätigkeit eingerichtet wurden als die anderen, ob teils durch Ausgleichung des Wachstums, durch die Wirkungen des Gebrauchs oder der Naturauslese wage ich nicht zu entscheiden.

Die Entwicklung der Brustdrüsen würde ohne Nutzen gewesen sein und hätte nicht durch die Naturauslese bewirkt werden können, wenn die Jungen nicht imstande gewesen wären, die Absonderung zu benutzen. Es ist keine größere Schwierigkeit, zu verstehen, wie junge Säugetiere durch den Naturtrieb erlernt haben, die Brust zu saugen, als zu verstehen, wie unausgebrütete Küchlein gelernt haben, die Eierschale zu zerbrechen, indem sie mit ihren dem Zweck angepaßten Schnäbeln dagegen schlagen, oder wie sie gelernt haben, einige Stunden, nachdem sie die Schale verlassen haben, die Körner des Futters aufzupicken. In solchen Fällen dürfte die wahrscheinlichste Lösung die sein, daß die Gewohnheit zuerst durch die Übung in vorgerückterem Alter erworben und dann der Nachkommenschaft in einem früheren Alter übermittelt wurde. Aber das junge Känguruh soll nicht saugen, sondern nur an der Brustwarze seiner Mutter hängen, welche die Fähigkeit hat, in den Mund ihres hilflosen, halbausgebildeten Sprößlings die Milch einzuflößen. Über diesen Punkt bemerkt Mivart: »Bestände keine besondere Vorkehrung, so müßte das Junge unfehlbar durch das Eindringen der Milch in die Luftröhre erstickt werden. Aber es besteht eine besondere Vorkehrung. Der Kehlkopf ist so verlängert, daß er bis in das hintere Ende der Nasenhöhle aufsteigt und imstande ist, der Luft für die Lungen freien Eintritt zu gewähren, während die Milch unschädlich auf beiden Seiten des verlängerten Kehlkopfes vorbeifließt und so sicher den Schlund dahinter erreicht.« Mivart fragt dann, wie die Naturauslese bei dem ausgewachsenen Känguruh (und bei den meisten anderen Säugetieren nach der Annahme, daß sie von einer Beuteltierform abstammen) diese wenigstens vollkommen unschuldige und harmlose Bildung beseitigte. Zur Antwort kann angeführt werden, daß die Stimme, die gewiß für viele Tiere von großer Wichtigkeit ist, so lange kaum mit voller Kraft gebraucht werden konnte, als der Kehlkopf bis in die Nasenhöhle reichte. Ferner hat mich Professor Flower darauf aufmerksam gemacht, daß eine solche Bildung ein Tier beim Schlucken fester Nahrung sehr behindert hätte.

Wir wollen jetzt für kurze Zeit die niedrigeren Abteilungen des Tierreichs einer Betrachtung unterziehen. Die Stachelhäuter (Seesterne, Seeigel u. s. w.) sind mit bemerkenswerten Organen, den sogenannten Pedicellarien versehen, die gut ausgebildet aus einer dreigliedrigen Zange bestehen, d. h. aus drei gezähnten Armen, die genau zusammenpassen und an der Spitze eines biegsamen, von Muskeln bewegten Stiels angebracht sind. Diese Zangen können von irgendeinem Gegenstand fest Besitz ergreifen. Alexander Agassiz hat gesehen, wie der Seeigel Teilchen des Auswurfs von Zange zu Zange an gewissen Stellen seines Körpers herablaufen ließ, damit sie seine Schale nicht befleckten. Aber zweifellos dienen sie außer zur Entfernung aller Art Schmutz noch zu anderen Zwecken, wovon einer offenbar der der Verteidigung ist.

Mit Bezug auf diese Organe fragt Mivart, wie bei so vielen früheren Gelegenheiten: »Was würde der Nutzen der ersten unentwickelten Anfänge solcher Bildungen sein, und wie würden sie bei ihrem ersten Aufkommen das Leben eines einzigen Seeigels haben erhalten können?« Er fügt hinzu: »Nicht einmal die plötzliche Entwicklung der Greifthätigkeit könnte ohne den frei beweglichen Stiel nützlich gewesen sein, noch der letztere ohne die greifenden Kiefern brauchbar. Doch könnten geringe, nicht endgiltige Abänderungen die gleichzeitige Entwicklung dieser mannigfachen Aneinanderpassungen des Körperbaues nicht herbeiführen. Dies leugnen hieße nichts weniger als einen überraschenden Widersinn behaupten.« Wenn es Mivart auch widersinnig erscheinen mag, so giebt es doch ganz bestimmt bei manchen Seesternen dreigliedrige Zangen, die am Grunde unbeweglich festsitzen und doch zum Greifen befähigt sind. Und das läßt sich verstehen, wenn sie wenigstens zum Teil als Verteidigungsmittel dienen. Agassiz, dessen großer Freundlichkeit ich viele Aufklärungen über diesen Gegenstand verdanke, teilt mir mit, daß es andere Seesterne gäbe, bei denen der dritte Arm der Zangen zu einem bloßen Beistand der beiden anderen geworden, und noch andere Gattungen, bei denen er ganz verloren sei. Beim Echioneus trägt die Schale nach Perriers Beschreibung zwei Sorten Pedicellarien, von denen die eine denen des Echinus, die andere denen des Spatangus gleicht. Solche Fälle verdienen stets unsere Aufmerksamkeit; denn sie liefern die Möglichkeit eines anscheinend plötzlichen Überganges, indem eine der beiden Formen des Organs verkümmert.

Bezüglich der Abstufungen, durch die sich diese sonderbaren Organe entwickelt haben, schließt Agassiz aus seinen eigenen und Müllers Untersuchungen, daß sie bei den Seesternen wie bei den Seeigeln zweifellos für umgemodelte Stacheln angesehen werden müssen. Das kann aus der Art ihrer Entwicklung bei dem einzelnen Tier wie aus einer langen und vollkommenen Reihe von Abstufungen von einfachen Körnchen zu gewöhnlichen Stacheln und zu vollkommenen dreigliedrigen Pedicellarien bei den verschiedenen Arten und Gattungen geschlossen werden. Die Abstufung erstreckt sich sogar auf die Art, in der die gewöhnlichen Stacheln und die Pedicellarien mit ihren kalkhaltigen tragenden Stielen mit der Schale verbunden sind. Bei gewissen Arten der Seesterne sind »gerade die Verbindungen, welche zeigen mußten, daß die Pedicellarien nur umgemodelte sich verzweigende Stacheln sind,« zu finden. So haben wir festsitzende Stacheln mit drei gleich weit voneinander entfernten, gezähnten, beweglichen Ästen, die nahe ihrem Grunde angefügt sind und weiter oben an demselben Stachel drei andere bewegliche Äste. Wenn nun die letzteren an der Spitze eines Stachels entspringen, bilden sie in der That eine rohe dreigliedrige Pedicellarie, und solche kann man mit den drei unteren Ästen zusammen an demselben Stachel sehen. In diesem Falle ist die Wesensgleichheit zwischen den Armen der Pedicellarien und den beweglichen Ästen eines Stachels unverkennbar. Es wird allgemein anerkannt, daß die gewöhnlichen Stacheln als Schutz dienen, und wenn dem so ist, kann es keinen Grund geben, zu bezweifeln, daß die mit ausgezähnten und beweglichen Armen versehenen ebenfalls diesem Zweck dienen, und sie würden demselben noch wirksamer dienen, wenn sie zusammentreffend eine Greif- oder Schnappeinrichtung bildeten. So würde jede Abstufung von einem gewöhnlichen festsitzenden Stachel bis zu einer festsitzenden Pedicellarie von Nutzen sein.

Bei gewissen Arten der Seesterne sitzen diese Organe, statt daß sie auf einer unbeweglichen Stütze befestigt oder getragen werden, an einem biegsamen, mit Muskeln versehenen, wenn auch kurzen Stengel, und in diesem Falle dienen sie wahrscheinlich noch irgendeiner anderen Thätigkeit außer der Verteidigung. Bei den Seeigeln kann man die Stufen verfolgen, auf denen ein festsitzender Stachel an die Schale gefügt und so beweglich wird. Ich wünschte, ich hätte hier Raum, um einen ausführlicheren Auszug aus Agassiz' anregenden Beobachtungen über die Entwicklung der Pedicellarien zu geben. Alle möglichen Abstufungen kann man, wie er hinzufügt, ebenfalls zwischen den Pedicellarien der Seesterne und den Haken der Schlangensterne, einer andern Gruppe der Stachelhäuter, finden, und weiter zwischen den Pedicellarien der Seeigel und den Ankern der Seewalzen, die auch zu derselben großen Klasse gehören.

Gewisse zusammengesetzte Tiere, Pflanzentiere, wie sie bezeichnet worden sind, nämlich die Polypen, sind mit sonderbaren, Fangarme genannten Organen versehen. Diese unterscheiden sich bei den verschiedenen Arten sehr im Bau. Zu ihrer vollkommensten Ausbildung gleichen sie seltsam dem Kopf und Schnabel eines Geiers in kleinem Maßstabe, der auf einem Halse sitzt und der Bewegung fähig ist, wie es auch der untere Kiefer oder Kinnbacken ist. Bei einer von mir beobachteten Art bewegten sich die Fangarme desselben Zweiges oft gleichzeitig rückwärts und vorwärts, wobei der untere Kiefer fünf Sekunden lang beinahe im rechten Winkel offen stand. Diese Bewegung machte den ganzen Stock zittern. Wenn die Kiefer mit einer Nadel berührt werden, halten sie diese so fest, daß man den Zweig damit schütteln kann.

Mivart führt diesen Fall hauptsächlich wegen der angenommenen Schwierigkeit an, daß Organe wie die Fangarme der Polypen und die Pedicellarien der Stachelhäuter, die er als »wesentlich gleich« betrachtet, durch die Naturauslese in sehr verschiedenen Abteilungen des Tierreiches entwickelt worden seien. Aber so weit der Bau in Betracht kommt, kann ich zwischen den dreigliedrigen Pedicellarien und den Fangarmen keine Gleichheit erkennen. Die letzteren gleichen etwas genauer den Scheren der Krustentiere, und es wäre ebenso angemessen gewesen, wenn Mivart diese Ähnlichkeit oder selbst die mit dem Kopf und Schnabel eines Vogels als besondere Schwierigkeit angeführt hätte. Busk, Dr. Smitt und Dr. Nitsche, Naturforscher, die diese Gruppe sorgfältig untersucht haben, halten die Fangarme für gleichstehend mit den Zooiden und ihren Zellen, welche das Pflanzentier zusammensetzen; die bewegliche Lippe oder der Deckel der Zelle entspricht dann dem unteren und beweglichen Kinnbacken des Fangarmes. Busk weiß jedoch nichts von irgendwelchen Abstufungen, die jetzt zwischen einem Zooid und einem Fangarm bestehen. Es ist daher unmöglich zu mutmaßen, durch welche nützlichen Abstufungen der eine sich in den anderen verwandelt haben kann; aber daraus folgt keineswegs, daß solche Abstufungen nicht bestanden haben.

Da die Scheren der Krustentiere einigermaßen den Fangarmen der Polypen gleichen, indem beide als Zangen dienen, dürfte es der Mühe wert sein, zu zeigen, daß bei den ersteren noch eine lange Reihe von nützlichen Abstufungen vorhanden ist. Auf der ersten und einfachsten Stufe legt sich der Endabschnitt eines Gliedes entweder auf die viereckige Spitze des breiten vorletzten Abschnitts oder gegen eine ganze Seite und wird so in den Stand gesetzt, einen Gegenstand festzuhalten. Aber das Glied dient noch als ein Bewegungsmittel. Wir finden auf der nächsten Stufe eine Ecke des breiten vorletzten Abschnitts ein wenig hervorragend und manchmal mit unregelmäßigen Zähnen versehen, und gegen diese legt sich der Endabschnitt herunter. Durch eine Vergrößerung dieses Vorsprungs, wobei seine Gestalt wie die des Endabschnitts ein wenig umgemodelt und verbessert wird, werden die Zangen immer mehr vervollkommnet, bis wir zuletzt ein Werkzeug haben, das so wirksam ist, wie die Scheren eines Hummers. Und alle diese Abstufungen können wirklich verfolgt werden.

Außer den Fangarmen besitzen die Polypen noch andere sonderbare Organe, die sogenannten Fühlfäden. Diese bestehen gewöhnlich aus langen, beweglichen und leicht erregten Borsten. In einer von mir untersuchten Art waren die Fühlfäden ein wenig gekrümmt und längs des äußeren Randes gezähnt. Alle an demselben Stock sitzenden bewegten sich oft gleichzeitig, so daß sie, wie lange Ruder wirkend, einen Zweig rasch quer über das Objectglas meines Mikroskops zogen. Als ein Zweig auf seine Oberfläche gelegt wurde, verwickelten sich die Fühlfäden und machten heftige Anstrengungen, sich zu befreien. Man hält sie für Verteidigungsmittel, und man kann sehen, wie Busk bemerkt, »wie sie langsam und sorgfältig über die Oberfläche des Stockes hinwischen, um etwas zu beseitigen, was den zarten Bewohnern der Zellen schädlich sein könnte, wenn sie ihre Fühlwerkzeuge hervorstrecken.« Die Fangarme dienen ebenso wie die Fühlfäden wahrscheinlich zur Verteidigung, aber sie fangen und töten auch kleine lebende Tiere, die, wie man glaubt, durch die Strömungen nachher in den Bereich der Fühlwerkzeuge der Zooiden getrieben werden. Einige Arten sind mit Fangarmen und Fühlfäden, andere nur mit Fangarmen und ein paar nur mit Fühlfäden versehen.

Man kann sich nicht leicht zwei Dinge vorstellen, deren Aussehen verschiedener ist, als das einer Borste oder eines Fühlfadens und eines vogelkopfähnlichen Fangarmes. Und doch ist ihre Bedeutung fast sicher dieselbe, und sie haben sich von einem gemeinsamen Ursprung aus entwickelt, nämlich dem Zooiden mit seiner Zelle. Daher können wir verstehen, wie es kommt, daß diese Organe, wie mir Busk mitgeteilt hat, manchmal allmählich ineinander übergehen. So ist bei den Fangarmen mehrerer Arten Lepralia der bewegliche Kinnbacken so verlängert und so borstenähnlich, daß man nur aus dem Vorhandensein der oberen oder festen schnabelförmigen Spitze seine Fangarmnatur erkennen kann. Die Fühlfäden können sich unmittelbar aus den Lippen der Zellen entwickelt haben, ohne die Fangarmform als Mittelstufe angenommen zu haben. Aber dieser Übergang scheint wahrscheinlicher, da während der ersten Stufen der Umformung die anderen Teile der Zelle mit dem eingeschlossenen Zooid schwerlich auf einmal hätten verschwinden können. In vielen Fällen haben die Fühlfäden am Grunde einen ausgehöhlten Träger, der die schnabelförmige Spitze zu vertreten scheint, wenn er auch in einigen Arten ganz fehlt. Diese Ansicht von der Entwicklung der Fühlfäden verdient, wenn sie zuverlässig ist, Aufmerksamkeit. Denn nähme man an, daß alle mit Fangarmen versehenen Arten vernichtet worden wären, so würde selbst bei der lebhaftesten Einbildungskraft niemals jemand daran gedacht haben, daß die Fühlfäden ursprünglich als Teil eines Organs vorhanden gewesen sind, das einem Vogelkopf oder einer unregelmäßigen Schachtel oder Kappe glich. Es ist interessant zu sehen, daß sich von demselben Ursprung aus zwei so sehr verschiedene Organe entwickelt haben. Und da die bewegliche Lippe der Zelle dem Zooid zum Schutz dient, ist es durchaus nicht schwierig anzunehmen, daß alle Abstufungen, durch die sich die Lippe zuerst in den unteren Kiefer eines Fangarmes und dann in eine verlängerte Borste verwandelt hat, ebenso auf verschiedene Weise und unter verschiedenen Umständen zum Schutz gedient haben.

* * *

Beim Pflanzenreich weist Mivart nur auf zwei Fälle hin, nämlich auf den Bau der Blüten der Knabenkräuter und auf die Bewegungen der Kletterpflanzen. Über den ersteren sagt er: »Die Erklärung ihrer Entstehung wird für durchaus unzulänglich angesehen, für im höchsten Grade ungenügend zur Erklärung der ersten, unmeßbar kleinen Anfänge von Bildungen, die erst nach beträchtlicher Entwicklung Nutzen haben können.« Da ich diesen Gegenstand in einem anderen Werk ausführlich behandelt habe, will ich hier nur einige Einzelheiten über eine einzige der überraschendsten Eigentümlichkeiten der Knabenkrautblüten anführen, nämlich über ihre Staubbeutelfächer. Ein hoch entwickelter Staubbeutelfächer besteht aus einer Masse von Blütenstaubkörnern, die an einem biegsamen Stengel oder Stamm befestigt ist. Dieser wiederum hängt an einer kleinen Masse von außerordentlich zähem Stoff. Infolge dessen werden die Staubbeutelfächer durch die Kerbtiere von einer Blüte auf den Stempel einer anderen getragen. Bei einigen Knabenkräutern ist kein Stempel für die Blütenstaubmassen vorhanden, die Körner sind vielmehr nur durch feine Fädchen verbunden. Da diese aber nicht nur bei den Knabenkräutern vorkommen, so brauchen wir sie nicht zu berücksichtigen. Doch möchte ich erwähnen, daß wir bei der untersten Pflanze in der Reihe der Knabenkräuter, dem Frauenschuh, sehen können, wie sich die Fäden wahrscheinlich zuerst entwickelt haben. Bei anderen Knabenkräutern hängen die Fäden an einem Ende der Blütenstaubmassen zusammen. Das bildet die erste oder Anfangsspur eines Stempels. Daß dies der Ursprung eines sogar beträchtlich langen und hoch entwickelten Stengels ist, dafür haben wir in den verkümmerten Blütenstaubkörnern, die sich manchmal in den mittleren festen Teilen eingebettet finden, einen sicheren Beweis.

Bezüglich der zweiten Haupteigentümlichkeit, der kleinen Masse von zähem Stoff, die an dem Ende des Stengels hängt, kann eine lange Reihe von Abstufungen einzeln aufgeführt werden, von denen jede der Pflanze unverkennbar nützt. Bei den meisten Blüten, die zu anderen Ordnungen gehören, sondert der Stempel eine geringe Menge einer zähen Masse ab. Nun sondern gewisse Knabenkräuter eine ähnliche zähe Masse ab; allein einer von den drei Stempeln bringt einen weit größeren Vorrat hervor, und dieser wird, vielleicht infolge der reichlichen Absonderung, unfruchtbar. Wenn ein Kerbtier eine Blüte dieser Art aussticht, so reibt es etwas von der zähen Masse ab und trägt so zugleich einige von den Blütenstaubkörnern fort. Von dieser einfachen Vorrichtung, die sich nur wenig von den bei einer Menge gewöhnlicher Blüten üblichen unterscheidet, giebt es endlose Abstufungen zu Arten, in denen die Blütenstaubmasse in einem sehr kurzen, freien Stengel endet, und zu andern, bei denen er mit der zähen Masse fest zusammenhängt, wobei der unfruchtbare Stempel selbst vielfach umgemodelt wird. In diesem letzteren Fall haben wir einen Staubbeutelfächer in seiner höchsten Entwicklung und Vervollkommnung. Wer die Blüten der Knabenkräuter selbst sorgfältig untersucht, wird das Vorhandensein der oben angegebenen Reihe der Abstufungen von einer Blütenstaubkörnermasse, die nur durch Fädchen miteinander verbunden ist, während der Stempel sich nur wenig von dem einer gewöhnlichen Pflanze unterscheidet, bis zu dem höchst zusammengesetzten, für das Forttragen durch Kerbtiere wunderbar geeigneten Staubbeutelfächer sicherlich nicht leugnen. Ebenso wenig wird er leugnen, daß jede Abstufung bei den einzelnen Arten überraschend genau zu dem gesamten Bau jeder Blüte paßt, der ihre Befruchtung durch verschiedene Kerbtiere begünstigt. In diesem und in den meisten anderen Fällen könnte man noch weiter zurückgehen und fragen: woher wurde der Stempel auf einer gewöhnlichen Blüte klebrig? Aber da wir die ganze Geschichte bei keiner Gruppe von Wesen erfahren können, ist es ebenso nutzlos, solche Fragen aufzuwerfen wie hoffnungslos, Antwort darauf zu erwarten.

Wir gehen jetzt zu den Kletterpflanzen über. Von ihnen kann eine lange Liste verzeichnet werden, die bei denen beginnt, die sich einfach um einen Stützpunkt winden, bis zu denen, die ich Blattkletterer genannt habe, und denen, die mit Ranken versehen sind. Bei diesen beiden letzteren Klassen haben die Stengel die Fähigkeit sich herumzuwinden gewöhnlich, aber nicht immer verloren, obwohl sie die Fähigkeit sich zu drehen behalten, die die Ranken gleichfalls besitzen. Die Abstufungen von den Blattkletterern zu den Rankenträgern sind erstaunlich eng geschlossen, und gewisse Pflanzen können unterschiedslos zu der einen oder der anderen Klasse gerechnet werden. Aber wenn man die Reihe von den einfachen sich windenden Pflanzen zu den Blattkletterern aufwärts geht, so tritt eine wichtige Eigenschaft, die Empfindlichkeit gegen die Berührung, hinzu, die die Stengel der Blätter oder Blüten oder der Ranken, in die diese umgemodelt und verwandelt sind, veranlaßt, sich umzubiegen und den berührenden Gegenstand festzuhalten. Wer meine Ausführungen über diese Pflanzen liest, wird, denke ich, zugeben, daß all die vielen Abstufungen in der Thätigkeit und dem Bau zwischen den einfach sich windenden Pflanzen und den Rankenträgern in jedem Fall für die Art von großem Nutzen sind. Z. B. ist es für eine sich windende Pflanze offenbar ein großer Vorteil, ein Blattkletterer zu werden, und wahrscheinlich würde jede sich windende Pflanze, die langstengelige Blätter besaß, sich zu einem Blattkletterer entwickelt haben, wenn die Stengel einigermaßen genügende Empfindlichkeit gegen eine Berührung besessen hätten.

Da das Umwinden das einfachste Mittel ist, einen Stützpunkt zu erklettern, und die unterste Stufe in unserer Reihe bildet, so kann man natürlich fragen, wie Pflanzen den Anfangsgrad dieser Fähigkeit haben erwerben können, so daß sie nachher durch die Naturauslese verbessert und vermehrt würde. Die Fähigkeit des Umwindens hängt zuerst davon ab, daß der Stengel, während die Pflanze jung ist, eine außerordentliche Biegsamkeit besitzt (aber das ist ein vielen nicht kletternden Pflanzen gemeinsames Merkmal); zweitens, daß er sich beständig nach allen Richtungen der Windrose hintereinander in der gleichen Reihenfolge biegt. Durch diese Bewegung wird der Stengel nach allen Seiten gebogen und in den Stand gesetzt, sich rundherum zu bewegen. Sobald nun der untere Teil des Stengels an einen Gegenstand schlägt und gehindert wird, fährt der obere Teil fort, sich zu biegen und zu drehen, und windet sich so notwendig um den Stützpunkt herum und daran herauf. Die Drehbewegung hört nach dem ersten Wachstum eines jeden Schößlings auf. Da in vielen getrennten Pflanzenfamilien einzelne Arten und Gattungen die Fähigkeit besitzen, sich zu drehen, und so sich windende Pflanzen geworden sind, so müssen sie sie unabhängig voneinander erworben und können sie nicht von einer gemeinsamen Urform ererbt haben. Das veranlaßte mich, vorher zu bemerken, daß man einige Neigung zu dieser Bewegung als ein auch den nicht kletternden Pflanzen gemeinsames Merkmal auffinden würde, und daß dies die Grundlage war, auf der die Naturauslese wirken und die sie verbessern konnte. Als ich diese vorläufige Bemerkung niederschrieb, war mir nur ein einziges nicht ganz passendes Beispiel bekannt; die jungen Blütenstiele der Maurandia drehen sich nämlich in geringer und unregelmäßiger Weise, wie die Stengel der sich windenden Pflanzen, ziehen aber aus dieser Gewohnheit keinen Nutzen. Bald darauf hat Fritz Müller entdeckt, daß die jungen Stengel einer Froschlöffel- und einer Flachsart sich vollständig, wenn auch unregelmäßig umdrehen. Diese beiden Pflanzen klettern aber nicht und sind im natürlichen System weit voneinander getrennt. Müller behauptet mit seiner Vermutung recht zu haben, daß diese Erscheinung noch bei einigen andern Pflanzen vorkomme. Diese geringen Bewegungen scheinen für die angeführten Pflanzen von keinem Nutzen zu sein, keinesfalls sind sie für das Klettern, womit wir hier zu thun haben, von dem geringsten Nutzen. Nichtsdestoweniger können wir sehen, daß, wenn die Stengel dieser Pflanzen biegsam gewesen wären, und sie sie unter den ihnen gegebenen Bedingungen zum Indiehöhesteigen benutzt hätten, die Gewohnheit, sich leicht und unregelmäßig zu drehen, von der Naturauslese hätte vermehrt und nutzbar gemacht werden können, bis sie in gut entwickelte, sich windende Arten verwandelt worden wären.

Bezüglich der Empfindlichkeit der Blätter und Blütenstengel und der Ranken sind fast dieselben Bemerkungen anwendbar, wie bei den Drehbewegungen der sich windenden Pflanzen. Da eine ungeheure Anzahl Arten, die zu weit getrennten Gruppen gehören, eine derartige Empfindlichkeit besitzen, so müßte man ihre Anfangsgrade bei vielen Pflanzen finden, die nicht Kletterpflanzen geworden sind. Und das ist in der That der Fall. Ich habe beobachtet, daß die jungen Blütenstiele der oben erwähnten Maurandia sich nach der Seite, die berührt wurde, ein wenig krümmten. Morren fand bei einzelnen Sauerkleearten, daß die Blätter und ihre Stengel, besonders nachdem sie der heißen Sonne ausgesetzt waren, bei sanfter wiederholter Berührung oder bei einer Erschütterung der Pflanze sich bewegten. Ich habe diese Beobachtungen bei einigen anderen Sauerkleearten mit demselben Erfolge wiederholt, bei einigen war die Bewegung deutlich, am besten sichtbar in den jungen Blättern, bei anderen äußerst schwach. Mehr Bedeutung hat die Thatsache, daß nach dem sehr gewichtigen Urteil Hofmeisters die jungen Schößlinge und Blätter aller Pflanzen sich bewegen, wenn sie geschüttelt worden sind. Bei den Kletterpflanzen sind, wie wir wissen, die Stengel und Ranken nur während der ersten Wachstumsgrade empfindlich.

Es ist kaum möglich, daß die erwähnten geringfügigen Bewegungen, die infolge einer Berührung oder eines Stoßes bei den jungen und wachsenden Organen der Pflanze auftreten, von irgendwelcher Bedeutung für die Lebensthätigkeit sind. Aber in Pflanzen treten, als eine Wirkung mannigfacher Anreize, Bewegungskräfte auf, die für sie von offenbarer Wichtigkeit sind. So kehren sie sich z. B zur Sonne, seltener von ihr ab, so widerstreben sie der Richtung der Schwerkraft und folgen ihr in den seltneren Fällen. Wenn die Muskeln und Nerven eines Tieres durch den galvanischen Strom oder die Einführung von Strychnin gereizt werden, so kann man die darauf folgenden Bewegungen ein zufälliges Ergebnis nennen, denn die Muskeln und Nerven sind nicht für diese Reize besonders empfindlich geworden. Ebenso scheinen Pflanzen, da sie das Vermögen haben, infolge gewisser Reize sich zu bewegen, in zufälliger Weise durch eine Berührung oder einen Stoß gereizt zu werden. Man darf daher unschwer zugeben, daß bei den Blattkletterern und den Rankenträgern diese Neigung aus der Naturauslese Nutzen gezogen hat und durch sie vermehrt worden ist. Aus Gründen indessen, die ich in meiner Abhandlung angedeutet habe, wird dies wahrscheinlich nur vorgekommen sein, wenn die Fähigkeit, sich zu drehen, schon erworben war, und so sich windende Pflanzen entstanden waren.

Ich habe mich schon bemüht, zu erklären, auf welche Weise Pflanzen sich windende wurden, nämlich durch die Vermehrung einer Neigung zu leichten und unregelmäßigen Drehbewegungen, die zuerst für sie von keinem Nutzen waren. Diese Bewegung wie diejenige infolge einer Berührung oder eines Stoßes war das zufällige Ergebnis der Bewegungsfähigkeit, die für andere nützliche Zwecke gewonnen wurde. Ob die Naturauslese während der allmählichen Entwicklung der Kletterpflanzen durch die ererbten Wirkungen des Gebrauchs unterstützt worden ist, wage ich nicht zu entscheiden. Aber wir wissen, daß gewisse, in bestimmten Zeitabständen wiederkehrende Bewegungen, z. B. der sogenannte Schlaf der Pflanzen, von der Gewohnheit beherrscht wird.

* * *

Ich habe jetzt genug, vielleicht mehr als genug Fälle betrachtet, die ein erfahrener Naturforscher sorgfältig ausgewählt hat, um die Unfähigkeit der Naturauslese zu beweisen, die Anfangsstufen nützlicher Bildungen zu erklären. Ich hoffe, gezeigt zu haben, daß dieser Punkt keine große Schwierigkeit bietet. Es ist mir so eine günstige Gelegenheit gegeben worden, über die Abstufungen der Bildung, die oft mit einer Umwandlung der Tätigkeiten verbunden sind, mich etwas weiter auszulassen. Dieser wichtige Gegenstand war in den früheren Ausgaben des Werks nicht ausführlich genug behandelt worden. Ich will jetzt die vorher angeführten Fälle kurz zusammenfassen.

Das erste Beispiel war die Giraffe. Hier hätte die fortgesetzte Erhaltung der Vertreter einer ausgestorbenen hochreichenden Wiederkäuerart, die die längsten Hälse, Beine u. s. w. hatten und ein wenig über der Durchschnittshöhe die Zweige abweiden konnten, und die fortgesetzte Vertilgung derer, die nicht so hoch werden konnten, zur Schaffung dieses bemerkenswerten Vierfüßers genügt. Aber auf die Dauer wird der Gebrauch der Körperteile zugleich mit der Vererbung bedeutend dazu beigetragen haben, sie einander gegenseitig anzupassen. Bei den vielen Kerbtieren, die mannigfache Gegenstände nachahmen, hat die Ansicht nichts Unwahrscheinliches, daß die zufällige Ähnlichkeit mit irgendeinem gewöhnlichen Gegenstand in jedem Fall die Grundlage für das Werk der Naturauslese war, das sich seitdem durch gelegentliche Erhaltung von geringfügigen Abänderungen vervollkommnet hat, die die Ähnlichkeit zu einer vollen Gleichheit machten. Das wird gedauert haben, solange das Kerbtier fortfuhr sich zu verändern und eine immer vollkommenere Ähnlichkeit ihm dazu verhalf, scharfsehenden Feinden zu entgehen. Bei gewissen Walarten zeigt sich eine Neigung zur Bildung unregelmäßiger kleiner Hornerhöhungen im Gaumen; und das scheint ganz dem Ziel der Naturauslese zu entsprechen, alle günstigen Abänderungen zu erhalten, bis sich die Erhöhungen zuerst in blättchenbelegte Kuppen oder Zähne wie im Schnabel einer Gans, dann in kurze Blättchen wie die der Hausente, darauf in so ausgebildete Blättchen wie die der Löffelente, schließlich in die riesigen Fischbeinplatten verwandelt haben, die sich im Munde des grönländischen Walfisches finden. Bei der Entenfamilie werden die Blättchen zuerst als Zähne, dann teils als Zähne, teils als Siebvorrichtung und zuletzt fast ausschließlich für den letzteren Zweck angewendet.

Bei solchen Bildungen, wie die eben erwähnten Hornblättchen oder das Fischbein kann, soweit wir urteilen können, die Gewohnheit oder der Gebrauch wenig oder nichts zu ihrer Entwicklung gethan haben. Andererseits kann man die Versetzung des unteren Auges eines Flachfisches an die obere Seite des Kopfes und die Bildung eines Greifschwanzes fast gänzlich dem fortgesetzten Gebrauch im Verein mit der Vererbung zuschreiben. In betreff der Brüste der höheren Tiere ist die wahrscheinlichste Annahme, daß ursprünglich die Hautdrüsen an der ganzen Oberfläche eines Beuteltier-Sackes eine nahrhafte Flüssigkeit absonderten, und daß diese Drüsen durch die Naturauslese in ihrer Thätigkeit vervollkommnet und auf einer beschränkten Stelle zusammengefaßt wurden, so daß sie eine Brust bildeten. Zu verstehen, wie bei einigen alten Stachelhäutern die zur Verteidigung dienenden verzweigten Stacheln durch die Naturauslese zu dreigliedrigen Pedicellarien entwickelt wurden, ist nicht schwerer, als zu verstehen, wie sich durch geringe nützliche Ummodelungen des letzten und vorletzten Abschnittes eines Gliedes, das zuerst nur zur Bewegung gebraucht wurde, die Scheren der Krustentiere entwickelten. In den Fangarmen und Fühlfäden der Polypen haben wir Organe, die, dem Aussehen nach sehr verschieden, sich aus denselben Anfängen entwickelten, und bei den Fühlfäden kann man verstehen, wie die allmählichen Abstufungen von Nutzen gewesen sein können. Bei den Staubbeutelfächern der Knabenkräuter kann man verfolgen, wie die Fäden, die ursprünglich dazu dienten, die Blütenstaubkörner zu verbinden, sich zu Stengeln vereinigten, und wie eine zähe Masse, so wie sie von den Narben gewöhnlicher Blüten abgesondert wird und beinahe, aber nicht ganz demselben Zweck dient, sich an die freien Enden der Stengel hing. Alle diese Abstufungen waren für die betreffenden Pflanzen von offenbarem Nutzen. Was die Kletterpflanzen betrifft, so brauche ich nicht zu wiederholen, was ich erst eben gesagt habe.

Man hat oft gefragt, warum, wenn die Naturauslese so mächtig ist, gewisse Arten nicht diese oder jene Bildung erlangt haben, die für sie offenbar vorteilhaft gewesen wäre. Aber bei unserer Unkenntnis der vergangenen Geschichte jeder Art und der Bedingungen, die gegenwärtig ihre Zahl und Verbreitung bestimmen, ist es unvernünftig, auf solche Fragen eine genaue Antwort zu erwarten. In den meisten Fällen können nur allgemeine Gründe, in einigen wenigen freilich besondere angegeben werden. So sind viele nebeneinander hergehende Umwandlungen beinahe unentbehrlich, um eine Art neuen Lebensgewohnheiten anzupassen, und es mag oft vorgekommen sein, daß die erforderlichen Teile sich nicht in der richtigen Art oder im richtigen Grade abänderten. Sich an Zahl zu vermehren, müssen viele Arten durch zerstörende Einflüsse gehindert worden sein, die in keiner Beziehung zu gewissen Bildungen standen, von denen wir glauben, daß sie durch die Naturauslese erlangt worden sind, weil sie uns für die Art nützlich scheinen. Da in diesem Fall der Kampf ums Dasein nicht von solchen Bildungen abhing, hätten sie nicht durch die Naturauslese erworben werden können. In vielen Fällen sind verwickelte, lange anhaltende Bedingungen von oft besonderer Natur für die Entwicklung einer Bildung nötig, und die erforderlichen Bedingungen mögen selten zusammengekommen sein. Die Annahme, daß eine gegebene Bildung, die wir oft irrtümlich als für eine Art nützlich ansehen, unter allen Umständen durch die Naturauslese hätte erworben werden können, ist dem entgegengesetzt, was wir von der Art ihrer Wirksamkeit wissen. Mivart leugnet nicht, daß die Naturauslese etwas ausgerichtet hat; aber er betrachtet es als erweislich ungenügend, um die Erscheinungen verständlich zu machen, die ich durch ihren Einfluß erkläre. Seine Hauptgründe sind jetzt dargelegt worden, die anderen sollen später betrachtet werden. Sie scheinen mir wenig von den Merkmalen eines Beweises und wenig Gewicht zu haben, wenn wir sie mit denen zu Gunsten der Macht der Naturauslese vergleichen, die von den oft einzeln angeführten anderen Einflüssen unterstützt wird. Ich fühle mich verpflichtet beizufügen, daß einige von den Thatsachen und Gründen, die ich hier benutzt habe, zu demselben Zweck in einem tüchtigen Aufsatz vorgebracht worden sind, der kürzlich in der »Medico-chirurgical Review« gestanden hat.

Heutzutage lassen fast alle Naturforscher die Entwicklung unter irgendeiner Form zu. Mivart nimmt an, daß die Arten sich durch eine »innerliche Kraft oder Neigung« umwandeln, von deren Wesen, wie behauptet wird, man nichts weiß. Daß die Arten eine Fähigkeit der Umwandlung haben, wird von allen Anhängern der Entwicklungslehre zugegeben, aber, wie mir scheint, ist es nicht nötig, eine innerliche Kraft außer der Neigung zu der gewöhnlichen Veränderlichkeit anzurufen, die mit Hilfe der Auslese des Menschen viele gut angepaßte Hausrassen hat entstehen lassen, und die mit Hilfe der Naturauslese schrittweise ebenso gut Naturarten oder Rassen entstehen lassen wird. Das Endergebnis wird, wie schon erklärt, gewöhnlich ein Fortschritt in der Bildung, in einigen wenigen Fällen aber auch ein Rückschritt gewesen sein.

Mivart ist ferner geneigt anzunehmen, und einige Naturforscher stimmen mit ihm überein, daß neue Arten »unvermittelt und durch plötzlich erscheinende Ummodelungen« sich offenbaren. Er vermutet z. B., daß die Verschiedenheit zwischen dem ausgestorbenen dreizehigen Hipparion und dem Pferde plötzlich entstand. Er hält es für schwer, anzunehmen, daß der Flügel eines Vogels »auf irgendeine andere Weise sich entwickelte als durch eine verhältnismäßig plötzliche Ummodelung von bezeichnender und wichtiger Art«. Und offenbar würde er dieselbe Ansicht auf die Flügel der Fledermaus und des Pterodaktylus ausdehnen. Dieser Schluß, nach dem eine große Unterbrechung und Zusammenhanglosigkeit in der Reihe vorhanden wäre, scheint mir im höchsten Grade unwahrscheinlich.

Wer an eine langsame und allmähliche Entwicklung glaubt, wird natürlich zugeben, daß artbildende Umwandlungen ebenso plötzlich und ebenso groß gewesen sein können, wie irgendeine einzelne Abänderung, die wir im Naturzustande oder sogar unter dem Einfluß der Zucht antreffen. Aber da die Arten veränderlicher sind, wenn sie gezüchtet oder angebaut werden, als unter ihren natürlichen Bedingungen, so ist es nicht wahrscheinlich, daß im Naturzustande oft solche großen und plötzlichen Abänderungen vorgekommen sind, wie sie bekanntlich hin und wieder unter dem Einfluß der Zucht entstehen. Von diesen letzteren Abänderungen können mehrere dem Wiederauftreten verlorener Merkmale zugeschrieben werden, und die Merkmale, die so wiedererscheinen, wurden wahrscheinlich in vielen Fällen zuerst schrittweise erworben. Eine noch größere Anzahl muß zu den Ungeheuerlichkeiten gerechnet werden, z. B. sechsfingerige Menschen, Stachelschweinmenschen, Ankonaschafe, Niatarindvieh u. s. w., und da sie im Wesen sich von den natürlichen Arten sehr unterscheiden, so werfen sie auf unsern Gegenstand wenig Licht. Wenn man solche Fälle plötzlicher Abänderungen ausschließt, so würden die wenigen, welche übrig bleiben, wenn man sie im Naturzustande findet, aufs beste zweifelhafte Arten bilden, die mit ihren Elternformen nahe verwandt sind.

Meine Gründe, zu zweifeln, daß die Arten im Naturzustande sich so plötzlich umgewandelt haben, wie es die Hausrassen gelegentlich thun, und gänzlich zu bestreiten, daß sie sich auf die von Mivart angegebene wunderbare Weise umgewandelt haben, sind folgende: Nach unserer Erfahrung kommen plötzliche und stark ausgeprägte Abänderungen bei unseren Zuchterzeugnissen einzeln und in ziemlich langen Zwischenräumen vor. Wenn solche im Naturzustande vorkämen, würden sie, wie ich früher auseinandergesetzt habe, leicht durch zufällige Ursachen der Vernichtung und durch folgende Kreuzung verloren gehen. Und ebenso ist es bekanntlich bei der Zucht, wenn nicht plötzliche Abänderungen dieser Art besonders erhalten und durch die Sorgfalt des Menschen abgesondert werden. Damit daher eine neue Art in der von Mivart vorausgesetzten Weise plötzlich erscheinen könnte, ist es beinahe nötig, im Gegensatz zu allen ähnlichen Fällen anzunehmen, daß mehrere wunderbar umgewandelte Geschöpfe gleichzeitig in demselben Bezirk erscheinen. Diese Schwierigkeit wird, wie bei der unbewußten Auslese des Menschen, nach der Lehre von der stufenweis erfolgenden Entwicklung durch die Erhaltung einer großen Anzahl von Geschöpfen, die sich in einer günstigen Richtung mehr oder weniger abgeändert haben, und durch die Vernichtung einer großen Anzahl anderer vermieden, die sich in der entgegengesetzten Richtung abgeändert haben.

Daß viele Arten sich nur ganz schrittweise entwickelt haben, kann kaum bezweifelt werden. Die Arten und sogar die Gattungen vieler der großen natürlichen Familien sind so nahe miteinander verwandt, daß es bei nicht wenigen schwer ist, sie auseinanderzuhalten. Auf jedem Festlande trifft man, wenn man von Norden nach Süden, vom Tiefland zum Hochland geht, eine Schar nahe verwandter oder einander vertretender Arten. So ist es auch auf gewissen getrennten Festländern, die, wie wir zu glauben Grund haben, früher zusammenhingen. Indem ich aber diese und die folgenden Bemerkungen mache, muß ich auf später zu erörternde Dinge hinweisen. Man betrachte die vielen um ein Festland liegenden Inseln und sehe, wie viele ihrer Bewohner nur als zweifelhafte Arten eingereiht werden können. Ebenso ist es, wenn wir auf vergangene Zeiten blicken und die eben verschwundenen Arten mit denen vergleichen, die noch innerhalb derselben Länderstrecken leben, oder wenn wir die versteinerten, in den Unterabteilungen einer Erdschicht eingebetteten Arten miteinander vergleichen. Es ist in der That offenbar, daß Mengen von Arten aufs engste mit anderen Arten verwandt sind, die noch leben oder kürzlich gelebt haben, und die Behauptung ist kaum aufrecht zu erhalten, daß solche Arten sich unvermittelt oder plötzlich entwickelt haben. Auch sollte man nicht vergessen, wenn man anstatt auf getrennte Arten auf besondere Teile verwandter Arten blickt, daß zahlreiche und wunderbar feine Abstufungen verfolgt werden können, die sehr verschiedene Bildungen miteinander verknüpfen.

Viele große Gruppen von Thatsachen sind nur nach dem Grundgesetz verständlich, daß die Arten sich in sehr kleinen Abstufungen entwickelt haben, die Thatsache z. B., daß die zu den größeren Gattungen gehörigen Arten enger miteinander verwandt sind und eine größere Anzahl Spielarten aufweisen, als die Arten in den kleineren Gattungen. Die ersteren sind auch in kleinen Gruppen versammelt, wie die Spielarten um die Arten, und sie bieten andere Ähnlichkeiten mit den Spielarten dar, wie wir im zweiten Kapitel gezeigt haben. Nach demselben Grundgesetz können wir verstehen, wie es kommt, daß Artmerkmale veränderlicher sind als Gattungsmerkmale, und daß die Teile, die in außergewöhnlichem Grade oder außerordentlicher Weise entwickelt sind, veränderlicher sind als andere Teile derselben Art. Viele ähnliche Thatsachen könnte man hinzufügen, die alle nach derselben Richtung weisen.

Obgleich sehr viele Arten fast sicher in Abstufungen hervorgebracht worden sind, die nicht größer sind als diejenigen, welche feine Spielarten trennen, so kann man doch behaupten, daß einige sich in anderer und unvermittelter Weise entwickelt haben. Doch sollte man ein solches Zugeständnis nur machen, wenn man beweiskräftige Beispiele anführen kann. Die unbestimmten und in mancher Hinsicht falschen Ähnlichkeiten, die, wie ich gezeigt habe, von Chauncey Wright zu Gunsten dieser Ansicht vorgebracht worden sind, z. B. die plötzliche Verwandlung in Krystall bei unorganischen Stoffen oder das Fallen einer geschliffenen Afterkugel von einer Schlifffläche auf die andere, verdienen kaum Beachtung. Eine Klasse von Thatsachen, nämlich das plötzliche Auftreten neuer und andersartiger Lebensformen in den Erdschichten, unterstützt auf den ersten Blick den Glauben an eine unvermittelte Entwicklung. Aber der Wert dieser Zeugnisse hängt gänzlich von der Vollständigkeit der geologischen Urkunde ab, die sich auf weit entlegene Zeiten in der Erdgeschichte bezieht. Wenn die Sammlung lückenhaft ist, wie viele Geologen nachdrücklich behaupten, dann ist es nicht sonderbar, daß neue Arten plötzlich entwickelt zu sein scheinen.

Wenn wir nicht so wunderbare Umformungen wie die von Mivart verteidigte plötzliche Entwicklung der Flügel der Vögel oder Fledermäuse oder die plötzliche Verwandlung eines Hipparions in ein Pferd zugeben, so wirft der Glaube an unvermittelte Ummodelungen kaum Licht auf das Fehlen von Verknüpfungsgliedern bei den Bildungen unserer Erdschichten. Gegen den Glauben an solche unvermittelten Umwandlungen erhebt aber die Keimlehre starken Widerspruch. Es ist bekannt, daß man die Flügel der Vögel und Fledermäuse und die Beine der Pferde oder anderer Vierfüßler in der ersten Keimungszeit nicht unterscheiden kann, und daß sie durch unmerkbar feine Abstufungen verschiedenartig gemacht werden. Die Ähnlichkeit aller Arten im Keimzustande können, wie wir später sehen werden, dadurch erklärt werden, daß die ersten Vorfahren unserer jetzt lebenden Arten sich nach der ersten Jugend abgeändert und ihre neu erworbenen Merkmale in entsprechendem Alter auf ihre Nachkommenschaft übertragen haben. Der Keim ist so fast unbeeinflußt geblieben und dient als Urkunde des vergangenen Zustandes der Art. Daher kommt es, daß die lebenden Arten während ihrer ersten Entwicklungsstufen so oft ehemaligen und ausgestorbenen Formen derselben Klasse gleichen. Auf Grund dieser Ansicht von der Bedeutung der Ähnlichkeiten im Keimzustande, und eigentlich auf Grund jeder Ansicht ist es unglaublich, daß ein Tier so plötzliche und unvermittelte Umformungen wie die oben angegebenen durchgemacht haben und doch in seinem Keimzustande keine Spur einer plötzlichen Ummodelung zeigen sollte, da jede Einzelheit in seinem Bau durch unmerklich feine Abstufungen entwickelt ist.

Wer glaubt, daß irgendeine ehemalige Form durch eine innere Kraft oder Neigung plötzlich in eine z. B. mit Flügeln versehene umgeformt worden ist, wird fast dazu gedrängt, im Gegensatz zu allen ähnlichen Fällen anzunehmen, daß viele Geschöpfe sich gleichzeitig abgeändert haben. Es kann nicht geleugnet werden, daß solche plötzlichen und großen Umwandlungen im Bau von denen, die die meisten Arten offenbar durchgemacht haben, ganz verschieden sind. Er wird ferner annehmen müssen, daß viele Bildungen, die allen anderen Teilen desselben Geschöpfs und den umgebenden Bedingungen aufs vorzüglichste angepaßt sind, plötzlich hervorgebracht worden sind, und er wird nicht imstande sein, den Schatten einer Erklärung für solche verwickelten und wunderbaren Aneinanderpassungen zu geben. Er wird zugeben müssen, daß diese großen und plötzlichen Umformungen keine Spur ihrer Wirkung auf den Keim zurückgelassen haben. Alles dies zugeben heißt, wie mir scheint, das Reich des Wunders betreten und das der Wissenschaft verlassen.

 


 


 << zurück weiter >>