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Ein ritterlicher Bäckerlehrling

Von der Rosenthaler Straße zogen wir nach der Neuen Königstraße 88. Die Wohnung lag in einem alten Seitenflügel, unmittelbar über einer Bäckerei; das heißt, in dieser Wohnung mußte ein unaufhörlicher, geradezu hoffnungsloser Krieg geführt werden gegen unzähliges Küchenungeziefer, unter dem die sogenannten Schwaben die gefürchtetsten waren. Man weiß – ach nein, in der Regel weiß man nicht – was es bedeutet, jedes Stück des Küchengeschirrs, jedes Stück Brot verteidigen zu müssen gegen Veschmutzung und Vernichtung durch ekelerregendes Getier.

Für uns Kinder war das schönste an dieser Wohnung die Nähe des Friedrichshains, der uns im Sommer und Winter zum Kampf- und Spielplatz wurde. Unter den Menschen dieses Hauses fand ich einen Wohltäter, dessen ich heute noch mit Dankbarkeit gedenke. Es war einer der Lehrlinge der Bäckerei. In einem gewissen Alter, so von zwölf bis vierzehn Jahren, ist ein Großstadtjunge in der Gefahr, sich imponieren zu lassen von der Roheit und dem Schmutz der Straße. Man nimmt Ausdrücke an – je schroffer, je scheußlicher sie sind, desto mehr fühlt man sich als Held, als einer, der es den Großen, das heißt den Fünfzehn- und Sechzehnjährigen, gleichtut. Man fühlt sich selbst dabei nicht wohl; aber es muß eben sein, man »ist doch kein Kind mehr«. Und so sehe ich mich noch, wie ich an einem Abend vor dem alten Hause (es ist längst abgerissen) stehe und einem Lehrling der Bäckerei irgend etwas schildere und ihm dabei imponieren will durch Anwendung von solchen von der Straße aufgeschnappten rohen, wohl auch schmutzigen Ausdrücken. Aber dieser Bäckerlehrling hatte die sittliche Reife, ganz ruhig und ganz freundlich mich zu unterbrechen: »Weißt du, so etwas sagt man nicht. Dafür mußt du dich eigentlich für zu gut halten!« Ich sah erstaunt zu ihm auf; dann faßte ich seine Hand und drückte sie. Von nun an suchte ich Gelegenheit, mit diesem Lehrling, der mir ganz groß vorkam, öfters zu sprechen. Aber wir zogen bald fort, und so kamen wir auseinander. Ich habe seinen Namen lange vergessen. Aber ich habe oft in Dankbarkeit seiner gedacht. Es war ein guter Dienst, den er mir erwies. Ach, wenn wir wüßten, wieviel Verantwortung wir auf uns laden, wenn wir aus Feigheit oder Faulheit schweigen, da, wo wir mit einem ruhigen, offenen Wort irrenden Menschenkindern eine ernste Hilfe hätten erweisen können! Mehr als durch gesprochene Worte kann man durch ungesprochene Worte Schuld auf sich laden!


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