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Viertes Kapitel

Zwei Tage nach der nächtlichen Begegnung mit Theodahad und Petros verbrachte Amalaswintha in einer Art von wirklicher oder vermeinter Gefangenschaft.

Sooft sie ihre Gemächer verließ, sooft sie einbog in einen Gang des Palastes, jedesmal glaubte sie hinter oder neben sich Gestalten auftauchen, hingleiten, verschwinden zu sehen, die ebenso eifrig bedacht schienen, all ihre Schritte zu beobachten als sich selbst ihren Blicken zu entziehen: kaum zu dem Grabe ihres Sohnes konnte sie unbewacht niedersteigen.

Umsonst fragte sie nach Witichis, nach Teja: sie hatten gleich am Morgen nach dem Krönungsfest in Aufträgen des Königs die Stadt verlassen. Das Gefühl, vereinsamt und von bösen Feinden umlauert zu sein, ruhte drückend auf ihrer Seele.

Schwer und düster hingen am Morgen des dritten Tages die herbstlichen Regenwolken auf Ravenna herab, als sich Amalaswintha von dem schlummerlosen Lager erhob. Unheimlich berührte es sie, daß, als sie an das Fenster von Frauenglas trat, ein Rabe krächzend von dem Marmorsims aufstieg und mit heiserem Schrei und schwerem Flügelschlag langsam über die Gärten dahinflog.

Die Fürstin fühlte schon daran, wie geknickt ihre Seele war durch diese Tage von Schmerz, Furcht und Reue, daß sie sich des finstern Eindrucks nicht erwehren konnte, den ihr die frühen Herbstnebel, aus den Lagunen der Seestadt aufsteigend, brachten. Seufzend blickte sie in die graue Sumpflandschaft hinaus.

Schwer war ihr Herz von Reue und Sorge.

Und ihr einziger Halt der Gedanke, durch freie Selbstanklage und volle Demütigung vor allem Volk das Reich noch zu retten um den Preis ihres Lebens. Denn sie zweifelte nicht, daß die Gesippen und Bluträcher der drei Herzoge ihre Pflicht vollauf erfüllen würden. In solchen Gedanken schritt sie durch die öden Hallen und Gänge des Palastes, diesmal, wie sie glaubte, unbelauscht, hinunter zu der Ruhestätte ihres Sohnes, sich in den Vorsätzen der Buße und Sühne an ihrem Volk zu befestigen.

Als sie nach geraumer Zeit aus der Gruft wieder emporstieg und in einen dunklen Gewölbgang einlenkte, huschte ein Mann in Sklaventracht aus einer Nische hervor – sie glaubte sein Gesicht schon oft gesehen zu haben – drückte ihr eine kleine Wachstafel in die Hand und war seitab verschwunden.

Sie erkannte sofort – die Handschrift Cassiodors –.

Und sie erriet nun auch den geheimnisvollen Überbringer: es war Dolios, der Briefsklave ihres treuen Ministers. Rasch die Tafel in ihrem Gewande bergend eilte sie in ihr Gemach. Dort las sie: «In Schmerz, nicht in Zorn, schied ich von dir. Ich will nicht, daß du unbußfertig abgerufen werdest und deine unsterbliche Seele verloren gehe. Flieh aus diesem Palast, aus dieser Stadt: dein Leben ist keine Stunde mehr sicher. Du kennst Gothelindis und ihren Haß. Traue niemand als meinem Schreiber und finde dich um Sonnenuntergang bei dem Venustempel im Garten ein. Dort wird dich meine Sänfte erwarten und in Sicherheit bringen, nach meiner Villa im Bolsener See. Folge und vertraue.

Gerührt ließ Amalaswintha den Brief sinken: der vielgetreue Cassiodor! Er hatte sie doch nicht ganz verlassen. Er bangte und sorgte noch immer für das Leben der Freundin. Und jene reizende Villa auf der einsamen Insel im blauen Bolsener See! Dort hatte sie, vor vielen, vielen Jahren, als Gast Cassiodors, in voller Blüte der Jugendschönheit, Hochzeit gehalten mit Eutharich, dem edlen Amalungen, und von allem Schimmer der Macht und Ehren umflossen, ihrer Jugend stolzeste Tage gefeiert.

Ihr sonst so hartes, aber jetzt vom Unglück erweichtes Gemüt beschlich mächtige Sehnsucht, die Stätte ihrer schönsten Freuden wiederzusehen. Schon dies eine Gefühl trieb sie mächtig an, der Mahnung Cassiodors zu folgen: noch mehr die Furcht – nicht für ihr Leben, denn sie wollte sterben –, die Raschheit ihrer Feinde möchte ihr unmöglich machen, das Volk zu warnen und das Reich zu retten. Endlich überlegte sie, daß der Weg nach Regata bei Rom, wo in Bälde die große Volksversammlung, wie alljährlich im Herbst, stattfinden sollte, sie am Bolsener See vorüberführte. Also war es nur eine Beschleunigung ihres Planes, wenn sie schon jetzt in dieser Richtung aufbrach. Um aber auf alle Fälle sicherzugehn, um auch, wenn sie das Ziel ihrer Reise nicht erreichen sollte, ihre warnende Stimme an das Ohr des Volkes gelangen zu lassen, beschloß sie einem Brief an Cassiodor, den auf seiner Villa anzutreffen sie nicht bestimmt voraussetzten konnte, ihre ganze Beichte und die Enthüllung aller Pläne der Byzantiner und Theodahads anzuvertrauen.

Bei geschlossenen Türen schrieb sie die schmerzreichen Worte nieder, heiße Tränen des Dankes und der Reue fielen auf das Pergament, das sie sorgfältig siegelte und dem treuesten ihrer Sklaven übergab, es sicher nach dem Kloster Squillacium in Apulien, der Stiftung und dem gewöhnlichen Aufenthalt Cassiodors, zu befördern.

*

Langsam verstrichen der Fürstin die zögernden Stunden des Tages. Mit ganzer Seele hatte sie des Freundes dargebotene Hand ergriffen. Erinnerung und Hoffnung malten ihr um die Wette das Eiland im Bolsener See als ein teures Asyl, dort hoffte sie Ruhe und Frieden zu finden. Sie hielt sich sorgsam innerhalb ihrer Gemächer, um keinem ihrer Wächter Veranlassung zum Verdacht, Gelegenheit, sie aufzuhalten, zu geben. Endlich war die Sonne gesunken.

Mit leisen Schritten eilte Amalaswintha, ihre Sklavinnen zurückweisend und nur einige Kleinodien und Dokumente unter dem weiten Mantel bergend, aus ihrem Schlafgemach in den breiten Säulengang, der zur Gartentreppe führte. Sie zitterte, hier wie gewöhnlich auf einen der lauschenden Späher zu stoßen, gesehen, angehalten zu werden. Häufig sah sie sich um, vorsichtig blickte sie sogar in die Statuennischen: alles war leer, kein Lauscher folgte diesmal ihren Tritten. So erreichte sie unbeobachtet die Plattform der Freitreppe, die Palast und Garten verband und weiten Ausblick über diesen hin gewährte. Scharf überschaute sie den nächsten Weg, der zum Venustempel führte. Der Weg war frei.

Nur die welken Blätter raschelten wie unwillig von den rauschenden Platanen auf die Sandpfade nieder, gewirbelt von dem Winde, der fern, jenseits der Gartenmauer, Nebel und Wolken in geisterhaften Gestalten vor sich her trieb: es war unheimlich in dem ausgestorbenen Garten und seiner grauen Dämmerung.

Die Fürstin fröstelte, der kalte Abendwind zerrte an ihrem Schleier und Mantel, einen scheuen Blick warf sie noch auf die düsteren, lastenden Steinmassen des Palastes hinter sich, in dem sie so stolz gewaltet und geherrscht, und aus dem sie nun einsam, scheu, verfolgt wie eine Verbrecherin, flüchtete. Sie dachte des Sohnes, der in den Tiefen des Palastes ruhte. – Sie dachte der Tochter, die sie selbst aus diesen Mauern, aus ihrer Nähe verbannt hatte.

Und einen Augenblick drohte der Schmerz die Verlassene zu überwältigen. Sie wankte, mühsam hielt sie sich aufrecht an dem breiten Marmorgeländer der Terrasse: ein Fieberschauer rüttelte an ihrem Leibe wie das Grauen der Verlassenheit an ihrer Seele.

«Aber mein Volk!» sprach sie zu sich selbst, «und meine Buße – ich will's vollenden.» Gekräftigt von diesem Gedanken eilte sie die Stufen der Treppe hinab und bog in den von Efeu überwölbten Laubengang ein, der quer durch den Garten führte und an dem Venustempel mündete. Rasch schritt sie voran, erbebend, wenn zu einem der Seitengänge das Herbstlaub wie seufzend hereinwirbelte.

Atemlos langte sie vor dem kleinen Tempel an und ließ ringsum die suchenden Blicke schweifen. Aber keine Sänfte, keine Sklaven waren zu sehen, rings war alles still: nur die Äste der Platanen seufzten im Winde.

Da schlug das nahe Wiehern eines Pferdes an ihr Ohr.

Sie wandte sich: um den Vorsprung der Mauer bog mit hastigen Schritten ein Mann. Es war Dolios. Er winkte, scheu umherspähend. Rasch eilte die Fürstin auf ihn zu, folgte ihm um die Ecke, und vor ihr stand Cassiodors wohlbekannter gallischer Reisewagen, die bequeme und vornehme Carruca, von allen vier Seiten mit verschiebbaren Gitterläden von feinem Holzwerk umschlossen, und mit dem raschen Dreigespann belgischer Manni beschirrt.

«Eile tut not, o Fürstin», flüsterte Dolios, sie in die weichen Polster hebend. «Die Sänfte ist zu langsam für den Haß deiner Feinde. Stille und Eile, daß uns niemand bemerkt.»

Amalaswintha blickte noch einmal um sich.

Dolios öffnete das Tor des Gartens und führte den Wagen vor dasselbe hinaus. Da traten zwei Männer aus dem Gebüsch: der eine bestieg den Sitz des Wagenlenkers vor ihr: der andere schwang sich auf eines der beiden gesattelt vor dem Tore stehenden Rosse. Sie erkannte die Männer als vertraute Sklaven Cassiodors, sie waren wie Dolios mit Waffen versehen. Dieser sperrte wieder sorgfältig das Gartentor und ließ die Gitterladen des Wagens herab. Dann warf er sich auf das zweite der Pferde und zog das Schwert: «Vorwärts!» rief er.

Und von dannen jagte der kleine Zug, als wär' ihm der Tod auf der Ferse.


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