Anna Croissant-Rust
Die Nann
Anna Croissant-Rust

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15

Es war nach der Heuernte, als die Malseinerin merkte, ›der Alte hat was auf dem Herzen und weiß nicht, wie er's anbringen soll‹. Er blieb nicht lange bei einer Arbeit, blieb nicht lange auf dem Stuhl sitzen, redete noch weniger als sonst und war mürrischer als sonst; kurz, sie sah, daß ihn etwas herumtrieb. Nur ein Wort hätte sie sagen dürfen, dann wäre alles gekommen, das wußte sie; diesmal ließ sie ihn aber zappeln, sie sagte nichts, – warum war er so bissig und streitsüchtig die ganze Zeit und gönnte dem Hansi keinen Blick, geschweige denn ein Wort! Daß er dem Hansi etwas wollte und ihn doch um keinen Preis anredete, war ihr klar, und sie hatte ihre heimliche Freude daran, stellte sich natürlich nach Weiberart ganz unbefangen bei der Sache, ging aber dem Alten mit leisen Tritten und listigen Augen überall nach. Sie konnte sich schon denken, was es war; Blasi brachte auf der Alm oben gar nichts in die Höhe. Was er herunterschickte, war etwa die Hälfte von dem, was Hansi herausgeschlagen, selbst die junge Sennerin hatte mehr und Besseres zustande gebracht. Das giftete den Malseiner um so mehr, weil er aus Eigensinn und Zorn den Buben nicht hinaufgelassen hatte, gerade weil er sah, daß der gern wieder einmal oben gewesen wäre. Früher hätte die 219 Malseinerin sicher nicht schweigen können, es hätte ihr die Brust zersprengt, den Unfug mit der Almwirtschaft ansehen zu müssen; da wäre gewiß alles Hals über Kopf gekommen, und sie hätte dem Malseiner gehörig den Text gelesen! Wie man sich doch ändern konnte! Früher hatte der Bauer immer zu ihr gesagt: »Du bist zu g'schwind, mit dir geht 's Mundwerk glei durch.«

Jetzt hatte sie sogar gelernt, Sachen, die ihnen großen Schaden brachten, ungerügt zu lassen. Im Gegenteil, je weniger Blasi oben zusammenbrachte, desto mehr freute sie sich; je mehr dem Alten der Zorn stieg, desto eifriger rieb sie sich die Hände und desto mehr schmunzelte sie.

Ein paarmal hatte sie ihn schon beim Rosele stehen sehen und hatte gehört, wie er anfing, über Blasi zu schimpfen.

»Ja, so geh decht auffer, Malseiner« hatte die erwidert, »wirscht decht des no dermachen, so alt bischt du nit; nachschauen möcht' freilich einer.«

Die Bäuerin biß sich auf die Zunge, um nicht laut zu lachen. Bravo, altes Rosele, das hast du gut gemacht! Die wußte auch genau, um was es sich handelte, trotzdem sie nie mit ihr darüber gesprochen, und kam dem alten Starrkopf keinen Schritt entgegen. Ihr war auch der Hansi lieber, und gewiß, wenn es irgendwie einmal ernst geworden wäre, hätte sie sich unbedenklich auf Hansis Seite gestellt. Beim Vorübergehen blinkte ihr die Malseinerin mit einem Auge zu, und das Rosele zwinkerte lustig entgegen, sie hatten sich wohl verstanden.

Sogar vor der alten Magd schämte sich der Malseiner, direkt herauszusagen, was er wollte; zuletzt 220 kam er zum Vinaderser Moidl und herrschte sie an, da sie gerade müßig stand: »Des ischt a Wirtschaft! Des ischt a Wirtschaft! Mein Lebtag war's no nit a so in Malsein. Da herunten wird nix g'arbeit't, und droben auf der Alm erscht recht nix. Glei sagscht 'n Hansi, er mag sie richten und auf d' Alm gehen nachschaug'n, nachher hascht du aa was z' tuan.«

Das Vinaderser Moidl war nicht imstande, sein spitzes Zünglein zu halten, so sehr die Malseinerin es ihm auch aufgetragen hatte. Es platzte einfach heraus:

»Bald du an Zorn über 'n Hansi und über di selber hascht, brauchscht 'n nit an mir auszulassen; du bischt selber schuld, wenn du 'n ganzen Tag an Kopf hängen lassen muascht.«

»Jetz schleun di aber, oder i kimm dir anderscht!« schrie der erboste Bauer, und das Vinaderser Moidl, das ebenso schnell mit den Füßen wie mit dem Zünglein war, sprang wie der Wind fort und freute sich genau wie die andern Weiber, daß sich der Alte jetzt ärgern mußte.

Natürlich kam sein Zorn auch daher, daß er nicht mehr vermochte, die steilen Almwege selbst hinaufzusteigen; sein Asthma machte ihm gehörig zu schaffen, und schon der Weg vom Dorf herauf brachte ihn zuzeiten außer Atem, ganz wie jeder Zorn und jede Aufregung.

So mußte er jetzt wieder bös schnaufen, weil er sich über die Dirn' geärgert hatte; wenn nur auch der Hansi gleich ging, sonst konnte der was erleben! Am Fenster der Stube stehend, lauerte der Alte. Richtig, da war er ja schon! Und wie er aussah, wie das Leben selbst, dem taugte es wohl gerade heute, nach den Almen zu sehen, weil er gar so lustig pfiff! Mit 221 Stolz, Groll und Neid sah der Vater Hansi nach. Jawohl, so war auch er einst da hinaufgestiegen und auf der andern Seite ins Navistal hinunter, damals, als die Malseinerin noch ein junges Diandl war. Die Zeiten hatten sich geändert, jetzt rückten andre an, die ihm nicht ganz gefallen wollten.

Die Beine waren noch jung, da wollte er noch springen wie ein Hirsch, ja, da getraute er sich's noch mit dem Hansi aufzunehmen, aber der Atem da drinnen, der hatte ihm den Dienst gekündigt, der war ein unlieber Mahner!

Mürrisch ging der Alte vom Fenster weg; hätte er noch eine Weile gewartet, so hätte er einen neuen Ärger gehabt, denn der Hansi schlug nicht den nahen Almpfad ein, sondern stieg nach dem Kuchlerhaus hinauf, um von dort aus den Weg zu nehmen.

Hansi wußte selbst nicht, warum er den weiteren und beschwerlicheren Steig genommen hatte; vielleicht aus uneingestandenem Trotz gegen den Vater, vielleicht auch, weil der Tag so herrlich und das Wandern eine Freude war. Je höher er stieg, desto mehr freute es ihn. Die Almrosen schauten rot von der Wand herunter, der Himmel über ihm war so blau, wie er ihn niemals gesehen zu haben glaubte, über den glänzenden Fernern standen ein paar kleine Wolken, ganz zaghaft, wie wenn sie sich nicht in das große weite Blau hinausgetrauten. Ein leichter Duft lag über den Bergen des Gschnitztales, sie hatten etwas Glasiges, waren fernergerückt, wie es nur ist, wenn die Tage lange schön bleiben wollen. Hansi war vom Pfeifen zum Singen übergegangen, und je höher er stieg, desto lauter sang er. Plötzlich sah er die Räuberhöhl' vor sich liegen, da verstummte er.

222 Vor dem Haus saß jemand, das mußte wohl die Juli sein.

Er hatte das unbehagliche Gefühl eines gesunden, lebensstrotzenden und lebenstüchtigen Menschen vor etwas Halbem, Krankem, für das Leben Wertlosem und wäre am liebsten hinten ums Haus herum, ohne zu grüßen, wenn sie ihn nicht schon gesehen hätte. Sie saß unbeweglich und sah Hansi fortwährend an. Eigentlich hatte er mit einem »Grüß Gott« vorbeigehen wollen, er wußte selbst nicht, warum ihn der eigentümlich starre und dabei traurige Blick Julis zwang, stehenzubleiben.

Aus Julis Schoß lag ein ganz kleines Kindchen mit einem mageren alten Faltengesicht; Hansi betrachtete es mehr aus Verlegenheit als aus Neugierde. Was sollte er denn mit der Juli reden?

»G'hört der Moidl,« sagte die Juli gleichgültig, schaute aber gar nicht das Kind, sondern immer den Hansi an. Jetzt sah er, daß ein etwa Zweijähriges ihr noch zu Füßen hockte, ein schwarzer, zerzauster Wildling, echter Kuchlerschlag, mit dicken Augenbrauen und blanken kecken Augen.

»Der Kathl das ihre,« sagte die Juli wieder, und immer waren ihre Augen mit demselben starren und zugleich fragenden Ausdruck auf Hansi gerichtet. Wie der Blick glanzlos war, und wie dünn und hager die Juli dasaß! Ganz dieselben Falten kriegte sie von der Nase zum Mund herunter wie der Alte. Die Hände waren wie Haut und Knochen, und die Haut selbst hatte etwas Lebloses.

Herrgott, die saß ja schon da wie halb gestorben! Es schüttelte ihn ordentlich, und er ging mit einem hastigen »Pfüat di', Juli!«

223 An der Hausecke stand das Luisele, ihre freche Nase in der Luft, lutschte an einem Daumen, grinste, bot ihm aber als alte Feindin von Malsein kein »Grüß Gott«. Dafür schrie ihm aus dem letzten Fenster die Dicke nach und lud ihn ein zum »Zukehren«; in ihren mildesten Tönen lockte sie, doch Hansi blieb taub.

»Muß auf die Alm,« sagte er unfreundlich und gab gar keine Antwort mehr, obwohl sie noch immer nachrief.

Die Kuchlerischen? Pfui Teufel! Fast war ihm der schöne Tag verleidet. Warum war er denn auch gerade da heraufgestiegen? Der Vater konnte ruhig sein, sollte er etwa eine von den zwei nehmen, die schon nahe an dreißig waren, – die in Innsbruck, oder gar die Moidl, die schon wieder einmal gewandert war und nun im Navistal saß, und der der Michel nachgezogen sein sollte, wie er gehört hatte? Oder gar die kranke Juli?

Da konnte das Gewehr ruhig an der Wand hängen, und der Vater konnte sich ruhig aufs Ohr legen; und wenn sonst keine Madeln mehr auf der Welt aufzutreiben wären, da biß er gewiß nicht an. Es waren bloß eigensinnige Launen bei dem Alten, der wußte so gut wie einer, daß er nicht daran dachte, aber er hielt eben in aller Verbissenheit daran fest; ihm war's ja gleich, wenn es dem Vater so taugte, er konnte gut leben, ohne daß er mit ihm redete.

Als Hansi die Tür zur Almhütte aufmachte, in der unter dem Kessel ein mächtiges Feuer, ganz zu ungewohnter Zeit, geschürt war, sah er gerade noch jemand durch den Rauch im Kreister verschwinden.

»Hascht epper wen herob'n?« fragte Hansi.

224 »Ah naa,« erwiderte Blasi, wurde aber dunkelrot dabei und schaute unter sich, »grad a – a – a weitschichtiger Vetter ischt vorhin kemmen, er hat si schlafen g'legt.«

Offenbar hatte Hansi eben eine gemütliche Kaffeestunde gestört, denn es roch so würzig, daß er selbst Lust verspürte, mitzuhalten.

»Den weitschichtigen Vetter möcht' i sehg'n.«

Hansi ging lachend auf den Kreister zu; daß Blasi log, sah er ihm ja an der Nase an!

Er klinkte die Türe auf und stieß gleich einen Stuhl über den Haufen, den der andre in der Eile vorgestellt hatte, denn Riegel war keiner vorhanden.

Auf dem Bett lag ein baumlanger Kerl mit dem Gesicht in den Kissen, der dem Hansi recht bekannt vorkommen wollte. Als er sich nach einem schwachen Widerstand umdrehen ließ, aber immer noch das Gesicht in das Bett drückte, kannte ihn Hansi gleich, obgleich er ihn viele, viele Jahre nicht gesehen hatte.

Das war ja bei Gott der Anderl! Hansi mußte gerade hinauslachen, als der endlich den Kopf hob, so ängstlich und verstört sah ihn der große Kerl an, gerade wie wenn er auf eine tüchtige Tracht Prügel warte und sie gottergeben über sich ergehen zu lassen bereit sei; oder doch wie wenn er zum mindesten Schelte fürchte dafür, daß er da heroben auf des Malseiners Alm schon ein paar Tage versteckt mitlebte.

Und Hansi sagte genau dasselbe, was er als Bub schon zu ihm gesagt hatte: »Ja, schamst di denn nit?«

Und genau dasselbe schuldbewußte und resignierte Gesicht machte der Anderl wie vor Jahren, so daß Hansi nicht aus dem Lachen kam.

Als Anderl den Hansi so lustig lachen hörte, 225 rückte er nach und nach mit der Farbe heraus. Er hatte gerade jetzt keinen Dienst. Sein Bauer, bei dem er all die Jahre gewesen, war gestorben, und alles war verteilt worden. Er hatte es nicht recht anzufangen gewußt da draußen im Bayrischen, wo er so lange gewesen, einen neuen Dienst aufzutreiben.

»Jetzt im Sommer?« fuhr Hansi dazwischen, »ja, Bua!«

Anderl senkte schuldbewußt den Kopf. So konnte er also auch noch seinen alten Katerbuckel machen, er hatte ihn nicht vergessen!

»I hab' auf oamal Hoamweh kriegt nach Tirol, nach unsre Berg. – Aber wie i herkemmen bin, hab' i mi' nit hoamtraut. Der Voda is da – i war' so gern hoam –«

Nach der Räuberhöhle hatte er Heimweh gehabt! Konnte denn das sein? War denn das eine Heimat? Konnte man danach Heimweh haben? – Und hineingetraut hatte er sich nicht! Dieser baumlange Kerl, dieser alte Soldat!

Hansi mußte ihn nur immer betrachten; er war ja fast einen Kopf größer als er, und der Kerl traute sich nicht heim!

»Hascht du was ang'stellt?« fragte er ihn.

»I? – O naa. Sieben Jahr war i bei oan Bauern. I kann fescht arbeiten, wenn i g'nug zu essen krieg'; gar zu schnell geht's freili alleweil noch nit. Die Sennerei versteh i schon auch, i bin fünfmal auf der Alm g'wesen.«

»So?« sagte der Hansi erstaunt. »Hat der Blasi koan Arbeit für di?«

»Jaja! Freili!« meinte der Anderl eifrig, »hab' bis jetzt auch g'holfen.«

226 »I werd' mit 'n Vater reden,« meinte Hansi, ein klein wenig bedächtig zwar, denn das Reden mit dem Vater war doch nicht so einfach, das wollte er aber am wenigsten dem Anderl eingestehen.

»Du, dir wüßt' i a rechtschaffene Arbeit dahoam,« sagte er nach einiger Überlegung, »geh und räum die Räuberhöhl' aus!«

Anderl schaute ihn erschrocken an. Er wußte schon durch Blasi, wie es drunten aussah; da sollte er ausräumen! Ausräumen, das hieß: hinauswerfen! Er! –

»Ja, wenn i du war'!« stotterte er.

Der Hansi, ja, das war etwas ganz andres; wie konnte der so etwas von ihm verlangen! Es wird ihm immer unbehaglicher in Hansis Gegenwart. Genau dasselbe Gefühl hat er noch, das er schon als Bub gehabt, wenn er stets hören mußte: »Da schau den Hansi an!« Immer war der der Stärkere, der Überlegene, der Zugreifende, der, wegen dessen er unzählige Prügel bekam und der ihn verachtete. Ganz genau erinnert er sich noch daran, wie er ihn zur Seite stehen ließ und lieber mit der kleinen Nann spielte als mit ihm.

Und da sitzt er nun auf Hansis Alm und verzehrt sein Mittagbrot und ißt sein Abendessen und schläft im Heu, und der weiß von nichts – er schämt sich in Grund und Boden hinein, wie ein Dieb hat er sich eingeschlichen, und wie ein armer Sünder steht er vor Hansi und fühlt eine Art dumpfer Verpflichtung, ihm zu zeigen, daß er Schneid hat, hinunterzugehen und frisch dort anzupacken und hinauszuwerfen. Aber – er traut sich nicht, er traut sich weiß Gott nicht! »Hansi, schau –,« stottert er.

227 »I kann mir denken, was du sagen willscht,« sagt Hansi, der fühlt, daß ihm der Zorn aufsteigt, »i könnt' die Wirtschaft nit mit anschaug'n. Habt's ihr denn a Hoam? Von der in Innsbruck will i nit reden, aber dir geht a Hoam ab, und die Moidl wär' vielleicht decht anderscht worden, wenn sie in ihrem Leben dahoam a guats Wort g'hört hätt'! Und die kloan Nann, was ischt denn mit der? Kümmert si wer von enk um des Kind? Die kann verderben und sterben, und ihr wißt's nix davon, die Juli ischt so schon halb g'storben. Grad mit die zwoa Fäuscht möchtest dreinfahren! Des müßt a Freud sein! Aber i siech's, des ischt koan Arbet für dich, du hascht alles zu viel damit zu tun, daß du dich schamst, dein ganz Leben hascht du zu tun damit.«

Anderl nahm die Predigt auf, wie er alle Predigten Julis und alle Schelte des Vaters früher aufgenommen hatte. Gescholten zu werden, war einmal sein Schicksal, da war nicht dagegen aufzukommen. Er meinte es doch auch wieder gut, der Hansi, denn er ließ einen guten Kaffee kochen, und sie saßen dann beisammen wie alte Freunde. Reden tat allerdings meist der Hansi, Blasi war zu tiefsinnig und Anderl zu sehr eingeschüchtert dazu.

Als Hansi heimging, rief er Anderl noch scherzweise zu: »No, gehscht nit mit, die netten kloan'n Madelen anschauen? Der Moidl des seinige und des von der Kathl?«

»Die Moidl aa?« fragte Anderl mit aufgerissenen Augen; davon hatte Blasi nichts gesagt.

»Die Moidl – – aa,« stotterte Blasi nach, er zitterte an allen Gliedern.

Da standen die beiden langen Burschen vor Hansi 228 wie arme Sünder, und er schaute von einem zum andern, und es kam ihm immer spaßhafter vor.

»Ha, du bischt decht nit schuld, Anderl! Was machscht denn für a G'sicht!«

»Wenn i nix g'wißt hab', und wenn i g'moant hab', der Blasi –«

»Ja, und du, Blasi – – aha!« – –

Blasi war noch immer blaß und trat vor Verlegenheit von einem Fuß auf den andern.

»I – i – woaß es nit, i bin's nit,« stammelte er und sah dabei aus, wie wenn er auf etwas ertappt worden wäre, »naa, naa – – i glaub's nit.«

»Werdet nur g'rad' nit tiefsinnig da heroben, boade, vielleicht fallt dir's noch ein, Blasi. Magscht auch nach der Moidl schauen und sie drum fragen, gar zu weit hascht du nit, sie dient in Navistal, am Puig unten, geh und frag sie, vielleicht bischt es doch!«

Hansi war schon längst lachend gegangen, da standen die zwei noch auf demselben Fleck, und Blasi schüttelte noch immer den Kopf: »I woaß es nit, i woaß es nit,« und Anderl sekundierte ihm und schaute ihn halb erstaunt und halb wehmütig dabei an.

Daß Anderl heimlicherweise auf der Malseiner Alm eingekehrt ist, treibt den Hansi zum Reden mit dem Vater. Viel Gegenrede erfährt er nicht von dem Malseiner. Hansi stellt ihm vor, wie schlecht Blasi oben wirtschaftet und wie es besser sein müsse, wenn Anderl mithelfe, besonders ginge die Sache, wenn der Vater erlaube, daß er selbst fleißig nachschaue. Der Anderl verstünde ja auch was vom Zimmern, es sei so viel schlecht oben, und da der alte Kuchler ja nicht mehr zu ihnen gehe –

»Recht, guat ischt's,« unterbricht ihn der Alte 229 und winkt mit der Hand. Die ganze Zeit hat er angestrengt zum Fenster hinausgesehen, Hansi kann aber nichts Besonderes entdecken draußen. Der Puschterer mäht Futter wie jeden Abend und raucht seine Pfeife dazu, die langen Schatten der Berge fallen über die Wiese, und der Abendwind hebt den Vorhang am offenen Fenster.

»Hat er mit dir g'redet?« wispert die Malseinerin, als Hansi aus der Stube kommt.

»Ja, zwoa, nana, drei Wort.«

»Ischt's ihm nit recht?«

»Woll! aber er mag halt nit reden mit mir.«

»Oh, der!« droht die Malseinerin mit der Faust nach der Stube hin, »nachgeben tuat er nit.«

Daß der Malseiner am Tische sitzt und vor sich hinschmunzelt, weiß sie freilich nicht. Ordentlich aufgeräumt ist der Alte. So! jetzt hat der Hansi doch das erste Wort reden müssen! Wenn er was haben will, da kann er schon kommen! Es wird schon noch öfter so gehn, er wird noch öfter kommen und bitten müssen! Der Schaffer, der, der's zu erlauben hat, der anzuschaffen hat, der Herr, ist eben doch er, er und nicht der Hansi, und er bleibt's, solange es geht! Was liegt denn ihm dran, ob noch ein Lungerer mehr auf der Alm ist? Das Reden soll der Bub' lernen, das Kleinbeigeben, seinen unnötigen Stolz verlernen. Nun, der Anfang ist ja da, und schmunzelnd reibt sich der Alte die Hände.

Von nun an kommen die beiden öfter mit spärlichen Reden zusammen. Der Alte sieht es gern, wenn Hansi auf die Alm geht, um nachzuschauen, er merkt auch, daß ein ganz andrer Zug in der Geschichte ist, und er will immer hören, wie es oben 230 steht, wenn er sich auch den Anschein gibt, als höre er kaum hin, wenn Hansi redet.

Die Bäuerin merkt gut, daß er anfängt, wieder ein andrer Mensch zu werden, natürlich schämt er sich beinahe dessen und tut bärbeißiger und griesgrämiger, als ihm ums Herz ist. Aber es schmeckt ihm wieder, er sieht ganz anders aus, und es ärgert ihn nicht jede Fliege an der Wand.

Meistens nach Feierabend erst steigt Hansi aufwärts der Alm zu. Er weiß genau, wie er die zwei da oben trifft. Vor der Hütte auf der Bank sitzt Anderl mit der Pfeife, stößt große Rauchwolken aus und schaut herunter gegen das Kuchlerhaus zu, nickt bedächtig und sagt jedesmal: »Ja, ja, es ischt an anders Ding in Tirol drein!« und sieht so versonnen dabei aus, wie wenn's ihm immer noch nicht gelungen wäre, darüber klar zu werden, warum es ein »ander Ding« in Tirol sei.

Fragt ihn der Hansi: »Warscht no' nit dahoam?« so nimmt sein Gesicht einen halb furchtsamen, halb erschreckten Ausdruck an, und er schüttelt abwehrend den Kopf.

Hinter der Hütte aber sitzt Blasi, ebenfalls mit einer Pfeife und ebenfalls große Rauchwolken ausstoßend. Sein Gesicht hat auch einen tiefsinnigen Ausdruck, er schaut ins Navistal hinunter, unverwandt gegen Puig zu, genau wie Anderl vor der Hütte. Auch er nickt vor sich hin und sagt jedesmal dasselbe, in demselben halb weinerlichen, halb bittenden Ton, wie wenn er geholfen haben wollte: »Naa, naa, Hansi, i glaub's nit, i glaub's nit.«

Sagt Hansi dann: »Ja, bischt no nit fragen 'gangen?« so nimmt sein Gesicht einen ganz ähnlichen 231 furchtsamen Ausdruck an wie das Anderls, und er schüttelt wie jener abwehrend den Kopf.

Hansi erzählt das zu Hause zum Gaudium der Knechte und Mägde, und bald widerhallt das ganze Tal von Lachen über die zwei »sinnirigen« Helden auf der Malseiner Alm. Sogar der alte Malseiner hat nicht an sich halten können und ist herausgeplatzt, und so oft die Rede darauf kommt, hat er seinen größten Spaß daran.

Den Blasi heißen sie überall den ›unwissentlichen‹ Vater, und besonders das Vinaderser Moidl versteht es, die Sache nicht ausgehen zu lassen, weil der Blasi kurze Zeit auf sie selbst ein Auge geworfen hatte, und der Malseiner macht sogar Scherze mit ihr darüber.

Eines Tages hörte ihn die Malseinerin sogar lustig pfeifend aus dem Haus gehen; sie trat verwundert unter die Türe und sah ihm nach, er pfiff noch fröhlich über den Weg bis zum Feld hin, er hatte ja unter Jahr und Tag nicht gepfiffen!

Plötzlich blieb er stehen, hielt die Hand über die Augen und schaute angestrengt den Weg entlang. Die Malseinerin streckte sich nun auch, um besser sehen zu können – wer kam denn da herunter? Dem Gang und dem roten Kopftuch nach mußte das die Dicke sein. Aber die trug ja einen kleinen Sarg!

Und neugierig wie alle Leute, die in der Einöde leben, ging sie ihrem Manne nach und wartete, neben ihm stehend, auf die Dicke.

Die Malseinerin wußte, ihr Mann hatte es nicht gern, wenn sie einen Gruß mit der Dicken tauschte, aber diesmal grüßte er gleich selber.

Lieber Gott, war das ein Sarg! Kein richtiger, wie ihn der alte Kuchler wohl hätte zusammennageln 232 können, wenn er gewollt hätte, ein längliches, kistenähnliches Ding war's, von grob zugehauenen, ungehobelten Brettern, auf die ein unbeholfenes Kreuz geschmiert war.

»Der Moidl sein Diandl,« sagte sie, halb verlegen, halb grinsend, wie es ihre Art war den reichen Malseinern gegenüber, wenn die sich einmal zum Grüßen oder gar zum Reden herbeiließen.

»Und des tragst du a so daher? Des soll so unter die Erden? Hat dir denn der Alt' nix G'scheiders machen können?«

»Woaßt schon, wie er is,« antwortete die Dicke der Malseinerin, »es is halt nit der Kathl sein Kind, zahlt hat sie ja nit viel –«

»Daß der Kuchler des Kind oben lassen hat,« verwunderte sich die Bäuerin.

»I hab'n nit g'fragt,« lachte die Dicke, »wenn sie nit zahlt hätt', hätt' i's nit behalten.«

»Gib decht a paar Rosmarinzweigerln her und a paar Granien, daß er nit a so leer eingraben wird, der Tropf, der armselige,« brummte der Malseiner, und die Bäuerin fügte gern dem Rosmarin und den Geranien noch ein paar Buchszweiglein und eine schöne weiße Rose bei und drückte sie der Dicken in die freie Hand.

Die hatte schon ihr »Dank dir« und ihr »Pfüat Gott« gesagt und war schon im Begriff zu gehen, als sie plötzlich wie angewurzelt wieder stehenblieb.

Ihr breit lächelndes Gesicht hatte sich im Augenblick in ein bitterböses verwandelt, ihr feister Kopf wurde dunkelrot vor zorniger Überraschung; sie stellte das Särglein, das sie die ganze Zeit festgehalten, mit einem Ruck auf den Weg nieder, ließ die Blumen 233 fallen und stemmte die beiden Arme herausfordernd in die Seite. So, ganz so war sie die Dicke von früher, so wie sie die Nann in der Erinnerung hatte; und ebenso wie sie schon viele, viele Male die Nann nach der Schule erwartet hatte, erwartete sie sie auch jetzt.

Der Malseiner stieß einen leisen Pfiff aus, seine Augenbrauen zogen sich in die Höhe, und er blickte gespannt auf die Kommende.

Ja, das war wirklich die Nann, der die Malseinerin ein paar Schritte entgegenging und die Hand reichte.

»Grüaß Gott!« sagte die Nann, und »Grüß Gott!« sagte jetzt auch der Malseiner und streckte ihr die Hand zuerst hin; dann grüßte die Nann die Dicke, die Hand gab sie ihr aber nicht.

»Was willscht du da? Was tuscht du da?« schrie die Dicke, die fast nicht reden konnte vor zorniger Erregung.

»Was i will?« sagte die Nann und sah das krebsrote keuchende Weib von oben an. Sie war ganz ruhig, aber ihre Augen leuchteten, allmählich wurden sie ganz dunkel, ihre Nasenflügel zitterten, ihre Lippen bebten, wie ein kleiner sprühender Teufel stand sie vor der Gegnerin. Das war nicht mehr ein Kindergesicht, das hatte etwas Reifes, Entschlossenes, Herbes und Hartes bekommen, und der Malseiner und die Malseinerin fühlten, daß da zwei ihre Kräfte maßen und daß es mit dem faulen Frieden in der Räuberhöhle zu Ende sei.

»Was i will?« fragte die Nann noch einmal und trat näher auf das Weib zu. »Zu mei'm Vatern will i, in mein Hoam.«

»Zu dei'n Voda?!« höhnte die Dicke, »in dein 234 Hoam! Der wird a Freud haben, der alte Kuchler, der wird di busseln!«

Noch stand sie ruhig, aber auf einmal übermannte sie der Zorn so, daß sie nicht mehr stehenbleiben konnte und vorwärts tappen mußte und fast über das Särglein gefallen wäre.

»Du – du – kimmst mir nit ins Haus,« geiferte sie, aber die Nann hörte gar nicht darauf, sie hatte jetzt erst den kleinen Sarg gesehen.

»Was ischt des?« fragte sie erschrocken die Bäuerin.

»Du bleibscht mir außen,« schrie die Dicke erbost, weil die Nann nicht auf sie hörte, sondern leise mit der Malseinerin redete, »außen bleibscht du mir, hörscht? Glei kehrscht du um, i brauch' di nit oben, i kann di nit brauchen. Gelt, da kamscht du, wenn sie dich aus'n Deanst jagen –«

»Mach, daß du aber kimmst,« fuhr der Malseiner drein, »schamst du dich nit? Laß die Nann jetzt in Frieden und mach du weiter.«

»Sie kimmt mir nit einer,« murmelte die Dicke noch; mit einem bösen Blick auf die Nann riß sie aber doch das Särglein in die Höhe, schob es mit einem Ruck unter den Arm und trabte davon, ohne irgendwem einen Gruß zu geben; die Blumen ließ sie auf der Erde liegen.

Die Nann hob den Strauß auf und machte eine Bewegung, als wolle sie der Frau nachlaufen, ließ es aber doch und schaute ihr nur mit einem schweren Blick nach.

»Jetzt wär' i dahoam,« sagte sie und hatte auf einmal die Augen voller Tränen. Sie, die vorhin noch so stolz und hart war, stand jetzt hilflos wie ein 235 kleines Kind da und ließ sich von der Malseinerin an der Hand ins Haus führen, ließ sich in der Wohnstube in den alten großen Stuhl drücken, wo sie leise vor sich hin zu weinen begann. Die Malseinerin blieb bei ihr und redete auf sie ein. Jetzt kannte sie wieder ihre Nann von früher, aber vorhin hatte sie ja rein zum Fürchten ausgesehen, etwas so Unbändiges hatte aus ihren Augen geschaut.

»So, Nann, setz di nieder, ruh aus und woan di aus, nachher können mir reden.«

Dabei betrachtete sie die Nann von Kopf bis zu Fuß. Sauber, einfach, bis aufs Tüpferl akkurat sah sie aus, ganz wie die Mutter und doch eine Kuchlerische durch und durch. Da sollte einer hergehen und das leugnen! Dem Vater aus dem Gesicht geschnitten, das mußte ja jeder auf den ersten Blick sehen! Und bildsauber war sie dabei, wie sie nur den Kopf trug! Fast zu hoffärtig erschien sie der Bäuerin, selbst jetzt, wo sie weinend im Lehnstuhl saß, stand ihr das Selbstgefühl und der Stolz auf der Stirn geschrieben. Das war kein Erbteil der seligen Marietta, die war weich und liebenswürdig gewesen, die Nann dagegen war hart und herb, das gefiel einem und gefiel einem nicht; ein fremdes herrisches Wesen war in ihr, gar nicht wie ein Bauernmädchen war sie, weiß Gott, wo das herkam, die Marietta sollte ja ein uneheliches Kind gewesen sein – und doch, wenn man sie anzupacken wußte, konnte sie vielleicht das feinste Diandl sein. Daß so etwas aus der Räuberhöhle, daß so etwas vom alten Kuchler kommen konnte!

»Warum bischt du fort, Nann?« fragte sie endlich. Es ging der Malseinerin gar nicht ein, daß man 236 dies resolute, feine und saubere Ding so unter der Zeit etwa aus dem Dienst gejagt hätte.

Die Nann wurde rot bis hinter die Ohren; sie hatte gemeint, das sei ganz leicht zu sagen, jetzt schämte sie sich aber und wußte nicht recht, wie sie's der Malseinerin klarmachen sollte. Es kam so unbeholfen heraus, und sie machte ein altkluges und verschämtes Gesicht dazu, wieder ganz wie ein Kind, und zuletzt mußte sie doch wieder darüber lachen und meinte: »Denk dir nur, Malseinerin, heiraten! I bin ja no a halbets Kind; und i möcht' nit heiraten; g'wartet hätt' er g'wiß, aber siehgscht, bleiben hätt' i nit können, i hab' ihn g'fürchtet.«

Die Malseinerin lachte vor sich hin. »Fürchscht di vor der Dicken nit?« fragte sie.

»Naa, i fürcht' mi nit,« sofort stand die Nann auf den Füßen, »und glei geh' i jetzt zum Vater, mir werden schon sehgn, was wird.«

Jetzt war ihre ganze Zuversicht wiedergekommen; das sagte sie auch der Bäuerin und erzählte ihr, wie schwer ihr der Weg bis hierher geworden. Zuerst hatte sie immer noch das Geschehene verfolgt, und sie hatte sich gefürchtet, Binder könne ihr nachkommen und sie wieder mit zurücknehmen. Sie wollte doch in ihrem ganzen Leben nichts mehr mit ihm zu tun haben. Als endlich die Berge des Valser Tales ihre Spitzen über den Padauner Kogel reckten, als sie von der staubigen weißen Brennerstraße, die sie so müde und mutlos machte, abbog in das grüne Tal von St. Jodok, als sie den weißen Häusern immer näher kam, ihr alles immer vertrauter, immer bekannter dünkte, da war's ihr, als sei sie nie fortgewesen, als sei alles noch so wie damals, als sie mit ihrem schmalen 237 Bündel am späten Novembernachmittag hier durchgekommen war.

Lag denn da nicht dasselbe Holz vor der Säge, und war das nicht derselbe Knecht, der dabeistand? Und da waren ja auch all die Brunnen, die rannen und rannen noch wie vor Jahren, da waren die Raine, über die sie heruntergerollt, die Wiesen, auf denen sie mit den Dorfkindern gespielt, die Hänge, über die sie schreiend mit der Rodel heruntergesaust, die Gasse, die sie so oft mit dem Bergmanndele auf und ab gejagt war!

Da und dort, überall die bekannten Häuser, da und dort ein Zuruf, ein freundlicher Gruß, ein herzliches Willkomm, ein Fragen und Forschen – es war ihr gewesen, als könne es nun doch nicht fehlen in der Heimat, als müsse alles anders sein, der Vater und das Haus und alles miteinander! So war sie fröhlich bis an den Leithnerhof gekommen, der stand noch wie sonst, mit dem alten Spruch an der großen altersbraunen Scheune, den sie als Kinder so schwer entziffern konnten:

Mir Pauen hoch und föst,
Mir sein fremde Göst,
Dort wo wir ewig sollten sein,
Pauen wir so weni drein.

Auf der Bank saß das Rosele, ein kleines, kränkliches, verzogenes Ding, mit matten Augen, das gleich der Spielkameradin von einst die Hand entgegenstreckte und sie nicht mehr ließ. Es wurde ganz lebhaft und aufgeräumt, und die Nann mußte mit ins Haus und erzählen und immer wieder erzählen, während die Leithnerin die beiden Mädchen verglich.

238 Da war die Nann, schlank und hochgewachsen wie eine Zwanzigjährige, mit einem kleinen erfahrenen Frauengesicht, das doch, wenn sie lachte, wie das eines Kindes aussah, so zaghaft und gut dabei, und da war das Rosele, klein, kränklich, mit einem bekümmerten Altweibergesichtchen, das aber heute ganz anders dreinschaute als sonst, denn die Nann wußte noch so viel von alten Schulstreichen, von den Zeiten, wo sie noch ›die Welschhenne‹ war und mit des Vaters ›Janker‹ im Winter zur Schule kam, daß das Rosele gar nicht aus dem Vergnügtsein herauskam.

Es war nicht, wie wenn das die Nann wäre aus der verachteten Räuberhöhle, nein, es war eine Kameradin des Rosele, die sie im Leithnerhof gern haben mochten und die sogar das Rosele, weil es gegen den Abend zuging, nicht einmal mehr heimgehen ließ.

»Kimm recht bald wieder,« hatte sie der Nann vorhin noch zugerufen, und die Nann freute sich unbändig darüber, das alles mußte sie der Malseinerin doch noch schnell erzählen.

»I sag' aa so: Kimm recht bald wieder, Diandl, aber wart grad no a bißl, i glaub', es kimmt der Hansi, der muaß di no' sehgn.« Und sofort rief die Bäuerin in den Flur hinaus: »Hansi, kimm einer, schau, wer da ischt!«

Da raste schon das Bergmanndele voraus und sprang winselnd an Nann herauf und sprang um sie herum und konnte sich nicht genug tun mit Schwänzeln und Bellen.

»Die Nann ischt da, Hansi!« rief die Malseinerin noch einmal in den Flur hinaus und machte ein Gesicht dazu, wie wenn es ganz ihr Werk wäre, daß die Nann so groß und hübsch geworden war.

239 »Ja, grüß die Gott, kloane Nann!« sagte Hansi gutmütig und kam langsam herein. Aber als er in der Stube war und die Nann so groß und stolz und doch dabei wieder verlegen und verzagt stehen sah, lachte er sie an, auch beinahe verlegen, und schaute immer wieder nach ihr.

»Ja, du ja koa kloane Nann mehr,« sagte er, »du bischt a große Nann und a saubere Nann!«

Ja, die da in dem dunklen Kleide mit der schönen hellen Schürze in der sonnigen Stube stand und das blonde Kraushaar im Sonnenschein wie einen Heiligenschein um den Kopf hatte, das war kein Kind mehr, das war ein Diandl, das ihm so wohl gefiel, daß er vor lauter Betrachten gar nicht dazu kam, sie um Wohin und Woher zu fragen, und als sie ging, tat es ihm leid, nicht schon früher gekommen zu sein, denn jetzt fiel ihm allerhand ein, was er noch hätte wissen wollen; er rief ihr noch schnell nach: »Kannscht du noch juchzen, Nann?«

»Ei jawoll!« lachte sie; und wirklich sprang sie den Bühel hinauf, wie sie als kleines Kind schon getan, und droben stieß sie einen Juchzer aus, so hell, so freudig, wie wenn sie nicht die Räuberhöhle mitsamt der Dicken und dem Luisele und der verdrehten Juli vor sich gehabt hätte, sondern direkt immer weiterzusteigen gedenke bis an die Spitzen der Berge und von da geradeaus in den Himmel hinein – und der Hansi antwortete ihr darauf. Es war ihr alter Kinderjodler, nur klang er jetzt ganz anders, und die Nann erschrak fast, wie ihre Stimme in dem engen Tal widerhallte.

*

240 Als sie in der Räuberhöhle die Haustür aufklinkte, sah sie den Vater an der Hobelbank hantieren und schnitzeln. Er drehte erst nach einiger Zeit den Kopf herum, weil alles so merkwürdig still blieb, denn die Nann war unter der Tür stehengeblieben; die Pfeife fiel ihm aus dem Mund, und als er sie aufgehoben hatte und sich, ein wenig ächzend, wieder aufrichtete, hatten seine Augen mit den dicken buschigen Brauen fast immer noch einen erschreckten Ausdruck.

»Grüß Gott, Vater!« sagte die Nann laut, obwohl ihre Stimme etwas schwankte, und hielt dem Vater die Hand hin.

»Grüß Gott!« sagte auch der alte Kuchler, nahm einen Augenblick ihre Hand, ließ sie aber gleich wieder fallen und stand vor der Nann wie vor jemand, vor dem er sich schämte oder der ihn auf etwas ertappt hatte.

Die Nann war auf alles gefaßt gewesen, nur darauf nicht.

»I hab' beim Binder gehn müssen« –

Der Alte sagte kein Wort, paffte nur aus seiner Pfeife, daß sie ihn kaum sah –

»Er hat mi heiraten wollen, da hab' i nit mehr bleiben können« –

Der Alte paffte weiter –

»Es ischt jetzt koan Ziel, und da –«

Sie wartete eine Zeitlang, endlich kam aus dem Qualm eine seltsame Stimme, die ihr gar nicht wie des alten Kuchlers Stimme dünkte:

»Bleib halt da, Nann, bleib, solang' du magscht.«

War das der Vater, vor dem sie sich so gefürchtet hatte, den sie schon mit dem Stecken bereit gesehen, 241 sie aus dem Haus zu treiben, vor dem sie gezittert wie in den Tagen ihrer Kindheit?

»Mein' Schuld ischt es nit,« sagte sie leise und weich gemacht durch des Vaters Wesen, »i kann nit dafür.«

»Ja, ja,« machte der Alte, dann war er auf einmal bei ihr, drängte sie in die Stube und schaute sie dort an, Zug für Zug; wie sie so beisammen standen und die Nann auch den Vater betrachtete, kam's ihr, wie viel sie ihm doch gliche, und all das wüste und abscheuliche Gerede, das ihre Jugend vergällt hatte, und auch sein wildes und häßliches Gebaren, und sie sah in ihn hinein und verstand ihn und wußte auf einmal, warum er so zu ihr gewesen und warum er nun anders, ganz anders war.

»Gel, i bin dein Diandl?« rief sie laut und fest und freudig.

Der Vater sagte kein Wort, aber ein Glänzen kam in seine Augen, daß er der Nann so jung dünkte, wie sie ihn nie gesehen.

Die Juli nahm Nanns Heimkehr auf, wie wenn sie etwa einen Tag fortgewesen wäre, ja, sie betrachtete sie eher mißmutig als freundlich, doch richtete sie der Schwester eine Lagerstätte in der eigenen Kammer her und brachte ihr zu essen.

Die Nann fühlte sich beengt durch Julis Wesen, das ihr noch ungewohnt und fast unheimlich erschien; lieber hielt sie sich zu den Kindern.

Da war vor allem das Luisele, das sofort in seiner etwas zudringlichen und frechen Art sich mit der Nann bekannt machte und, neidisch und herrschsüchtig, wie es war, ihr kleines Schwesterchen gar nicht zur Nann lassen wollte. Diese hatte bald alle Hände voll 242 zu tun, dem kleinen Volk zu wehren und es ihnen doch dabei zu Gefallen zu machen. Überall liefen sie ihr nach und hängten sich an ihre Röcke, es war ganz wie bei den Binderskindern, sie war der reinste ›Schwan, kleb an‹, und die kleine Gesellschaft hatte es bald los, daß sie nur im Scherz drohte und man sich gut mit ihr herumnecken konnte.

Es dauerte nicht lange, so saßen sie alle drei auf dem Boden und spielten. Die Nann hatte ihr Kleid abgelegt und ließ sich von den Kindern zausen, selber ein großes Kind, und lachte mit ihnen um die Wette. Und der Alte zankte nicht wie sonst, wenn die kleine Brut Lärm machte, sondern setzte sich an den Ofen, schmauchte seine Pfeife und schaute ganz behaglich zu.

Mitten drunter kam die Dicke an; sie riß die zwei Kinder gleich in die Höhe und hätte bald die Nann, die nicht rasch genug aufsprang, über den Haufen gerannt vor Wut. Dann blieb sie, beide Hände fest eingestemmt, stehen, pustete noch ein paarmal laut, bis sie den rechten Atem hatte, dann ging's los, zuerst mit einem Schwall von Schimpfworten, später in einem etwas ruhigeren Geleise, aber immer noch laut und kreischend genug und so zungenfertig, daß ihr die Nann gar nicht dazwischenreden konnte:

»So, das wär' mir das rechte! Wird fortgejagt und setzt sich daher und spielt mit die Kinder! Von Arbeiten willst nix wissen, gel du? Des siehch i dir an deiner stolzen Nasen an, du ganz nixnutzige, davong'jagte Dirn!«

Nann fuchtelte vor Erregung, daß sie dem rohen Weibe nicht erwidern konnte, mit den Armen in der Luft herum, endlich gelang es ihr, die Dicke zu 243 überschreien: »Du, i bin fein nit fortg'jagt worden, sag mir des nit noch amal.«

»Was denn? Was denn?« höhnte das Weib.

»I bin selber gangen; und arbeiten will i und kann i aa; ja, sag' i,« schrie die Nann außer sich, weil sich die Dicke dicht vor sie hinstellte und ununterbrochen laut und höhnisch lachte.

Das machte die Nann ganz wild, sie trat vor die Lachende hin und hob die Hand: »Noch amal, wenn du lachscht, schlag' i di mitten ins G'sicht.«

Das war wieder der kleine Sprühteufel, der sich drunten in Malsein schon aufgebäumt hatte.

Der Dicken blieb vor Überraschung der Mund offenstehen, einen Augenblick war sie starr, dann wollte sie auf die Nann los.

Doch der Alte hielt sie fest beim Handgelenk.

»Du laßt sie gehen,« sagte er, »du tuascht ihr niacht, sie hat das Recht in sein Hoam.«

»Was hat sie?« schrie die Dicke.

»Sie hat 's Recht, sie ischt mei Kind, sie g'hört her, aber du nit.«

»Was – Was? – Aber i nit?« brüllte das Weib. »So! so! so! Des wollen wir sehen!«

Links und rechts warf sie Schürze und Tuch und Kleider, zerrte die Zöpfe herunter, daß ihr die Haare ums Gesicht flogen, stieß die Stühle um, rannte gegen die Bank; auf dem Tisch schob sie alles in Hast durcheinander, stürzte in die Kammer, riß dort den Schrank auf, zog die Schubladen heraus und stürzte wieder mit fliegenden Haaren in die Stube zurück, alles sinnlos und von einer Erregung getragen, die noch keine Worte gefunden, oder die sich nicht getraute, sie in Worten zu entladen. Sie hatte einmal 244 in ihrem wirren Hin- und Herschießen einen Blick des alten Kuchler aufgefangen, der sie schweigen hieß. Zuletzt ließ sie sich mit ihrer ganzen Schwere auf einen Stuhl fallen und brach in Tränen aus. Das Weinen ging, als sich niemand um sie kümmerte, in Schluchzen, dann in Heulen und zuletzt in das reinste Toben über, daß die Stube nur so dröhnte.

Der Alte machte die Tür auf: »Da geh außer,« sagte er ruhig, und weil sie weitertobte, schob er sie hinaus und schloß die Tür ab. Jetzt sah die Nann erst, daß ihre Schwester Juli auch in der Stube war. Ihre Augen irrten mit seltsamem Flimmern von einem zum andern, und sie sah aus, als hätte sie vor sich hingelacht.

Das war also ihr ›Hoam‹. Mit all den Verlogenheiten, dem Versteckspielen, dem verborgenen Haß, der Roheit und Bosheit und unterdrückten Leidenschaft?

Nein, da hielt sie's nicht aus, da erstickte sie in der Luft! Entweder alles wurde anders, oder sie ging wieder, sobald sie nur konnte.

»Heut koch' i zu Nacht, und des werd' i immer tun,« sagte sie zum Vater, und wie wenn es ihr Recht von jeher gewesen wäre oder wie wenn sie gestern erst am Herd gestanden hätte, blieb sie fest in der Küche stehen und ließ die Dicke schimpfen.

So blieb es auch weiter. Natürlich schlug die Dicke Lärm, aber der alte Kuchler sagte zu ihr: »Du laßt sie mir gehen draußen, sonst kannscht du dich packen,« da war sie ruhig. Ruhig wie ein knurrender Hund, der immer nach dem Stecken schielt.

Der Alte hatte gerade jetzt ein paar Arbeiten im 245 Hause zu machen, da mußte sie kuschen und ruhig sein. Nicht ein Wort mehr richtete sie an die Nann, aber die fühlte wohl, was sie von ihr zu erwarten hatte.

*

Es war eine dumpfe, schwere, brütende Gewitterstimmung draußen. Tag für Tag stand eisengraues schweres Gewölk über dem Olperer und den Zillertaler Gletschern, und in der Ferne drohte eine hohe, dunkle Wand, in der es ab und zu aufzuckte; aber kein Luftzug kam, kein Wind wehte und brachte die Wolken in Bewegung, kein Tropfen fiel. Es war zum Ersticken drinnen und draußen, die Stimmung im Haus und die Stimmung in der Natur glichen sich. Die Nann trat manchmal vor die Tür, um Luft zu bekommen, so beengend legte es sich auf ihr Herz, aber auch draußen war alles schwer, wie müde, mutlos und voller Trauer sah's ringsum aus.

Die Juli saß den ganzen Tag vor dem Haus, entweder mit einem groben Strickstrumpf oder mit einer groben Näherei. Ein paarmal hörte die Nann draußen reden, und als sie neugierig hinausschaute, war es Hansi. So gern sie mit ihm gesprochen hätte, sie ließ es immer wieder. Warum kam er denn nicht herein, wenn er bei ihnen vorbeiging nach der Alm zu, und warum lachte er mit der Juli? Er mußte das doch sehen, daß die, wie früher auch, toll nach ihm war?

Auch am Sonntag stand die Wolkenwand noch finster am Himmel, ohne daß es zu einem Ausbruch gekommen wäre; dennoch wollte der Vater nach Jodok hinunter, weil er noch etwas wegen des kleinen Begräbnisses in Ordnung zu bringen hatte. So ungern er sich sonst mit der Dicken zeigte, diesmal nahm 246 er sie mit, denn er schien ihr im Hause nicht zu trauen, und für sie gab's nichts Höheres, als in Jodok auf der Post oder beim Bauer in Stafflach mitten unter den Mannsleuten zu sitzen und ein Viertel Roten nach dem andern zu trinken.

Das war eine andre Sache, als sie zum Haus draußen war! Da ging ein Jauchzen und Schreien und Jubilieren und Singen drinnen an, selbst das Luisele, das sonst gern Unfrieden stiftete, war eitel Lust und Daseinsfreude an diesem heißen Spätsommertag! Die Kinder waren im Hemdchen, nur mit einem kurzen Rock bekleidet und barfuß; auch der Nann war es zu heiß geworden, sie hatte Schuhe und Strümpfe abgetan, die leichte Bluse heruntergestreift und war nun fast wie ein Kind anzuschauen in dem blütenweißen Hemd mit dem hellen blauen Leibchen und dem brennend roten Rock. So purzelte sie, als es ihnen im Haus zu eng wurde, mit den Kleinen den schattigen Hang hinter dem Hause herunter, denselben Hang, auf dem Anderl damals in der Neujahrsnacht sein Feuer angezündet hatte.

Die Nann konnte sich, unersättlich wie ein Kind, nicht genug tun, von oben herunterzurollen und atemlos wieder hinaufzulaufen, hoch hinauf, wo der Himmel rund um einen ging wie eine Riesenglocke von dunkelblauem Glas und wo die schneegefleckten Berge mit der schwarzen Wolkenwand dahinter so wunderlich aussahen, wenn man auf dem Rücken lag.

Dann stand sie oben einen Augenblick still, hielt die Hand fest an die Brust, wo's so laut hämmerte vor lauter Tollen, und sah hinunter, wo sie den leichten blauen Ranch aufsteigen sah von dem Feuer, das die Malseinerin zu ihrem Nachmittagkaffee 247 angezündet hatte, aber wie im Trotz sah sie gleich wieder weg, sie wollte nicht an Malsein und den Hansi denken, sie grollte ihm; schnell gingen ihre Blicke weiter, bis dahin, wo man wie ein kleines gelbrotes Stückchen Papier das Ziegeldach des Leithners sah. Und sie redete sich ein, sie denke an des Leithners Rosele, zu der sie bald gehen wollte, und schaute hartnäckig auf das kleine rote Dach, bis die Kinder ihr keine Ruhe mehr ließen und keine Zeit zu Betrachtungen; sie zogen und zerrten so lange an ihr, bis sie die Schwester wieder glücklich am Boden hatten und die Hetze aufs neue beginnen konnte. Endlich hatten sie sich aber doch rot und heiß und außer Atem getollt und saßen nun der Reihe nach oben auf dem Rain und ließen die nackten Füße herunterhängen.

Um sie wurde es immer finsterer, die schwarze Wand hatte sich über die Berge gesenkt und hing wie schiefergrauer dicker Nebel herunter; von ferne murrte der Donner, und einzelne große Regentropfen fielen schnell herunter. Das ganze Gewölk stand aber noch fest, kein Wind kam, es schien, als warte alles nur auf ein Zeichen, um Hals über Kopf loszubrechen.

Die Kinder fürchteten sich auf einmal und flohen vor dem leis murrenden Donner ins Haus. Aber auch drinnen wußte die Nann Rat. Wozu waren denn die schönen Glaskugeln und die kleinen blauen, roten und grünen Schusser da?

Bald hockten sie alle am Boden, die Nann zwischen den Kleinen in ihrem roten Rock, der sich blähte wie eine riesige glühende Mohnblume; Juli saß am offenen Fenster, dunkel angezogen, auch an diesem schwülen Tage, sie hatte ihre Augen immer draußen und kümmerte sich nicht um das Lärmen in der Stube, 248 um das Rollen der Kugeln und das Jubelgeschrei. Die drei aber waren so mit Leib und Seele bei ihrem Spiel, daß sie gar nicht hörten, daß jemand kam. Die Juli hörte es wohl und wurde unruhig, zuletzt merkte auch die Nann, daß ein Fremder in der Stube sein müsse, es störte sie etwas, so daß sie endlich vom Boden aufschaute. Da gewahrte sie Hansi und folgte seinem Blick, der an ihrem Leibchen herunter, den roten Wollrock entlang auf ihre nackten Beine ging. Sie wurde dunkelrot und zog blitzschnell ihre Beine unter den Rock, die Kugel fiel ihr aus der Hand, und wie ein gescholtenes, schuldbewußtes Kind senkte sie den Kopf, das Herz klopfte so stark, sie meinte, er müsse es sehen.

Wenn er nur jetzt nichts redete! Wenn er nur jetzt nichts fragte! Sie hätte kein Wort herausbringen können vor Scham, sie hätte geradeheraus schreien müssen.

Aber es blieb still in der Stube, Hansi stand noch auf demselben Fleck und schaute beständig nach ihr hin, während die zwei Kleinen ihr Spiel weitertrieben.

Ganz deutlich hörte man jetzt durch das Rollen der Kugeln das Aufpicken der Regentropfen auf dem Schindeldach. Ganz langsam und bedächtig fielen sie noch, dann immer rascher, bis sie endlich ununterbrochen auf das Dach trommelten. Das Gewitter schien seitwärts vorbeizuziehen, denn nur der schwache Widerschein der Blitze fiel in die halbdunkle Stube, und der Donner verlor, bis er zu ihnen kam, seine Macht zwischen den Felswänden.

Da, auf einmal fiel ein greller Blitz, und zugleich krachte der Donner nach, als sollten die Wände bersten.

249 Die Nann fühlte, wie mit dem Schrecken ein Schlag durch all ihre Glieder ging, sie war unter Hansis Blick wie gelähmt, das Herz tat ihr weh, und zugleich war's ihr, als ginge ein Strom von Feuer durch ihren Körper. Während die erschrockenen Kinder bei ihr Schutz suchten und Hansi sich zu ihnen niederbeugte, kam ihr wie ein Schwindel die Erkenntnis, daß sie Hansi liebe und schon immer geliebt habe. Wie betäubt blieb sie sitzen und sah immer noch auf den Boden und hatte immer das Rauschen des Regens in den Ohren. Bis die Kinder sich um Hansi drängten, bis sie ihn baten, auch mitzuspielen, bis sie an ihm zogen und zerrten, wie sie's vorhin bei der Nann getan. Und Hansi ließ sich mit einem halb gutmütigen, halb verlegenen Lächeln dazu bewegen. Er hockte sich auf den Boden hin, ganz nah bei der Nann, er ließ eine der schönen großen Glaskugeln rollen, noch eine, seine Hand lag dicht neben Nanns Hand, sie hätte die seine fassen können.

Doch sie konnte keinen Finger mehr rühren, sie packte keine Kugel mehr an, und auch Hansi stand bald wieder auf. Es wollte nichts mehr zusammengehen mit dem Spiel, und die zwei Kinder zogen mißlaunig auf den Flur hinaus, wo das Luisele weidlich auf Hansi schimpfte. Es war nichts mit den großen Leuten, die immer die Kinder dann störten, wenn's am schönsten war!

Hansi setzte sich mit einem verlegenen: »No, wie geht's, Juli?« neben Juli auf die Fensterbank und zündete seine Pfeife an. Juli nickte nur, sie war seltsam rastlos, ihre Finger spielten ununterbrochen mit ihren Schürzenbändern, sie ließ ihre Augen fortwährend von Hansi zur Nann gehen. Hansi merkte es 250 nicht, er hatte zuviel damit zu tun, die Nann anzuschauen, die am Boden kauern blieb, die Beine noch immer unter den Rock gezogen und sich mit den Händen aufstützend.

Wenn er nur endlich ginge! Die Nann schämte sich so, daß ihr die Röte allmählich über den ganzen Hals lief bis tief in den Nacken hinunter, von dem noch ein kleines Stückchen aus dem Ausschnitt des Hemdes sah. Was mußte Hansi von ihr denken, daß er sie da am Boden spielend getroffen hatte! Wenn sie nur hätte fortlaufen können! So mußte sie fest sitzen bleiben und konnte nicht aufschauen und nicht aufstehen.

Hansi fragte sie einmal scherzend:

»No, Nann, stehscht du nit auf?«

Die Nann schüttelte nur den Kopf und blieb wie angeleimt sitzen.

Man hörte die Kinder im Flur lachen, man hörte den Regen rauschen und hörte verlorenen Donner, denn es blieb ganz still in der Stube. Das war wohl auch dem Hansi zu langweilig, daß niemand redete, er selbst schien auch nichts zu wissen und ging endlich.

Wie ein Pfeil schnellte jetzt die Nann in die Höhe, im Nu hatte sie Schuhe und Strümpfe angezogen und ein längeres Kleid über den kurzen Unterrock geworfen, wie wenn sie einen Makel verdecken müsse; auch über ihre wirren Haare strich sie glättend, und wie sie sich so in ihrem kleinen Spiegel betrachtete, fingen ihre Augen zu tropfen an und tropften immerzu. Ach, wie würde er je an eine solche denken, die am Sonntag barfuß mit den Kindern in der Räuberhöhle am Boden herumrutschte! – –

Es dämmerte schon, da stand die Nann traurig 251 am Schupfen, und vereinzelte Tränen rannen noch immer über ihre Backen. Sie hatte sich von Juli weggestohlen, weil die sie fortwährend beobachtete. Der Nann war sterbensweh zumut, ganz wie wenn sie etwas getan hätte, was sie nie im Leben wieder gutmachen könne. Sie lehnte den Kopf gegen die Bretterwand und horchte zu, wie es sachte regnete.

Plötzlich fühlte sie sich von zwei Armen wie eingeklammert, ihr Kopf ward so gegen eine breite Brust gedrückt, daß sie sich nicht mehr rühren konnte und nur von untenauf endlich, mit jähem Ruck das Kinn hebend, so weit frei wurde, daß sie sich herumdrehen konnte, da stand Hansi vor ihr.

»Um Gottes willen,« schrie die Nann auf, »Hansi, was tuscht? Mach mir koan G'spaß, i könnt' nimmer leben!«

»Ja, kloane Nann, merkscht du des nit? Di will i, wenn du mi magscht!« sagte Hansi; da war alle Angst vorbei bei ihr; die Nann hing sich an den großen Hansi, wie wenn sie ihn nie mehr lassen wollte, ihr Mund drückte sich auf seinen Mund, daß sie beide kaum atmen konnten, ihre Arme preßten sich um seinen Hals, und er hielt sie so an sich gedrückt, wie wenn sie in ihrer Glut in eins verschmelzen müßten und nie mehr sich lassen könnten – alles versank in dem großen Taumel, der sie beide erfaßt und einander zugetrieben hatte. Und immer wieder küßten sie sich und konnten sich nicht trennen, bis ein Ruf vom Haus her Hansi verscheuchte.

»Morgen um die Zeit an dem Platz da,« sagte Hansi noch, ehe er im Dunkel verschwand.

»Morgen um die Zeit an dem Platz da,« sagte sich die Nann fort und fort vor. Sie ging wie in 252 einem Rausch umher. Alles an ihr bebte noch, das Gesicht brannte ihr wie Feuer – das war wie ein heißer Wirbelwind gekommen und gegangen. Hunderterlei wußte sie jetzt, was sie Hansi hätte sagen, hunderterlei, was sie ihn hätte fragen wollen, und alles ging doch auf das eine hinaus: »Warum hast du gerade mich gern?«

»Oh, sie hatte soviel zu fragen! »Hast du's denn gewußt, daß ich dich so gern hab'?« oder: »Hast du mich ausgelacht heute nachmittag?« oder: »Bin ich dir nicht zu jung?« oder: »Seit wann hast du mich gern?« oder: »Ich hab' ja gemeint, du magst mich nicht, hast du mich denn wirklich so gern?«

Nichts, gar nichts hatte sie gefragt, hatte ihn nur immer an sich gedrückt und liebgehabt.

War denn das möglich, daß ihr auf einen Schlag das ganze Leben so verwandelt erscheinen konnte? Sie sah jetzt auf alles wie die armen Kinder im Märchenland, von dem das alte Rosele und der Hansi ihr erzählt hatten; war es denn nicht wie im Märchen gewesen? Sie ging wie im Traum umher, immer vor sich hin lachend, sie nahm dies und das in die Hand und legte es wieder weg, sie fragte und wartete keine Antwort ab, sie hörte die Kinder und erwiderte ihnen lauter verkehrte Sachen; die ruhige, besonnene Nann war wie verwandelt, sie sah nicht einmal, daß Juli sie umlauerte, sie dachte gar nicht mehr an sie.

Daß sie einen Menschen hatte, dem sie alle Liebe schenken konnte, die sie trug und die nie jemand von ihr gewollt, einen, der ihr nun alles geben konnte, was ihr im Leben an Wärme gefehlt, nein, einen, für den sie alles, alles tun konnte! Es war zuviel, sie konnte das alles kaum in sich verschließen. Wenn 253 Hansi nur da wäre, wenn sie ihn nur wenigstens sehen könnte! An den Vater dachte sie gar nicht und was etwa Hansis Eltern dazu sagen würden, nur an das eine: er hat mich gern, und damit war alles gut.

Schon längst lag die Juli zu Bett, und noch immer trieb sich die Nann unruhig herum. Sie schlich sich vors Haus und wollte da heraußen den Vater erwarten, der noch nicht heimgekommen war.

Es hatte zu regnen aufgehört, das Gewölk war zerrissen, und manchmal schaute der Mond durch. Herunten war es ganz still, aber hoch oben in den Lüften mußte noch ein wilder Tumult sein, denn die Wolken rannten wie gehetzt hintereinander her, rasten förmlich in dicken, wirren Knäueln über den Mond oder schleuderten ganze Fetzen über die Berge.

Die Nann horchte in die Stille hinaus. Von fernher bellte ein Hund, das war in Leithen, dann schlug einer näher an, ein dritter fiel ein, nun bellten sie bald abwechselnd, bald miteinander – es mußte jemand auf dem Weg sein. Während sie noch horchte in der Richtung gegen Malsein zu, hörte sie ganz deutlich streitende Stimmen, eine Männer- und eine Frauenstimme. Jetzt war's wieder still, und jetzt hörte man sie wieder deutlicher; nun tauchten sie als schwarze schwankende Silhouetten hinter dem Abhang auf, die Dicke und der Vater. Was war denn, daß sie so laut und heftig redeten? Hinter ihnen bellten sich die Malseiner Hunde heiser. Die Nacht war zu düster, um die beiden genau zu sehen; erst als sie am Hause waren, sah die Nann, daß die Dicke betrunken sein mußte, und hörte, daß der Vater mit ihr stritt. Sie ging voran ins Haus und machte Licht und stand in der Stube, als die Dicke über die 254 Schwelle stolperte. Der Hut saß schief, und das ganze Kleid war voller Rotweinflecken, nur mit aller Mühe hielt sie sich aufrecht.

»Du gehscht ins Bett, Madl!« befahl der Vater.

Das war sein alter Ton, den kannte die Nann freilich. Jetzt galt's. Alles Blut stieg ihr zu Kopf, jetzt mußte sie reden, jetzt mußte sich's entscheiden, die oder sie, denn dies wüste Leben ertrug sie nicht.

»Naa, Vater, i geh' nit. I hab' was mi dir zu reden. Morgen geht die aus'm Haus oder i geh'. Und wenn i draußen bin, kimm i in mei'm ganzen Leben nimmer zu dir. So geht's nimmer weiter. Willscht du sie heiraten, so heirat sie, und i werd' wissen, was i zu tun hab', wenn du so oane heiraten willscht –«

»Oho,« eiferte die Dicke, »was wär' des? Was sagt sie? Hascht's gheart, Anderl? Sie möcht' bleiben und i soll gehn!« Sie bog sich vor Lachen, schwankte aber so, daß sie sich setzen mußte.

»Da ischt nix zum Lachen,« beharrte die Nann, »sag's du nur, Vater, wer gehen soll.«

»Die is g'scheit, die möcht' sich broat einersetzen ins Nest und faulenzen, der nixnutzigen Welschen sein nixnutziges Diandl!« zeterte die Dicke.

»Still bischt!« schrie der alte Kuchler, »und laß mir koan Wort nit hören über die Nann und über sein' Mutter.«

»Auf oanmal sein sie brav,« spottete das Weib, »des G'sindel –«

». . . 's Maul . . .!« Der Alte riß sie vom Stuhl in die Höhe, und da sie widerstrebte und ihn mit wütenden Fäusten zurückstieß, begann er auf sie einzuschlagen, und unter dem Schlagen kam ihm die 255 Wut immer mehr, und er schlug blindlings darauflos, wohin er traf, so wie er früher zugeschlagen hatte.

Es war, als löse sich mit der Wut eine Last von seinem Herzen, und er begann zuerst stoßweise, dann zusammenhängender herauszuschreien, was die Jahre in ihm angehäuft hatten.

Ihr wüstes Benehmen gegen die Kinder, wie sie die Nann aus dem Haus getrieben, ihre Roheit, ihre Untreue, die er so lange nicht geglaubt, ihr begehrliches Wesen noch heute drunten im Wirtshaus bei den jungen Burschen, wie man ihn meide um ihretwillen, wie sie sich in den Gasthäusern in die Ecken setzen mußten wie die Kärrner, die Laniger, wenn sie miteinander kamen – alles redete er sich herunter, und je mehr er sagte, desto schneller sagte er es, und desto schneller hagelten die Schläge herunter.

Das Weib, noch taumelig vom Wein und halb betäubt von den Schlägen, hielt die Arme schützend über den Kopf, krümmte den Rücken und ließ alles über sich ergehen. Die Nann hatte den Vater ein paarmal am Arm gepackt und ihm zugeredet, daß er aufhöre, denn schon kam die Juli, durch den Lärm wach geworden, und schon schrien drinnen die Kinder schlaftrunken und furchtsam.

Das machte den Alten aber nur wilder, alles mußte jetzt heraus. Das war wieder das rebellische Kuchlerblut, das keine Grenzen kannte.

»Aus ischt es jetzt und fort muaß sie!« rief er fortwährend und hörte nicht auf zu schlagen, bis er gewahrte, daß die Juli sich herbeigeschlichen hatte und im Begriff war, ebenfalls auf den Rücken der Mißhandelten loszuschlagen.

Das brachte ihn zur Besinnung. Wie wenn er 256 sich jetzt auf einmal schäme, ging er rasch in die Kammer und schloß sie hinter sich ab. Die Nann versuchte die Kinder zu beruhigen, und nur die Juli stand vor der Gezüchtigten und sah sie mit höhnischen Blicken an: »So ischt's recht! So ischt's recht!« sagte sie fortwährend.

*

Der frühe Morgen graute kaum, da stand der Alte schon wieder auf. Zu den offenen Fenstern blies ein frischer Wind herein, das ganze Tal war noch düster und voll schwerer Dünste, und hinter dem Padaunerkogel zeigte sich der erste blaßgelbe Schein.

Die Dicke lag schnarchend, mit verschwollenem Gesicht, voll Schmutz und Staub am Boden der Stube.

»Steh auf!« befahl der alte Anderl, der sie lange nicht wachkriegen konnte.

Als sie in Weinen und Bitten ausbrechen wollte, schnitt er alles kurz ab: »Nix da! Koan Wort! Aus ischt aus! Du geahscht, und i hoff', i seh' di mein Lebtag nimmer. Wasch di, richt di z'samm' und nimm 's Luisele, du bischt mir aus'm Haus, eh's Tag wird.«

Da half kein Betteln und kein Flennen, kein Trotzen und kein Verwünschen, der Alte blieb fest.

»Es mag di no ruien!« schrie sie und machte ihm eine Faust.

Er lächelte aber nur ingrimmig:

»G'ruit hat mi no nie eppes, g'macht ischt g'macht, 's Ruien kenn' i nit, geh deiner Weg'!«

So trabte sie also ab, ehe es Tag ward, wie er befohlen; mit dem heulenden schlaftrunkenen Luisele an der Hand stieg sie gegen Malsein hinunter. Die 257 Vögel fingen gerade ein verzagtes und heimliches, halb traumhaftes Singen an, das allmählich lauter und lauter wurde.

Immer weiter blieb das Kuchlerhaus hinter ihr, wo sie so viele Jahre gehaust hatte, und als sie unterhalb Leithen ausruhte, denn es war ihr recht schlecht und elend zumute, ging gerade die Sonne auf, und das kleine Haus stand wie im Glanz ober ihr und sah förmlich triumphierend auf sie nieder.

*

Bald war es im ganzen Tal und weiter in den Orten herum bekannt, daß der Kuchler seine Häuserin fortgejagt habe und daß eigentlich die Nann an allem schuld sei.

Der Malseiner schmunzelte. Das gefiel ihm. Da steckte doch was drin in dem Mädel! Jetzt schaute er vom Feld aus gern gegen das Kuchlerhaus hinauf, wo jetzt wieder alle Fenster voller Blumenstöcke standen, ganz wie zu Mariettas Zeiten. Es hätte ihm gewiß weniger wohlgefallen, wenn er gewußt hätte, wie viele Stöcke von Malsein heimlich hinaufwanderten. Zwar einige hatte die Bäuerin gespendet und besonders schöne des Leithners Rosele. Auch kam die Nann fast nie vom Dorf herauf ohne ein kleines Stöckchen oder einen Blumenstrauß. Es war, als wollten ihr alle zeigen, wie sie sich freuten, daß sie da oben reinen Tisch gemacht, und als wollten sie alle wieder gutmachen, was sie an der Nann gesündigt, als sie noch die ›Welschhenne‹ war, das verachtete Kind aus der verachteten Räuberhöhle.

Viele trieb auch die Neugierde zur Freundlichkeit. Sie wollten von der Nann erfahren, wie alles 258 zugegangen, wo die Dicke sei mit dem Luisele, und alles mögliche sonst. Aber aus der Nann war nichts herauszubringen. Die konnte dann eine Miene aufsetzen wie eine Prinzessin und hatte Antworten auf der Zunge, die ihnen gar nicht schmecken wollten. Bei denen war's mit der Freundschaft schnell vorbei, und die konnten sich nun nicht genug tun, über Nanns hochmütiges Wesen loszuziehen und ihr eine Zukunft gleich der ihrer Schwester Kathl in Innsbruck zu prophezeien.

Das alles gefiel dem Malseiner, und er rieb sich die Hände, wenn ihm im Wirtshaus einmal einer ins Garn lief, der über die Nann zu schelten begann.

Nie ging die Nann bei ihren Einkäufen an Malsein vorbei, ohne daß man sie hineinrief, zum Sitzen einlud und mit ihr eine Zeitlang schwätzte. Das Bergmanndele sprang wieder an ihr hinauf wie früher, ja es begleitete, ganz wie vor Jahren, die Nann bis ins Dorf und wieder herauf, aber ihr war nicht wohl dabei. Das Versteckspielen vor den Eltern Hansis, das Versteckspielen vor dem eignen Vater behagte ihr nicht auf die Dauer.

Die kurzen abgestohlenen Stunden hinter dem Schupfen, wenn es dunkel wurde, die heimlichen Küsse, bei denen sie zittern mußte, ob jemand käme, das fortwährende argwöhnische Belauern Julis, nein, das taugte ihr nicht.

»Geh, Hansi, i bitt' di recht schön, sag's doch!« bat sie oft.

»Ja, wenn du nit gar so jung warst!« seufzte Hansi.

»Ischt gleich, aber wissen müssen sie's. Grad' weil i die Nann bin, grad' weil i aus'm 259 Kuchlerhaus bin. – Entweder ja oder naa. Mir können warten oder mir können gehn aa.«

Ja, die Nann wußte eben nicht alles, und er mochte ihr nichts sagen! Er nahm ihren feinen schmalen Kopf in seine großen Hände, seine Finger verschwanden ganz in ihrem blonden Kraushaar, schaute sie recht zärtlich an und versuchte sie zu beschwichtigen:

»Schau, Diandl, des ischt halt so bei mir, i han des so gern, so heimlich aufferschleichen zu dir – koan Mensch woaß was, nur du und i, und i möcht's decht oft außerschreien, weil's mi so druckt da drinnen – und nimmer derwarten kann i's, den ganzen Tag muaß i dran denken; wenn's Nacht wird, da zitter' i grad, bis i fortkemmen kann, i woaß es nie, wie i aufferkimm zu dir, so schnell geaht's. Grad nehmen möcht' i di und derdrucken –«

Und die Nann ließ sich küssen und wieder küssen und wollte nicht von Hansi weg, wollte nur immer in die Arme genommen werden und hielt ihn zurück, wenn er vom Gehen sprach.

Noch immer erschien es ihr etwas Traumhaftes und Unfaßbares, daß Hansi ihr gehöre, und sie nahm ihn oft fest um den Hals und sagte: »Kann's denn wahr sein, g'hörst du mein, g'hörst du ganz mein?«

An Sonntagen trafen sie sich gewöhnlich oben auf der Malseiner Alm. Die Nann ging den weiten Weg von ihrem Haus aus, und Hansi nahm den kürzeren Pfad gleich ober Malsein. Herunter kamen sie gewöhnlich miteinander, wenn es dämmerte.

Die Nann hatte dem Vater gesagt, daß Anderl oben auf der Alm als Senner sei, aber dem Alten war es ganz einerlei, ob der Anderl da oder dort war; 260 es fiel ihm gar nicht ein, etwa zu sagen, er solle einmal einkehren, er verlor kein Wort darüber, wie er auch keines mehr darüber verlor, daß die Dicke weg war und die Nann ihre Stelle als Hausfrau eingenommen hatte.

Als die Nann das erstemal auf die Alm kam, saß Anderl wie gewöhnlich vor und Blasi hinter der Hütte, und beide gaben sich ihrer Feierabend- und Sonntagsbeschäftigung des Sinnierens und Schauens ins Blaue hinein hin, der eine nach der Naviser Seite, der andre nach der Seite des Kuchlerhäusels zu. Der lange Anderl wollte sofort aufspringen und Fersengeld geben, so schreckhaft war er, als er Nanns ansichtig wurde, denn außer Hansi hatte ihn kein Mensch je gesehen, und außer den Malseinern wußte niemand, daß er oben auf der Alm hause. Aber die Nann rief ihm fröhlich zu: »Bleib decht, Anderl, i bin ja nur die Nann!«

Da blieb er, machte große Augen an sie hin und murmelte endlich: »I hätt' di nimmer kennt!«

»Des glaub' i dir glei, Anderl, es müassen ja schon elf Jahre sein, daß du mi nit g'sehen hascht.«

»I hab' gar nimmer auf di gedenkt,« eröffnete ihr der Anderl. Aber auch auf die andern schien er nicht mehr ›gedenkt‹ zu haben, denn er fragte nach niemand, nicht nach dem Vater oder der Juli oder etwa der Moidl, nicht, wie es jetzt ginge im Hause, gar nichts.

Nur ganz zuletzt: »Was habt's jetz für a Kuh?« Und: »Habt's a Goas aa?« Ferner: »Und Hennen aa?«

Damit war aber auch alles erschöpft, und er 261 wußte um die Welt nicht, was er etwa mit seiner Schwester Nann hätte reden sollen.

Auch als sie öfter kam, nicht. Ja, da ging's erst recht nicht, er merkte, daß sie mit Hansi oben zusammentraf. Den großen Respekt, den er vor dem Malseinerhof hatte, übertrug er sofort auf die Nann, ja, er staunte sie förmlich an. Daß das junge Diandl sich so etwas traute! Wo nahm sie denn den Schneid her, sie war doch auch aus der Räuberhöhle, und der Hansi war und blieb doch der Malseiner Hansi!

Daß Anderl und Blasi nichts verrieten, davor waren die Nann und der Hansi sicher, und doch gingen sie immer traurig von der Alm heim. Sie wußten, daß es nicht mehr lange dauerte, bis abgetrieben wurde, dann war es mit den Almgängen auch vorbei. Schon blühten die Herbstzeitlosen, und am Morgen waren die Berge bis herunter zu mit Nebeln, ein paarmal war schon Reif gelegen, und von den andern Almen waren sie schon abgezogen.

Die Nann sah den Winter vor sich, wußte, daß der Vater wieder einrücken und daß ihnen auch die paar abgestohlenen Stunden unter dem Schupfendach genommen würden, und sie drängte Hansi wieder: »Geh, sag's decht amal dahoam, i scham' mi, wenn dein Vater und dein' Mutter so guat sind mit mir, i getrau' mir ja gar nit, ihnen ins G'sicht schauen.«

Aber das ›Guatsein‹ hatte eines Tages auch ein Ende. Die Juli hatte auf Malsein vorgesprochen, und eines Abends hatte der Alte selber gesehen, wie der Hansi und die Nann von der Alm herabkamen und sich bei den Händen hielten. Nun, die Almgänge sollten jetzt schon ein Ende haben, das Vieh stand im Stall, und am Dienstbotentisch saßen zwei mehr. 262 Und sonst wollte er gut aufpassen, wohin der Hansi seine Füße setzte! Als die Nann wieder einmal freundlich grüßend an Malsein vorbeiging, antwortete ihr die Bäuerin kaum, der Bauer drehte sich auf dem Absatz herum und ging ins Haus.

Die Dienstboten hatten natürlich längst etwas gemerkt, besonders die weiblichen; sowohl das Vinaderser Moidl wie die junge Dirne, die an der Kuchler-Moidl Stelle gekommen war und ehemals mit der Nann in Jodok auf derselben Schulbank gesessen hatte, gönnten es der ›hoffärtigen‹ Prinzessin aus der Räuberhöhle, daß ihr nicht alles hinausging, wie sie's wollte.

»Die hätt' am liabsten an Prinzen g'mögt, der Malseiner versalzt ihr aber schon die Suppen,« frohlockte das Vinaderser Moidl, das sich auch vor Anderl kein Blatt vor sein böses Maul nahm, erstens, weil der Anderl sowieso nicht zählte, und zweitens, weil es wußte, daß sich der lange Kerl sicher nichts zu erwidern traute. Das alte Rosele allein hielt zur Nann, sogar der Bäuerin gegenüber, die jetzt alle Augenblick etwas über sie wußte und ganz vergessen zu haben schien, daß sie sonst gegen das ganze Dorf Partei für sie ergriffen hatte.

Oft stand die Bäuerin hinter dem Vorhang der Wohnstube und spähte hinaus, wenn die Nann herunterkam; dann setzte sie ihre Füße nicht recht, dann trug sie den Kopf zu hoch, oder die Bäuerin war bös, daß sie sich zu schön kleidete. Was sie auch anzog, und hatte sie das Einfachste an, paßte ihr auf einmal nicht mehr, es kam ihr immer vor, wie wenn die Nann sich durchaus anders kleiden und durchaus anders und besser sein wolle als die andern.

263 »Sie ischt decht nit anderscht worden,« sagte das Rosele stets mit der Hartnäckigkeit alter Weiblein, und wenn ihm die beständigen Nörgeleien zuviel wurden, meinte es lachend: »Du kannscht's, wie mir scheint, nit vertragen, daß die Nann so sauber ischt, grad wie die Dirnen draußen, die giften sich aa, daß die Burschen alle in die Nann verliebt sein!«

»Alle! – alle!« sagte ihr die Bäuerin ärgerlich nach.

»Ja, alle,« antwortete das alte Rosele, ohne eine Miene zu verziehen.

Von Hansi sprach die Bäuerin nichts und das alte Rosele auch nicht.

Der Hansi merkte die Stimmung im Hause wohl. Nicht nur, daß ihn der Vater, ganz wie früher, mit keinem Wort anredete, auch die Mutter war verändert, behandelte ihn kurz oder machte Anspielungen, die er nicht zu hören schien, die aber so waren, daß sie ihn durchaus herausfordern sollten, zu sprechen.

Den Gefallen tat er ihr aber nicht, er konnte es ja jeden Tag an ihren Augen sehen, ja an dem, was sie ihm reichte oder abnahm, wie wenig ihr die Geschichte paßte – wozu also reden? Vom Vater hatte sich Hansi nichts andres erwartet, aber daß die Mutter so sein würde, hätte er niemals gedacht. Er sah nicht, was das alte Rosele sah, daß es Eifersucht war, nicht allein Eifersucht um des Sohnes willen, den sie an keine andre hergeben wollte, sondern auch die Eifersucht der ehemals schönen Frau, die, ohne es zu wissen vielleicht, den letzten und erbittertsten Kampf gegen das heranrückende Alter kämpfte, dem sie noch nicht unterliegen wollte. Des Abends weinte die Nann oft, wenn sie Hansi in den Armen hielt; sie konnte es nicht 264 verwinden, daß man sie so abscheulich behandelte, ohne sie oder Hansi zur Rede gestellt zu haben. Sie klammerte sich an Hansi an, wie wenn sie jetzt nur ihn hätte und ihr alles sonst verlorengegangen sei, sie war so weich, so trostbedürftig und kindlich, daß Hansi seine tapfere und harte Nann nicht mehr erkannte. Die Heimlichkeiten da heroben und die finsteren und mürrischen Gesichter unten paßten ihm jetzt auch gar nicht mehr, und er sagte zur Nann: »Diandl, es mueß anderscht werden, jetzt ischt es Zeit. So oder so, mir ischt es gleich.« Da war auch die Nann wieder wie verwandelt, der alte Mut und die alte Zuversicht kamen ihr wieder.

*

Der Malseiner saß am selbigen Abend in der Wohnstube über seiner Zeitung. Die Petroleumlampe brannte schlecht und rußte, er sah viel zu wenig, das machte ihn mürrisch, zumal er an diesen trüben und nebligen Herbsttagen sowieso sein altes Asthma spürte. Er knitterte und raschelte zornig mit dem kleinen Blättchen, rückte mit der Lampe hin und her und schraubte sie höher, ärgerte sich fortwährend dabei, daß die Malseinerin trotz all dieser Geräusche nicht aufwachen wollte.

Natürlich schlief sie wieder neben ihm wie jeden Tag! Immer war sie müde und hockte herum, und gleich fielen ihr die Augen zu. Es war gar nicht mehr möglich, mit ihr ein Gespräch zu führen wie sonst, wie er es gewohnt war. Er konnte nie vor Mitternacht einschlafen, es war immer so, wenn ihn ein nasser Herbst zuviel im Zimmer hielt, und die Stille ringsum reizte ihn dann.

265 Die Dienstboten waren längst zur Ruhe gegangen an diesem feuchten grauen Abend, Hansi war natürlich wieder weg, wie so viele Abende jetzt, das Bergmanndele schlief ruhig zu seinen Füßen. »Mutter!« rief er, »Mutter!« Aber die Malseinerin wollte nicht wach werden, und nochmals »Mutter!« während die Türe ging und Hansi eintrat.

Der Alte tat, wie wenn er eifrigst mit der Zeitung beschäftigt wäre, aber der Hansi ließ sich nichts vormachen. Er legte ganz ruhig und ernsthaft ein Gewehr auf den Tisch, schaute den Alten fest an, daß er aufsehen mußte, und sagte: »So, Vater, derschieß mi! Da hascht a G'wehr. Du hascht g'sagt, du derschießt mi eher, als daß i a Kuchlermadl heirat', und i hab' a Kuchlermadl und i heirat' sie.«

Der Alte machte zuerst ein Gesicht, wie wenn er nicht recht verstanden hätte, dann riß es ihn vom Stuhl in die Höhe, und er schleuderte das Gewehr mit einem Ruck zu Boden, daß die Bäuerin, die noch ein wenig fortgeduselt hatte, mit einem Schrei aufsprang.

Das war wieder der alte Malseiner, voller Eigenwillen und Eigensinn, der jetzt vor dem Sohn stand und ihn maß vom Kopf bis zu den Füßen.

»Ischt des dein oanzigs Wort?« fragte er.

»Was soll i denn sonst zu sagen haben?« fuhr Hansi auf.

»Klaub's Gewehr auf!« befahl der Vater.

»I han's nit am Boden g'worfen.«

»Gell, du hascht decht Angst!« höhnte der Malseiner.

Da hatte es der Hansi auch schon und reichte es dem Alten: »Da, schieß zua!«

266 »Wär' jede Kugel schad für di!« spottete der Vater, schob es hart von sich, wendete sich gegen das Fenster und redete über die Achsel zu Hansi hin: »A Kuchlerdiandl kommt mir nie nit ins Haus, i han dir's g'schworen; lascht du nit von ihr, so wirscht du wissen, was du zu tun hascht. Bleibscht du da und es geht so weiter, so schieß' i di wahrhaftiger Gott übern Haufen, wie i 'n Cäsar übern Haufen g'schossen han.«

»Ischt des dein letzt's Wort?«

»Mei allerletzt's.«

Der Alte drehte sich nicht herum, und Hansi ging genau mit demselben ruhigen Schritt wie sonst durch die Stube, klinkte die Türe auf, stieg in den oberen Stock und kam nach kurzer Zeit wieder die Stiege herunter. Die beiden Alten hörten ihn durch den Flur gehen, die Haustüre fiel ins Schloß, ein paar verhallende Schritte – das Bergmanndele unter dem Tisch winselte –, dann hörten sie nichts mehr.

»Jetzt ischt er fort!« jammerte die Mutter.

»Und nit bitten hat er können, der elendige Loder, der!« schimpfte der Vater, dann drehte er mit einem Ruck die Lampe aus, so daß sie sich im Finstern ins Bett tappen mußten.

*

Nun war es ganz so geworden, wie es schon einmal früher war. Ging die Nann vorbei – und sie konnte gut ins Dorf hinunterspringen, denn der Winter war mild und brachte mehr Nebel und Tauwetter als Schnee und Frost – und die Hunde sprangen an ihr hinauf, so rief sie ein scharfer Pfiff zurück. Des Malseiners Pfiff kannte die Nann gut, aber den Malseiner sah sie nie, auch von der Malseinerin erblickte sie kaum einen Schürzenzipfel.

267 Anderl, der sich einmal, seit er Knecht in Malsein war, ins Kuchlerhaus hinaufwagte, weil er sicher wußte, daß der alte Kuchler noch nicht eingerückt war, erzählte, daß es recht trübselig drunten ausschaue; es sei mit dem Bauer und der Bäuerin schlecht auszukommen, das sagten jetzt alle Dienstboten. Wenn sich die zwei Alten, das Rosele und der Puschterer, nicht manchmal ins Mittel legen würden, ginge der Streit den ganzen Tag nicht aus. Der Alte sei auch immer krank, müsse immer ›keuchen‹, und das gifte ihn gewiß auch recht.

Mit der Nann hätte er gern allein geredet, aber er wußte nicht, wie er es anfangen solle. So sagte er eben vor der Juli, daß Hansi noch nicht wiedergekommen sei, auch nicht geschrieben hätte. Die Nann hörte gar nicht auf ihn, die Juli betrachtete sie mit einer stillen Schadenfreude und wurde so aufgeräumt, daß sie dem Anderl ein Glas Enzian hinstellte und ihn zum Wiederkommen aufforderte. Die Nann sagte gar nichts.

Als er wiederkam, war der Vater da, der ihn mißvergnügt empfing: »Solang' du bei denen da drunten bischt, brauchscht du mir nit aufferzukemmen.«

Das war der Empfang. Der Alte ließ es ihn deutlich merken, daß er, der wehleidige und kopfhängerische Bursche, ihm genau noch ebenso zuwider sei wie damals, wo er ein langaufgeschossener vierzehnjähriger Bengel war. Wenn er wenigstens in der Fremde geblieben wäre! Da hockte er nun mit dem Blasi zusammen, den sowieso die ganze Gemeinde auslachte und der genau so wie er kein richtiger Bursche war.

268 »Da wär' die Nann ein andres Mannsbild geworden!« rieb ihm der Vater unter die Nase, und Anderl suchte so bald als möglich aus der Stube zu kommen. Der Alte schmunzelte; nun hatte der es wenigstens gemerkt, wie gern er ihn hatte! Da Anderl wußte, daß der Vater jetzt zu Hause blieb, hielt er sich von nun an gänzlich fern, es vergingen Monate, ehe sie ihn wiedersahen.

Der Winter hatte sich Ende März noch einmal tüchtig als Herr gezeigt und einen hohen Schnee geworfen, der aber immer wässeriger und niederer wurde und nach einem warmen Regen ganz verging. Die Hänge waren alle frei, nur die Berge sahen noch schneegefleckt aus, an den Weiden wölbten sich schon die Kätzchen, und die langen Blütenzäpfchen der Erlen waren saftgeschwollen, als Anderl eines Tages hinaufgekeucht kam. Er tat sehr geheimnisvoll, ging wegen des Vaters nicht in die Stube, rief aber die Nann heraus. Im Flur nahm er sie auf die Seite, hielt beide Hände vor den Mund und sagte wichtig: »Die Malseinerin woaß, daß du dem Hansi seine Adresse hascht, das Rosele hat's gesagt. Der Bauer ischt so viel krank, da möchten sie dem Buam schreiben, daß er kimmt.«

»Sag du der Malseinerin, die Adresse kriegt sie, wenn sie um mi selber schickt, und geah glei.«

Die Nann zitterte vor Unmut. Das sah denen wieder gleich! Daß der Alte krank war, hatte sie von dem Rosele erfahren; diesmal schien ihn die Krankheit gehörig gepackt zu haben, weil er sogar nach Hansi verlangte.

Die Nann hielt Hansis letzten Brief in der Tasche fest, wie wenn ihn auf einmal jemand nehmen könnte. 269 Es dauerte nicht lange, so sah sie, daß Anderl schon wieder angejagt kam mit seinen langen Beinen. Ganz außer Atem, sehr wichtig, sehr vorsichtig und ungeheuer respektvoll.

»Kemmen sollscht, Nann, glei.«

Die Nann ging sofort mit. Unter der Haustüre stand die Malseinerin mit rotgeweinten Augen, und die Tropfen rannen an ihrer Nase, die lang und spitz geworden, in einem fort herunter. Ja, das Rosele hatte wirklich recht, zu sagen, daß die Malseinerin alt geworden sei! Alt und mager war sie, und von ihrer raschen Art war nichts mehr übriggeblieben. Das Gesicht hatte sie voller Falten, und die müden Augen sprachen von Kummer und Sorgen.

»Du sollscht zum Malseiner in die Stubenkammer gehen,« sagte sie ganz leise, wie wenn sie den Kranken auch da heraußen mit einem lauten Wort störe, nicht gerade unfreundlich, aber auch nicht sehr entgegenkommend. »Er ischt so viel schlecht.«

Das klang fast wie eine Entschuldigung, fast wie: »Ja, sonst hätten wir nicht nach dir geschickt!«

Die Nann hörte den Ton wohl heraus.

»I will dir was sagen, Malseinerin, i geh' nit früher in des Haus da, als bis i rechtschaffen als Schwiegertochter einigehn derf.«

»Was sagscht du?« brauste die Malseinerin auf, und es war etwas von dem alten Leben in ihren Augen. »Naa, Diandl, so tun mir nit, des trau' i mir dem Malseiner gar nit zu sagen!«

»Da kann i nachher dir und dem Malseiner nit helfen,« sagte die Nann stolz, »da hascht du zu der Unrecht'n g'schickt; pfüat di Gott, Malseinerin,« und machte sich wieder auf den Rückweg.

270 »Kuchlerkopf, oag'nsinniger!« murmelte die Frau, ihre Tränen waren auf einmal weg, und aus jedem ihrer Schritte im Hausflur konnte man einen Protest gegen die Nann heraushören.

Auch die Nann protestierte gegen Malsein, während sie den nassen Pfad ganz energisch heimstampfte; was, wollten sie ihr jetzt ein bißchen Freundlichkeit als Almosen geben? Jetzt, weil sie sie brauchten? Da dankte sie. Hatten die ihren Kopf, so hatte sie den ihrigen. Um kein Haar vergab sie sich, schon um Hansis willen nicht; wenn es sein mußte, stellte sie die Nase genau so hoch wie die da drunten!

Es dauerte wieder ein paar Wochen, in dem kleinen Gärtchen am Haus blühten die Primeln und Aurikeln, und ein paar Bienen hatten sich bis hinauf ans Kuchlerhäusel verirrt und brummelten an den wenigen Blüten herum, die der alte Johannisbeerstrauch herausgestreckt hatte. Die Nann war gerade beim Umgraben eines Beetes; sie sang leise vor sich hin, denn in ihre Tasche war soeben wieder ein Brief von Hansi gewandert, als Anderl mit langen Bockssprüngen über den Rain daherkam. Ebenso vorsichtig, ebenso geheimnisvoll, ebenso untertänig wie das letztemal. Er sah sich wieder nach allen Seiten um, hielt wieder beide Hände vor und flüsterte: »Du sollscht kemmen, Nann, in Gottes Namen, hat die Malseinerin g'sagt, es wär' alles in Ordnung.«

Die Nann klopfte sich schnell die Erde von den Fingern und wusch sich am Brunnen; kurze Zeit besann sie sich, ob sie sich nicht umziehen solle, dann lief sie aber doch gleich, was sie laufen konnte, hinter Anderl drein, hinunter nach Malsein.

Diesmal war ihr ängstlich zumute, nicht etwa, 271 weil der Malseiner schwer krank war, ja auf den Tod krank sein sollte, wie man hörte, auch nicht, weil Anderl nach Art schreckhafter Menschen fortwährend in sie hineinredete, wie schlecht es ginge, sondern weil sie wußte, wenn es heute nicht Ernst wurde, war es verspielt für lange Zeit, wenn nicht für immer.

Anderl war voll tölpelhaften Übereifers gegen die Schwester, in der er schon die künftige Herrin von Malsein sah; die Scheu vor dem reichen Bauernhof hatte er bis heutigen Tages nicht angebracht, aber die großen Schüsseln voll guter Sachen, die heute noch wie damals, als er halbtot hinuntergeschleppt wurde, auf dem Tisch erschienen, hielten ihn mit sicheren Banden. Bauer und Bäuerin fürchtete er, auch dem Puschterer, der jetzt an des kranken Bauern Stelle regierte, ging er gern aus dem Wege, das Rosele war ihm gleichgültig, und die zwei jüngeren Weibspersonen fürchtete er, wie er stets die ›Weiwerleut geschiechen‹ hatte. Nur sein Freund Blasi galt etwas, doch wer weiß, ob auch er ihn nicht, zwar unter Heulen, aber dennoch um ein ausgiebiges und fettes Gericht verkauft hätte.

Daß die Malseinerin nicht unter der Türe stand und wartete, faßte die Nann als ein schlimmes Zeichen auf, wenn sie auch nicht glaubte, was Anderl so wichtig betonte, daß der Bauer im Sterben liege. Der Tod des Malseiners wäre ihr gewiß nicht zu Herzen gegangen, jetzt, wo er den Hansi vertrieben und sie so in Grund und Boden hinein verachtet hatte. Starb der Alte, so war Hansi Herr in Malsein, und die Mutter würde sich fügen müssen. ›Laßt den Hansi nur erst wieder zurück sein,‹ dachte sie, als sie ins Haus trat, und obwohl alles drinnen still und 272 trübselig war, während draußen der Lenzwind wehte und die Vögel sangen, kam keine Traurigkeit in ihr Herz.

Freudig eher, den Kopf gehoben, ging sie über die Schwelle, wenn's auch in der Brust klopfte und hämmerte, denn jetzt mußte sich's entscheiden, entweder sie ging als zukünftige Herrin von Malsein aus dem Hause, oder die zwei alten Starrköpfe hatten ihr einziges Kind auf immer verloren.

Die Bäuerin war eben in der Wohnstube beschäftigt, eine Flasche und ein Glas herzurichten. Sie tat sehr eifrig und wichtig damit, um der Nann nicht zuvorkommen zu müssen und um sich nichts zu vergeben; sie bot der Nann keinen Stuhl an vor lauter Geschäftigkeit und erklärte dann:

»Er hat an Spezial verlangt, er möcht' Wein trinken, denk' grad, es geht ihm besser! Aufsetzen hab' i ihn müssen im Bett und das Fenster aufmachen. Leicht, daß mir 'n Hansi gar nit schreiben brauchen!«

Die Nann sah Hansis Mutter mißtrauisch an, ihre Geschäftigkeit und Unsicherheit machten sie stutzig.

»Hascht du's dem Bauern gesagt?«

»Ja, ja, freilich,« erwiderte die Frau und schaute verloren im Zimmer herum, »i will gehn und schaug'n, ob er di noch sehen will.«

»Malseinerin, für'n Narren laß i mi nit halten!« rief die Nann erbost. »Das geht nit, daß du heut a so sagscht und morgen a so! Glei gehschst du nein und fragscht den Bauer, oder i kehr' um und geh' hoam!«

Wie der Ton herrisch klang! Die tat ja, wie wenn sie da zu befehlen hätte!

»No no!« machte die Bäuerin halb abwehrend 273 und halb beschwichtigend, trabte aber doch gleich mit der Flasche und dem Glas davon.

»Kimm einer!« rief sie gleich darauf zu der Türspalte heraus.

Die Nann war noch immer erbost, aber so sehr ihr Herz auch voll wilden Zornes klopfte, zwang sie sich, ruhig einzutreten. Wer weiß, was der Alte jetzt machte, wo es die Malseinerin schon verstanden hatte, die Sache zu drehen, wie wenn sie eigentlich unnötigerweise gerufen worden sei und man das bereue, jedoch gute Miene zum bösen Spiel machen wolle.

Von dicken Federkissen gestützt, saß der Malseiner aufrecht im Bett. Ganz blaß und schwach sah er aus und blinzelte mit den Augen gegen das ungewohnte Licht; seine Hände lagen regungslos wie Wachshände auf der roten Decke, sein Gesicht sah nicht etwa mager aus, sondern eher fetter als sonst, nur kam es der Nann vor, wie wenn er keinen Tropfen Blut in sich hätte.

Sie fragte nicht etwa: »Wie geht's, Malseiner?« oder »Was willst du wissen von mir?«, auch war sie durchaus nicht gerührt, weil der Alte so elend aussah in seinen roten Federbetten, sie warf den Kopf in den Nacken und sagte:

»Bin i dir recht als Schwiegertochter, nachher bleib' i, Malseiner, verachtescht du mi aber alleweil noch, nachher geh' i augenblickli.«

Der Malseiner betrachtete das große blonde Mädchen, das so entschlossen vor ihm stand, nicht wie wenn er ihr etwas zu geben, sondern wie wenn sie ihm etwas zu gewähren hätte, und sagte mühsam:

»Setz di! Du bischt mir recht. Sonst hätt' i 274 di nit holen lassen. Aber an Stolz hascht du schon, Diandl –«

Die Nann setzte sich ohne Umstände dicht neben den Bauern, wie wenn es ihr jetzt gebühre, und lachte:

»Ja, schau, Malseiner, des ischt ja des einzige, was i hab', mei Stolz; moanscht du, der ischt grad für die reichen Leut'?«

Der Malseiner schaute sie halb belustigt an. »An echte Kuchler bischt, aber vom guten Schlag; schau, Diandl, i kann dir nimmer feind sein, und wenn der Bub früher bittet hätt', wer woaß, hätt' i mi nit früher b'sonnen. I hab's jetzt eing'sehen in meiner Krankheit, es ischt niacht mehr mit mir, wenn i aa aufsteh', i bin an alter Mensch, da hilft niacht mehr, und der Hansi muß her. Daß er nit nachgibt, siech i ja, es geht decht alleweil a so zua im Leben, die Jungen haben's Recht, gelt, Mutter?«

Aber die Malseinerin blieb stumm; der Nann wollte es scheinen, als sei sie noch lange nicht mit ihr ausgesöhnt. Wahrscheinlich redete sie nur nicht dagegen, um den Kranken nicht aufzuregen.

»Da geh her zu uns, setz di her, Mutter – no – kimmscht nit?« rief der Bauer.

»Tua nit a so viel reden,« mahnte die Malseinerin, und die Nann hörte ganz deutlich einen verärgerten und gereizten Ton heraus.

»Sei mir still, es tuat mir guat. Seit i's mit mir abg'macht hab', daß der Hansi kemmen muß, bin i ruhiger, es druckt mi nimmer a so dadrinnen, also Nann, so kimmscht halt du amal da einer. Daß du koan Geld hascht, freut mi nit, aber siehgscht, die Frau hat aa koans g'habt –«

275 »Red nit a so viel!« warf die Malseinerin wieder dazwischen.

»Sei still! Laß mi reden! Daß du aus der Räuberhöhl' bischt, freut mi nit, des wirscht verstehn, di wird's aa nit freuen, aber schau, du hast es 'zeigt, daß aa a guater Baum dort wachsen kann.«

»Hm, hm,« machte die Malseinerin, die sich vor Ungeduld nicht halten konnte, »i war von an Bauernhof!«

»Jaja,« lachte der Malseiner, »desselle nimmt dir koan Mensch, und an Stolz hascht du g'habt grad wie die Nann, des hat mi dort schon g'freut und freut mi jetzt aa no! Schau, Diandl, i hätt' di nie nit g'möcht für'n Hansi, wenn du mir glei ins Haus einerg'fallen warst.«

»Du hascht mir's hart gnua g'macht, Malseiner,« sagte die Nann ernst.

»Des vergiß jetz, Diandl. Die Mutter bringt an Wein, und nachher wollen mir halt aa den bockboanigen Hansi no schnell leben lassen.«

Die Malseinerin stieß zwar nur ein bißchen an mit der Nann und beschäftigte sich gleich wieder mit dem Alten, der sich umlegen mußte, weil er zuviel geredet hatte. Aber sie gab doch der Nann draußen die Hand zum Abschied und richtete ihr noch aus: »Du sollscht bald wiederkemmen, sagt der Vater.«

So war also Nanns Eintritt als anerkannte Schwiegertochter in Malsein gemacht.

Die Dienstboten standen in den Ecken umher und klatschten, das Vinaderser Moidl hatte den Anderl aufs Korn genommen und suchte etwas aus ihm herauszupressen. Er schüttelte aber nur den Kopf und sagte fortwährend:

276 »I woaß niacht.«

»Hab' i's nit g'sagt,« wisperte das alte Rosele, als es mit der Malseinerin allein war, »hab' i's nit g'sagt, daß es so geht? Oanmal muß ma alt werd'n und muß es einsehg'n, daß die Jungen drankemmen.«

»I siech's no alleweil nit recht ein,« protestierte die Malseinerin.

»So? Du no nit? Werd nimmer lang' dauern, moan i halt alleweil; der Bauer hat's schon eingsehn –«

»Ja der!« antwortete die Malseinerin gedehnt und ging fort, während ihr das alte Rosele mit einem verstehenden, halb schelmischen, halb ironischen Lachen nachschaute, mit lustig blinzelnden Augen, was dem alten Weiblein ein ganz junges und übermütiges Aussehen gab. –

Der Malseiner hätte, da er nun die Geschichte hinabgewürgt hatte und froh war, daß es jetzt so stand, den Hansi gleich wieder zu Hause haben wollen. Aber der Hansi ließ lange auf Antwort warten, und als sie endlich kam, schrieb er ganz kurz nur, er bleibe jetzt, da es dem Vater besser ginge, selbstverständlich bei seinem Dienstherrn, wie jeder andre Knecht es auch tun müsse; er sei bis Lichtmeß gedungen und halte seine Zeit aus.

Das kostete den Malseiner manchen Fluch und manche unruhige Nacht. Ungeduldig und unberechenbar, wie er in der Krankheit geworden war, meinte er, es müsse bei des Malseiners einzigem Sohn etwas ganz andres sein. Allmählich erst, nachdem er Tag für Tag gewettert hatte, gab er sich darein, und nun gefiel's ihm, zu sagen: »Dann bin i auf, wenn der Hansi kimmt.« Aber er lag noch fest den ganzen 277 Sommer über und schickte oft an den Sonntagen nach der Nann, wenn er zu wenig Ansprache hatte.

Ohne daß man sie von Malsein aus holen ließ oder ohne daß man sie beim Vorübergehen hineinrief, betrat die Nann das Haus nicht; sie merkte gut, daß die Bäuerin ihren Groll noch nicht ganz überwunden hatte, und ließ sich bitten.

Im Herbst stand der Alte wieder für mehrere Wochen auf und war ganz rührig und munter, aber der nasse und feuchte Dezember packte ihn wieder, und als Hansi in den ersten Tagen des Februar ankam, konnte er gerade am Stock herumhumpeln und das Allernötigste beaufsichtigen; Hansis Ankunft machte ihn auch nicht mit einem Schlage gesund.

Tat denn der Bub nicht, als sei er gestern aus dem Hause gegangen? Ein paar karge Worte beim Eintritt ins Haus, und dann übernahm er die Geschäfte so gleichmütig und gelassen, wie wenn ihn niemals ein Sturm aus dem Hause gefegt hätte. Kein Sterbenswort verriet er, wie es da ausschaute, wo er so lange gewesen, wie es ihm dorten ergangen, kein Wort des Dankes, daß sich alles so schön gemacht mit der Nann, um keinen Deut tat er freundlicher, weil sich alles so glatt und schön für ihn eingerichtet hatte, und keinen Schnaufer machte er, daß es ihm etwa leid tue, daß der Vater so krank gewesen sei. Man konnte es dem Alten ansehen, wie er darauf wartete, wie er dem Sohn förmlich auf den Mund schaute, ob nicht endlich einmal ein Wort des Dankes oder der Teilnahme käme.

Auch die Mutter sah ihn fortwährend mit schmerzlicher Verwunderung an. Merkte er denn das nicht, daß sie sich Tag und Nacht nach ihm gesehnt 278 und Tag und Nacht Kummer um ihn getragen hatte? Gab es denn eine Stunde des Tages, in der sie nicht an ihren schönen stolzen Buben gedacht hatte? Wie viele Tränen waren um ihn geflossen, wie viele schlaflose Nächte hatte sie seinethalben zugebracht! Und nun ging er an ihr vorbei fast wie ein fremder Mensch, seine frühere Wärme und Zutraulichkeit waren wie verlöscht, wie weggewischt. Ach, sie wußte wohl, gestohlen waren sie ihr worden, ganz heimlich und heimtückisch gestohlen. Die beiden Alten konnten jetzt dasitzen mit leeren Händen!

Eines Tages hielt's die Bäuerin aber doch nicht mehr aus, sie mußte mit Hansi reden.

»Geh, sag do was zum Vater, weil er so krank war!« drängte sie den Buben.

»Was soll i denn sagen?« fragte Hansi, ehrlich erstaunt.

»I moan, Dank könntest sagen, weil dir's der Vater erlaubt hat mit der Nann.«

»So, jetz will i reden. Es scheint, ihr habt's viel vergessen. I han aber nix vergessen. Schau, des G'wehr hab' i alleweil no! Es könnt' ja sein, daß der Vater wieder andern Sinnes wurd' –«

»Versündig di nit, Hansi!« rief die erschrockene Frau. »Du woaßt nit, wie hart des alles g'wesen ischt –«

»Ja, moanscht du, es ischt leicht g'wesen für mi und für die Nann? Ihr hättet es guat ändern können, mir aber nit, und jetzt moant ihr aa no, i soll danken? Was wär' denn des für a verkehrte Welt? Es scheint, Mutter, du woaßt es nimmer, was du für an Zorn auf die alt' Malseinerin g'habt hascht und auf den Alten, weil sie dir 'n Buam nit haben geben wollen. 279 Machscht du's nit akrat a so? Wie bischt denn du mit der Nann?«

»Jaja,« stotterte die Malseinerin, »des war was anders.«

»Na, nix anders war's, und du hascht's dein Lebtag nit vergessen.«

»Die Nann nimmt di ganz weg von uns, ganz anderscht bischt, Bua.«

»Da gib di nur drein, des ischt amal a so, und bischt du fein, nachher hascht du uns alle zwoa, aber so –«

»I will ja gern, Hansi!« Jetzt war sie gerührt.

»Nur koan derzwungene Liab, Mutter. Schau, der Vater sagt ja und moant ja, du sagst ja und moanscht gern naa. So is. Du mögscht mi behalten, aber 's Regiment aa. Wenn du di nit anderscht schicken tuscht, wird's a harte Zeit werden für di! Jetzt kemmen mir dran, Mutter.«

Das alles konnte er ihr sagen und konnte so kühl von ihr gehen? Kein warmes Wort, nicht einmal einen Blick gönnte er ihr! Alles zerrann ihr unter den Fingern. Was blieb ihr denn noch? Sogar der eigne Mann hatte lieber die junge Nann in seiner Krankheit um sich gehabt wie sie, und fing immer wieder zu reden an von ihr, und freute sich auf die Zeit, wo sie hier wirtschaftete! Kein Mensch dachte mehr an sie; man schob sie einfach auf die Seite. Mit nassen Augen sah die Bäuerin in den Märzabend hinaus, der Regen- und Schneeschauer am Haus vorbeijagte. »Koan derzwungene Liab, sagt der Hansi,« murmelte sie vor sich hin, »und jetzt kemmen mir dran.«

280 So stand sie lange, bis es ganz dunkel wurde und das alte Rosele mit der Lampe kam und sie zum Essen rief.

*

Im April rückte der Kuchler wieder mit Sack und Pack ein; er war diesmal mit kurzen Pausen fast ein Jahr fortgewesen, und man sah's ihm an, mit welchem Behagen er in sein sauberes kleines Haus zurückkehrte. Wenn er auch niemals etwas zur Nann gesagt hatte, so merkte sie wohl, wie gern er sie um sich hatte und wie's ihn freute, stets eine stille, saubere kleine Heimat zu wissen, wenn ihm die Fremde zuviel wurde. Er sparte auch, was er nur konnte, und arbeitete in seinen alten Tagen mehr als in seinen jungen, so daß die Nann zu ihm sagte:

»Vater, plagt's Enk decht nit a so.«

»Laß mi gehen, wenn's mir a Freud' macht,« brummte er dann gewöhnlich und kramte in seinen Schubladen und versteckte und schaute verstohlen wieder nach – hart ersparte Kreuzer, sauer verdiente Gulden, die er schmunzelnd betrachtete.

Am Morgen nach seiner Heimkehr sagte ihm die Nann, daß sie im Herbst den Hansi heiraten wolle und daß die Malseiner damit einverstanden seien.

Er zündete gerade seine Pfeife an, paffte eine Weile, und sein Gesicht sah beinahe aus, als ob es sich zum Schmunzeln verziehen wolle, obwohl es der Nann auch wieder verzerrt vorkam.

»Des machscht du guat, des ischt guat; aber kriegen tuascht du ihn nit.«

Die Nann erschrak. »Warum nit?«

»Sei mir still, i will nix mehr hören; du kriagscht 281 ihn nit, und unterschteah di und red mir no amal davon. In dere Sach' hab' i no zu kommandieren!«

Als der Hansi am Abend kam, fand er die Nann ganz verzweifelt; gerade weil sie daran nicht gedacht hatte, weil sie glaubte, nun sei alles in Ordnung. Was ihr von Malsein gekommen war, hatte sie nur härter, schroffer und stärker gemacht; was ihr der eigne Vater jetzt tat, der so viel Bitterkeit in ihr Leben getragen und ihr so viele Kränkungen schon zugefügt, machte sie hilflos. Sie klammerte sich förmlich an Hansi an, sie verlangte Trost von ihm, es war ihr, als versinke alles, was man vor sie hingezaubert, das ganze Märchenland, vor ihren Augen für immer.

Da war keine Rede davon, daß Hansi frei und offen hätte hinaufkommen können, sie standen in den nassen Frühjahrsnächten wieder fröstelnd am Schupfen und doch glühend in der Erregung ihrer jungen Herzen und ihrer jungen Körper, und die Nann zitterte vor dem Vater und drängte Hansi fort. Auch in Malsein hatte sie keine rechte Ruhe, sie fühlte, wie schwer es der Bäuerin wurde, ihr den Sohn zu geben, und wie schwer sie sich überwand, mit ihr zu sein wie früher.

Daß der alte Kuchler »nein« gesagt hatte, brachte aber doch ganz Malsein in Aufruhr. Besonders die Bäuerin konnte es gar nicht glauben. Wenn die reichen Malseiner sich dazu verstanden hatten, Ja und Amen zu sagen, was focht denn den alten Zigeuner an, daß er nicht wollte? Da hatte sie wahrlich umsonst Angst gehabt, der Alte könne ihnen zu unbequem werden! Der hielt die Feindschaft aufrecht, nicht um einen Zoll breit drehte er den Kopf, wenn er an Malsein vorbeiging, von einem Gruß keine Rede!

282 Der lachte einfach sie und ihre ganze Sippschaft aus, jetzt, wo alles nach harter Mühe ins Gleise gekommen war, fand er ein Vergnügen daran, sie zappeln zu lassen und sich zu rächen! Das sagte sie auch dem Malseiner; jetzt, wo sie sich endlich zurechtzufinden begann, fing der störrische alte Kopf an mit seinen Mucken.

»Grad will i auffergehen zu ihm,« antwortete der Malseiner, der verwunderlicherweise an seinem Sonntagsrock herumbürstete.

»Du – zum Kuchler?« Sie war nicht nur erstaunt, sondern aufs tiefste erschrocken; dem alten Anderl war alles zuzutrauen. »Geh, bleib do, i bitt' di gar schön!« bat sie.

»Warum soll i denn bleiben? Es ischt Sonntag, versäumen tua i nix, die Sonn' scheint schön warm und i laß mir Zeit –«

Richtig, da ging er – langsam und bedächtig, mit dem Stecken, noch immer zitterig in den Knien von der Krankheit her, ein alter Mann.

»Malseiner, so hör do!« rief sie ihm ängstlich nach.

»Naa, Weiberl,« gab er fröhlich, wie schon lange nicht mehr, zurück, »hilft dir niacht mehr; wenn ma was anfangt, muaß ma's richtig machen!« Und dahin trabte er in den goldenen Sonntag hinein.

Mit einem herzhaften »Grüaß Gott!« trat er in die Stube des Kuchlerhauses. Der Alte war allein, denn die Juli saß mit dem Kleinsten in der Sonne draußen; sie hatte den Malseiner nicht einmal gegrüßt. Der Kuchler stellte sich gar nicht verwundert, ließ auch den Malseiner eine Zeitlang reden, 283 schüttelte nur immer den Kopf dazwischen. Da wurde der Malseiner zornig.

»Willscht du es nit gutmachen, was du di an der Marietta versündiget hascht?« schrie er.

»Was guatmachen, was versündigt, red nit a so daher, Malseiner. G'schehg'n ischt g'schehg'n, und i frag' koan Pfifferling mehr danach.«

»Na tuscht du's aus Trotz gegen uns –«

»Moanscht du, du bischt so viel wert, Malseiner? G'freut hat's mi, daß i enk hab' ärgern können, du schaust's ja decht für a Gnad' an, daß du dein Buam hergibscht. Aber des ischt es nit –«

»Was denn nachher?«

»Dableiben muaß sie! Dableiben soll sie. Bei mir bleiben. Bei mir! I will sie haben. Alles ischt mir genommen worden im Leben, i will grad sehgn, ob i des Diandl nit halten kann.«

Der Malseiner sah ihn ganz erschrocken an; das klang ja ganz heiser, wie in Verzweiflung, wie in der höchsten Not herausgestoßen.

»Nützt dir niacht, Anderl! Die Nann bleibt dir nit, sie geaht liaber ins Wasser, sagt sie.«

»Was? Was? Sagt sie? Sagt sie? So! – So! – Nachher nimm sie, nimm sie fort! Aber glei. I will sie nimmer sehgn, i kann sie nimmer sehgn. Tuat's es mir aus die Augen, umbringen müaßt i sie, alles hätt' i ihr geben, sie is do des oanzige g'wesen, was i no g'habt han, und sie kann furtgehen von mir! Nimm sie, Malseiner, mach, daß du sie schnell nimmscht, und geh, geh – i steh' für niacht!«

Wie ein Rasender tat er auf einmal. Er schleuderte die Pfeife in die Ecke, daß sie zerbrach, lief, ohne des Malseiners zu achten, im Zimmer umher und 284 raufte seine Haare, und obwohl er sich Gewalt antat, rannen Tränen über sein von Wut und Schmerz entstelltes Gesicht.

Geduckt schlich der Malseiner hinaus und nahm draußen die Nann bei der Hand, die wie erstarrt dort stand, weil sie alles gehört hatte, und Hand in Hand, ohne ein Wort weiter zu reden, stiegen sie nach Malsein hinunter. Dort sagte der Bauer, und es klang ganz feierlich: »So, Nann, do ischt und bleibt jetzt dein Hoamat.«

Die ersten Tage war die Nann blaß und still, und das Leid, das sie trug, löste sich nur, wenn sie bei Hansi war.

»Jetz han i nur mehr di auf der Welt, Hansi, und alles will i für di tuan. Du kannscht es ja gar nit wissen, was i alles für di tuan kannt.«

Aber der Hansi war fröhlich, daß sie niemand sonst hatte. »G'hörscht mir ganz alloan!« sagte er und hob die schöne Nann in die Höhe, ließ sie nicht mehr aus den Armen und trieb lauter törichte, kindische und verliebte Sachen mit ihr, damit sie wieder lachen sollte wie früher.

Der Malseiner hatte jetzt seinen Spaß an den beiden, und auch die Mutter ließ sich durch das Glück und den Übermut ihres Einzigen mit fortreißen, zumal sie gleich Mitleid mit der Nann gefühlt hatte, die ihr so verzagt und weinend ins Haus gekommen war.

»Jetz wird sie recht,« sagte sie zu dem Bauern, »i kann sie wieder mögen wie früher.«

»Sie wird nit recht, sie ischt recht!« antwortete der Alte stolz. Er war ganz verliebt in die schöne Braut seines Sohnes, und nichts konnte gut und nichts schön genug für sie sein. Eine Hochzeit wollte er 285 richten, so reich und groß, daß die ganze Gegend davon sprechen sollte, da waren ihm Jodok und Stafflach lange nicht gut genug!

Die mußte beim ›Nagele‹ in Steinach gefeiert werden, in dem schönen neuen Speisesaal des Steinbocks, und der Alte da oben sollte sich grün und blau ärgern, daß sie die Nann so ehrten und daß sie sie jetzt hatten!

Aber der Alte war eines Tages mit Sack und Pack mitsamt der lichtscheuen Juli verschwunden, und der Puschterer bekannte sich nach und nach zögernd als neuer Eigentümer der Räuberhöhle. Kuh und Geiß und Betten und Tische und Bänke und Schränke, alles blieb ihm, er durfte sich nur hineinsetzen, und das Vinaderser Moidl wollte es mit ihm wagen da oben.

»Aber Puschterer, wie magscht denn in die Höhl'n da auffer?« fragte ihn die Malseinerin vorwurfsvoll.

Und der Puschterer sagte, was er schon einmal vor vielen Jahren gesagt, als der Leithner über die ›Hütte‹ gespottet hatte: »Ischt decht a Hoamatl.«

Am wichtigsten mit der Hochzeit hatte es Anderl. Er kam sich nun vor wie ein andrer Mensch. Jetzt war er nicht mehr der Kuchler-Anderl aus der Räuberhöhle, sondern er wurde der Bruder der jungen Malseinerin, der schönsten Bäuerin weit und breit. Sogar beim Leithner traute er sich manchmal vorzusprechen, weil das Rosele immerfort erzählt haben wollte und die Nann jetzt viel zu wenig Zeit hatte, um dem Rosele die Grillen zu vertreiben.

Als Anderl seinen schwarzen neuen Anzug, eigens für das Mahl, bekam, fühlte er einen ungeheuern Respekt vor sich selber; es rührte ihn gar nicht, daß 286 ihm der Blasi Vorwürfe machte, weil er sich nicht mehr um ihn kümmerte.

Was ging ihn jetzt der Blasi an, der wie ein verscheuchter Uhu in der Küche hockte und jammerte, weil die Moidl mit dem Michel verschwunden war? So mochte sie in der ganzen Welt mit ihm herumziehen und der Blasi sich sein ganzes Leben lang besinnen, ob er wirklich der Vater ihres Kindes war oder nicht, was war ihm denn die Moidl?

Er wußte nur mehr von einer Schwester, von der, welche die reiche Malseinerin werden sollte, an die hielt er sich. Der Alte war über alle Berge, was konnte ihm denn noch fehlen im Leben?

Er zählte wie ein kleines Kind die Tage, die ihn noch vom Hochzeitsmahl im ›Steinbock‹ trennten; er hatte nicht umsonst, sogar im Bayrischen draußen, davon reden hören, wie gut man sich da aufs Kochen verstünde! Am liebsten hätte er vorher ein paar Tage gefastet, wenn er's zustande gebracht hätte; aber auch so war's schön, und er saß so andächtig, ja förmlich entrückt an der langen Tafel, die mit den herrlichsten Gerichten bedeckt war, so andächtig wie in der Kirche. Wenn dieses Sitzen in dem großen Saal und das Genießen der köstlichen Speisen nicht wie ein Vorgeschmack der ewigen Seligkeit war, so wußte er wahrhaftig nicht, was man eigentlich von den himmlischen Freuden erwarten sollte!

Aber als der Tanz losging, flüchtete er sich, des Tumultes und Lärmens ungewohnt, zumal sein Kopf etwas wirbelig vom Wein war. So geriet er auf die Galerie und stand mit einem Hochgefühl oben, wie wenn er die reiche Hochzeit gerichtet hätte; er konnte das Brautpaar nicht genug anschauen, den alten 287 Malseiner und die Bäuerin dazu, die wie die Jungen tanzten.

»Die jung' Malseinerin ischt mei Schwester,« sagte er wichtig zu dem großen Zimmermädchen Ottilie, das mit den beiden Kindern des Wirtes das Fest anschaute.

»Du, des wär' a Großer, a Langer, den müßtest du heiraten, der passet zu dir!« sagte der Franzele altklug.

Die beiden ›Großen‹ wurden rot, schauten sich aber mit Wohlgefallen an, ja Anderl rückte der Ottilie immer näher, und als eben die hübsche Wirtin den Ehrentanz mit dem Bräutigam und der stattliche Wirt den mit der Braut machte, also beide nicht heraufschauen konnten, küßten sie sich schnell.

In der dunkeln Ecke hockte noch ein Paar, das gar zerlumpt und zerzaust aussah.

»Die wollen g'wiß aa heiraten,« spottete der Franzele, der alles sah.

»Wie die hergelaufenen Laninger schauen sie aus,« sagte Anderl im Hochgefühl seines neuen Anzugs.

Er hatte Michel und seine Schwester Moidl nicht erkannt.

 


 


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