Anna Croissant-Rust
Die Nann
Anna Croissant-Rust

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8

Auf der ›Post‹ in Jodok war's gedrückt voll. Der erste Schnee war gefallen und Frost darauf gefolgt, früh im Jahr, denn es war erst Matreier Markt, der oft noch bei schönstem Herbstwetter abgehalten worden war. Diesmal waren die Marktgäste in Schlitten hin- und zurückgefahren; vor dem Tore stand eine stattliche Reihe ausgeschirrt, grüne und rote und blaue und braune. Da gab's solche mit derben Rokokoverzierungen, solche mit bunten Bildern und Namenszügen, vergoldete, hölzerne und geflochtene; die warmen zottigen Decken lagen noch drinnen, und die Pferde standen in den Ställen und ruhten.

Das Bauernzimmer war in dicken Dampf gehüllt, man sah fast nicht von Tisch zu Tisch; die Hüte auf dem Kopf, die Pfeifen im Maul, saßen Bauern und Knechte da, tranken ihren Roten, der eine oder andre auch ein Glas Kundler Bier. Am ersten Tisch saßen der Blasi, der den Malseiner zum Markt gefahren hatte, und der Michel. Michel war gewaltig aufgekratzt, er hatte schon zuviel getrunken und renommierte mit seinem neuen Dienst, wo er in ein ›Paradeis‹ käme.

Er hatte sich in den ›Steinbock‹ nach Steinach 119 verdingt, und die andern Knechte verspürten gewiß gewaltigen Respekt vor ihm, daß er in dies große und gute Haus kam.

»Zu Tausenden kemmen die Fremden da im Sommer,« legte er los, »gar nit genug fahren kannscht sie, da regnet's grad die Trinkgelder! Da magscht gern Roßknecht sein!«

»Aber a bisl feiner magscht aa sein mit die Fremden, Michel,« stichelte ein andrer Knecht.

»'s sell brauchst du mir nit zu lernen,« lächelte Michel überlegen, »grad a so mögen sie's gern wie i bin.«

»Und schön gnua bist aa,« schürte wieder derselbe Knecht, »da werd'n si' die Stadtfräul'n alle in di verliab'n, Sakra, wird des a Leben geben!«

Ein allgemeines Gelächter brach nun los, so daß Michel halb erbost und halb verlegen den Hut vom linken auf das rechte Ohr schob und sich kratzte.

»Und die Moidl ischt aa dort jetzt,« sagte ein andrer.

»Jesses, möcht' der Blasi gewiß gern hin,« suchte Michel von sich abzulenken. »Geh, wirf dem Malseiner die G'schicht vor die Füß', was hascht denn da oben, möchscht ja im Winter grad kaput gehn.«

Blasi wurde rot und gab ihm einen Stoß; in dem Nebenzimmer, das nur durch eine oben offene Bretterwand von dem großen Gastzimmer getrennt war, saß doch der Malseiner!

»Ischt mir oan Ding!« schrie Michel, »heut ischt mir alles gleich!«

»Heut gibscht koan Ruh, bis du deine Prügel hascht, wär' grad der Puschterer da!« sagte der erste Knecht wieder.

120 »Der Malseiner besorgt's ihm aa, wenn's nötig is und wenn er's gehört hat,« meinte der zweite.

Aber drinnen hatten sie nichts gehört; die redeten selber lebhaft, wenn's auch nicht so laut zuging wie in der großen Stube.

Da saßen außer dem Malseiner noch der Leithner, der Lehrer von Jodok, ein paar Bauern, der Krämer von Stafflach und der Wirt. Man sprach vom Markt, von Käufen und Verkäufen, der Wirt hatte ein Roß gekauft, der Leithner ein Kalb und der Malseiner Decken.

»Brauchst es schon, bald es so fruah a so anfangt, werd' es sehn, mir kriag'n an harten Winter,« orakelte der Leithner, »da geaht's uns am Berg wieder schlecht.«

»Wenn's a so wird, wie vor sechs Jahren,« sagte der Malseiner, »nimmer auffer und nimmer ower hast können, i denk's no' gut; na, so möcht' i's nit.«

»Wann ischt denn des g'wes'n?« sagte der Wirt, der nur halb zugehört hatte.

»Ja, woaßt es denn nimmer, wie's oben beim Kuchler die zwoa Kinder eing'schnieb'n hat? Na, die drei, die Nann war ja aa dabei.«

Und nun kamen sie über die Nann. Der Lehrer lobte sie.

»Sie lernt gut, sie is ganz brav, a bisl unruhig halt, aber möchst es nit meinen, daß es so zugeht daheim.«

»Was zuageht?« fragte der Malseiner etwas gereizt.

Der Leithner schmunzelte und stieß seinen Nebenmann unter dem Tische an.

121 »No, i mein' halt,« lenkte der Lehrer ein, »z'erscht schon keine rechte Mutter –«

»Du, da müßt' i bitten,« unterbrach ihn der Malseiner, »die Marietta, da hat nix g'fehlt, sauber war sie und g'sparig

»Jaja, jaja,« machte der Leithner, halb ironisch, »mir wissen's schon, aber 'n Vater kennst halt doch nit, woaßt nit, was er für a Kerl war.«

»'n Voda kennst nit?« Dem Malseiner stieg der Zorn. »Machst es du aar a so wie der eigne Voda, der sie verleugnet? Sagst du die Toten im Grab no' was Schlecht's nach? I woaß es ja, was ihr alles redt's. So schaugt's es doch an, des Diandl, kriagt sie nit auf und auf a Kuchlerg'sicht? Daß er si' nit versündigt, der Anderl mit seiner Wüstheit!«

In der Nebenstube war es still geworden, als man den Malseiner so laut schreien hörte; die Bank, auf der der Malseiner saß, krachte.

»No, er wird scho' no' g'straft werd'n, die kocht ihm schon a Supp'n ein, die er jetzt do oben hat,« stichelte der Leithner.

»I woaß niacht,« wehrte der Malseiner ab, der nicht gern von der Dicken reden hörte.

»Ich woaß niacht!« sagte ihm draußen einer nach und wollte fast vor Lachen ersticken.

Der Malseiner sprang auf: »Laßt's mi' außer!«

Er drängte den Wirt zur Seite. »Wer hat da g'lacht?«

Mitten in der Wirtsstube stand er und schaute sich um.

»So, du bist es, Michel! I hab' mir's glei' denkt, i kenn di an dein verflixten Lachen. Was hascht du zu lachen? Was tuscht du da?«

122 »Was i da tu? An Wein saufen wie du aa. Moanscht du, des sell können grad die Bauern alloan?«

Michel wurde frech, als er sah, daß alles auf ihn und den Malseiner merkte, daß sogar alle aus dem Nebenzimmer herauskamen.

»Du gehscht hoam, du tuascht dein Arbet dahoam, augenblickli' mach di' durch,« brüllte der Malseiner, bei dem der Wein zu wirken begann.

»I nit,« beharrte der Michel. »Der Hansi hat mi' gehn heißen, er bleibt dahoam, hat er g'sagt, ob er's tut, woaß i nit.« Er lachte dem Malseiner frech ins Gesicht.

»Warum sollt er's nit tun?« Der Malseiner war dicht vor ihn hingetreten.

»Warum? Dein' Alte haltet ihn nimmer. Geahscht du vorn außer, so geaht er hint außer, 'n Berg auffer.«

»'n Berg auffer?« wiederholte der Malseiner zuerst langsam und mechanisch, ganz der bedächtige Bauer, dann auf einmal schreiend, der Jähzornige, der ganz von seiner Wut übermannt ist: »'n Berg auffer, sagst du? Moanscht, weil du aufferkrochen bischt bei Tag und bei Nacht, weil du di nit g'schamt hascht, a Lug ischt's!«

»Was? a Lug? Geh auffer in d' Räuberhöhl und schau di' um, wer droben ischt! I nimmer, der Blasi aa nimmer, aber der Hansi,« (ganz süß und höhnend), »der Hansi halt!«

Mit geballten Fäusten und vorgestrecktem Kopf, ganz rot vor Wut, kam der Malseiner dem Michel immer näher.

123 Schon standen die Bauern da und dort auf; die um Michel herum waren, rückten näher zusammen.

»Du Lump! sag des no amal!« schrie der Malseiner.

»Sag's no amal!« schrie eine andre Stimme hinter dem Ofen vor.

Einen Augenblick war alles Gemurmel verstummt, schaute alles nach der Ofenecke, da stand ja wahrhaftig der Kuchler-Anderl! Niemand hatte ihn in dem dicken Rauche in der Ofenecke sitzen sehen. Wie er so dastand, hager, die Achseln hochgezogen, die Augen zusammengedrückt, wie zum Sprung bereit, ging eine Atmosphäre von Tücke und List und Grausamkeit von ihm aus, war er ganz das Gegenteil des Malseiners, der dort stand, breitspurig, voll wilder Kraft, wie ein Stier zum Stoß bereit.

»Sag's no' amal!«

»Jawohl, jawohl!« schrie der Michel, angestachelt durch das Gemurmel der Kameraden.

»Dein g'hört sie, mein hat sie g'hört, dem Blasi hat sie g'hört, dem Hansi g'hört sie jetzt –«

Da war der Kuchler schon bei ihm, sein Beil hat er aus der Ecke gerissen, und nun zieht er aus –

Fünf, sechs werfen sich dazwischen, der Malseiner voran, der plötzlich nüchtern geworden ist.

»Gib an Ruh, Kuchler!« keucht er, bestrebt, des alten Anderl Arm festzuhalten, sie ringen förmlich, der Kuchler kriegt den Arm frei, ein paar Sekunden nur, dann hält ihn der Malseiner wieder fest, aber das Beil sinkt doch, abgeschwächt zwar im Hiebe, sinkt und trifft den Kuchler selbst.

Im Nu ist alles voller Blut, der Malseiner, der Kuchler, der Leithner und der Wirt, die dicht dabei 124 stehen, der Boden, der Tisch – man weiß nicht recht, wer getroffen ist, bis man das Blut an des Kuchlers linkem Arm herauslaufen sieht, bis der Alte auf einmal taumelt, noch einmal vorwärts will und zusammenstürzt.

»I' denk' dir's, Malseiner,« sagt er noch, dann ist er weg.

Sie betteten ihn auf eine Bank, aber er rührt sich nicht; der Leithner verbindet ihm die Wunde mit Tüchern, die der Wirt bringt, einer geht, den Doktor zu suchen, der zufällig im Ort sein soll – sie halten den Anderl für verloren. Alles steht um ihn herum, der Kreis wird immer dichter, nur der Michel ist verschwunden.

»Des is sein Glück, daß der sich verzogen hat!« grollt der Malseiner, der eifrig beschäftigt ist, das Blut von seinen Fingern und seinem Anzug abzuwaschen; seine Hände sind unsicher dabei, in ihm zittert noch immer die Aufregung nach, und ein neuer Grimm will wieder entstehen. Wartet nur, wenn er heimkommt!

Der Doktor kann nicht viel bei dem Kuchler-Anderl finden, er wacht auch wieder auf, als ihm der neue Verband angelegt wird. Viel Blutverlust, eine große Fleischwunde, Aufregung und Trunkenheit; er zuckt die Achseln: wenn er nicht Obacht gibt, kann es schlimm werden, sonst ist es nichts Gefährliches.

Also laden sie ihn auf des Leithners Schlitten, doch den Malseiner läßt er nicht hin; auch als er ihm beim Leithner oben zum Aussteigen behilflich sein will, denn von da ab muß er geführt werden, drückt er ihn weg mit einem wüsten, bösen Schimpfwort. 125 Des Leithners Knecht muß mitgehen, er will sonst keinen, und auch den verflucht er in seiner halben Trunkenheit fortwährend, ja, er redet überhaupt immer vor sich hin, redet zum Haus hinein und murmelt noch in der Stube.

Die Dicke bricht gleich in ein Zetergeschrei aus: »Jesses, Bluat! Anderl! Um Gotts willen, was is denn g'schehg'n?« Heulend und flennend will sie sich an ihn hängen, als er schwankend durchs Zimmer nach der Kammer geht, doch drängt er sie zurück und weist auch den Knecht ab, der ihm noch helfen will. Drinnen stößt er den Riegel vor, und so viel auch die Dicke und das Luisele zetern und schreien, er läßt niemanden ein. Nach der Juli ruft er einmal, nein, er brüllt nach ihr, weil die Dicke hinein will, der klemmt er die Türe vor der Nase zu: »Die Juli will i', a Wasser, an Schnaps möcht' i'.«

Da sitzt sie denn, die Dicke, und weiß nicht, was das heißen soll; sie stützt den Kopf in die Hände und stiert auf den Tisch, doch plötzlich sieht sie da eine Pfeife liegen, im Nu hat sie sie unter der Schürze.

»'n Hansi sein' Pfeifen,« sagt die Nann.

»Bist still, oder –!« droht die Dicke und hält ihr die Faust unter die Nase, »daß du mir koan Wort nit sagst, du woaßt, der Voda will's nit haben, es möcht' dir schlecht gehn!«

Während der Nacht muß die Juli beim Vater bleiben, sie tut gar nicht erstaunt, aber wenn sie durchs Zimmer geht, wirft sie der Dicken triumphierende Blicke zu. Jetzt kam ihre Zeit! Nur still, nur still!

Gegen Morgen bekam der Vater Wundfieber; gewalttätig und verbohrt, wie er war, hatte er den Verband abgerissen, den ihm der Doktor gemacht 126 hatte, weil er sich einbildete, die Wunde brenne zu stark, der verstünde nichts. Für was hatte er denn die alte Salbe liegen? Die hatte ihm noch immer geholfen, wenn er sich gehackt hatte, was bei seinem Handwerk ziemlich häufig vorkam. Richtig schlief er auch ein; zuerst war er ganz ruhig, dann fing er zu träumen an und laut zu reden, später wurden die Reden wirr, der Kranke unruhig; er warf sich hin und her, er schwätzte und schrie auf, er sah immer die Marietta, er rief nach ihr, er rief nach der Nann, er war mitten im Wirtshausgespräch, mitten in der Rauferei.

»Was, gleichsehg'n tut sie mir? Hundertmal, wenn sie's sagen, nit wahr ischt's! Weiter! Weiter, sag' i'!« und er schlug mit den Händen auf die Bettdecke: »Hau zu! Schlag zu! Sag's no' amal! Nit wahr ischt's! Wo ischt sie? Her muß sie, umbringa tua i' sie! So!« – er preßte das Kissen zwischen die Fäuste, bis er erschöpft umsank. So ging's fort, bis zum lichten Morgen.

An der Kammertüre horchte die Dicke; sie klopfte wohl ein paarmal an, aber die Juli rührte sich nicht, sie horchte weiter.

»Hörst es, Nann, was der Voda sagt? G'rauft hab'n s' wegen deiner! Du bist schuld! Hörst es? So geht's, weil du alleweil einihockscht auf Malsein, untersteh di' nur no' amal und geh' mer eini. Wenn der Voda stirbt, bischt du schuld, verstehscht es? Und koan Wort, daß du mir sagscht, wegen 'n Hansi –«

Die kleine Nann hörte die wilden und unverständlichen Drohungen des Vaters und die bösen Worte des Weibes, und ihr Herz wurde verzagt und verwirrt; da in Malsein auch eine dumpfe und schwere 127 Stimmung brütete und jedes mit sich zu tun hatte, achtete niemand der kleinen Nann, wenn sie vorbeiging, und das machte sie trotzig. Nicht einmal den Kopf wendete sie von nun an dem Haus zu. Es gab ihr freilich jedesmal einen Stich, sowie nur das Dach zum Vorschein kam, sie fing dann zu laufen an, was sie nur konnte, aber wohl war's ihr nicht bei ihrem Trotz. Wenn sie des Abends in einem Winkel kauerte und das Luisele hütete, das keinen Lärm machen sollte wegen des kranken Vaters, kollerten ihr oft die Tränen über die Backen, und sie wußte sich nicht zu helfen vor Leid und vor Sehnsucht. Sehnsucht nach Hansi, nach Malsein, nach ihrer toten Mutter, nach jemand, den sie hätte gern haben können –

Warum mußte gerade sie keine Mutter haben? Jedes Kind in der Schule hatte eine Mutter, nur sie nicht. Warum war denn kein Mensch gut mit ihr, warum streichelte sie niemand und gab ihr gute Worte? Die Mutter, die Marietta, sollte eben dasein, Hansi hatte doch so viel Schönes von ihr erzählt. Und sie kam nie wieder, sie war tief, tief unter der Erde drunten, wo keiner mehr herauskommt, und in ihrem ganzen Leben bekam sie jetzt keine Mutter mehr! Wie gern hätte sie von der Juli recht viel von der Mutter gehört. Aber die paßte gar nicht auf, wenn die Nann etwas fragte.

»I woaß's nit,« damit war sie fertig.

Die Juli hatte an andres zu denken; so müde sie vom Nachtwachen war, so wenig sah man es ihr an. Sie streckte sich ordentlich, der Tag mußte ja kommen, wo die Fremde mit Schimpf und Schande aus dem Haus gejagt wurde, der Vater wußte jetzt alles, nur Geduld, nur warten, nur warten. Was 128 ging sie alles übrige jetzt an? Was hatte sie Zeit, auf das Kind zu achten?

Die Nann war sich noch nie so verlassen vorgekommen, es tat ihr bitter weh, an Malsein wie an einem fremden Haus vorbeischleichen zu müssen. Wenn der kleine Dackl, das Bergmanndele, an ihr hinaufsprang, getraute sie sich nicht, dem Hund vor dem Haus zu schmeicheln, ganz sachte lockte sie ihn nach, immer weiter, und waren sie weit genug vom Haus weg, dann nahm sie das kleine Tier um den Hals und drückte es fest an sich. Oft verspielten die zwei sich den halben Schulweg hinunter, und ein paarmal war das Bergmanndele mit bis nach Jodok hinuntergewandert. Dort setzte es sich auf die Schwelle der Schultüre und war nicht von da fortzulocken. Am Mittag konnte die Nann ganz toll vor Freude tun, daß er dasaß und auf sie wartete. Sie erdrückte ihn fast vor Liebe, sie teilte ihr Mittagbrot mit ihm, sie raste mit ihm die Dorfgassen auf und ab und zeigte ihn, glühend vor Freude, allen Dorfkindern, ganz erstaunt, daß sie nicht ebenso närrisch mit ihm waren, ja daß sie ihn neckten und quälten!

Als die Nachmittagsschule zu Ende war, gab das ein Hallo den Berg hinauf! Die Nann pfiff und sang, und der Hund kläffte und sprang an ihr hinauf, sie rannten um die Wette; aber vor Malsein wurde die Nann ruhig, obwohl das Bergmanndele sie bellend und winselnd mit der Nase anstieß und zum Weiterspielen aufforderte.

Ein paarmal hatten die beiden so ihre schönen Tage, dann war's zu Ende. Wenn der Dackel auf sie wartete, rief ihn ein scharfer Pfiff ins Haus zurück; eine Zeitlang schaute er der Nann nach, die 129 den Berg hinunterjagte, dann trottete er langsam, den Schweif eingezogen, ins Haus zurück.

Die Nann hielt sich nun mehr zu den Dorfkindern; es waren ein paar dabei, die nahmen sie mit heim, damit sie ihr Mittagbrot bei ihnen esse, anstatt in dem Schulzimmer, sie und des Leithners Rosele, das auch nicht heim konnte über Mittag. Die Mütter sagten nichts, wenn das Rosele kam, aber der Nann machten sie scheele Augen hin. Wer wollte denn mit einem Kind aus der Räuberhöhle zu tun haben? Sie rückten ihre Kinder weg, wenn sie zu dicht an die Nann herankamen. »Setz di' nit a so nah zuwer, daß d' koane Läus' kriagscht,« ermahnten sie.

»I' hon koane Läus'!« schrie die Nann erbost, »i' werd' alle Tag g'waschen und kampelt, wenn i' aa koan schön's G'wand hab'!« und sie kam nie mehr in die Häuser, auch wenn sie die Kinder darum baten. Dafür lief sie mit ihnen auf der Gasse umher, warf Schneeballen und rodelte die Hänge herunter; bald tat sie's allen Buben zuvor. Mit glühenden Backen, um die die widerspenstigen Locken flogen, sauste sie allen voraus, jodelnd und schreiend. Der Schnee drang in ihre Strümpfe, der Rock war über und über naß, was focht sie's an? Sie tollte bis zum Dunkelwerden im Dorf herum, dann keuchte sie den schlechten Weg in der Finsternis heim, warum hätte sie eher gehen sollen? Droben kümmerte sich doch keins darum, ob sie da war oder nicht, ob sie naß oder trocken, gesund oder krank heimkam. Manchmal zerrte sie des Leithners kleines Rosele mit hinein, die Leithnerischen sahen es gerade nicht gern, aber sie ließen ihr Kind gewähren, besonders, da das Rosele, still und kränklich, wie es war, kein allzu 130 großes Wohlgefallen an dem wilden Getue der Nann hatte, die mehr wie ein ausgelassener Bub in ihren Spielen war als wie ein kleines Mädchen. Nur wenn's draußen windete und schneite und die Leithnerin den zwei Kameradinnen Äpfel in die Bratröhre gelegt hatte, die zischend mit dem Knattern der Holzscheite im Ofen wetteiferten, oder ›Köschten‹, von denen auf einmal eine mit einem lauten Knall sprang, war's dem Rosele wohl bei der Nann. Da saßen die Kinder zusammengekauert in dem kleinen Erker, zwischen dessen Fenster die Leithnerin dichtes Moos gestopft hatte, und sahen zu, wie der Schnee in Schwaden vorbeiflog oder wie von einer unsichtbaren Hand plötzlich an die Scheiben geschleudert wurde; dann mußte die Nann erzählen. Ganz nah' kroch das Rosele zur Nann hin und konnte nicht genug kriegen. Immer und immer wieder wollte es die Geschichten von den saligen Fräulein hören, vom Rosengarten, von den Tarntaler Männlein, alles, was die Nann noch von Hansi und dem Malseiner Rosele wußte, alles kam aufs Tapet, und wenn die Nann nicht weiterkonnte, mengte sie frisch ihre eignen Erzählungen darein. Erzählte sie einmal von einem Prinzen oder Königssohn und das Rosele fragte: »Wie schaugt er aus?« hatte sie immer rasch die Antwort: »Wie der Hansi.« Bei den Königstöchtern oder den saligen Fräulein haperte es schon. Die konnte sie nicht beschreiben, das Rosele half dann nach: »Die müssen so lichte Haar' g'habt haben wie du, gelt, und so weiß sein sie auch g'wesen.« Es kam öfter vor, daß sich die Leithnerin, breitspurig, die Hände in die Seiten gestemmt, eine Zeitlang zu den Kindern stellte und zuhörte; sie wurde aber 131 bald unwillig; die ›derlogenen‹ Geschichten ärgerten sie als nüchterne, praktische Frau ganz genau so, wie sie die Malseinerin auch geärgert hatten. Noch viel eher konnte sie es hören, wenn vom Sandwirt im Passeier, dem tapferen Andreas Hofer, von Speckbacher und Haspinger erzählt wurde, und sie machte sich oft den Spaß und fragte die Nann: »Wie hat er nachher ausg'schaugt, der Hofer-Anderl?«

Und die Nann erwiderte jedesmal prompt: »Wie der Hansi.«

»Na, wie der Malseiner eher,« korrigierte dann die Bäuerin, »er hat an Bart g'habt und koane hellen Haar; wenn du amal auf Steinach kimmst in Steinbock, kannst 'n sehen im Hoferstüberl oder z' Innsbruck in der Hofkirchen;« aber die Nann ließ sich's nicht abstreiten, und die Bäuerin ging lachend fort. Alles, was gut und schön und tapfer und kräftig war, konzentrierte sich für die Nann in Hansi, und sie verargte es der Leithnerin, daß sie sie immer nur foppen wollte, denn glauben, nein, glauben konnte sie das nicht, daß der Hofer-Anderl wie der alte Malseiner aussehen sollte.

Auf dem Schulweg erzählte das Rosele gewöhnlich, aber immer nur von dem kleinen ›Poppele‹, das sie jetzt hatten, und das sie gar so gern mochte. Die Nann konnte das gar nicht begreifen. Wenn sie an das Luisele dachte! Sie hatte es nie leiden können, war sie denn nicht immer wegen ihm geschlagen, herumgestoßen und vernachlässigt worden von Anfang an? Wegen diesem kleinen, boshaften Ding, das selbst zu schlagen anfing, sobald es nur die Hände rühren konnte? Das Luisele gern haben? Lieber gab sie ihm schon einen Puff, wenn's heimlich sein konnte, 132 gleichsam als Wiedervergeltung all der zahlreichen Püffe, die sie bekommen wegen ihm.

»I mag 's Luisele nit,« sagte sie bestimmt, »und werd' sie auch nie mögen.«

»Es ischt auch nit dein Schwesterl,« belehrte sie das Rosele.

Es war nicht ihr Schwesterchen? Wer war denn das Luisele sonst? Es war doch immer dagewesen, seit sie dachte, oder nicht? Waren da nicht Zeiten, lang', lang' vorbei schon, wo sie mit der Juli und dem Anderl allein gewesen war?

Ja so, der Anderl war ja auch noch da, und er war doch ihr Bruder, und aus ihm machte sie sich auch nichts; ja, wenn der Hansi ihr Bruder gewesen wäre! Daß das Luisele nicht ihr Schwesterchen sein sollte, erleichterte sie etwas, aber das Unklare ihrer Herkunft drückte sie doch, und sie fragte am Abend die Juli: »Wo ischt denn's Luisele herkemmen?«

Aber die Juli war nicht zum Reden aufgelegt: »I woaß es nit.«

Die Nann fragte aber noch mehr: »Ischt die Dicke seine Mutter?«

Juli sah sie von der Seite an: »I woaß es nit.«

»Und wo ischt der Anderl?«

»Was fragst denn? I woaß es nit, bei die Soldaten.«

»Schreibt er nie niacht?«

»Na.«

»Gell, wenn's der Hansi war, der schreibet uns g'wiß!«

Da ließ sich die Juli auf einen Stuhl fallen, schlug die Schürze vors Gesicht und fing so heftig an zu weinen und zu schluchzen, daß es sie nur so 133 schüttelte und ihre Schultern zu zucken begannen. Die kleine Nann getraute sich kein Wort mehr zu sagen, still schlich sie sich weg; sie begriff jetzt, daß ihre Schwester den Hansi viel, viel lieber hatte als sie, viel anders lieb, und daß es der Juli viel weher tat als ihr, daß er nicht mehr heraufkam.

 


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