Anna Croissant-Rust
Die Nann
Anna Croissant-Rust

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In dem kleinen Bahnwärterhaus droben zwischen Gries und Brenner qualmt ein trübseliges Licht in der Ecke. Stumpf vor Angst und Schmerz und dem vergeblichen Warten auf Hilfe, erschöpft von den vielen Nachtwachen, kauert die Nann vor dem Bett der erschöpften Frau. Wie lange wird es noch dauern, bis sie erlöst ist? Die Nann hat keine Hoffnung mehr, sie sieht ja, wie sie allmählich auslöscht. Schon ist die Kranke so schwach, daß sie kein Wort mehr sagen kann, und ihre Augen scheinen schon weit über die enge Stube im Wärterhaus hinauszusehen über die Schneeweiten und Berge weg – –

Von Zeit zu Zeit gibt es der Nann einen Ruck, sie meint, die Frau könne am Ende schon tot sein – beugt sie sich aber über sie, so spürt sie immer noch den schwachen Atem. Sie fürchtet sich entsetzlich davor, mit der Toten allein sein zu müssen, so gern sie die Frau hat. Wie war das so schwer vorhin, als die Frau noch kräftiger war, als sie ihre Hände packte, ja fast umkrallte und um Hilfe schrie, nach dem Manne schrie, der nicht kam! Die Nann konnte es drinnen nicht mehr aushalten, sie mußte den kleinen gepflasterten Weg vor dem Häuschen auf und ab laufen und mußte in die Nacht hinausschreien um Hilfe. Sie war die Schienen entlang gerannt, bis sie die Lichter von Gries sehen konnte, aber sie durfte keine Hilfe drunten holen, der Bahnwart hatte es ihr streng verboten, sie mußte bei der Schwerkranken bleiben, und erschreien konnte sie niemand, alles blieb still auf ihre Rufe.

Als sie wieder zurückkam, wollte sie schier 184 verzweifeln, daß sie der guten Frau, die ihr wie eine Mutter war, nicht helfen konnte, so sehr sie auch bat: »Hilf mir! Hilf mir!«

Jetzt lag die Kranke ruhig, kaum daß ein schwacher Schmerzenston von ihren Lippen kam, und die Nann fühlte alles, was die Arme, die jetzt sterben ging, gelitten. Was hatte die schwache, kränkliche Frau alles durchmachen müssen in diesen zwei Jahren! Jedes Jahr ein armseliges, schwächliches Kind, und immer stand sie elender auf, als sie sich gelegt hatte. Zu essen hatten sie alle nicht übermäßig, und gar zu kräftiger Nahrung, welche die Frau gebraucht hätte, langte es nicht.

Die Nann war in beständiger Sorge um sie, ganz wie der Mann.

Im Sommer hatten sie das eine Kindchen begraben, das in der Nacht, als die Lawine niederging, zur Welt gekommen war. Es war größer und stärker als die andern beiden gewesen, und Binder, der Bahnwart, hatte oft stolz gesagt: »Draußen ischt der Tod vorbeigangen, aber bei uns ischt derweil das Leben eingekehrt.«

Es war der Frau Liebling gewesen, und die Nann sah sie heute noch sitzen und das Kind wiegen, als es schon lange kalt war.

Die Sonne brannte auf den Kirchhof von Gries, als sie's begruben, und im Heimgehen sagte die Frau noch zu ihr: »Nann, versprich mir's, verlaß mir meine Kinder nit.«

Die Nann hörte die Worte noch, wie wenn sie eben zu ihr spräche! Tropfen um Tropfen rann ihr zwischen den Fingern durch. Es mußte der Armen schon damals nimmer ums Leben gewesen sein, 185 trotzdem der Mann so fein mit ihr war, und sie, die Nann, tat ihr doch alles, was sie nur konnte.

Jetzt hatte sie also bald keinen mehr auf der ganzen Welt, der sich um sie sorgte, keinen, der nach ihr fragte; nicht einmal die Juli gab ihr Antwort, wenn sie nach Hause schrieb!

Nun kehrten Nanns Gedanken zur Heimat, zu den Ihren, nach Malsein zurück. Seit sie fort war, hatte sie niemand von dort gesehen, auch Hansi war nicht gekommen, wie er ihr versprochen hatte.

Einmal hatte sie in Gries unten im Sommer den Michel mit einem stattlichen Paar Pferde getroffen. Er konnte ihr nicht genug erzählen, was alles für Fremde im ›Steinbock‹ seien, wie er's so gut getroffen und die Moidl auch; in seiner übertriebenen Weise berichtete er, daß sie zu »Tausenden« im Speisesaal säßen, die Fremden, und wie herrlich alles dort sei, nicht zum Sagen; dann kam er auf ihre älteste Schwester und berichtete, daß sie in »Seiden und Samt« in Innsbruck herumsteige, auch ein Kind in Pflege ins Kuchlerhaus gegeben habe und gut Freund mit der Dicken sei, weil sie der so viele Gulden schicke. Mit Moidl dagegen, meinte er, ginge es nicht so vorwärts, sie werde wohl auch in Steinach nicht bleiben, sie sei viel zu faul und zu ›schlimm‹, und man müsse immer zanken mit ihr. Von Malsein und von Hansi, vom Vater und von der Juli sagte er nichts, und sie fragte nicht nach ihnen.

Als ihr aber bald darauf, auch wieder in Gries, Blasi mit den Malseiner Braunen über den Weg lief, wollte sie ihm zuerst ausweichen, verschüchtert, wie sie in der völligen Einsamkeit geworden. Es kam aber gerade eine Herde von der Alm herunter, die sie 186 zwang, standzuhalten, und weil die Tiere scheu und unruhig waren, mußte auch der Blasi die Pferde stehen lassen. Er war noch ganz derselbe Hasenfuß wie früher; zuerst schaute er die Nann an und kannte sie nicht, dann lächelte er blöd, ohne zu grüßen oder ihr die Hand zu bieten.

Nickte nur und lächelte und hätte wohl kein Wort gesagt, wenn nicht die Nann gefragt hätte.

Ja, der Vater, der Kuchler, er wisse nichts Rechtes davon, – es werde wohl sein wie früher, da und dort und wieder daheim, und die Dicke – er wurde dunkelrot – da wisse er gleich gar nichts, und das Luisele springe in die Schule, und der Malseiner habe ihr eine gesteckt, weil sie so viel letz mit den Hunden sei; die Juli sähe keiner, und es sei ein neuer Hund dagewesen in Malsein, der Cäsar, den hätte aber der Malseiner erschossen, weil er ihn nicht mochte und nur dem Hansi auf Schritt und Tritt nachging. Ja, sonst sei der Malseiner gesund, aber viel zornig, mit dem Hansi zanke er oft, er brauche ihm zu viel Geld; ja, und ob sie wisse, daß Michel in Steinach sei im Steinbock und Moidl auch? Ja, die Moidl auch. Hier machte der Blasi eine lange Pause und seufzte tief, und wenn ihm die Nann nicht ein »Pfüat Gott, Blasi!« zugerufen hätte, wäre er wohl noch lange tiefsinnig auf der Brennerstraße gestanden und hätte an Moidl gedacht. Die Nann war schon eine Strecke weg, da rief er erst nach: »Aber groß bischt worden, Nann!« Ihr »Grüaß mir's alle z' Malsein!« hörte er nicht mehr.

Damals hatte die Nann ein paar Tage Heimweh nach Malsein gehabt, und alles war leer um sie gewesen; sie hatte hart daran getragen, keinen Vater 187 und keine Mutter zu haben, noch jetzt tat ihr das Herz weh, wenn sie daran dachte, wie's ihr jenen Abend zumut war, als sie Blasi gesehen hatte.

Ganz verstört, wie im Halbschlaf, fuhr sie in die Höhe. Hatte die Frau gerufen, gestöhnt? Oder war's draußen?

Nun mußte ja endlich jemand kommen! Sie hatte doch vor längerer Zeit, neben dem Güterzug herspringend, dem Führer alles gesagt, und der Mann hatte sie verstanden, hatte genickt. – Warum kamen sie denn so lange nicht? Der Binder – oder der Doktor – es wurde ihr in dem stillen halbdunkeln Zimmer, erschöpft, wie sie war, dämmrig vor den Augen, sie hörte noch, daß die Frau gleichmäßig atmete, ein bißchen laut, dann wieder aussetzte, wieder atmete – vergebens kämpfte sie gegen den Schlaf an, der Kopf fiel auf ihre Brust herunter, sie schlief ein.

*

Was war denn mit ihr geschehen? Träumte sie oder was war denn überhaupt? Ein paar Leute standen auf einmal in der Stube, und da vor ihr, war das nicht Hansi? Hansi, an den sie gerade vorhin gedacht!

»Wach auf, kloane Nann,« sagte er. »Du muaßt helfen. Draußen in der Kuchel ischt der Binder; er ischt g'fallen, brauchscht nit derschrecken!«

Die Nann reibt sich die Augen. »Die Frau?« fragt sie.

Hansi schüttelt den Kopf und führt die Nann hinaus.

»Es ischt nix mehr zu machen,« sagt er, »sie war schon nimmer da, wie der Dokder ischt kemmen.«

188 In der Küche sind auch wieder fremde Leute; sie sieht den Bahnwart auf der Bank liegen mit zerschundenem Gesicht, den Kopf verbunden.

Die Nann schaut Hansi fragend an.

»Es ischt nit so arg, brauchscht di nit fürchten, Madel,« beschwichtigte sie Hansi, »koch du dem Binder an guaten Kaffee, er ischt niederg'fallen auf 'n Kopf, weil er sie z' arg g'eilt hat, und ischt von Sinnen kemmen, a lange Zeit, der Weg wär' ja nit a so schlecht.«

Die Nann fühlt sich so matt, daß sie die Füße kaum ziehen kann, aber sie tut doch alles, was Hansi sagt. Hansi ist da, Hansi will das, Hansi sagt das, und alles ist gut. Wie ein Stück Heimat ist Hansi, ein Schutz vor allem, eine Macht, der sie sich unbedingt unterwirft, und die nur das Rechte will.

Die Not und Angst des Tages, der Schmerz und die Spannung sind zurückgedrängt oder schwingen nur als Untergrundton mit, denn das Wichtigste ist, daß sie tut, was Hansi sagt. Tapfer überwindet sie ihre Schwäche, sie macht Feuer und kocht, sie bringt Kissen und hilft den Verletzten betten, sie sucht nach dem Enzian, und der alte Doktor streicht ihr anerkennend über das Haar. Aber zuletzt wird sie doch schlaff, und Hansi sieht ihr's an, er setzt sie in einen Stuhl und gibt ihr etwas zu trinken; kaum hat sie getrunken, da ist ihr's, als verschwimme alles ringsum, sie hört noch ein Gemurmel, es ist ihr, als decke jemand etwas über sie, – dann schläft sie fest ein, der tiefe, traumlose Schlaf des Kindes ist über sie gekommen.

*

189 Es dämmert, als sie aufwacht. Ganz still ist's im Häuschen, sie hört nur die Uhr ticken. Die Küche ist leer, und der Bahnwart liegt noch auf der Bank, sie sieht deutlich die weiße Binde über der Stirn und die verbundene Hand. All die andern sind fort, auch Hansi. Wie sie auf einmal wieder hilflos und zaghaft ist und sich ängstigt! Wie sie ihn herbeiwünscht, daß er ihr helfe, sie tröste! Jetzt ist er fortgegangen, ohne daß sie mit ihm hatte sprechen, ohne daß sie ihn hatte fragen können, ihm hätte sie ja alles gesagt! Daß er das tun konnte! Nun war er fort für immer, und sie blieb allein, ganz allein, auch die, die ihre Mutter war, ist von ihr gegangen – große Kindertränen, die scheinbar so mühelos kommen, tropfen ihr über die Wangen.

Wenn sie sich nur in die Stube getraute! Die zwei Kinder mußten doch dort sein, sie mußte nachsehen! Ganz still war's da drinnen, und leise klinkte die Nann endlich die Türe auf. Im Dämmerlicht sah sie die Frau auf dem Bett liegen, wie wenn sie schliefe, und neben ihr im Stuhl saß ein fremdes Weib, das wirklich schlief.

Auf den Zehenspitzen kam die Nann über die Dielen her, sie wollte gewiß ruhig sein, nicht weinen, die Fremde nicht wecken, aber sowie sie in das magere, lange Gesicht der Toten geblickt hatte, das so schmerzlich aussah, war alles vergessen; sie mußte weinen, sie mußte klagen, ja sie konnte gar nicht aufhören, so groß war die Spannung des gestrigen Tages gewesen. Natürlich weckte sie die Wächterin, die ihr, schläfrig und übellaunig, wie sie war, sofort grob das Zimmer verwies und ihr noch nachrief: »Daß du nur draußen koan Ton von dir gibscht, der Binder 190 woaß no nix, zu was ischt denn die Flennerei gut? Lebendig wird sie doch nimmer!«

Ja, was half das nun, daß sie sich in der Küche den Mund verhielt und in die Finger biß, um nicht aufschreien zu müssen? Sie lag ja doch tot da drinnen, und nichts, gar nichts mehr konnte helfen, und wenn's der Mann nicht wußte, einmal mußte er's doch erfahren; am liebsten hätte sie ihn geweckt und ihm zugerufen: »sie ist tot«, damit sie nicht allein zu sein brauchte in ihrem großen Schmerz, damit er sie tröste, sie konnte ja ihre Traurigkeit nicht allein tragen. Doch hielt sie sich still, bis es ganz heller Tag war, und als der Mann sich rührte und sie fragend anschaute, konnte sie's erst recht nicht sagen, sie mußte den Kopf wegwenden. Aber er sagte gleich: »Gelt, sie ischt tot?«

Das war das Härteste von allem; die Nann konnte gar nicht in der Küche bleiben, sie rannte fort, in den Stall, zu den Ziegen, ganz wie es Anderl gemacht hatte und wie sie eine Zeitlang selbst getan, und klagte dort den Tieren ihr Leid und weinte sich aus; die eine der Geißen, eine weiße, sanfte, hielt sie dabei fest um den Hals und preßte sie an sich, und die weiße Freundin meckerte so sanft, so vorsichtig, wie wenn sie verstehen könnte, daß die Nann Zuflucht bei ihr gesucht.

Den Binder erschütterte der Tod der Frau so sehr, daß er wie ein Kranker gehütet werden mußte. Die Wunde war nicht schlimm, er war nur durch die Hast und Eile zu Fall gekommen und durch die Wucht des Falles ohnmächtig geworden. Die Wunde war's nicht, aber das Verstörtsein, der Schmerz, die ihn unfähig machten, aufzustehen, obgleich der Arzt 191 auch von der Möglichkeit einer Gehirnerschütterung sprach.

Er durfte die tote Frau nicht sehen und mußte auch dem Begräbnis fernbleiben.

Ein armes Leichenbegängnis!

Es wehte scharf vom Brenner her, die Luft war voll spitzer Eisnadeln, als die Nann mit der Frau des nächsten Bahnwarts, einen mageren Kranz von rot und weißen Stoffblumen am Arm, nach Gries herunterstieg.

Die grünlich bunte Kuppel des weißen Kirchleins sah lustig aus an dem hellen Wintertag, der mit nadelscharfen Kristallen nur wie zum Spaß staubte; die Kinder rodelten und schrien den Hügel herunter, das Glockengebimmel klang fröhlich, gar nicht wie zu einer Totenfeier, und die Leute sahen aus den warmen Stuben dem kleinen Leichenzug nach, der frierenden Nann mit dem dünnen Schal und dem dünnen Kranz, den sie trug, den paar Weibern, die mithumpelten, während sich einige Kinder neugierig zwischen den harten Schneebrocken und den gefrorenen Erdklumpen durch bis an die Grube drängten.

Der Pfarrer machte es kurz.

Wegen der armen Hascherin, der man es gönnen durfte, daß sie ihren Frieden gefunden, war es nicht der Mühe wert, allzu lang zu bleiben, und wegen dem Trauergeleit, das aus fünf, sechsen bestand, auch nicht.

Vor dem Friedhof schaute sich die Nann um; sie hatte der Juli geschrieben, daß die Frau gestorben sei, und nun hätte doch die Juli kommen müssen, um mit ihr zu beraten, ob sie bleiben sollte oder gehen; 192 sie stand wohl eine Viertelstunde herum und wartete an der Ecke, aber es kam niemand.

Die Dorfstraße war wie vorhin, die Kamine rauchten lustig über den dick verschneiten Dächern, die Fenster waren vereist, und aus den Gucklöchern schauten hie und da ein paar neugierige Augen, die Kinder johlten wieder beim Schlittenfahren, und die Nann ging endlich zögernd und allein ihren Weg heim.

 


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