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Fünftes Kapitel.

Ich zeig' den besten Quell euch, pflück' euch Beeren.

Der Sturm.

Der Tag, welcher dem Winzerfeste folgte, dämmerte klar und wolkenlos über dem Leman. Hunderte der genügsamen und mit der Zeit haushälterischen Schweizer hatten die Stadt schon vor dem Frühlicht verlassen, und viele Fremde drängten sich in die Boote, als die Sonne glänzend und anmuthig über die abgerundeten und lächelnden Gipfel der benachbarten Côtes heraufkam. In dieser frühen Stunde war alles in dem felsen-thronenden Blonay und umher rege und in Bewegung. Diener liefen mit hastiger Miene von Gemach zu Gemach, vom Hof auf die Terrasse, und vom Gang in den Thurm. Die Arbeiter auf den nahen Feldern lehnten sich, in staunender Aufmerksamkeit die Reisevorbereitungen ihrer Oberen beachtend, auf ihre Ackergeräthschaften. Denn obgleich unsere Erzählung nicht in die streng lehensherrliche Zeit fällt, so fanden doch die Begebnisse, welche wir zu schildern unternommen haben, lange vor dem Eintritt jener großen politischen Ereignisse statt, welche seitdem den gesellschaftlichen Zustand Europa's so wesentlich geändert haben. Die Schweiz war damals ein selbst für die angrenzenden Völker verschlossenes Land, und der jetzige vorgerückte Zustand der Straßen und Gasthäuser war nicht allein diesen Gebirgsbewohnern, sondern auch dem übrigen Theil des Erdballs, welchen man in jener Zeit bei weitem geeigneter den ausschließlich civilisirten nennen konnte, als heut zu Tag, gänzlich unbekannt. Selbst Pferde wurden bei Reisen über die Alpen nicht oft gebraucht, sondern der Wanderer bediente sich des sicherer gehenden Maulthieres nicht minder, wie der mehr geübte Säumer und Schleichhändler, welche diese rauhen Pfade besuchten. Allerdings hatte man, wie in den übrigen Theilen Europa's, so auch in den ebenern Gegenden, Straßen, wenn ja irgend ein Theil der wogenden Oberfläche dieses Landes den Namen Ebene verdient; war man aber einmal in dem Gebirge, so konnte man sich, mit Ausnahme sehr unkünstlicher Wagenspuren in den engen und schluchtenartigen Thälern, nur dem Hufe anvertrauen oder diesen wirklich gebrauchen.

So war denn auch der lange Zug von Reisenden, der die Thore von Blonay verließ, als der Nebel sich auf den weiten, angeschwemmten Rhone-Wiesen regte, durchaus beritten. Ein Kurier, von einem bepackten Maulthier begleitet, war schon in der Nacht abgegangen, um für die Bequemlichkeit derer, die da folgten, zu sorgen, und gewandte junge Gebirgsbewohner waren in einzelnen Zwischenräumen mit verschiedenen auf die Behaglichkeit der Reisenden berechneten Befehlen abgegangen.

Als der Reiterzug aus dem Bogen des großen Thores kam, hörte man das lebhafte, aufregende Horn, auf welchem die Weise eines Abschiedsliedes geblasen wurde – der Sitte gemäß ein Zeichen der herzlichen Wünsche für die Scheidenden. Der Zug folgte einem sich windenden und malerischen Reitpfad, der zwischen Alpenwiesen, Laubwerk, Felsen und Weiler bequem an das Ufer des Leman herabführte. Roger von Blonay und seine beiden Hauptgäste ritten voran, der erstere auf einem Kriegsrosse, das er Jahre vorher als Krieger geritten hatte, und die beiden andern auf Thieren, welche für die Berge zugeritten und an deren Wege gewöhnt waren. Adelheid und Christine kamen zunächst, in der bescheidenen Zurückhaltung ihres Geschlechtes für sich reitend. Ihr Gespräch war leise und innig. Einige Diener folgten, und dann kamen Sigismund an der Seite von Signor Grimaldi's Freund und einer aus dem Hause des Herrn von Blonay, der mit dem Freiherrn zurückkehren sollte, wenn er seinen Gästen die Ehre erwiesen, sie bis nach Villeneuve zu begleiten. Den Nachtrab bildeten Maulthiertreiber, die Dienerschaft und die Führer der Thiere, welche das Gepäcke trugen. Alle die erstern, welche die Alpen zu überschreiten beabsichtigten, trugen die Feuergewehre jener Periode an ihren Sattelbögen, und jeder hatte seinen Degen, sein couteau de chasse, oder seine Waffe von mehr kriegerischer Form, der Art an sich befestigt, daß man sah, man betrachte sie für Waffen, zu deren Gebrauch sich möglicherweise Gelegenheit bieten möchte.

Da die Abreise von Blonay keine jener Abschiedsscenen darbot, welche gewöhnlich den Reisenden wehmüthig stimmen, so war die Mehrzahl der Gesellschaft, als sie in die reine und erheiternde Morgenluft hinaustraten, in der Stimmung, sich der Lieblichkeit der Landschaft zu erfreuen und der Heiterkeit und Freude hinzugeben, welche ein so prachtvolles Schauspiel bei allen erwecken kann, welche für die Schönheiten der Natur Sinn haben.

Adelheid zeigte mit Freuden ihrer Freundin die verschiedenen Gegenstände, die sich ihrem Auge darboten, um so Christinens Gedanken von ihrem Kummer abzuziehen, welchen die Trauer um den Verlust ihrer Mutter noch erhöhte, von welcher sie sich jetzt zum ersten Male in ihrem Leben wirklich getrennt sah, da ihr Verkehr während der Jahre, die sie unter einem fremden Dache hinbrachte, zwar geheim, aber doch ununterbrochen war. Christine bot den liebevollen Absichten ihrer neuen Freundin dankbar die Hand und war bemüht, an allem, was sie sah, Freude zu finden, obgleich es eine Freude war, wie der Trauernde und Bekümmerte sie zuläßt, die geheimen Ursachen seines Wehes vorsichtig zurückhaltend.

»Jene Burg, der wir entgegenziehen, ist Châtelard,« sagte die Erbin von Willading der Tochter Balthasar's in dem Verfolge ihrer freundlichen Absicht; – »ein fast eben so altes und angesehenes Schloß, wie das, welches wir eben verlassen haben, obgleich es nicht so lange der Aufenthalt einer und derselben Familie war; denn die von Blonay bewohnen seit tausend Jahren denselben Felsen und waren stets wegen ihrer Biederkeit und ihres Muthes berühmt.«

»Gewiß, wenn etwas im Leben seine täglichen Uebel ausgleichen kann,« bemerkte Christine mit mildem Schmerze und vielleicht mit der Wunderlichkeit des Kummers, – »so muß es der Umstand sein, von solchen abzustammen, welche unter den Großen und Glücklichen stets gekannt und geehrt waren! Selbst Tugend, Seelenadel und große Thaten erfreuen sich kaum einer Achtung, wie wir sie für den Herrn von Blonay fühlen, dessen Familie, wie du eben gesagt hast, tausend Jahre auf dem Felsen droben wohnt.«

Adelheid schwieg. Sie würdigte das Gefühl, welches ihre Freundin so natürlich zu einem Gedanken, wie dieser, geführt hatte, und fühlte die Schwierigkeit, in eine so tiefe Wunde, wie die ihrer Freundin beigebrachte war, Balsam zu träufeln.

»Wir dürfen die nicht immer für die glücklichsten halten, welche die Welt am meisten ehrt,« antwortete sie endlich; »die Achtung, an welche wir gewöhnt sind, wird endlich ein Bedürfniß, ohne darum eine Quelle des Glückes zu sein; und die Gefahr, sie einzubüßen, kömmt der Freude, sie zu besitzen, mehr als gleich.«

»Du wirst mindestens zugeben, daß verachtet und gescheut zu werden, ein Fluch ist, mit welchem uns nichts aussöhnen kann.«

»Wir wollen jetzt von andern Dingen sprechen, Liebe. Es mag lange währen, ehe eine von uns diese große Scene von Fels und Wasser, braunen Bergen und leuchtenden Gletschern wieder sieht; wir wollen uns nicht undankbar gegen das Glück zeigen, welches sich uns darbietet, indem wir uns über das grämen, was unmöglich ist.«

Christine fügte sich ruhig der freundlichen Absicht ihrer neuen Freundin, und sie ritten schweigend und den gewundenen Pfad verfolgend weiter, bis die ganze Gesellschaft den langen, aber angenehmen Weg den Berg herab hinter sich hatte und die große Straße betrat, welche von den Wellen des Sees beinahe bespült wird. Wir haben bereits in früheren Blättern unseres Werkes auf die außerordentlichen Schönheiten des Weges an diesem Ende des Lemans hingedeutet. Nachdem der Reiterzug die Höhe des milden und gesunden Montreux erreicht hatte, führte der Weg unter einem Laubgewölbe von Nußbäumen wieder nieder zu dem Thore von Chillon, und den Rand des Sees streifend, erreichte man zur Stunde, welche für das Frühstück bestimmt war, Villeneuve. Alle stiegen hier ab und erfrischten sich einstweilen, worauf Roger von Blonay und seine Leute, nach vielfachem Austausche warmer und wohlgemeinter Wünsche, den letzten Abschied nahmen.

Die Sonne war in den tiefen Thälern kaum sichtbar, als die, welche auf den St. Bernhard reisen wollten, schon wieder im Sattel waren. Die Straße verließ natürlich jetzt das Seeufer und durchschnitt jene breiten, angeschwemmten Niederungen, welche während dreitausend Jahren durch das Bespülen der Rhone, und wenn man geologischen Vermuthungen und alten Ueberlieferungen Glauben beimessen darf, durch gewisse heftige Naturerschütterungen gebildet worden sind. Mehrere Stunden ritten unsere Reisenden inmitten solcher reichen Fruchtbarkeit und einer solchen Ueppigkeit des Pflanzenlebens, daß ihr Weg mehr Aehnlichkeit mit einem Ausflug in die weiten Ebenen der Lombardei, als einer Reise inmitten der gewöhnlichen Schweizerscenerie hatte; obgleich der grenzenlosen Ausdehnung des Gartens Italiens unähnlich, die Aussicht auf jeder Seite durch senkrechte Felsenwälle begrenzt war, welche sich in den Himmel emporthürmten, und nur eine oder zwei Stunden von einander getrennt waren, eine Entfernung, welche sich, nach dem Auge zu schließen, zu Meilen ausdehnte, eine Folge der Größe des Maßstabs, in welchem die Natur diese ungeheuern Massen aufgerichtet hat.

Spät am Mittag führte die berühmte Brücke von St. Maurice Melchior von Willading und seinen ehrwürdigen Freund über die schäumende Rhone. Hier betraten sie Wallis, damals, so wie Genf, ein zugewandter Ort und nicht zur Eidgenossenschaft gehörig, und alles, was sich dem Blicke darbot, Belebtes wie Unbelebtes, nahm jene Mischung des Großen, des Unfruchtbaren, des Ueppigen und des Abstoßenden an, um deswillen dieses Land so allgemein bekannt ist. Adelheid schauerte unwillkührlich – denn ihre Phantasie war durch das Gerücht selbst auf mehr gefaßt, als die Wirklichkeit Grund gegeben haben würde zu erwarten, – als das Thor von St. Maurice sich in seinen Angeln bewegte, und die Gesellschaft im wörtlichen Sinne in dieses wilde, öde und doch so romantische Land einschloß. Wie man jedoch der Rhone entlang zog, staunte sie und jeder ihrer Gefährten, dem die Scene neu war, unaufhörlich über irgend etwas Mißhelliges, auf das sie nicht gefaßt waren und das bald Bewunderung, bald Abscheu, bald Ausrufungen des Entzückens, bald die Kälte getäuschter Erwartung erzeugte. Die Berge waren allum öde und ohne den belebenden Schmuck der sonnigen Weideplätze, aber das Thal war fast überall reich und ergiebig. An einer Stelle war ein Wassersack, eines jener Wasserbehälter, welche die Gletscher auf den Höhen der Felsen bilden, ausgebrochen und hatte, mit Ungestüm niederstürzend, jede Spur der Bebauung mit sich fortgerissen und weite Flächen der Wiesen mit chaotisch zerstreutem Getrümmer bedeckt. Furchtbare Oeden und die lachendste Fruchtbarkeit berührten sich unmittelbar: grüne Plätze, die zufällig eine glückliche Bildung des Bodens begünstigt hatte, traten, wie Oasen in der Wüste, inmitten einer Unfruchtbarkeit hervor, welche der Anstrengung und Kunst des Menschen ein Jahrhundert lang Trotz bieten würde. Diese Trostlosigkeit zu vollenden, saß mitten in diesem schrecklichen Gemälde der Dürftigkeit ein Cretin mit seinen halbmenschlichen Abzeichen, der lallenden Zunge, dem stumpfen Geiste und den entwürdigenden Gelüsten. Aus diesem Gürtel des vernichteten Pflanzenlebens heraustretend, wurde die Scene wieder so freundlich, wie es die Phantasie nur wünschen, das Auge nur verlangen konnte. In den Strahlen der Sonne funkelnd, sprangen Bäche von Fels zu Fels; das Thal wurde grün und lieblich; die Berge zeigten mannigfaltige und schöne Formen und glückliche, lächelnde Gesichter erschienen, deren Frische und Regelmäßigkeit vielleicht in keinem andern Theil der Schweiz wieder zu finden war. Kurz, Wallis war damals, wie jetzt, ein Land entgegengesetzter Extreme, wo aber vielleicht das Abstoßende und Unwirthliche vorherrschte.

Ungeachtet der kleinen Strecke, welche die Reisenden zurückgelegt hatten, brach die Nacht ein, als sie Martigny erreichten, wo vorläufig alle Anordnungen für ihre Aufnahme während der Stunden des Schlafs getroffen worden waren. Man sorgte, der Gesellschaft zeitig den Genuß der Ruhe zu verschaffen, um sie für die Mühen des folgenden Tages zu stärken.

Martigny liegt an dem Punkte, wo das große Rhonethal seine nach Süden laufende Richtung ändert und sich westlich wendet, und von hier gehen drei der berühmten Bergwege aus, welche zu eben so vielen Wegen der obern Alpen führen. Hier beginnen die zwei Wege des großen und kleinen St. Bernhard, welche beide nach Italien führen, und der des Col-de-Balme, welcher über einen Alpensporn nach Savoyen in das berühmte Chamouny-Thal leitet. Es war die Absicht des Freiherrn von Willading und seines Freundes, den erstern dieser Wege einzuschlagen, wie schon öfter in diesen Blättern bemerkt worden ist, da die Hauptstadt Piemonts ihr Ziel war. Der Weg über den großen St. Bernhard, obgleich durch sein altes und gastfreies Kloster, dem höchsten bewohnten Punkte in Europa, so lange bekannt, und in dieser spätern Zeit als Uebergangspunkt eines siegreichen Heeres so berühmt, ist hinsichtlich der Größe seiner Scenerie nur ein Alpenpaß zweiter Klasse. Der Aufstieg, noch heut zu Tag so kunstlos, ist lang und verhältnißmäßig ohne Gefahr und im Allgemeinen auch ziemlich gerade, da sich hier keine sehr hohe Steilen, wie die des Gemmi, der Grimsel, und vieler andern Pässe in der Schweiz und Italien, darbieten, den Nacken oder col des Berges ausgenommen, wo man den Fels auf den rauhen und großen Stufen, die auf den Wegen der Alpen und Apenninen so häufig vorkommen, buchstäblich erklimmen muß. Das Mühselige dieses Weges liegt daher eher in seiner Länge und der Nothwendigkeit unablässiger Eile, als in einer übermäßigen Anstrengung beim Hinaufsteigen; und den Ruhm, welchen der große Feldherr unseres Jahrhunderts sich erworben hat, indem er eine Armee über diesen Berg führte, erlangte er eher durch die militärischen Combinationen, in welchen dieser Zug besonders hervortrat; durch die Kühnheit des Gedankens, das Geheimniß und die Schnelligkeit, mit welcher ein so ausgedehnter Plan ausgeführt wurde, als durch die physischen Schwierigkeiten, welche zu besiegen waren. In letzterer Hinsicht wurde der Uebergang über den St. Bernhard in unsern Wildnissen häufig übertroffen, denn Armeen haben oft Länder mit großen Strömen, schwierigen Gebirgen und ununterbrochenen Wäldern wochenlang durchzogen, wo die bloße körperliche Anstrengung jedes einzelnen Tages größer war, als die bei dieser Gelegenheit von Napoleons Heere ausgestandenen Mühseligkeiten. Wir schätzen jede That nach der Größe ihrer Erfolge, so daß ein vollkommen unparteiisches Urtheil über deren Verdienst sehr selten ist; denn der Sieg oder die Niederlage, welche, wie einfach oder blutlos sie sein mögen, die Interessen der civilisirten Gesellschaft erschüttern oder sicher stellen, werden immer bei der Welt für ein Begebniß größerer Wichtigkeit gelten, als die glücklichsten Combinationen des Gedankens oder der Tapferkeit, welche nur auf die Wohlfahrt eines fernen und unbekannten Volkes abzielen. Erwägen wir diese Wahrheit wohl, so werden wir einsehen, wie wichtig es sei, daß eine Nation Vertrauen zu sich selbst, ausgedehnte Macht und eine ihren Mitteln angemessene Einheit besitze; denn kleine und getrennte Staaten vergeuden ihre Kraft in Thaten, welche für das allgemeine Interesse zu wenig Bedeutung haben, und verschleudern ihre geistigen Mittel nicht minder als ihre Schätze und ihr Blut, um Interessen zu unterstützen, welche bei niemand außerhalb ihres eigenen Grenzpfahles Theilnahme erwecken. Die Nation, welche wegen geringerer Bevölkerung, Armuth der Mittel, schlechter Leitung und des Widerstandes der öffentlichen Meinung sich nicht in dem Besitze eines gerecht erworbenen Ruhms erhalten kann, entbehrt eines der ersten und unerläßlichsten Elemente ihrer Größe; denn der Ruhm mehrt sich wie der Reichthum, und wird größtentheils da gefunden, wo sich seine Früchte bereits angehäuft haben. Wir erkennen, neben andern Folgerungen, aus dieser Thatsache die Wichtigkeit, sich an eine Männlichkeit der Denkweise zu gewöhnen, welche uns in den Stand setzt, über das Verdienst und Unverdienst dessen, was bei uns geschieht, zu entscheiden und jene Abhängigkeit von Andern abzuschütteln, welcher viele unter uns den anmaßlichen Titel der Achtung vor Wissenschaft und Geschmack geben, die aber in Wahrheit so viel echte Bescheidenheit und Schüchternheit hat, wie der Diener wohl zeigt, wenn er mit der Berühmtheit seines Herrn prunkt.

Diese kleine Abschweifung hat uns verleitet, die Begebenheiten der Erzählung einen Augenblick zu übersehen. Wenige, die die Mittel besitzen, wagen sich in der späten Jahreszeit, in welcher unsere Gesellschaft Martigny erreichte, in die stürmischen Regionen der höhern Alpen, ohne sich einen oder mehrere passende Führer zu nehmen. Die Dienste dieser Menschen sind in vielfacher Hinsicht von Nutzen, besonders aber darin, daß sie den Rath geben, zu welchem eine lange Bekanntschaft mit den Zeichen des Himmels, den Veränderungen der Luft und der Richtung der Winde sie befähigt. Der Freiherr von Willading und sein Freund sandten sogleich einen Boten nach einem Gebirgsbewohner, Namens Pierre Dumont, der seiner Treue wegen vortheilhaft bekannt war und in dem Rufe stand, mit allen den Schwierigkeiten des Auf- und Niedersteigens besser bekannt zu sein, als irgend ein anderer, welcher die Thäler dieses Theils der Alpen bereist. Heut zu Tag, wo Hunderte aus bloßer Neugierde zum Kloster hinauf steigen, eignet sich jeder Landmann von hinreichender Stärke und Erfahrung zum Führer, und die kleine Bewohnerschaft des untern Wallis findet in dem Durchzug der Müßigen und Reichen eine so ergiebige Quelle des Einkommens, daß sie veranlaßt wurde, alles nach sehr nützlichen und billigen Bestimmungen zu regeln; allein zur Zeit unserer Erzählung war dieser Pierre Dumont der einzige Mann, der durch ein glückliches Zusammentreffen von Umständen einen Namen unter den reichen Fremden erlangt hatte und von dieser Klasse Reisender gar gesucht war. Es dauerte nicht lange, so trat er in das gemeinschaftliche Gastzimmer des Wirthshauses – ein gesunder, blühender, kräftiger Sechziger, dessen ganzes Aussehen eine dauernde Gesundheit und Kraft verkündigte, der aber mit einer kleinen und beinahe unbemerklichen Schwierigkeit Athem holte.

»Du bist Pierre Dumont?« fragte der Freiherr, die offenen Züge und die wohlgebildete Gestalt des Wallisers mit Zufriedenheit betrachtend. »Mehr als ein Reisender hat deiner in dem Fremdenbuche hier gedacht.«

Der stämmige Gebirgsbewohner richtete sich stolz empor und war bemüht, sich für das Compliment nach Art seiner wohlgemeinten aber derben Höflichkeit erkenntlich zu zeigen; denn die Verfeinerung hatte ihre List und ihren Trug damals noch nicht über die Thäler des Schweizerlandes ausgedehnt.

»Sie haben mir Ehre angethan, Monsieur,« sagte er: »mein Glück hat es gewollt, daß ich mit vielen braven Edelleuten und schönen Damen – und zweimal mit Fürsten – den Col passirte. (Obgleich ein tüchtiger Republikaner, war Pierre doch nicht gegen weltlichen Rang unempfindlich.) Die frommen Mönche kennen mich gar wohl, und wer das Hospiz betritt, wird darum nicht schlechter aufgenommen, weil er in meinem Geleite kommt. Ich werde mich freuen, eine so schöne Gesellschaft aus unserm kalten Wallis in die sonnigen Thäler Italiens zu führen, denn, um die Wahrheit zu sagen, die Natur hat uns, was unsere Behaglichkeit betrifft, auf die schlimme Seite der Alpen gesetzt, obgleich wir in Gegenständen von größerer Wichtigkeit unsere Vortheile selbst über die haben, welche Turin und Mailand bewohnen.«

»Was kann der Walliser vor dem Lombarden und Piemonteser voraus haben?« fragte Signor Grimaldi rasch, wie Jemand, der neugierig ist, die Antwort zu hören. »Ein Reisender muß sich in Allem zu unterrichten suchen, und hier höre ich wirklich von einer neuen Entdeckung.«

»Freiheit, Signore! Wir sind unsere eignen Herrn; wir sind es gewesen, seit unsere Väter die Schlösser der Adeligen zerstört und ihre Tyrannen gezwungen haben, ihresgleichen zu werden. Ich denke jedesmal daran, wenn ich in die warmen Ebenen Italiens komme, und kehre um dieses Gedankens willen zufriedener in meine Hütte zurück.«

»Gesprochen wie ein Schweizer, obgleich es nur die Sprache des Insassen eines zugewandten Ortes ist,« sagte Melchior von Willading mit Innigkeit. »Dies ist der Geist, Gaetano, der unsere Aelpler schirmt und sie inmitten ihrer Felsen und ihres Eises glücklicher macht, als deine Genueser an ihrer südlich-warmen Bucht.«

»Das Wort Freiheit, Melchior, wird mehr gebraucht als verstanden und mehr mißbraucht als gebraucht,« erwiederte Signor Grimaldi ernst. »Ein Land, welchem der Himmel sein Antlitz so mißfällig zugewendet hat, wie diesem, muß nothwendig irgend einen Trost haben, wie das Scheinbild ist, dessen sich der ehrliche Pierre so sehr zu erfreuen scheint. – Aber, Signor Pierre, haben viele Reisende in der letzten Zeit den Weg über den Berg zurückgelegt, und was denkst du von unsern Aussichten, den Versuch zu machen? Wir hören manchmal düstere Geschichten von deinen Alpenpfaden, die in jenes Italien führen, das dir so werthlos vorkömmt.«

»Vergebung, edler Signore, wenn die Freimüthigkeit eines Gebirgsbewohners mich zu weit führte. Ich schätze Piemont darum nicht gering, weil ich unser Wallis mehr liebe. Ein Land kann vortrefflich sein, obgleich ein anderes vielleicht besser ist. – Eure Frage angehend, so haben Reisende von Namen den Berg in der letzten Zeit nicht besucht, aber die gewöhnliche Zahl von Landstreichern und Abenteuern blieb nicht aus. Der Duft der Klosterküche kitzelt die Nasen dieser Schurken schon hier im Thale, obgleich wir zwölf gute Stunden zu gehen haben, um von diesem zu jener zu kommen.«

Signor Grimaldi wartete, bis Adelheid und Christine, welche sich zum Schlafengehen anschickten, weggegangen waren, und setzte dann seine Fragen fort.

»Du hast nicht von dem Wetter gesprochen?«

»Wir sind in einem der unsichersten und verrätherischesten Monate der guten Jahreszeit, Messieurs. Der Winter hebt in den obern Alpen an und in einem Monat, in welchem die Fröste, wie beunruhigte Vögel, die nicht wissen, wo sie sich niederlassen sollen, umherflattern, kann man kaum sagen, ob man seines Mantels bedarf oder nicht.«

»San Francesko! Glaubst du, ich scherze mit dir wegen eines dichtern oder dünnern Rockes, Freund? Meine Worte zielen auf Lawinen und Felsenstürze – auf Wirbelwinde und Stürme.«

Pierre lachte und schüttelte den Kopf, obgleich er, wie es sein Geschäft forderte, unbestimmt antwortete.

»Dies sind italienische Ansichten von unsern Bergen, Signore!« sagte er. »Sie sind ein wenig phantastisch. Unser Paß wird nicht so oft selbst beim Schmelzen des Schnees von Lawinen heimgesucht, als manche andere. Hättet Ihr vom See aus auf die Bergspitzen gesehen, so würdet Ihr gefunden haben, daß sie, die grauen Gletscher ausgenommen, noch alle braun und nackt sind. Der Schnee muß vom Himmel fallen, ehe er in Lawinen fallen kann, und wir sind, denke ich, noch einige Tage vom wahren Winter entfernt.«

»Deine Berechnungen sind sehr genau, Freund,« erwiederte der Genueser, dem es jedoch nicht unangenehm war, den Führer mit so großer Zuversicht von dem Wetter sprechen zu hören, – »und wir sind dir demgemäß dankbar verpflichtet. Wie ist's mit den Reisenden, deren du gedacht hast? Gibt es Räuber auf unserm Wege?«

»Man weiß, daß solche Schurken die Gegend beunruhigen, aber im Allgemeinen ist im Verhältniß zu der Gefahr zu wenig zu gewinnen. Reiche Reisende sind keine Alletagsschau in unsern Bergen; und Ihr wißt wohl, Signore, daß für solche Freibeuter zu wenige so gut, wie zu viele auf einem Pfade sein können.«

Der Italiener war aus Gewohnheit in allen solchen Gegenständen mißtrauisch, und er warf einen raschen, argwöhnischen Blick auf den Führer. Aber das freie, offene Gesicht Pierre's entfernte jeden Zweifel an seiner Ehrlichkeit, um nichts von dem Einfluß eines wohlbegründeten Rufes zu sagen.

»Aber du hast von gewissen Landstreichern gesprochen, welche uns vorangegangen sind?«

»In Betreff dessen könnten die Sachen besser stehen,« antwortete der offenherzige Gebirgsbewohner, indem er seinen Kopf in eine so natürlich ausgedrückte Stellung des Nachdenkens senkte, daß diese das Gewicht seiner Worte vermehrte. »Viele von schlechtem Aussehen sind ohne Frage heute bergauf gezogen; ein Neapolitaner zum Beispiel, Namens Pippo, der nichts weniger als ein Heiliger ist – ein gewisser Pilger, der in dem Hospiz dem Himmel näher sein mag, als er es in seiner Todesstunde sein wird – der heilige Petrus bitte für mich, wenn ich dem Manne unrecht thue! – und einige desselben Gelichters mehr. Auch ist ein anderer in größter Eile hinaufgestiegen, und wie man hört, mit gutem Grunde, denn er hat sich durch eine Albernheit bei dem Winzerfeste allen Spaßvögeln von Vevay preisgegeben – ein gewisser Jacques Colis.«

Mehrere in der Nähe des Redenden wiederholten den Namen.

»Derselbe, Messieurs. Es scheint, der Sieur Colis habe bei dem öffentlichen Feste gern ein Mädchen heirathen wollen, und als deren Herkunft bekannt wurde, war seine Braut keine andere, als die Tochter Balthasar's, des Scharfrichters von Bern.«

Ein allgemeines Schweigen verrieth die Verlegenheit der meisten Hörer.

»Und diese Geschichte hat bereits diese Schlucht erreicht?« fragte Sigismund in einem so ernsten und festen Tone, daß Pierre zurückbebte, während die zwei alten Edelleute ihr Auge wegwandten und nicht zu bemerken schienen, was vorging.

»Das Gerücht hat einen leichtern Fuß als ein Maulthier, junger Offizier,« antwortete der wackere Führer. »Diese Geschichte, wie Ihr es nennt, wird eher über die Berge gewandert sein, als die, welche sie mitbrachten – obgleich ich nie begriffen habe, wie ein solches Wunder vor sich gehen konnte – aber es ist so; das Gerücht geht schneller als die Zunge, die es verbreitet, und wenn einige Unwahrheit dazu kommt, um ihm fortzuhelfen, so ist der Wind selbst kaum rascher. Der gute Jacques Colis beabsichtigte, seiner Geschichte den Rang abzulaufen – aber ich setze mein Leben dagegen, daß er, obgleich er flink genug war, dem Spotte zu Vevay zu entlaufen, sie bereits mit allen den Zusätzen in dem Wirthshaus zu Turin, wenn er diese Stadt selbst erreicht, sicher eingebracht findet.«

»Mehr gingen nicht über den Berg?« fiel ihm Signor Grimaldi ein, der an Sigismund's hochathmender Brust sah, daß es Zeit war, das Gespräch abzubrechen.

»O ja, Signore – ein Anderer noch, und Einer, der mir weniger gefällt, als Alle. Einer Eurer Landsleute, der unverschämt genug ist, sich selbst Il Maledetto zu nennen.«

»Maso?«

»Derselbe.«

»Der ehrliche, muthige Maso und sein trefflicher Hund?«

»Signore, Ihr schildert den Menschen in einigen Punkten so gut, daß ich mich wundere, daß Ihr ihn in andern so wenig kennt. An Thätigkeit und Muth hat Maso seines Gleichen nicht auf der Straße, und das Thier steht um derselben Eigenschaften willen nur unsern Klosterhunden nach; wenn Ihr aber von seines Herrn Ehrlichkeit sprecht, so sprecht Ihr von etwas, worin ihm die Welt wenig Zutrauen schenkt, und setzt das Thier sehr herab, das in dieser Beziehung bei weitem den Vorzug hat.«

»Dies mag wohl wahr sein,« erwiederte Signor Grimaldi, sich besorgt an seine Reisegenossen wendend: »der Mensch ist ein seltsames Gemisch von Gutem und Bösem; seine Handlungen sind, wenn er seinen natürlichen Trieben überlassen ist, so verschieden von dem, wozu Berechnung sie macht, daß man kaum für einen Mann von Maso's Charakter einstehen kann. Wir wissen, daß er ein sehr thätiger Freund ist, und solch ein Mann gibt leicht einen sehr gefährlichen Feind ab! Seine Eigenschaften sind ihm nicht knapp zugemessen worden. Und dennoch spricht ein mächtiger Umstand zu unsern Gunsten; denn wer einem Mitgeschöpf einmal den größten Dienst erzeigt hat, hegt eine Art väterlichen Gefühls gegen den, den er gerettet, und wird sich wahrscheinlich den wohlthuenden Gedanken nicht rauben, daß einige seiner Gattung leben, die ihm ein dankbares Andenken schulden.«

Melchior von Willading sprach sich in demselben Geiste aus, und der Führer, der sah, daß man ihn nicht ferner bedurfte, entfernte sich.

Bald darauf begaben sich die Reisenden zur Ruhe.



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