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Vierzehntes Kapitel.

»Hier gibt es keine Mühe zum Verzagen,
Tyrannen änderst du und Sklaven nicht:
Und keine Tat mit unerschöpftem Wagen
Herrscht hier, die nur das Hungersbrod uns bricht.«

 

Der am Schlusse des vorigen Kapitels bemerkte Akt war so plötzlich vor sich gegangen, daß wir kaum Zeit gefunden hatten, uns darüber zu besinnen. Gleichwohl gab es einen Augenblick – ich meine den, als zwei Inschens Mary Warren vom Wagen herunterhoben – welcher mein Incognito mit großer Gefahr bedrohte. Als ich übrigens bemerkte, daß die junge Dame mit keiner sonderlichen Achtungswidrigkeit behandelt wurde, so zwang ich mich zur Ruhe, wechselte aber gleichwohl schweigend meine Stellung so weit, daß ich in ihre Nähe kam und ihr einige Worte der Ermuthigung zuflüstern konnte. Mary dachte jedoch nur an ihren Vater und hatte keine Besorgniß für sich. Blos für ihn hatte sie Angst, blos für ihn zitterte sie, und blos für ihn schwebte sie in Furcht und Hoffnung.

Was dagegen Mr. Warren betraf, so verrieth er keine Verwirrung, und sein Benehmen hätte nicht ruhiger sein können, selbst wenn er eben im Begriffe gewesen wäre, auf die Kanzel zu steigen. Er schaute umher, um sich zu überzeugen, ob er nicht etwa einen der ihn umringenden Inschens zu erkennen vermöge; dann aber wandte er plötzlich den Kopf ab, als falle ihm ein, wie bedenklich eine solche Kunde werden könne, selbst wenn sie ihm möglich würde. Erkannte er nämlich eine von diesen Personen, so war der Fall wohl denkbar, daß er aufgeboten wurde, um gegen einen irregeleiteten Nebenmenschen als Zeuge aufzutreten. Alles dieß leuchtete so augenfällig aus seinem wohlwollenden Gesicht hervor, daß ich denke, einige von den Inschens mußten sogar davon betroffen werden; ja, ich bin noch immer der Ansicht, daß dieses Benehmen einigen Einfluß auf die Art übte, wie sie ihn behandelten. Als die Bande aus den Büschen hervorstürzte, hatte sie einen Theertopf sammt einem Federsack mitgebracht und auf die Straße hingestellt; ob übrigens dieß blos zufällig war oder ob man ursprünglich die Absicht hatte, diese beiden bedrohlichen Gegenstände an Mr. Warren in Anwendung zu bringen, kann ich nicht sagen. Das anstößige Material verschwand jedoch bald wieder in aller Stille und mit ihm jedes Anzeichen, als ob der Haufen eine persönliche Beleidigung im Schilde führe.

»Was habe ich gethan, daß ich, gegen alles Gesetz, von bewaffneten und verkleideten Männern auf offener Landstraße angehalten werde?« fragte der Geistliche, sobald die allgemeine Pause, welche der ersten Bewegung folgte, zum Sprechen Gelegenheit gab. »Dieß ist ein übereilter, ungesetzlicher Schritt, den ihr sicherlich noch bereuen werdet.«

»Nichts predigen jetzt,« entgegnete Blitzstrahl. »Predigen für Bethaus – nicht gut für Straße.«

Mr. Warren gestand mir nachher zu, daß er in dieser Entgegnung einen großen Trost gefunden habe, weil ihm der Gebrauch des Wortes »Bethaus« statt »Kirche« die erfreuliche Versicherung gegeben, daß diese Person wenigstens kein Mitglied seiner Gemeinde gewesen sei.

»Ermahnungen und Vorstellungen können stets von Nutzen sein, wenn man über Verbrechen brütet. Ihr macht euch eben jetzt eines Vergehens schuldig, für welches durch die Landesgesetze Einsperrung im Staatsgefängniß vorgeschrieben ist, und die Pflicht meines heiligen Amtes fordert mich dazu auf, euch vor den Folgen zu warnen. Die Erde ist an sich nur einer von den Tempeln Gottes, und seine Diener brauchen nie Anstand zu nehmen, wenn es gilt, auf was immer für einem Theil desselben Seine Gesetze zu verkündigen.«

Es war augenfällig, daß der ruhige Ernst des Geistlichen, ohne Zweifel durch seinen bewährten Ruf unterstützt, auf die Bande Eindruck übte; denn zwei von den Kerlen, welche noch immer seinen Arm festhielten, ließen ihn jetzt los, und es bildete sich ein kleiner Kreis, in dessen Mittelpunkt er stand.

»Wenn ihr mir mehr Raum geben wollt, meine Freunde,« fuhr Mr. Warren fort, »so will ich euch hier von dieser Stelle aus anreden und euch meine Gründe mittheilen, warum ich glaube, daß euer gegenwärtiges Benehmen durchaus nicht – –«

»Nein, nein – nichts predigen hier,« unterbrach ihn plötzlich Blitzstrahl; »gehen zu Dorf, gehen zu Meetinghaus – dort predigen. – Zwei Prediger dann. – Bringt Wagen und setzt ihn hinein. Marsch, Marsch, Platz machen!«

Obgleich dieß nur eine »Inschen-Nachahmung« der indianischen Kürze und sie daher ziemlich karikirt war, so verstand doch Jedermann gut genug, was der Sprecher damit meinte. Mr. Warren leistete keinen Widerstand, sondern ließ sich in Millers Wagen setzen, und auch mein Onkel wehrte sich nicht, als man ihn gleichfalls an die Seite des Geistlichen packte. Jetzt dachte übrigens Letzterer an seine Tochter, welche die ganze Zeit über keinen Augenblick aufgehört hatte, an ihn zu denken. Nur mit Mühe war es mir gelungen, sie zurückzuhalten, daß sie nicht in das Gedränge stürzte und sich an seine Seite anklammerte. Mr. Warren stand auf, lächelte ihr ermuthigend zu, bat sie, sich zu beruhigen, und hieß sie außer Furcht sein; sie solle nur wieder in ihren eigenen Wagen steigen und nach Hause zurückkehren, da er ihr nachfolgen werde, so bald er sich seiner Pflicht im Dorfe entledigt habe.

»Wir haben hier Niemand, der das Pferd lenken könnte, mein Kind, als deinen jungen deutschen Bekannten. Die Entfernung ist nur kurz, und wenn er mir einen Gefallen erweisen will, so kann er ja mit dem Wägelchen in das Dorf fahren, so bald er dich wohlbehalten an unserer Thüre abgesetzt hat.«

Mary Warren war gewohnt, die Wünsche ihres Vaters zu achten, und fügte sich nun so weit, daß sie mir gestattete, ihr in den Wagen zu helfen und an ihrer Seite Platz zu nehmen. Ich muß sagen, daß ich mit stolzer Freude die Peitsche ergriff, nun eine so kostbare Bürde meiner Obhut vertraut war. Nachdem diese Vorbereitungen getroffen, begannen die Inschens ihren Marsch; etwa die Hälfte ging voraus und die Uebrigen folgten dem Wagen, der ihren Gefangenen barg, während zu jeder Seite vier nebenher gingen, um so jede Möglichkeit einer Flucht zu vereiteln. Alles dieß ging ohne Lärm und ohne viel Worte vor sich, da die Befehle hauptsächlich durch Zeichen und Signale ertheilt wurden.

Unser Wagen blieb ruhig stehen, bis der Inschenhaufen wenigstens hundert Schritte von uns abgekommen war und Niemand weiter auf unsere Beweggründe achtete. Ich hatte in doppelter Absicht so lange gewartet: einmal, um zu sehen, wie es die Inschen weiter trieben, und dann, um Raum zu gewinnen, damit ich an einer weiter nach vorn liegenden Stelle des Weges, die breiter als gewöhnlich war, besser umkehren konnte. Nach diesem Punkt hin ließ ich nun das Pferd laufen und war eben im Begriff, dem Kopf des Thiers die erforderliche Richtung zu geben, als ich bemerkte, daß Mary's kleine Hand hastig in die Zügel griff und bemüht war, das Pferd im früheren Gange zu erhalten.

»Nein, nein,« sagte das bezaubernde Mädchen in angelegentlichem Tone, als bestehe sie entschieden auf ihrem Vorhaben. »Wir wollen dem Vater nach dem Dorf folgen. Ich will, darf und kann ihn nicht verlassen!«

Zeit und Ort waren in jeder Hinsicht günstig, und ich beschloß nun, Mary wissen zu lassen, wer ich war. Hiedurch konnte ich ihr in einem Augenblick der Bekümmerniß Zutrauen zu mir einflößen und sie zugleich mit der Hoffnung ermuthigen, daß ich mich auch gegen ihren Vater als Freund erweisen werde. Jedenfalls war ich fest entschlossen, in ihren Augen wenigstens nicht länger als ein herumziehender deutscher Musikant zu gelten.

»Miß Mary, Miß Warren,« begann ich vorsichtig und mit schüchternem Stocken, wie dieß bei der Beklommenheit meiner Gefühle nicht anders möglich war. »Ich bin nicht, was ich scheine – das heißt, ich bin kein Musikant.«

Die Betroffenheit, der Blick und die Unruhe meiner Gefährtin – Alles dieß war so natürlich und sprach beredter, als es durch Worte möglich gewesen wäre. Sie hatte ihre Hand noch immer in den Zügeln und zog diese nun mit einem Male so straff an, daß das Pferd stehen blieb. Es kam mir vor, als beabsichtige sie aus dem Wagen zu springen, weil sie denselben nicht länger für einen Platz hielt, der für sie paßte.

»Erschreckt nicht, Miß Warren,« fuhr ich hastig und – wie ich glaube – mit einer Angelegentlichkeit fort, die ihr wohl einiges Vertrauen einflößen mochte. »Ihr werdet keine schlechtere Meinung von mir gewinnen, wenn Ihr findet, daß ich kein Ausländer, sondern Euer Landsmann, kein Musikant, sondern ein Gentleman bin. Ich werde Alles thun, was Ihr von mir verlangt, und bin bereit, Euch mit meinem Leben zu schützen.«

»Dieß ist so außerordentlich – so ungewöhnlich! – wahrhaftig, das ganze Land scheint aus den Fugen gegangen zu sein! Entschuldigt, Sir, aber wenn Ihr nicht die Person seid, für die Ihr Euch ausgegeben habt, wer seid Ihr dann?«

»Ein Mann, der Eure kindliche Liebe eben so sehr, wie Euren Muth bewundert und Euch um beider willen ehrt. Ich bin der Bruder Eurer Freundin Martha – ich bin Hugh Littlepage.«

Die kleine Hand ließ nun die Zügel los, und das theure Mädchen wandte sich auf dem Polster ihres Sitzes halb gegen mich um, mir in stummem Staunen in's Gesicht sehend. So oft ich mit Mary Warren zusammengekommen war, hatte ich stets aus tiefster Seele die schlichten Haarwische der unseligen Perücke verwünscht, die ich zu tragen gezwungen war, weil sie mich unnöthigerweise auf's Schmählichste entstellte; denn ich hätte statt dieser garstigen, unscheinbaren Verkleidung etwa so gut eine anständigere wählen können. Ich zog deßhalb meine Mütze ab; und die Perücke folgte ihr, so daß mein Gesicht nur noch in dem Kranze meiner eigenen krausen Locken erschien.

Als mich Mary so sah, stieß sie einen leisen Ausruf aus, und der Todtenblässe ihres Antlitzes folgte ein glühendes Erröthen. Auch ein Lächeln umschwebte ihre Lippen, und es kam mir vor, als fühle sie sich jetzt weniger unruhig.

»Habe ich Eure Verzeihung, Miß Warren?« fragte ich, »und werdet Ihr mir als dem Bruder Eurer Freundin Anerkennung zu Theil werden lassen?«

»Weiß Martha – weiß Mistreß Littlepage davon?« fragte endlich das bezaubernde Mädchen.

»Beide sind davon unterrichtet. Ich bin so glücklich gewesen, meine Großmutter und meine Schwester zu umarmen. Erstere hat Euch gestern aus dem Zimmer genommen, damit ich eben zu diesem Zweck mit der Letzteren allein sein könne.«

»Ah, nun begreife ich Alles. Es fiel mir schon damals auf, obschon ich der Ueberzeugung lebte, daß in keiner von Mrs. Littlepage's Handlungen eine Ungebühr liegen könne. Und die theure Martha – wie gut sie ihre Rolle gespielt hat – und wie bewundernswürdig sie Euer Geheimniß bewahrte!«

»Dieß ist auch sehr nöthig. Ihr kennt den Zustand des Landes, und werdet einsehen, daß es sehr unklug von mir gehandelt wäre, wenn ich – sogar auf meinem eigenen Besitzthum – offen erscheinen wollte. Zwar bin ich durch schriftliche Verträge ermächtigt, jede Farm in der Nähe von uns zu besuchen und nach meinen Interessen zu sehen; indeß dürfte sich's doch fragen, ob ein derartiger Schritt auch nur auf einer derselben gerathen wäre, so lang die Geister der Unordnung und der Habgier ihr schlimmes Werk üben.«

»Nehmt hurtig Eure Verkleidung wieder auf, Mr. Littlepage,« fiel mir Mary hastig ins Wort. »Schnell – zögert keinen Augenblick!«

Ich entsprach ihrer Aufforderung, und Mary sah mir mit theilnehmenden Blicken zu, obschon sie zu gleicher Zeit einige Heiterkeit nicht zu unterdrücken vermochte. Dann aber kam es mir vor, als thue es ihr eben so leid, wie mir selbst, daß die schlichthaarige, schuftige Perücke wieder Dienste leisten mußte.

»Bin ich jetzt wieder in so guter Ordnung, wie zur Zeit, als wir uns zum ersten Mal trafen, Miß Warren?« fragte ich. »Sehe ich wieder wie ein wandernder Musikant aus?«

»Ich bemerke keinen Unterschied,« entgegnete das holde Mädchen lachend. Und wie musikalisch, wie lieblich klangen mir nicht die Töne ihrer Stimme in diesem kleinen Ausbruch süßer weiblicher Heiterkeit. »Wahrhaftig, ich glaube, nicht einmal Martha könnte jetzt die Person in Euch erkennen, die Ihr vor einem Augenblick zu sein schienet.«

»Die Verkleidung ist also vollkommen. Ich lebte einigermaßen der Hoffnung, meine Freunde würden mich wenigstens erkennen, wenn ich auch vor meinen Feinden auf's Wirksamste verborgen blieb.«

»Oh, letzteres ist gewiß der Fall. Und nun ich weiß, wer Ihr seid, finde ich's auch nicht schwer, in Eurem Gesichte eine Aehnlichkeit mit Eurem Portrait zu finden, welches im Nest unter den Bildern der Familien-Gallerie aufgehangen ist. Die Augen lassen sich ohne künstliche Brauen nicht ändern, und diese habt Ihr nicht.«

Die Versicherung klang sehr tröstlich für mich, und diese ganze Zeit über blieben Mr. Warren und seine uns vorausgezogenen Begleiter völlig vergessen. Vielleicht ließ sich's von einem Paar junger Personen in unserer Lage, die sich nunmehr schon seit einer Woche kannten, entschuldigen, wenn sie mehr von dem in Anspruch genommen wurden, was zur Zeit in dem Wagen vorging, als vom Marsch des Inschenstammes und seinen politischen Zwecken. Indeß fühlte ich doch die Nothwendigkeit, meine Begleiterin über unsere künftigen Bewegungen zu Rath zu ziehen. Mary hörte mir mit augenscheinlicher Befangenheit zu, und sie schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte, denn sie wechselte unter jedem neuen Impuls ihrer Gefühle die Farbe.

»Wenn Eines nicht wäre,« antwortete sie nach einer gedankenvollen Pause, »so würde ich auf dem ursprünglichen Plane, meinem Vater zu folgen, beharren.«

»Und welcher Grund könnte Euch veranlassen, das frühere Vornehmen zu ändern?«

»Wird es wohl für Euch gerathen sein, Mr. Littlepage, Euch abermals unter diese irregeleiteten Männer zu wagen?«

»Auf mich braucht Ihr keine Rücksicht zu nehmen, Miß Warren. Ihr seht, ich bin bereits unentdeckt unter ihnen gewesen, und es liegt in meiner Absicht, wieder unter sie zu gehen, selbst wenn ich Euch zuerst nach Haus bringen müßte. Faßt daher immerhin Euren Entschluß, ohne auf mich Bedacht zu nehmen.«

»So will ich denn meinem Vater folgen. Wenn ich anwesend bin, so werde ich vielleicht das Mittel, ihm eine Verunglimpfung zu ersparen.«

Ich freute mich über diesen Entschluß aus zwei Gründen, von denen mir der eine vielleicht zur Ehre gereichte, obschon ich leider sagen muß, daß der andere etwas selbstsüchtig war. Die treue Anhänglichkeit des lieben Mädchens an ihren Vater entzückte mich, aber eben so glücklich fühlte ich mich auch, wenn ich mich diesen Morgen so lang als möglich ihrer Gesellschaft erfreuen konnte. Ohne übrigens in eine genaue Zergliederung der Beweggründe einzugehen, fuhr ich weiter und ließ das Pferd nur in sehr langsamem Schritt gehen, weil mir nicht sonderlich darum zu thun war, meine schöne Gefährtin so bald zu verlieren. Es kam nun zwischen mir und Mary zu einem freien – ja, ich kann sagen, in gewissem Grade zu einem vertraulichen Gespräch. Ihr Benehmen gegen mich hatte sich ganz geändert; denn obschon sie fortwährend die Bescheidenheit und retenue ihres Geschlechtes und ihrer Stellung beibehielt, so entfaltete sie doch auch viel von jenem Freimuth, der eben so sehr eine natürliche Folge ihres vertrauten Umgangs mit den Bewohnern des Nestes, als auch, wie ich mich seitdem überzeugt habe, eine Frucht ihres edlen Wesens war. Zudem entfernte der Umstand, daß sie sich jetzt in der Gesellschaft eines Mannes wußte, welcher ihrer eigenen Klasse angehörte, folglich auch in Betreff seiner Denk- und Lebensweise ihr nahe stand, eine Bergeslast von Gezwungenheit, und sie konnte nun der ganzen natürlichen Leichtigkeit ihres Wesens Raum geben. Ich glaube, daß wir zu dem kurzen Weg nach dem Dorfe, der sich zu Fuß in einer halben Stunde hätte zurücklegen lassen, eine volle Stunde brauchten, und in dieser Frist wurden wir Beide, ich und Mary Warren, besser mit einander bekannt, als unter gewöhnlichen Umständen vielleicht in einem Jahr möglich gewesen wäre.

Zuerst theilte ich ihr mit, warum und wie ich so unerwartet schnell nach Hause zurückgekehrt war, wobei ich natürlich auf die Beweggründe zu sprechen kam, welche mich veranlaßt hatten, mein Besitzthum in der Eigenschaft eines wandernden Musikanten zu besuchen. Dann sprach ich von meinen künftigen Absichten und von meinem Entschluß, gegen jeden Versuch einer Beeinträchtigung meiner Rechte bis auf den letzten Augenblick Stand zu halten, gleichviel, ob ich die offene Gewalttätigkeit und die gewissenlosen Plane des Pöbelhaufens oder die eben so grundsatzlosen Entwürfe von oben her bekämpfen müßte. Der falsche Freiheitsschwindel und die politischen Radotagen der Zeit seien mir eben so verächtlich, wie sie es jedem verständigen, unabhängigen Mann sein müssen, und ich habe durchaus nicht im Sinn, mich überzeugen zu lassen, daß ich ein Aristokrat sei, blos weil mir die Gewohnheiten eines Gentlemans anhaften, während ich doch zu gleicher Zeit weit weniger politischen Einfluß besitze, als die gedungenen Arbeiter in meinem Dienst.

Mary Warren entfaltete einen Geist und eine Einsicht, die mich überraschten. Sie drückte ihren festen Glauben aus, die geächteten Klassen des Landes brauchten blos sich selbst treu zu sein, um ihre Rechte wieder zu gewinnen, und sie hätten dabei nur denselben Grundsatz zu befolgen, der sie jetzt mit dem Verlust ihrer Habe bedrohe. Die Ansichten, welche sie bei dieser Gelegenheit äußerte, verdienen hier eine Erwähnung.

»Alles, was in dieser Richtung geschehen ist,« sagte das edle, bewunderungswürdige Wesen, »gründete sich bisher auf ein Prinzip, welches eben so falsch und verderblich ist, wie dasjenige, aus welchem die Bedrückung stammt. Es ist in letzter Zeit viel über eine Vereinigung der Wohlhabenden geschrieben und gesprochen worden, aber man strebt dabei so augenscheinlich, und zwar in so gemeiner und verderblicher Weise auf ein Geld-Regiment hin, daß sich Leute, denen das Herz am rechten Fleck sitzt, solchen Umtrieben nicht anschließen können. Indeß scheint mir, Mr. Littlepage, wenn sich die Gentlemen von New-York zu einer Association verbänden, welche nichts Anderes, als die Vertheidigung ihrer Rechte beabsichtigte, und die Erklärung abgäbe, daß sie sich nicht mir nichts dir nichts wolle berauben lassen, so fände sich gewiß eine hinreichende Anzahl zusammen, welche im Stande wäre, dieses Antirenten-Projekt schon durch die bloße Macht der Zahlen zu stürzen. Tausende würden sich schon um des Grundsatzes willen anschließen, und das Land könnte sich der Früchte seiner Freiheit erfreuen, ohne daß es nöthig hätte, sie einem politischen Gesalbader verdanken zu müssen.«

Dieß ist eine treffliche Idee und könnte leicht zur Ausführung gebracht werden; denn sie fordert nichts, als einige Selbstverläugnung und die Ueberzeugung, daß es nöthig ist, Etwas zu thun, wenn anders der Verfall der Staaten durch eine mildere Bewegung, als durch einen Bürgerkrieg und eine Revolution erzielt werden soll, welche den Despotismus in seiner unmittelbaren Form einführen würde. Ich sage in seiner unmittelbaren Form, denn es ist augenfällig genug, daß die mittelbare unter uns kräftigen Bestand hat.

»Ich habe von einem Antrag an die Gesetzgebung gehört, welche die Bestellung von besonderen Kommissären fordert,« bemerkte ich. »Diese sollen die Zwistigkeiten zwischen den Grundbesitzern und Pächtern beilegen, und es gibt Leute, welche sich von dem Ergebniß einer solchen Maßregel viel versprechen. Was übrigens mich betrifft, so sehe ich darin nur Eines von den vielen Projekten, die ersonnen wurden, um die Gesetze und Institutionen des Landes, wie sie jetzt noch immer Bestand haben, zu umgehen.«

Mary Warren schien sich für eine kurze Weile in Nachsinnen zu vertiefen; dann aber klärte sich plötzlich ihr Auge und Gesicht auf, als sei ihr mit einem Male ein Gedanke gekommen. Sie erröthete hoch und wandte sich darauf an mich, als ob sie halb Anstand nehme, halb aber doch wünsche, der Idee, von welcher sie erfüllt war, Worte zu geben.

»Ich sehe Euch an, daß Ihr etwas zu sagen wünscht, Miß Warren,« nahm ich ermuthigend das Wort.

»Vielleicht ist es nur ein sehr thörichter Einfall, und ich hoffe, Ihr werdet es bei einem Mädchen nicht als Pedanterie deuten; aber es spricht mich wahrhaftig so an: welcher Unterschied würde wohl zwischen einer solchen Kommission und dem Sternkammergericht der Stuarte stattfinden, Mr. Littlepage?«

»Den allgemeinen Grundsätzen nach sicherlich kein sonderlicher, da beide Werkzeuge der Tyrannei wären, aber doch ein sehr bedeutender in einem hochwesentlichen Punkte. Die Sternkammergerichtshöfe waren gesetzlich, während diese Kommission auf´s schreiendste illegal sein würde; denn nur so kann man die Aufbietung eines speziellen Tribunals bezeichnen, welches die Aufgabe hat, gewisse Zwecke durchzuführen, die sowohl dem Buchstaben, als dem Geist der Constitution widersprechen. Doch das Projekt kommt von Menschen, welche viele Worte machen über den ›Geist der Institutionen‹, obschon sie augenscheinlich hierunter nichts Anderes, als ihren eigenen Geist verstehen.«

»Ich hoffe, die Vorsehung wird so verzweifelte Versuche, ein Unrecht durchzuführen, nicht begünstigen,« bemerkte Mary Warren in feierlichem Tone.

»Wir dürfen unsern menschlichen Maaßstab nicht an die unerforschlichen Rathschlüsse einer Macht legen, deren Beweggründe unserem Bereich so weit entrückt sind. Die Vorsehung läßt viel Uebles geschehen, und hält es, wie Friedrich von Preußen meinte, gerne mit starken Heerhaufen – so weit wenigstens der menschliche Gesichtskreis zu dringen im Stande ist. So viel ist übrigens bei mir zur festen Ueberzeugung geworden, daß für Diejenigen, welche jetzt mit der meisten Gier darauf erpicht sind, zu Erreichung ihrer Zwecke Alles über den Haufen zu werfen, eine Zeit der bittern Reue kommen wird, mögen nun sie selbst oder ihre Nachkommen davon betroffen werden.«

»Mein Vater sagt, dieß sei es eben, was man unter dem Heimgesuchtwerden der Sünden der Väter an den Kindern bis in's dritte und vierte Glied zu verstehen habe. Doch dort ist der Haufen mit seinen Gefangenen, er zieht eben in's Dorf ein. Wer ist Euer Begleiter, Mr. Littlepage? Habt Ihr ihn gedungen, damit er Euch in Eurer Rolle als Beistand diene?«

»Es ist mein Onkel. Ohne Zweifel habt Ihr oft von Mr. Roger Littlepage gehört?«

Als Mary dieß hörte, stieß sie einen leichten Ruf aus, und sie konnte sich einer Anwandlung von Lachlust kaum erwehren. Nach einer kurzen Pause überflog ein hohes Roth ihr Antlitz, und sie wandte sich mit den Worten an mich:

»Und wir Beide, mein Vater und ich, konnten glauben, daß der Eine ein Hausirer, der Andere ein Straßenmusikant sei!«

»Aber Hausirer und Musikanten von guter Erziehung, die um ihrer politischen Ansichten willen aus dem Vaterland flüchtig wurden,« entgegnete ich wieder in gebrochenem Englisch.

Jetzt lachte sie laut hinaus, denn das lange und freimüthige Zwiegespräch, in dem wir uns ergangen hatten, ließ ihr diese Abwechslung in einem Lichte erscheinen, als hätte sich eine dritte Person uns angeschlossen. Ich benützte diese Gelegenheit, um dem theuren Mädchen zuzusprechen, daß sie sich beruhigen und wegen ihres Vaters keine Besorgniß fühlen sollte, sintemalen es nicht wahrscheinlich sei, daß einem Diener des Wortes Gewaltthat drohete, während so viele Personen sich im Dorf versammelt hätten, unter denen er ohne Zweifel nicht wenige warme und anhängliche Freunde zähle. Zugleich erlaubte ich ihr, ja ich bat sie sogar, Mr. Warren meine und meines Onkels Anwesenheit mitzutheilen und ihm die Gründe unserer Verkleidung anzugeben. Gefahr konnten wir hiebei nicht laufen, denn das holde Mädchen nahm an unserer Sicherheit so sichtlichen Antheil, daß ich ihr zutrauen konnte, sie werde unaufgefordert die nöthige Warnung, über die Sache das größte Stillschweigen zu bewahren, beifügen. Wir waren eben mit unserer Unterhaltung zu Ende gekommen, als wir in das Dorf einfuhren, wo ich meiner schönen Begleiterin aussteigen half.

Mary Warren beeilte sich jetzt, ihren Vater aufsuchen, während ich zurückblieb, um das Pferd in meine Obhut zu nehmen. Ich befestigte den Zügel des letzteren an einen Zaun, der auf eine weite Strecke am Weg hin bereits mit Rössen und Wägelchen gesäumt war. Man sieht heutzutage in diesem Lande erstaunlich wenig Personen reiten, während man, trotz des gewaltigen Unterschieds in der Bevölkerung vor vierzig Jahren auf den Landstraßen des Staats vierzig Berittenen begegnen konnte, bis man in unserer Zeit auf einen einzigen Reiter trifft. Das wohlbekannte Dearborn mit seinen vier leichten Rädern und einer bloßen Nußschale von einem Kasten ist gegenwärtig so allgemein im Gebrauch, daß fast alle übrigen Fuhrwerke dadurch verdrängt wurden. Kutschen und Karossen findet man nur noch in den Städten, und selbst der englische Gesellschaftswagen, der sonst so gewöhnlich war, hat nunmehr einer Art von Omnibus Platz gemacht, die bei unserem Volk sehr in Gnaden steht. Meine Großmutter, welche sich in der Stadt einer hübschen, elegant aussehenden Equipage zu bedienen pflegte, hatte auf ihrem Landsitz auch nur den vorerwähnten Wagen, und es fragt sich sehr, ob die Hälfte der Bevölkerung des Staats die früheren Fuhrwerke auch nur bei Namen zu nennen wüßte, wenn ihr dieselben vorkämen.

Der Volkshaufen, welcher sich bei der gedachten Gelegenheit in Littlenest versammelt hatte, war natürlich in Dearborns beigeführt worden, von denen wohl zwei bis dreihundert an den Zäunen und in den Wagenschuppen der beiden Wirthshäuser standen. Der amerikanische Bauer im eigentlichen Sinne dieses Worts ist in vielen seiner Ansichten noch vollkommen ländlich, obgleich er sich im Ganzen viel besser ausnimmt, als sein europäisches Gegenstück; in der Regel aber muß er noch lernen, daß die kleinen Freiheiten, welche in einem dünn bevölkerten Distrikt angehen und unter solchen Umständen nicht sehr in Betracht kommen, lästig und verdrießlich werden, wenn sie an vielbesuchten Orten in Anwendung kommen. Außerdem hilft die Gewohnheit dazu, daß die Leute sich dem Glauben hingeben, was in irgend einem Theile des Landes Jedermann thue, könne nicht viel schaden. Es lag vielleicht im Einklang mit dieser Tendenz der Institutionen, daß sehr viele von den gedachten Fuhrwerken an sehr unpassenden Plätzen aufgestellt waren, die Fußwege versperrten und den Eingang durch die Thüren hinderten; auch waren da und dort, ohne daß man zuvor um Erlaubniß gefragt hätte, die Sperrstangen weggenommen worden, und Obstgärten sowohl, als Waidegründe mit einspännigen Wägelchen angefüllt. Damit beabsichtigte man natürlich nichts weiter, als Pferde und Fuhrwerke auf eine Weise unterzubringen, welche dem Eigenthümer die wenigste Unbequemlichkeit machte. Doch wie dem auch sein mochte, zwischen den Institutionen und diesen kleinen Freiheiten fand ein gewisser Zusammenhang statt, von dem vielleicht manche Staatsmänner glauben mögen, daß er im Geiste der ersteren begründet sei – freilich ein großer Mißgriff, sofern dieser Geist in den Gesetzen zu suchen ist, welche alle derartigen Eingriffe verbieten und mit Strafe bedrohen, ausdrücklich in der Absicht, den Tendenzen der menschlichen Natur einen Zügel anzulegen. Onkel Ro hat vollkommen recht, wenn er sagt, nichts sei unter Umständen sich unähnlicher, als der Geist der Institutionen und ihre Tendenzen.

Ich fühlte mich nicht wenig überrascht, als ich bei diesem Anlasse zu Littlenest fast eben so viele Frauen als Männer versammelt sah. Was die Inschens betraf, so hatten sie Mr. Warren bis nach dem Dorf begleitet, als wollten sie ihn hiedurch in bedeutungsvoller Weise an ihre Anwesenheit erinnern, und ihn dann ruhig nach seinem Belieben ziehen lassen. Es wurde Mary nicht schwer, ihn aufzufinden, und so bald ich das Pferd angebunden hatte und den Weg hinunter kam, fand ich sie auf seiner Seite, augenscheinlich im Gespräch mit Opportunity und ihrem Bruder Seneka begriffen. Die Inschens hielten sich ein wenig in der Entfernung und hatten meinen Onkel in ihrer Mitte – nicht als einen Gefangenen, denn es war klar, daß ihn Niemand für etwas Anderes, als für einen Hausirer hielt. Er hatte seine Uhren wieder ausgekramt, und fast die ganze Hälfte der Bande schien im Handel begriffen zu sein, obschon es mir vorkam, als ob Einige darunter ängstlich und mißtrauisch seien.

Es war ein auffallender Anblick, einen so großen Menschenhaufen in offenem Trotz gegen das Gesetz, das sie gewaltsam mit Füßen zu treten beabsichtigten, versammelt zu sehen – Menschen, die allen Reicheren gegenüber ein Geschrei über Aristokratie erhoben, obschon die von ihnen Verfolgten kein einziges Vorrecht, nicht ein Titelchen von Gewalt besaßen, das nicht jeder Andere im Lande mit ihnen theilte. Was übrigens das Schauspiel noch peinlicher machte, war der Umstand, daß ein großer Theil der Inschens, wie man aus der ganzen Haltung der Bande entnehmen konnte, aus blutjungen Burschen bestand, die von schurkischen, arglistigen Männern angeführt wurden und das Ganze als einen Witz betrachteten. Wenn die Gesetze so sehr in Mißachtung gerathen, daß man sie zum Gegenstand solcher Spässe macht, so ist es doch an der Zeit, die Verwaltung derselben einer Untersuchung zu unterwerfen. Kann wohl Jemand glauben, daß fünfzig Grundbesitzer im Stande gewesen wären, in dieser Weise einem neu erlassenen Verbot zum Trotz zu handeln und offen ein mit schwerer Strafe bedrohtes Verbrechen zu begehen – dieß noch obendrein unter Umständen, welche die Absicht deutlich erkennen ließen, und eine so lange Zeit, daß die Behörden sich wohl in der Lage befunden hätten, eine zureichende Streitmacht zu sammeln, um derartige Kundgebungen zu unterdrücken? Ich bin der Ansicht, wenn Mr. Stephen Rensselaer, Mr. William Rensselaer, Mr. Harry Livingston, Mr. John Hunter, Mr. Daniel Livingston, Mr. Hugh Littlepage und fünfzig Andere, die ich nennen könnte, bewaffnet und verkleidet betroffen worden wären, selbst wenn sie dabei blos die Absicht gehabt hätten, die Eigenthumsrechte zu vertheidigen, die durch unsere Institutionen feierlich verbürgt sind, und deren Beseitigung nach der Ansicht mancher Leute in dem »Geist derselben« liegen soll – so müßten wir Alle insgesammt in die Staatsgefängnisse spazieren, ohne daß die Legislaturen sich damit behelligen würden, ein Gesetz zu unserer Befreiung zu erlassen! Dieß ist wieder einer von den außerordentlichen Zügen der amerikanischen Aristokratie, welche den edleren Theil der Gemeinschaft sogar der alltäglichen Wohlthat des Gesetzes berauben. Es dürfte wohl der Mühe werth sein, einen Augenblick auf die Untersuchung des Prozesses zu verwenden, der so befremdliche Resultate herbeigeführt hat: indeß ist es glücklicherweise unnöthig, weil das Prinzip im Lauf der Geschichte seine volle Entwickelung findet.

Aus dem Benehmen Derjenigen, welche zusammengekommen waren, um diesem Meeting anzuwohnen, hätte sich ein Fremder wohl kaum einen Begriff von dem wirklichen Charakter der Zusammenkunft bilden können. Allerdings standen die »Bewaffneten und Verkleideten« in einem Haufen da und behaupteten einigermaßen den Schein, als gehörten sie nicht zu dem »Volke«; aber Viele, welchen dieses Prädikat unwidersprechlich zukam, machten bei den Verkappten Halt und standen augenscheinlich auf bestem Fuß mit denselben. Sogar eine nicht geringe Anzahl Angehöriger des zarteren Geschlechts schien in der Bande Bekanntschaften zu haben, und ein Politiker von der andern Hemisphäre wäre ohne Zweifel höchlich überrascht worden, wenn er mit angesehen hätte, wie das »Volk« in solcher Weise mit Kerlen umging, welche ein von dem »Volke selbst« kürzlich erst erlassenes Gesetz so offen mit Füßen traten. Unter unsern Politikern ists freilich anders, und sie hätten sich wahrscheinlich mit der Erklärung zu helfen gewußt, daß dieser Widerspruch im »Geist der Institutionen« begründet sei. Würde Jemand Hugh Littlepage ersuchen, die Schwierigkeit zu lösen, so könnte er wohl nichts Anderes antworten, als daß das »Volk« von Ravensnest ihn zwingen wolle, die Güter, die er gerne selbst behielt, zu verkaufen; Vielen darunter sei es angelegentlich darum zu thun, an den erzwungenen Handel Preisbedingungen zu knüpfen, welche ihn einer guten Hälfte seiner Habe beraubten, und die Albany-Philosophen sähen den »Geist der Institutionen«, in einem Verhältniß, das in Wahrheit nur ein »Geist des Teufels« sei, welcher doch vermöge selbiger Instruktionen ausdrücklich im Zaum gehalten werden sollte.

Wie man aus den paarweisen Privat-Unterredungen entnehmen konnte, gingen im Freien allerlei Verhandlungen vor, die mit dem sogenannten »Pferdschuppen«-Prozeß in Verbindung standen. – Wie ich höre, ist das Verfahren, welches diesen Namen führt, unter uns wohl bekannt und erstreckt sich nicht nur auf die Politik, sondern auch auf die Verwaltung der Gerechtigkeit. Ein regelrechter »Pferdeschupper« macht sich's zum Geschäft, die Wirthshäuser zu besuchen, wo er Geschworne finden kann, und läßt vor ihnen Winke über den Gehalt von Prozeßsachen fallen, die, wie er weiß, auf dem Kalender stehen. Vielleicht weiß er es einzuleiten, daß er in ein Zimmer mit sechs oder acht Betten kommt, wo möglicherweise einer oder auch zwei Geschworene in einem Bett zusammenliegen, und nun fängt er ganz ungezwungen über einen Prozeß zu sprechen an, bei welcher Gelegenheit er die eine Partie lobt, über die andere aber dunkle Wolken fallen läßt, die ein Vorurtheil gegen sie wecken müssen. Zugleich stellt er die Thatsachen nach seiner eigenen Weise dar und streut seinen Samen aus, so daß er moralisch überzeugt sein darf, er werde Wurzel fassen und Keime treiben. Diese ganze Zeit über unterhält er sich nicht mit einem Geschworenen – bei Leibe nicht; er übernimmt nur von vorneherein das Amt des Richters und zergliedert den Zeugenbeweis, noch ehe er abgegeben ist – natürlich nur unter vier Augen und einem guten Freund gegenüber. Allerdings ist ein Gesetz vorhanden, welches derartige Umtriebe mit Strafe bedroht, und in gleicher Weise verhängt das Gesetz Bestrafung über den Herausgeber einer Zeitung, welcher etwas veröffentlicht, was die Interessen prozeßführender Parteien beeinträchtigen könnte. Im Auge des Gesetzes ist das »Pferdeschuppen« als eine schreiende Bosheit angesehen, welche auf eine Zerstörung fast aller guten Früchte im Jury-System abziele; aber trotz alledem bricht sich der »Geist der Institutionen« Bahn, und man mißachtet die erwähnten Verbote, wie auch die ewigen Grundlagen des Rechts ebenso, als ob sie gar nicht vorhanden seien, oder als ob ein freier Mann über dem Gesetz stehe. Er macht ja das Gesetz – warum sollte er es nicht auch brechen dürfen? Wir haben hier eine weitere Wirkung von dem Geist der Institutionen.

Endlich läutete die Glocke und die Menge begann sich nach dem Meetinghaus hin in Bewegung zu setzen. Dieses Gebäude war nicht das, welches ursprünglich an dieser Stelle gestanden hatte und bei dessen Errichtung meine liebe alte Großmutter, damals ein liebliches, geistvolles Mädchen von neunzehn Jahren, dem Vernehmen nach eine interessante Probe ihrer Ruhe und ihres gesunden Urtheils an den Tag gelegt hatte. Das alte Haus war im Geiste des höchsten Dissenterthums hergestellt worden – in einem Geiste, der seine Anhänger bewog, gegen den guten Geschmack eben so sehr, wie gegen die religiösen Dogmen zu Feld zu ziehen, um die Kluft ja so weit als möglich zu machen – während in der neueren Struktur den Ansichten der Zeit einige Rechnung getragen war. Ich erinnere mich noch sehr gut des alten Meetinghauses in Littlenest, denn ich war eben sechszehn Jahre alt, als es niedergerissen wurde, um seinem anspruchsvolleren Nachfolger Platz zu machen. Eine Schilderung beider dürfte nicht am unrechten Orte sein, um den Leser in das Geheimniß unserer ländlichen Kirchenarchitektur einzuweihen.

Das »alte« Nest-Meetinghaus bestand, wie das später erbaute, aus einem Balkengerüst, das mit tannenen Schindeln bedeckt und weiß angestrichen war. Die Farbe mußte jedoch nicht von bester Qualität gewesen sein, denn das Oel schien, statt in die Poren des Holzes einzudringen, zu verdunsten, und der Farbstoff blieb als kreidige Tünche zurück, die durch Reibung abgewischt und durch den Regen weggespült wurde. Das Haus selbst war ein steifes förmliches Parallelogramm und glich einem Mann mit hohen Schultern, der sich an Etwas zu halten schien. Es hatte zwei Reihen kleiner, unschöner Fenster, da eine solche Anordnung in der Periode seiner Errichtung als ein Punkt der Orthodoxie galt. Der Thurm war ungeschlacht und konnte in dem einen Betracht zu groß, in einem andern wieder zu klein genannt werden, wenn sich anders dieser Widerspruch vereinigen läßt – und es sollte wohl angehen, da sich ja sonst auch in der Natur derartige Anomalien finden. Oben auf diesem Thurm befand sich ein langbeiniger Glockenstuhl, der eine sehr gefährliche, gleichwohl aber oft vorkommende Neigung, sich umzulegen, verrieth. Diese Abweichung von dem Loth hatte auf die Nothwendigkeit hingedeutet, ein neues Gebäude zu errichten – dasselbe nämlich, in welchem heute die »Vorlesung« über Feudalwesen und Aristokratie gehalten werden sollte.

Das neue Meetinghaus zu Littlenest war weit anspruchsvoller als sein Vorgänger; denn obschon es auch nur aus Holz bestand, war doch an ihm eine kühne Abweichung von den »ersten Grundsätzen« nicht nur in der physischen, sondern auch in der moralischen Kirche versucht worden. In beiderlei Hinsicht gehörte es der »neuen« Schule an. Was dieser Ausdruck im geistigen Sinn bedeutet, weiß ich nicht genau; indeß vermuthe ich, es handle sich dabei um eine Verbesserung irgend einer anderen Verbesserung in den älteren, ehrwürdigen Dogmen der Sekte, zu welcher sie gehört. Diese Verbesserungen der Verbesserungen sind sehr gewöhnlich unter uns und finden bei Vielen unter dem Namen des Fortschritts großen Beifall, obgleich Derjenige, welcher in einiger Entfernung steht, in kurzer Zeit die Entdeckung machen kann, daß die Fortschrittsmänner sehr oft wieder auf denselben Punkt kommen, von dem sie ausgegangen sind. Was mich betrifft, so finde ich in der Bibel eine so tiefe Kenntniß der Menschennatur und ihrer Tendenzen, so viel Weisheit und so umfassende, so sichere Rathschläge, auch ausschließlich in Beziehung auf die Dinge dieses Lebens, daß ich nicht glaube, Alles sei ein Fortschritt in der rechten Richtung, weil wir uns auf Pfaden bewegen, die keine zweitausend Jahre alt sind! Ohne Zweifel hält sich das, was beibehalten zu werden verdient, und das, was man wegwerfen sollte, die Wagschaale, und obschon ich zugebe, daß in der alten Welt unter dem Einflusse des »Geistes ihrer Institutionen«, wie unsere Philosophen sagen würden, unendlich viele Mißbräuche aufgewachsen sind, so kann ich wahrhaftig auch hier unter demselben »Geist« eine gute Anzahl üppig wuchern sehen – wir brauchen sie beiderseits, wie es der wahrhaft Weise stets thut, nur aus unserer gemeinsamen erbärmlichen Wesenheit abzuleiten.

Die Hauptabweichung von den ersten Grundsätzen, wenn wir das Materielle in's Auge fassen, bestand in der Thatsache, daß das neue Meetingshaus nur eine Reihe von Fenstern hatte, und zwar von Fenstern, die im Spitzbogenstyl konstruirt waren. In früherer Zeit würde ein solches Gebäude ein wahres Schisma in der theologischen Welt hervorgerufen haben, und ich hoffe, daß man mit meiner Jugend und Unerfahrenheit Nachsicht haben wird, wenn ich mir mit aller Achtung die Andeutung erlaube, daß ein Spitzbogen oder überhaupt jeder andere Bogen in Holz wohl auch ein Schisma im Reich des Geschmacks veranlassen dürfte.

Wir gingen jetzt hinein, Männer, Weiber und Kinder – Onkel Ro, Mr. Warren, Mary, Seneka, Opportunity und Alles, die Inschens ausgenommen; denn letztere hatten aus irgend einem Grunde, welcher mit ihrer Politik zusammenhing, sich vorgenommen, außen zu bleiben, bis das ganze Auditorium in Grabesstille beisammen saß. Der Redner befand sich in oder vielmehr auf einer Art von Gerüst, welches nach dem Neulichtsystem in der Architektur errichtet war, und die alte unbequeme, häßliche Kanzel ersetzen mußte. Zu jeder Seite des Ehrenmannes stand ein Geistlicher, – zwei Männer, über deren besonderes Glaubensbekenntniß ich lieber schweigen will, denn es wird zureichen, wenn ich beifüge, daß Mr. Warren nicht dazu gehörte. Er und Mary hatten ihre Sitze unter der Gallerie, ganz in der Nähe der Thüre genommen. Ich bemerkte, daß der Rektor unruhig wurde, sobald der Vorleser mit seinen beiden Schildhaltern die Rednerbühne betrat und auf dem Gerüste erschien; endlich erhob er sich, und verließ, von Mary begleitet, plötzlich das Gebäude. Im Nu war ich an ihrer Seite, denn ich kam af den Gedanken, ein Unwohlbefinden könne diese seltsame Bewegung herbeigeführt haben. Glücklicherweise erhob sich jetzt das ganze Auditorium in Masse, und einer der Geistlichen begann ein extemporirtes Gebet.

In dem gleichen Moment hatten sich die Inschens um das Gebäude her aufgepflanzt, und standen jetzt unter den offenen Fenstern, so daß sie Alles hören konnten, was vorging. Wie ich später erfuhr, war dieß im Einverständniß mit denen im Hause geschehen, weil einer von den Geistlichen entschieden sich geweigert hatte, sich an den Thron der Gnade zu wenden, wenn einer aus dem Stamme anwesend sei. Wie wahr ist das Sprüchwort, daß der Mensch oft die Mücken seigt und die Kameele verschlingt!


 


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