Joseph Conrad
Das Ende vom Lied
Joseph Conrad

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XIV

Das tiefe, langgezogene Pfeifen der Dampfsirene hatte in seinem zitternden Schwingen etwas Unerträgliches, daß es Herrn van Wyk leicht überlief. Es war früh am Nachmittag. Die Sofala ging von Batu-Beru ab nach Pangu, dem nächsten Anlegeplatz. Sie glitt in den breiten Strom hinaus und kam Herrn van Wyk, der oben in seinem Bungalow stand, rasch außer Sicht.

Herr van Wyk war diesmal nicht hingegangen, um ihr Lebewohl zu sagen. Gewöhnlich kam er an den Landungsplatz hinunter, wechselte ein paar Worte mit der Brücke, während die Taue losgeworfen wurden, und winkte noch im letzten Augenblick Kapitän Whalley mit der Hand zu. Diesmal trat er nicht einmal an die Brüstung seiner Veranda. »Er könnte mich doch nicht sehen, wenn ich es auch täte«, sagte er sich. »Ich möchte wohl wissen, ob er überhaupt noch das Haus erkennen kann.« Und dieser Gedanke ließ ihn, merkwürdig genug, sich einsamer fühlen, als es all die Jahre durch je geschehen war. Wie viele waren es? Sechs oder sieben? Sieben. Eine lange Zeit.

Er saß auf der Veranda, ein geschlossenes Buch auf dem Knie, und überblickte sozusagen seine eigene Einsamkeit, als hätte die Tatsache von Kapitän Whalleys Blindheit ihm die Augen für die eigene geöffnet. Es gab vielerlei Schmerzen und Sorgen, und es gab keinen Platz, wo sie einen Menschen nicht aufstöbern konnten. Er schämte sich, als hätte er sich durch sechs Jahre wie ein dummer Junge benommen.

Seine Gedanken folgten der Sofala auf ihrem Weg. Im Drang des Augenblickes hatte er ganz triebhaft das zunächst Unerläßliche getan. Und was sonst hätte er tun können? Später konnte man sehen. Es schien notwendig, daß er wieder in die Welt hinausging, für kurze Zeit wenigstens. Er hatte Geld – man konnte etwas einrichten; er wollte keinen Zeitverlust, keine Mühe, auch nicht die Aufgabe seiner Einsamkeit scheuen. Die lastete nun auf ihm – und er sah Kapitän Whalley vor sich, wie er mit der Hand über den Augen dagesessen hatte, als wäre er, irre geworden an seinem Glauben, allem Guten wie Bösen entrückt, das Menschenhände bewirken können.

Herr van Wyks Gedanken folgten der Sofala flußabwärts durch die vielen Windungen, durch den Gürtel des Küstenwaldes, zwischen den Strebepfeilern der mächtigen Stämme durch, durch das Mangrovendickicht und über die Bank hinüber. Diese kreuzte das Schiff mühelos, bei hellem Tageslicht und, wie es der Zufall wollte, von Herrn Sterne geführt; er hatte die Wache von vier bis sechs gehabt und war dann hinuntergegangen, um sich ungehemmt dem Jubel darüber hingeben zu können, daß er nun wirklich in Diensten eines reichen Mannes wie Herrn van Wyk stand. Er sah nun nichts mehr, was ihm hätte dazwischenkommen können. Das Gefühl, daß er sich endlich ›festgesetzt‹ hatte, erfüllte ihn ganz. Von sechs bis acht hatte der Serang allein das Schiff in der Hand. Die Sofala hatte nun offenes Fahrwasser vor sich, bis gegen drei Uhr morgens, wo sie bei den Pangu-Inseln sein mußte. Um acht Uhr kam Herr Sterne wieder in bester Laune hinauf, um die Wache bis Mitternacht zu übernehmen. Um zehn pfiff und summte er immer noch auf der Brücke vor sich hin, und etwa um dieselbe Zeit verließen auch Herrn van Wyks Gedanken die Sofala. Herr van Wyk war schließlich eingeschlafen.

Massy zwängte sich, mitten auf der Treppe zum Maschinenraum stehend, ärgerlich in seine Zwilchjacke, während der Zweite knurrig wartete.

»Oho! Sind Sie herausgekommen? Saufbold! Nun, was haben Sie zur Entschuldigung zu sagen?«

Er hatte bis dahin bei den Maschinen Dienst gehabt. Eine brütende Wut trübte ihm den Verstand, eine Wut gegen das Schiff, gegen das Leben, gegen die Menschen mit ihren Betrügereien, auch gegen sich selbst – wegen einer leisen Angst, tief in seinem Innern.

Ein unverständliches Grunzen antwortete ihm.

»Was? Können Sie den Mund nicht aufmachen? Ihr verdammtes Geschwätz bringen Sie laut genug heraus, wenn Sie betrunken sind. Was denken Sie sich denn dabei, derartig über Leute zu schimpfen? Alter, unnützer Tagedieb!«

»Kann's nicht ändern. Erinnere mich an nichts mehr. Sie sollten nicht zuhören.«

»Wagen Sie mir das zu sagen! Was soll es denn heißen, daß Sie sich derart besaufen!«

»Fragen Sie mich nicht. Hab's satt, mit den verfluchten Kesseln – Sie hätten es auch. Habe das Leben satt.«

»Dann wollte ich, Sie wären tot. Sie haben es so weit gebracht, daß ich Sie satt habe. Denken Sie nicht mehr an das Getöse, das Sie letzte Nacht gemacht haben? Elende alte Saufgurgel.«

»Nein; denke nicht dran. Will gar nicht mehr dran denken. Suff ist Suff.«

»Ich möchte wissen, was mich abhält, Sie hinauszuschmeißen! Was wollen Sie hier?«

»Sie ablösen. Sind lange genug unten gewesen, George.«

»Sparen Sie sich Ihren George. Elende alte Schnapsgurgel! Wenn ich morgen sterbe, dann müssen Sie Hungers verrecken. Denken Sie daran! Sagen Sie Herr Massy.«

»Herr Massy«, wiederholte der andere unbewegt.

Zerrauft, mit stieren, blutunterlaufenen Augen, einem zerknüllten, schmutzigen Hemd, verschmierten Hosen, die nackten Füße in abgetretenen Pantoffeln, sprang er die Stiege hinunter, sobald Massy Platz gemacht hatte.

Der Erste Ingenieur sah sich um. Das Deck war bis zur Heckreling leer. Alle eingeborenen Fahrgäste waren diesmal in Batu-Beru ausgestiegen, und keine neuen an Bord gekommen. Der Zeiger des Patentlogs im Heck des Schiffes klinkte in regelmäßigen Abständen. Es war tote Flaute, und unter dem bewölkten Himmel, durch die stille Luft, die fast körperlich, mit leisem Salzgeruch, sich um den Schiffsleib zu schließen schien, glitt die Sofala gleichmäßig über die graue, spiegelglatte See, als schwebte sie frei im Raum. Doch Herr Massy schlug sich gegen die Stirn, schwankte ein wenig und nahm vom Fuß des Mastes einen Belegnagel auf.

»Ich werde noch verrückt«, murmelte er und ging unsicher über Deck. Unten kratzte eine Schaufel Kohlenstaub zusammen, eine Kesseltür klang. Sterne auf der Brücke oben begann eine neue Melodie zu pfeifen. Kapitän Whalley, der wach und ganz angezogen in seiner Koje saß, hörte die Tür seiner Kajüte aufgehen. In kluger Selbstbeherrschung rührte er sich nicht, sondern wartete, um die Stimme erkennen zu können.

Eine kleine Lampe warf ihren Schein auf den weißen Anstrich der Wand, den roten Tisch und das braune Mahagoni der Möbel. Die weiße Kiste unter der Koje war seit drei Jahren uneröffnet stehengeblieben, als hätte Kapitän Whalley gefühlt, daß nach dem Verkauf der Fair Maid auf Erden für seine Lieben kein Platz mehr war. Er ließ die Hände auf den Knien ruhen; sein schöner Kopf mit den starken Augenbrauen wandte der Tür das starre Profil zu. Schließlich ließ sich die erwartete Stimme vernehmen:

»Ein letztes Mal also: wie soll ich Sie weiterhin nennen?«

Aha! Massy. Nochmals. Kapitän Whalley zog sich das Herz zusammen vor Überdruß – und zugleich hätte er vor Scham fast losheulen mögen.

»Nun, wird es wohl bei ›Partner‹ bleiben?«

»Sie wissen nicht, was Sie verlangen.«

»Ich weiß, was ich will.«

Massy kam herein und schloß die Tür hinter sich.

»Und ich will es ein letztes Mal bei Ihnen versuchen.« Seine Stimme klang halb überredend, halb drohend. »Denn es hat keinen Sinn, mir weismachen zu wollen, daß Sie arm sind. Sie geben keinen Pfennig für sich selbst aus, das ist allerdings wahr, aber dafür gibt es noch einen andern Namen. Sie dachten wohl, Sie würden mir drei Jahre nach Belieben Geld abpressen und mich dann wegwerfen können, ohne anhören zu müssen, was ich von Ihnen denke! Glauben Sie vielleicht, ich hätte mir Ihre großen Töne gefallen lassen, wenn ich gewußt hätte, daß Sie tatsächlich nur diese lumpigen fünfhundert Pfund besitzen? Das hätten Sie mir sagen müssen.«

»Vielleicht«, sagte Kapitän Whalley und senkte den Kopf. »Und doch hat das Geld Sie gerettet.« . . . Massy lachte verächtlich . . . »Und ich habe es Ihnen seither oft genug gesagt.«

»Und ich glaube Ihnen nicht mehr. Wenn ich daran denke, wie ich Sie habe über mein Schiff herrschen lassen! Denken Sie noch daran, wie Sie mich öfter als einmal wegen meiner Jacke und Ihrer Brücke angefahren haben. Sie war ihm im Wege! Auf seiner Brücke. Und daran möchte ich kein Teil haben – und ich würde nie daran denken, das zu tun. Ehrenwerter Mann! Und jetzt kommt das alles heraus. ›Ich bin arm und ich kann nicht. Ich habe nichts weiter in dieser Welt als diese Fünfhundert.‹«

Er beobachtete Kapitän Whalleys unbewegliche Gestalt, die ein unüberwindliches Hindernis in seinem Wege schien. Trauer legte sich über sein Gesicht.

»Sie sind ein harter Mann.«

»Genug«, sagte Kapitän Whalley und wandte sich ihm zu. »Sie werden nichts von mir bekommen, weil ich nichts Eigenes mehr besitze, das ich weggeben könnte.«

»Das machen Sie einem andern weis!«

Herr Massy sah im Hinausgehen nochmals zurück; dann schloß sich die Tür, und Kapitän Whalley, allein, saß so reglos da wie zuvor. Er hatte nichts Eigenes mehr – sogar seine eigene Vergangenheit voll Ehre, Wahrheit und gerechten Stolzes war dahin. Sein ganzes, makelloses Leben war in den Abgrund gestürzt. Er hatte ihm sein letztes Lebewohl gesagt. Was aber ihr gehörte, das gedachte er zu retten. Nur ein wenig Geld. Er wollte es ihr in den eigenen Händen bringen – diese letzte Gabe eines Mannes, der zu lange gelebt hatte. Und zugleich mit der ungebrochenen Kraft seines wertlosen Lebens flammte in leidenschaftlicher Wallung die Sehnsucht in ihm auf, noch einmal ihr Gesicht zu sehen.

Massy war quer über das Deck geradenwegs in seine Kajüte gegangen, hatte ein Licht angezündet und die Zahl aufgeschrieben, deren Ziffern in ihm in der Wallung einer andern Leidenschaft aufgeflammt waren. Er mußte es auf irgendeine Weise einrichten, daß er keine Ziehung versäumte. Und die Nummer bedeutete etwas. Doch welches Mittel konnte er ersinnen, um sich flott zu erhalten?

»Verdammtes Elend!« murmelte er.

Wenn schon Herr Sterne ihm zu keiner Stunde hätte etwas Neues über seinen Partner sagen können, so hätte er Herrn Sterne sagen können, daß aus der Heimsuchung eines Menschen noch andere Vorteile zu ziehen waren, als daß man ihn einfach hinauswarf und so die Zahlungsfrist um ein Jahr verlängerte. Das Geheimnis dieser Heimsuchung zu wahren und den Mann zum Bleiben zu bewegen, war ein klügerer Plan. War er ohne Mittel, so würde er gern bleiben; und damit erledigte sich die Frage der Rückzahlung seines Anteils. Er wußte nicht genau, wie sehr Kapitän Whalleys Sehvermögen gelitten hatte; wenn es sich aber traf, daß er das Schiff irgendwo auf Strand setzte, so war es nicht des Reeders Schuld, oder? Er war nicht verpflichtet, zu wissen, daß etwas nicht in Ordnung war. Aber wahrscheinlich würde niemand diese Frage aufwerfen, und das Schiff war voll versichert. Er hatte Selbstbeherrschung genug besessen, um die Prämien pünktlich zu zahlen. Aber das war nicht alles. Er konnte nicht glauben, daß Kapitän Whalley wirklich so arm war, um nicht irgendwo noch etwas Geld liegen zu haben. Konnte er, Massy, das in die Hand bekommen, so konnte er damit seine Kessel bezahlen, und alles ging wieder seinen Gang. Und ging das Schiff schließlich unter, so war es sicherlich das beste. Er haßte das Schiff; er haßte die Sorgen, die ihn von den Möglichkeiten des Glücks ablenkten. Er wünschte die Sofala auf den Grund des Meeres und die Versicherungssumme in seine Tasche. Und als er verärgert Kapitän Whalleys Kabine verließ, da umfing er mit dem gleichen Haß das Schiff mit den abgenützten Kesseln und den Mann mit den trüben Augen.

Und unser Benehmen ist so sehr durch äußere Anregung bestimmt, daß er ohne das trunkene Gewäsch Jacks augenblicklich mit dem kümmerlichen Mann Schluß gemacht hätte, der weder helfen, noch bleiben, noch auch den Untergang des Schiffes bewirken würde. Der alte Betrüger! Er sehnte sich danach, ihn hinauswerfen zu können. Aber er hielt sich zurück. Dazu blieb noch Zeit genug – wenn es ihm gefiel. Ein furchtbarer, neuer Gedanke war in seinem Kopf aufgetaucht. War er schließlich nicht wirklich dahinter her? Wie der verdammte Jack gelobt hatte! »Einen guten Trick finden, um sie loszuwerden.« Nun, Jack hatte nicht so weit gefehlt. Ein wirklich guter Trick war ihm eingefallen. O ja! Aber wie war es mit der Gefahr?

Ein Gefühl des Stolzes – der stolzen Erhabenheit über gewöhnliche Vorurteile – regte sich in seiner Brust, ließ sein Herz schneller schlagen und seinen Mund trocken werden. Nicht jeder würde es wagen; aber er war Massy, und er fühlte sich dem gewachsen.

Auf Deck schlug es sechs Glasen. Elf Uhr! Er trank ein Glas Wasser und setzte sich etwa zehn Minuten hin, um sich zu beruhigen. Dann holte er aus seinem Schiffskoffer eine kleine Blendlaterne und zündete sie an.

Seiner Kajüte fast gegenüber, jenseits des schmalen Durchgangs unter der Brücke, war in dem Eisengerüst des Deckaufbaus, über der Heiz- und Kesselhalle, ein Vorratsraum ausgespart, mit Eisenwänden, eiserner Decke und sogar eisernem Fußboden, wegen der Hitze unterhalb. Dorthin wurde allerlei Abfall geworfen. In einem Winkel lag ein Haufen Alteisen; leere Ölkannen standen in Reihen herum; Säcke mit Putzwolle, dazu ein Haufen Holzkohle, eine Feldschmiede, Bruchstücke eines alten Hühnerstalles, zerfetzte Windenkappen, Überbleibsel von Lampen und ein brauner Filzhut, der von einem (an der brasilianischen Küste am Fieber) längst gestorbenen Mann, einem ehemaligen Steuermann der Sofala, abgelegt und seit Jahren hinter einem Stück geborstenen Kupferrohrs eingeklemmt geblieben war. Völlige, undurchdringliche Dunkelheit erfüllte dieses Kapernaum vergessener Dinge. Der dünne Lichtstrahl aus Herrn Massys Blendlaterne fiel schräg darüber hin.

Massys Jacke war nicht zugeknöpft; er ließ die Tür einschnappen (es gab keine andere Öffnung), kauerte sich vor dem Alteisenhaufen nieder und begann seine Taschen mit Eisenstücken vollzufüllen. Er tat es mit großem Bedacht, als wären die rostigen Muttern, die gebrochenen Bolzen, die starken Kettenglieder reines Gold, das er wegtragen dürfte. Er packte sich die Taschen voll, bis sie beinahe barsten, die Brusttasche, die Innentaschen. Er wühlte im Abfall. Manche Stücke warf er zurück. Der Rost staubte in kleinen Wolken um seine geschäftigen Hände. Herr Massy wußte einiges über die wissenschaftliche Grundlage seines feinen Tricks. Wenn man die Magnetnadel eines Schiffskompasses ablenken will, so ist weißes Eisen das beste Mittel; auch haben viele kleine Stücke in den Taschen einer Jacke bessere Wirkung als wenige große. Denn auf die erste Weise erhält man beim gleichen Gewicht des Eisens eine größere Oberfläche, und auf diese kommt es an.

Er ging hastig hinaus – zwei Schritte genügten – und merkte erst in seiner Kajüte, daß seine Hände ganz rot waren – rot vom Rost. Es bestürzte ihn, als hätte er sie mit Blut besudelt gefunden; er sah hastig an sich hinunter. Aha, auch seine Beinkleider. Er hatte sich die rostigen Hände an den Beinkleidern abgewischt.

Er riß sich in der Eile fast den Bund ab, bürstete sich die Jacke aus, wusch sich die Hände. Dann schwand die schuldbewußte Miene, und er setzte sich hin, um zu warten.

Er saß kerzengerade, mit Eisen beladen, in seinem Stuhl. Er fühlte an jeder seiner Hüften eine hartkantige Last, fühlte, wie der Eisenabfall in seinen Taschen bei jedem Atemzug gegen seine Rippen drückte, fühlte den schweren Zug aller der Pfunde, die von seinen Schultern hingen. Er sah recht stumpfsinnig aus, als er müßig dort saß, und sein gelbes Gesicht mit den starren, schwarzen Augen zeigte einen teilnahmslosen Ausdruck.

Als er über seinem Kopf acht Glasen schlagen hörte, stand er auf und machte sich zum Hinaufgehen fertig. Seine Bewegungen schienen unsicher, seine Unterlippe hing leicht herunter, seine Augen wanderten durch die Kajüte, und die furchtbare Willensanstrengung hatte ihnen jeden Schimmer von Intelligenz geraubt.

Mit dem letzten Glockenschlag erschien der Serang lautlos auf der Brücke, um den Ersten Offizier abzulösen. Sterne floß über von guter Laune, da ihm nichts mehr zu wünschen übrigblieb.

»Hast du die Augen schon richtig offen, Serang? Es ist stockfinster; ich will warten, bis du dich an die Finsternis gewöhnt hast.«

Der alte Malaie murmelte etwas, sah aus müden Augen auf, trat dann seitwärts in den kleinen Lichtkreis des Kompaßhäuschens, kreuzte die Hände hinter dem Rücken und richtete den Blick auf die Windrose.

»Du wirst scharf nach Land Ausschau halten müssen, so etwa um halb vier Uhr. Das Wetter ist ziemlich klar. Du hast ja wohl zum Kapitän hineingesehen, als du heraufkamst, wie? Er kennt die Zeit? Nun, ich gehe ab.«

Am Fuße der Leiter trat er beiseite, um dem Kapitän Platz zu machen. Er sah ihm nach, wie er mit sicheren, gleichmäßigen Schritten hinaufging, und blieb einen Augenblick nachdenklich stehen. »Komisch«, sagte er sich, »aber man weiß nie, ob einen der Mann gesehen hat oder nicht. Diesmal müßte er mich atmen gehört haben.«

Er war schon ein wunderbarer Mann, nun, da alles ausgesprochen und vorbei war. Es hieß ja, er habe zu seiner Zeit einen Namen gehabt. Herr Sterne konnte es wohl glauben; und er schloß gemütsruhig, daß Kapitän Whalley wohl noch imstande sein müßte, die Leute mehr oder weniger zu erkennen – wie eben erst ihn selbst zum Beispiel – daß er aber niemals sicher war, um wen es sich handelte und daher dieses Nichtbemerken vortäuschen mußte, um sich nicht zu verraten. Herr Sterne war ein guter Beobachter.

Dieser bis in alle Augenblicke währende Zwang brachte Kapitän Whalley sein falsches Spiel demütigend zum Bewußtsein. Er war aus Vaterliebe dazugekommen, aus Unglauben und aus ungemessenem Vertrauen in die göttliche Gerechtigkeit gegen das menschliche Gefühl auf dieser Erde. Er wollte seiner armen Ivy noch die Wohltat eines weiteren Arbeitsmonats zukommen lassen; vielleicht war diese Heimsuchung auch nur eine zeitweilige. Sicherlich würde Gott doch sein Kind nicht seiner Hilfe berauben und ihn selbst nackt in ewige Nacht stürzen. Er hatte sich noch Hoffnungen gemacht; und als die Gewißheit seines Unglückes sinnfälliger war als die Hoffnung, da versuchte er, selbst das Sinnfällige nicht zu glauben.

Vergebens. Während sich die Welt rings um ihn langsam verdüsterte, kam ständig wachsendes Licht in seine Gedanken. In den erleuchteten Augenblicken des Leidens sah er das Leben, die Menschen, alle Dinge, die ganze Erde, mit ihrer Last von Geschöpfen, wie er sie nie zuvor gesehen hatte.

Mitunter erfaßten ihn ein plötzlicher Schwindel und ein überwältigendes Grauen; und dann erschien ihm das Bild seiner Tochter. Auch sie hatte er nie zuvor so deutlich gesehen. War es möglich, daß er für immer außerstande sein sollte, irgend etwas für sie zu tun? Nichts. Und daß er sie nie wieder sehen sollte? Nie wieder.

Warum? Die Strafe war zu groß für ein wenig Vermessenheit, für ein wenig Stolz. Und schließlich kam er so weit, daß er an seiner Täuschung mit dem stolzen Entschluß festhielt, sie bis zu Ende durchzuführen, um ihr Geld unberührt zu retten und sie einmal noch mit eigenen Augen zu sehen. Nachher – was? Der Gedanke an Selbstmord widerstrebte seiner starken, männlichen Natur. Er hatte um den Tod gebetet, bis ihm die Gebete in der Kehle steckengeblieben waren. All die Tage seines Lebens hatte er in kindlicher Einfalt um das tägliche Brot gebetet und darum, nicht in Versuchung geführt zu werden. Meinten denn die Worte gar nichts? Woher kam die Gabe der Sprache? Die heftigen Schläge seines Herzens hallten in seinem Kopf wider, schienen sein Hirn zu zertrümmern.

Er setzte sich schwer in den Deckstuhl, um scheinbar seine Wache zu halten. Die Nacht war dunkel. Alle Nächte waren nun dunkel.

»Serang«, sagte er halblaut.

»Hier, Tuan. Ich bin hier.«

»Sind Wolken am Himmel?«

»Es sind welche da, Tuan.«

»Laß geradeaus steuern. Nach Norden.«

»Wir sind auf Kurs, Tuan.«

Der Serang trat zurück. Kapitän Whalley erkannte Massys Schritte auf der Brücke. Der Ingenieur ging nach Backbord hinüber, kehrte zurück und kam dabei mehrmals hinter dem Deckstuhl vorbei. Kapitän Whalley entdeckte in diesem Hin und Her etwas Ungewöhnliches, wie Vorsicht. Die Nähe dieses Menschen brachte für Kapitän Whalley immer eine Verschärfung seiner seelischen Leiden mit sich. Es war nicht Reue. Schließlich hatte er dem armen Teufel ja nur Gutes getan. Aber das Bewußtsein einer Gefahr spielte hinein – die Notwendigkeit größter Vorsicht.

Massy blieb stehen und sagte: »Sie sagen also immer noch, daß Sie gehen müssen.«

»Das muß ich allerdings.«

»Und Sie könnten nicht wenigstens das Geld noch ein paar Jahre stehen lassen?«

»Unmöglich.«

»Können mir es wohl ohne ihre Obhut nicht anvertrauen, wie?«

Kapitän Whalley schwieg. Massy, hinter der Stuhllehne, seufzte schwer.

»Es würde gerade ausreichen, um mich zu retten«, sagte er mit zittriger Stimme.

»Ich habe Sie einmal gerettet.«

Der Erste Ingenieur zog mit vorsichtigen Bewegungen seine Jacke aus und griff nach dem Messinghaken, der in den Holzpfosten geschraubt war. Dabei stellte er sich gerade vor das Kompaßhäuschen und verbarg so dem Steuermannsmaat am Ruder die Windrose völlig. »Tuan!« murmelte schließlich der Laskar leise, um den Weißen wissen zu lassen, daß er nicht sehen könne.

Herr Massy hatte seinen Zweck erreicht. Die Jacke hing von dem Nagel herunter, keine zwölf Zentimeter vom Kompaß entfernt. Und sobald Massy beiseite getreten war, merkte der Steuermannsmaat, ein ältlicher, pockennarbiger Sumatra-Malaie, fast so schwarz wie ein Neger, zu seiner Verblüffung, daß in dieser kurzen Zeit, bei dieser ruhigen See, so ganz ohne Wind, das Schiff weit von seinem Kurs abgefallen war. Mit einem leisen Grunzen der Verwunderung drehte er hastig das Steuerrad, um die Sofala wieder mit der Nase nach Norden zu bringen, wie der Kurs war. Das Knarren der Steuerketten, das leise Schelten des Serang, der ans Ruder getreten war, erregten Kapitän Whalleys ängstliche Aufmerksamkeit. Er sagte: »Paß besser auf.« Dann trat auf der Brücke wieder die übliche Ruhe ein. Herr Massy war verschwunden.

Aber das Eisen in den Jackentaschen hatte sein Werk getan; und die Sofala ging zwar dem Kompaß nach nordwärts, da dieser aber durch den einfachen Trick gestört worden war, so lief sie nicht länger mehr den richtigen Kurs nach Pangubai.

Das Schäumen des Wassers, das ihr Kiel teilte, der Schlag ihrer Maschinen, all die Laute ihres treuen, arbeitsreichen Lebens, hielten ununterbrochen in der großen Stille an, die sich von allen Seiten um den bedeckten Himmel und die See schloß. Ein schöner Friede, weit wie die Welt, schien sie auf ihrem Wege erwarten und in letzter Liebkosung umfangen zu wollen. Herr Massy fand, es könnte keine bessere Nacht für einen bestellten Schiffbruch geben.

Hoch und trocken auf eine der Klippen östlich von Pangu auflaufen, – das Tageslicht abwarten – Loch im Boden – Boote hinunter – am gleichen Abend in Pangubai. So etwa würde es sein. Sobald sie auf Grund kam, würde er auf die Brücke laufen, die Jacke erwischen (das würde im Dunkeln niemand bemerken) und sie über die Seitenreling ausschütten oder ganz ins Wasser werfen. Eine Kleinigkeit. Wer konnte es ahnen? Die Jacke war an dem Nagel dort hunderte Male gesehen worden. Trotzdem schlugen, als er sich auf der letzten Treppenstufe hinsetzte, seine Knie leicht gegeneinander. Das Warten war das Schlimmste daran. Manchmal begann er schnell zu keuchen, als wäre er gerannt, und dann wieder tief aufzuatmen, im Hochgefühl, sein Geschick gemeistert zu haben. Dann und wann hörte er das Schlurfen der nackten Füße des Serangs dort oben: ruhige, leise Stimmen tauschten Worte und verklangen fast augenblicklich wieder im Schweigen . . .

»Du meldest es mir sofort, wenn du Land siehst, Serang.«

»Jawohl, Tuan. Noch nichts.«

»Nein, noch nichts«, stimmte Kapitän Whalley zu.

Das Schiff war der beste Freund seines Niedergangs gewesen. Er hatte das ganze Geld, das er mit Hilfe und an Bord der Sofala verdient hatte, an seine Tochter geschickt. Seine Gedanken kreisten um den Namen. Wie oft hatten er und sein Weib über der Wiege des Kindes in der großen Heckkabine des Kondor gesprochen: sie würde aufwachsen, sich verheiraten, würde die Eltern lieben, die Eltern würden in ihrer Nähe leben und ihr Glück mit ansehen – und so würde es ohne Ende währen. Nun, seine Frau war tot, dem Kind hatte er alles gegeben, was er zu geben hatte; er wünschte, er könnte bei ihr sein, könnte sie sehen, könnte einmal ihr Gesicht sehen, im Klang ihrer Stimme leben, die ihm das schwarze Schicksal des Lebendigbegrabenseins erträglich machen würde. Zu lange hatte er nach Liebe gehungert. Er malte sich ihre Zärtlichkeiten aus.

Der Serang hatte ausgespäht und dann und wann einen Seitenblick nach dem Deckstuhl geworfen. Er wetzte unruhig herum und platzte unvermittelt heraus:

»Tuan, siehst du etwas vom Land?«

Die aufgeregte Stimme brachte Kapitän Whalley mit einem Schlag auf die Beine. Er! Sehen! Und bei der Frage schien der Fluch seiner Blindheit mit hundertfacher Gewalt auf ihn zu fallen.

»Was ist die Uhr?« fragte er.

»Halb vier, Tuan.«

»Wir sind nahe. Du mußt sehen. Sieh zu, sage ich. Sieh.«

Herr Massy wurde durch das plötzliche Sprechen aus einem leichten Schlummer auf der untersten Treppenstufe geweckt und fragte sich verwundert, warum er wohl dort war. Oh! Und Schwäche wollte ihn überkommen. Es ist etwas anderes, die Saat eines Unglücks auszustreuen, als die furchtbare Frucht über dem eigenen Kopf hängen zu sehen, bereit, im Durcheinander aufgeregter Stimmen herunterzufallen.

»Keine Gefahr«, flüsterte er heiser vor sich hin.

Das Grauen der Ungewißheit hatte Kapitän Whalley gepackt, das kläglichste Mißtrauen gegen Menschen, Dinge – die Erde selbst. Er hatte den gleichen Kurs sechsunddreißigmal nach dem gleichen Kompaß gesteuert – wenn irgend etwas auf dieser Welt gewiß war, dann war es die unbedingte, einwandfreie Richtigkeit dieses Kurses. Was also war geschehen? Log der Serang? Warum lügen? Warum? Wurde er auch blind?

»Ist Nebel? Sieh aufs Wasser hinunter! Ganz hinunter, sag ich dir!«

»Tuan, es ist kein Nebel. Sieh selbst.«

Kapitän Whalley unterdrückte mit Gewalt das Zittern seiner Glieder. Sollte er die Maschinen sofort stoppen und sich besiegt geben? Ein Anfall von Unsicherheit wehte ihm allerlei unsinnige Gedanken durch den Kopf. Das Ungewöhnliche war gekommen, und er fühlte sich ihm nicht gewachsen. In diesem Augenblick unsagbarer Angst sah er ihr Gesicht – das Gesicht eines jungen Mädchens – mit unheimlicher Deutlichkeit. Nein, er durfte sich nicht aus der Hand verlieren, nachdem er um ihretwillen so weit gegangen war. »Hast du Kurs gesteuert? Hast du es getan? Sprich die Wahrheit!«

»Jawohl, Tuan. Wir sind auch jetzt auf Kurs. Sieh selbst.«

Kapitän Whalley trat zum Kompaßhäuschen, das für ihn einen so trüben Lichtfleck in einem Meer formloser Schatten bildete. Wenn er sein Gesicht hart ans Glas hinunterdrückte, so war er früher einmal fähig gewesen . . .

Da er sich so tief zu bücken hatte, so streckte er unwillkürlich den Arm in die Richtung, wo, wie er wußte, ein Geländerpfosten stand, um sich dagegen zu stützen. Seine Hand traf auf etwas, das nicht Holz war, sondern Stoff. Da nun der leichte Zug zu dem eigenen Gewicht hinzukam, so riß der Aufhänger, Herrn Massys Jacke fiel zu Boden und schlug schwer, von lautem Rasseln begleitet, auf Deck auf.

»Was ist das?«

Kapitän Whalley ließ sich auf die Knie fallen und tastete mit beiden Händen, in Gebärden unverhohlener Blindheit, um sich. Sie zitterten, diese Hände, die nach der Wahrheit tasteten. Nun sah er alles. Eisen in der Nähe des Kompasses. Falscher Kurs. Die Sofala sollte untergehen! Sein Schiff! O nein! Das nicht.

»Die Maschinen stoppen, schnell«, brüllte er mit einer Stimme, die ihm selbst fremd klang.

Er rannte selbst – die Hände vorgestreckt, ein blinder Mann, nach dem Telegraphen, und während noch die Glocke laut durch das ganze Schiff klang, schien die Sofala mit aller Gewalt gegen einen Berg anzurennen.

Auf der Nordseite der Meerenge herrschte Ebbe. Das hatte Herr Massy nicht bedacht. Anstatt mit halber Länge aufzufahren, war die Sofala gegen die Kante eines Riffes gerannt, das bei Flut unter Wasser gewesen wäre. Das machte den Stoß so fürchterlich. Jeder, der im Schiff auf den Beinen gestanden hatte, wurde kopfüber niedergeworfen: die erschütterte Takelage rüttelte bis zu den Flaggenknöpfen hinauf. Alle Lichter gingen aus; ein paar gebrochene Kettenenden schlugen gegen den Schornstein: es gab ein Krachen, das Pfeifen peitschender Drahtseile, ein Splittern und Knallen, das Topplicht flog über den Bug hinaus, und alle Türen auf Deck begannen wuchtig zu schlagen. Nach dem ersten Stoß sprang das Schiff zurück und traf zum zweitenmal wie ein Rammbock auf den gleichen Fleck. Das vervollständigte das Durcheinander; die letzten Kettenlaschungen des Schornsteins rissen, und dieser selbst ging mit dumpfem Donnern über Bord, schlug dabei das Rad in Trümmer, zermalmte den Rahmen des Sonnensegels und den Kettenkasten und übersäte die Brücke mit einem Gewirr von Splittern, Trümmern und zerbrochenem Holzwerk. Kapitän Whalley raffte sich auf und stand knietief in dem Trümmerwerk, zerfetzt, blutend, erkannte die Art der Gefahr, der er entgangen war, nur aus dem Geräusch und hielt immer noch Herrn Massys Jacke in den Armen.

Zu dieser Zeit hatte Sterne (der aus seiner Koje herausgeschleudert worden war) die Maschinen schon achteraus in Gang gesetzt. Sie taten ein paar Schläge, dann brüllte eine Stimme: »Raus aus dem verdammten Maschinenraum, Jack« – und sie blieben stehen; aber das Schiff war von dem Riff klargekommen und lag still, während eine dichte Dampfwolke aus den Luken zischte und in leichten Schwaden in die Nacht hinauswehte. Trotz der Plötzlichkeit des Unglücks gab es kein Geschrei, als hätte gerade der heftige Stoß die Leute, die schattenhaft über die Decks hin und her liefen, halb betäubt. Man hörte die Stimme des Serangs durch das undeutliche Gemurmel hindurch sagen:

»Acht Faden.« Er hatte das Lot ausgeworfen.

Dann schrie Herr Sterne mit überschlagender Stimme:

»Wo zum Teufel ist sie hingeraten? Wo sind wir?«

Kapitän Whalley gab in ruhigem Baß zurück:

»Östlich, zwischen den Klippen.«

»Wissen Sie das, Herr? Dann kommt sie nie wieder heraus.«

»Sie wird in fünf Minuten gesunken sein. Boote, Sterne. Auch eines davon wird euch alle bei dieser Windstille retten.«

Die chinesischen Heizer liefen in wirren Haufen nach den Backbordbooten. Niemand versuchte, sie aufzuhalten. Die Malaien wurden nach einem Augenblick der Panik ruhig, und Herr Sterne zeigte gute Haltung. Kapitän Whalley hatte sich nicht gerührt. Seine Gedanken waren schwärzer als diese Nacht, in der er sein erstes Schiff verloren hatte.

»Er hat mich ein Schiff verlieren lassen.«

Eine zweite Gestalt, die plötzlich zwischen den Trümmern der Brücke vor ihm stand, flüsterte irre:

»Sagen Sie nichts davon.«

Massy taumelte näher. Kapitän Whalley hörte seine Zähne klappern.

»Ich habe die Jacke.«

»Werfen Sie sie weg und kommen Sie«, drängte die schnatternde Stimme. »Ins B‑b‑b‑Boot.«

»Dafür bekommen Sie fünfzehn Jahre.«

Herr Massy hatte die Stimme verloren. Seine Rede war nur noch ein trockenes Rasseln in seiner Kehle.

»Haben Sie Erbarmen!«

»Hatten Sie das, als Sie mich mein Schiff verlieren ließen? Herr Massy, dafür bekommen Sie fünfzehn Jahre!«

»Ich brauchte Geld! Geld! Mein eigenes Geld! Ich will Ihnen etwas davon abgeben. Nehmen Sie die Hälfte. Sie selbst lieben es ja auch.«

»Es gibt eine Gerechtigkeit . . .«

Massy machte eine furchtbare Anstrengung und brachte wie erwürgt heraus:

»Du blinder Teufel! Du hast mich dazu gebracht!«

Kapitän Whalley drückte die Jacke gegen seine Brust und gab keinen Laut. Das Licht war für immer aus der Welt entflohen – mochte alles zu Ende sein. Dieser Mann aber sollte nicht frei ausgehen.

Sternes Stimme befahl: »Fiert das Boot weg!«

Die Blöcke rasselten.

»Jetzt«, schrie er, »hinunter mit euch! Hierher! Sie, Jack, hier! Herr Massy! Kapitän! Schnell, Herr! Machen wir . . .«

»Ich werde ins Zuchthaus kommen, wegen des Versicherungsschwindels, aber Sie fliegen mit hinein; Sie, ehrenwerter Mann, der mich betrogen hat. Sie sind arm? Nicht wahr? Sie haben nichts als die fünfhundert Pfund? Nun, jetzt haben Sie gar nichts mehr. Das Schiff ist verloren, und die Versicherung wird nichts zahlen.«

Kapitän Whalley regte sich nicht. Tatsächlich! Ivys Geld! In diesem Schiffbruch verloren. Wieder kam ihm blitzartig eine Erkenntnis. Das Lied war wirklich zu Ende.

Von längsseits drängten aufgeregte Stimmen. Massy schien unfähig, sich von der Brücke loszureißen. Er schnatterte und zischte verzweifelt:

»Überlassen Sie es mir! Mir, sage ich.«

»Nein«, sagte Kapitän Whalley. »Das kann ich nicht. Gehen Sie lieber. Warten Sie nicht, Mann, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Sie geht schnell kopfüber unter. Nein, ich behalte die Jacke, aber ich bleibe an Bord.«

Massy schien nicht zu verstehen; aber die plötzlich erwachte Liebe zum Leben trieb ihn von der Brücke weg.

Kapitän Whalley legte die Jacke nieder und taumelte durch die Trümmerhaufen zur Seite.

»Ist Herr Massy dort bei euch«, rief er in die Nacht hinunter.

Sterne schrie aus dem Boot zurück:

»Jawohl, wir haben ihn. Kommen Sie, Herr! Es ist Irrsinn, noch länger zu warten.«

Kapitän Whalley tastete vorsichtig die Reling ab und warf, ohne ein Wort zu sagen, die Fangleine los. Die unten warteten immer noch auf ihn. Sie warteten, bis plötzlich eine Stimme rief:

»Wir treiben! Sind abgestoßen!«

»Kapitän Whalley, springen Sie . . . Nehmen Sie einen kleinen Anlauf . . . Springen Sie! Sie können schwimmen.«

In diesem alten Herzen, in diesem kraftvollen Körper lebte, damit nichts fehle, auch ein Grauen vor dem Tod, das offenbar nicht einmal durch die Angst vor der Blindheit zu besiegen war. Doch schließlich hatte er Ivy zuliebe alles getan, war durch seine Nacht bis hart an den Rand des Verbrechens gegangen. Gott hatte seine Gebete nicht erhört. Das Licht war endgültig aus der Welt entflohen; kein Schimmer mehr; eine dunkle Wüste; doch es war unmöglich, daß ein Whalley, der einen Makel auf sich genommen hatte, weiterleben sollte. Er mußte den Preis bezahlen.

»Springen Sie, so weit Sie können, Herr. Wir werden Sie auffischen.«

Sie hörten seine Antwort nicht. Ihr Geschrei aber schien ihn an etwas zu erinnern. Er tastete sich den Weg zurück und suchte nach Herrn Massys Jacke. Er konnte wirklich schwimmen; Leute, die durch den Wirbel eines sinkenden Schiffes mit hinuntergerissen werden, kommen manchmal wieder an die Oberfläche, aber es war unmöglich, daß ein Whalley, der sich entschlossen hatte, zu sterben, durch Zufall zu einem Kampf verführt werden sollte. Er wollte all die Eisenstücke in seine eigene Tasche packen.

Die in den Booten sahen die Sofala, eine schwarze Masse auf einer schwarzen See, unheimlich schräg liegen. Kein Laut drang von ihr herüber. Dann gab es plötzlich ein furchtbares Zischen, als wären die Kessel durch die Schotte geflogen, und einen dumpfen Knall, und wo das Schiff gewesen war, zeigte sich einen Augenblick lang etwas, das aufrecht und schmal aus der See hochstand, wie ein Fels. Dann verschwand auch das.

Als die Sofala nicht zur rechten Zeit wieder in Batu-Beru auftauchte, wußte Herr van Wyk sofort, daß er sie nie wieder sehen würde. Er wußte aber nicht, was geschehen war, bis er ein paar Monate später in einem ihm von seinem Sultan geliehenen Eingeborenenfahrzeug in den Heimathafen der Sofala kam, wo ihr Dasein und die amtliche Untersuchung über ihren Untergang schon in Vergessenheit gerieten.

Es war kein sehr bemerkenswerter oder ungewöhnlicher Fall gewesen, bis auf die Tatsache, daß der Kapitän mit seinem sinkenden Schiff untergegangen war. Seines war das einzige verlorene Menschenleben; und Herr van Wyk hätte vielleicht überhaupt keine Einzelheiten in Erfahrung bringen können, hätte er nicht eines Tages auf dem Quai, nahe der Brücke über den kleinen Fluß, Sterne getroffen, fast an der gleichen Stelle, wo einst Kapitän Whalley, um seiner Tochter fünfhundert Pfund unberührt zu erhalten, einen Sampan genommen hatte, um an Bord der Sofala zu fahren.

Schon von weitem sah Herr van Wyk Sterne zwinkern und nach seinem Hut greifen. Sie traten miteinander in den Schatten eines Gebäudes (es war eine Bank), und Sterne erzählte, wie das Boot mit der Mannschaft etwa sechs Stunden nach dem Unglück in Pangubai eingelaufen sei und wie sie etwa vierzehn Tage lang dort in bitterster Not gelebt hätten, bevor sich ihnen die Möglichkeit geboten hatte, von dem verwünschten Fleck loszukommen. Die Untersuchung hatte jedermann von aller Schuld freigesprochen. Der Verlust des Schiffes wurde einem ungewöhnlichen Abweichen der Strömung zugeschrieben. Tatsächlich konnte es ja nichts anderes gewesen sein; es gab keine andere Erklärung für die Tatsache, daß das Schiff während der Mittelwache um sieben Meilen von seinem Kurs nach Osten abgefallen war.

»Ein wirkliches Unglück für mich, Herr.«

Sterne fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sah beiseite. »Ich bin um den Vorzug gekommen, von Ihnen angestellt zu werden. Das werde ich nie genug bedauern können. Aber so ist es: eines Mannes Gift, eines anderen Mannes Fleisch. Für Herrn Massy hätte es sich nicht besser treffen können, wenn er den Schiffbruch selbst herbeigeführt hätte. Der gelegenste Totalverlust, von dem ich je gehört habe.«

»Was ist aus diesem Massy geworden?« fragte Herr van Wyk.

»Aus dem, Herr? Ha, ha! Er hat mir immerfort versichert, daß er ein anderes Schiff kaufen würde; aber sobald er das Geld in der Tasche hatte, rückte er eines Morgens früh nach Manila aus. Ich jagte ihm bis auf Deck nach, und da sagte er mir, er sei totsicher, in Manila sein Glück zu machen. Und doch hatte er mir so gut wie versprochen, mir das Kommando zu geben, wenn ich nicht zuviel reden würde.«

»Sie haben nie etwas gesagt . . .«, hob Van Wyk wieder an.

»Ich nicht, Herr. Warum sollte ich das? Ich will vorwärtskommen, aber die Toten sind mir nicht im Wege«, sagte Sterne. Seine Lider zwinkerten heftig und senkten sich dann einen Augenblick lang. »Abgesehen davon, Herr, wäre es eine dumme Sache gewesen. Sie haben mich dazu gebracht, gerade einen Augenblick zu lange zu schweigen.«

»Wissen Sie, wie es kam, daß Kapitän Whalley an Bord blieb? Hat er sich tatsächlich geweigert, mitzukommen? Reden Sie doch! Oder war es vielleicht ein Unfall . . .

»Nichts«, fiel Sterne heftig ein. »Ich sage Ihnen, ich brüllte ihm zu, über Bord zu springen. Er muß einfach die Fangleine des Bootes selbst losgeworfen haben. Wir alle brüllten nach ihm, das heißt Jack und ich. Er antwortete uns nicht einmal. Das Schiff war bis zuletzt still wie ein Grab. Dann gingen die Kessel in die Luft, und das Schiff sank. Unfall? Das nicht! Das Spiel war aus, Herr, sage ich Ihnen.«

Das war alles, was Sterne zu erzählen wußte.

Herr van Wyk war natürlich für vierzehn Tage Gast des Clubs und traf dort auch den Rechtsanwalt, in dessen Kontor das Übereinkommen zwischen Massy und Kapitän Whalley unterzeichnet worden war.

»Außergewöhnlicher alter Mann«, sagte der. »Er kam von irgendwo, wie man so sagt, in mein Bureau, um seine fünfhundert Pfund anzulegen, und der Ingenieur lief ihm ängstlich nach. Und nun ist er ein wenig unerklärlich verschwunden, gerade wie er gekommen ist. Ich habe ihn nie ganz verstehen können. An dem Massy war doch nichts weiter Geheimnisvolles, wie? Ich möchte nur wissen, ob Whalley sich geweigert hat, das Schiff zu verlassen. Es wäre verrückt gewesen. Er war ja schuldlos, wie das Seegericht fand.«

Herr van Wyk meinte, er habe ihn gut gekannt und könne an Selbstmord nicht glauben. Eine solche Handlungsweise wäre nicht mit alledem in Übereinstimmung zu bringen, was er von dem Mann wußte.

»Das ist auch meine Meinung«, stimmte der Rechtsanwalt bei. Die allgemeine Ansicht ging dahin, daß der Kapitän zu lange an Bord geblieben sei, um etwas Wichtiges zu retten. Vielleicht die Karte, die seine Unschuld beweisen mußte, oder sonst einen Wertgegenstand aus seiner Kajüte. Die Fangleine des Bootes war von selbst losgekommen, nahm man an. Doch blieb es merkwürdig, daß der arme Kapitän kurz vor der Reise im Kontor vorgesprochen und einen versiegelten Briefumschlag hinterlegt hatte, der an die Tochter adressiert war und ihr im Fall seines Todes zugeschickt werden sollte. Es war ja auch wieder nicht gar zu ungewöhnlich, wenn man sein Alter bedachte. Herr van Wyk schüttelte den Kopf. Kapitän Whalley sah aus, als sollte er gewiß hundert Jahre alt werden.

»Sehr richtig«, bemerkte der Rechtsanwalt. »Der alte Knabe sah aus, als wäre er ganz erwachsen und mit dem langen Bart auf die Welt gekommen. Ich konnte mir ihn, merkwürdig genug, niemals älter oder jünger vorstellen, müssen Sie wissen. Er erweckte so unbedingt den Eindruck körperlicher Rüstigkeit, und vielleicht war dies das Geheimnis der besonderen Wirkung, die seine Persönlichkeit bei jedem hervorrief, der mit ihm in Berührung kam. Es schien, als wäre er durch keines der gewöhnlichen Mittel zu zerstören, die uns anderen allen ein Ende bereiten. Seine ruhige, überlegte Höflichkeit war voll tiefer Bedeutung. Es schien, als wäre er sicher, für alles und jedes Zeit in Fülle zu haben. Ja, es war etwas Unzerstörbares an ihm; und nach der Art, in der er mitunter sprach, hätte man glauben mögen, er sei selbst davon überzeugt. Als er zuletzt mit dem Brief zu mir kam, den ich für ihn aufbewahren sollte, da schien er gar nicht niedergedrückt. Vielleicht noch etwas überlegter als sonst in Sprache und Gebärde. Nicht im geringsten gedrückt. Ob er wohl eine Vorahnung hatte, möchte ich wissen? Vielleicht! Und doch scheint es ein trauriges Ende für eine so eindrucksvolle Erscheinung.«

»O ja! Es war ein trauriges Ende«, sagte Herr van Wyk mit solcher Wärme, daß der Rechtsanwalt ihn mit Neugierde ansah, und nachdem er sich von ihm getrennt hatte, zu einem Bekannten sagte:

»Sonderbarer Kauz, der holländische Tabakpflanzer aus Batu-Beru. Wissen Sie mehr über ihn?«

»Geld die schwere Menge«, antwortete der Bankdirektor. »Ich höre, er geht mit dem nächsten Postdampfer in die Heimat, um eine Aktiengesellschaft zu bilden, die seine Ländereien übernehmen soll. Noch ein Tabakdistrikt erschlossen. Er ist sehr klug, glaube ich. Diese guten Zeiten werden nicht ewig anhalten.«

Kapitän Whalleys Tochter, auf der südlichen Halbkugel, hatte keine böse Vorahnung, als sie den Briefumschlag öffnete, der in des Rechtsanwalts Handschrift ihre Adresse trug. Sie hatte ihn nachmittags erhalten; alle Kostgänger waren außer Hause, ihre Jungen in der Schule, ihr Gatte saß im Oberstock in seinem großen Lehnstuhl, mit einem Buch, bis zu dem mageren Kinn in Decken gehüllt. Das Haus war ganz still, und das graue Licht des bewölkten Tages drang durch die Scheiben der drei hohen Fenster.

In einem kahlen Eßzimmer, aus dem das ganze lange Jahr hindurch niemals der schwache Geruch kalter Speisen wich, saß die Frau am Kopfende des langen Tisches; die vielen anderen Stühle waren mit den Rücklehnen gegen die Kante des ständig aufgelegten Tischtuches geschoben. Sie las die ersten Sätze: »Tiefstes Bedauern – schmerzliche Pflicht – Ihr Vater ist nicht mehr – entsprechend seinen Weisungen – unglückliche Fügung – Trost – kein Makel an seinem Andenken . . .«

Ihr Gesicht war vergrämt, ihre Schläfe unter dem glattgekämmten, schwarzen Haar leicht eingefallen, ihre Lippen blieben fest geschlossen, während ihre dunklen Augen immer größer wurden, bis sie zuletzt mit einem leisen Aufweinen aufstand und sich sofort darauf wieder bückte, um einen zweiten Umschlag aufzuheben, der von ihren Knien zu Boden geglitten war.

Sie riß ihn auf, nahm die Einlage heraus . . .

»Mein geliebtes Kind«, hieß es, »ich schreibe Dir dies, solange ich noch imstande bin, leserlich zu schreiben. Ich versuche alles, um das ganze Geld, das noch übrig ist, für Dich zu retten; ich habe es nur zurückbehalten, um Dir besser helfen zu können. Es gehört Dir. Es soll nicht verloren sein; es soll nicht angerührt werden. Es sind fünfhundert Pfund. Von dem, was ich verdiente, habe ich bisher nichts zurückbehalten. In Zukunft werde ich, wenn ich am Leben bleibe, etwas zurückbehalten müssen – nur ein wenig. – Es soll mich zu Dir bringen. Ich muß zu Dir kommen. Ich muß Dich noch einmal sehen.

Es ist hart, zu denken, daß Du diese Zeilen je zu Gesicht bekommen sollst. Gott scheint mich verlassen zu haben. Ich möchte Dich sehen – und doch scheint mir der Tod eine größere Gnade. Wenn Du je diese Worte liest, so bitte ich Dich, dem gnädigen Gott zu danken, denn dann werde ich tot sein und so wird es gut sein. Meine Liebe, das Lied ist zu Ende.«

Der nächste Absatz begann mit den Worten: »Mein Augenlicht schwindet . . .«

Sie las an jenem Tage nicht weiter. Die Hand, die das Papier unter ihre Augen hielt, sank langsam nieder, und ihre schlanke Gestalt in dem einfachen schwarzen Kleid schritt aufrecht zum Fenster. Ihre Augen waren trocken: kein Aufschrei des Kummers, kein geflüstertes Dankgebet stieg von ihren Lippen zum Himmel empor. Das Leben war zu hart gewesen, trotz aller Mühen seiner Liebe. Es hatte ihre Gefühle zum Schweigen gebracht. Doch zum erstenmal in allen diesen Jahren hatten sie ihre Stachel verloren, der bittere Kummer der Armut und der elende Kampf ums trockene Brot. Sogar das Bild ihres Gatten und der Kinder schien ihr in das graue Zwielicht zu entgleiten; ihres Vaters Antlitz allein sah sie, als wäre er sie besuchen gekommen, immer noch wuchtig und ruhig, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte, doch mit erhabenerer Größe in der ganzen Erscheinung.

Sie schob seinen zusammengefalteten Brief zwischen zwei Knöpfe ihres einfachen schwarzen Leibchens, lehnte die Stirn gegen eine Fensterscheibe, blieb so bis zur Dunkelheit völlig reglos stehen und schenkte ihm alle Zeit, die sie sich absparen konnte. Fort! War es möglich? Mein Gott, war es möglich! Der Schlag hatte sie getroffen, gemildert durch den weiten Raum der Erde und durch die Jahre der Trennung. Es hatte ganze Tage gegeben, an denen sie nicht an ihn gedacht – keine Zeit dazu gehabt hatte. Doch sie hatte ihn geliebt, sie fühlte, daß sie ihn trotz allem geliebt hatte.

 


 


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