Joseph Conrad
Das Ende vom Lied
Joseph Conrad

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VII

Sterne ging schmunzelnd und augenscheinlich durchaus unberührt davon, der Ingenieur Massy aber blieb auf der Brücke und lief, wie zur Selbstbestätigung, auf und ab, wobei er sich aber nicht recht wohl fühlte. Jeder Mann an Bord war sein Untergebener – jeder Mann, ohne Ausnahme. Er zahlte ihnen die Gehälter und fand Arbeit für sie. Sie aßen mehr von seinem Brot und steckten mehr von seinem Geld ein, als sie wert waren; und sie brauchten sich um nichts in der Welt zu kümmern, während er allen den Schwierigkeiten der Reederei die Stirn zu bieten hatte. Wenn er seine Lage in ihrem ganzen bedrohlichen Umfang überblickte, so schien es ihm, als wäre er durch Jahre die Beute einer Schmarotzerbande gewesen; und durch Jahre hatte er jeden einzelnen, der mit der Sofala in Verbindung stand, gelästert, mit Ausnahme vielleicht der chinesischen Heizer, die tatsächlich dazu halfen, das Schiff vorwärtszubringen. Ihr Nutzen war offensichtlich: sie waren ein unentbehrlicher Teil der Maschinerie, deren Gebieter er war.

Wenn er sein Deck entlangschritt, rannte er die Leute, die ihm in den Weg kamen, rücksichtslos an; die malaiischen Matrosen aber hatten es gelernt, ihm auszuweichen. Er hatte sich schließlich dazu bequemen müssen, sie zu dulden, im Hinblick auf die notwendige Handarbeit, die auf dem Schiff getan werden mußte. Er mußte sich den Kopf zerbrechen, rechnen und tüfteln, um die Sofala flott zu erhalten – und was hatte er davon? Nicht einmal genügend Respekt. Darin hätten sie ihm nie Genüge tun können, und wären auch alle ihre Gedanken und alle ihre Handlungen darauf gerichtet gewesen. Die Eitelkeit des Besitzers, das überhebliche Machtgefühl, hatten ihn schon verlassen, und es waren nur die Geldsorgen geblieben, die Angst, diese Stellung zu verlieren, die sich doch als kaum beneidenswert erwiesen hatte, und eine Angst vor den Gedanken, für die ihn keine noch so kriechende Dienstfertigkeit anderer entschädigen konnte.

Er ging auf und ab. Die Brücke gehörte ja schließlich ihm. Er hatte dafür bezahlt; und dann und wann blieb er mit dem Pfeifenrohr in der Hand kurz stehen, als horchte er mit gespanntester Aufmerksamkeit auf den dumpfen Gang der Maschinen (seiner eigenen Maschinen), auf das leichte Knirschen der Steuerketten und das stete, leise Plätschern des Wassers längsseits. Wären diese Geräusche nicht gewesen, so hätte man meinen mögen, das Schiff läge still, an einer Bank festgemacht, von jeder lebenden Seele verlassen; nur die Küste, die niedrige Küste, aus Schlamm und Mangroven, mit der Gruppe der drei Palmen weiter hinten, hob sich langsam, in gerader Linie, deutlich hervor, ohne ein einziges Merkmal, das die Aufmerksamkeit hätte fesseln können. Die eingeborenen Passagiere der Sofala lagen auf Matten unter dem Sonnensegel herum; die Rauchfahne aus dem Schornstein schien das einzige Anzeichen, daß noch Leben auf dem Schiff war, und geheimnisvoll mit seinem Hingleiten verbunden.

Kapitän Whalley stand aufrecht, ein Fernglas in der Hand und den kleinen malaiischen Serang neben sich, wie ein alter Riese, von einem Zwerg bedient, und führte das Schiff über die Untiefe an der Bank.

Diese unterseeische Bank aus Schlamm, der von der Strömung von dem weichen Grund des Flusses mitgeführt und auf dem harten Meeresgrund angeschwemmt wurde, war schwer zu überqueren. Die Alluvialküste bot keinerlei Merkmale, und so mußte die genaue Lage der Durchfahrt nach der Form der Gebirge im Landesinnern bestimmt werden. Ein Kennzeichen bildete ein Gipfel, der abgeplattet, mit zackigen Rändern, einem Backenzahn glich; ein anderes, eine tiefe Einsattelung, und nach beiden mußte unter dem wolkenlosen, strahlenden Himmel gesucht werden, in einem Licht, das wie ein trockener Feuernebel die Luft zu erfüllen und vom Wasser aufzusteigen schien, das die Entfernung verhüllte und die Augen blendete. In diesem grellen Licht war fast nur die Uferkante zu sehen, die ganz dunkel gegen den Opalglanz stand. Dreißig Meilen weiter weg erstreckte sich das eigentliche Landesinnere gegen den Horizont, in Umrissen, die in vielerlei Blau abgetönt waren; die einzelnen Arme der Mündung tauchten glänzend weiß auf, wie silberner Zierat auf dem Mangrovendunkel der Küste.

Vorn auf der Brücke tauschten der Riese und der Zwerg häufig halblaute Bemerkungen. Seitlich hinter ihnen stand Massy mit einem Ausdruck von Geringschätzung und Spannung im Gesicht. Seine Kugelaugen waren vollkommen reglos, und er schien die lange Pfeife, die er in der Hand hielt, vergessen zu haben.

Auf dem Vordeck, unterhalb der Brücke, war ein Matrose, ein junger Laskar über die Reling hinausgeklettert. Er befestigte mit raschen Griffen einen breiten Gurt aus Segeltuch unter seinen Armen, stemmte sich mit der Brust dagegen und lehnte sich weit über das Wasser hinaus. Die Ärmel seines dünnen Baumwollhemdes waren knapp an den Schultern abgeschnitten und ließen seinen braunen Arm frei, der voll und rund war, mit seidenweicher Haut, wie der einer Frau. Nun schwang er ihn gestreckt im Kreise, mit der drohenden Bewegung eines Schleuderers: das Vierzehnpfundgewicht beschrieb einen Kreis in der Luft und flog dann plötzlich bis über den Bug hinaus vor. Die nasse, dünne Leine zischte mit einem Laut wie gekratzte Seide durch die dunklen Finger des Mannes, und das Aufklatschen des Bleilots nahe an der Schiffswand schlug eine silberige, schnellvergehende Wunde in die goldene Glätte; dann verkündete nach einer kurzen Pause die Stimme des jungen Malaien laut und langgezogen in den Worten seiner eigenen Sprache die Wassertiefe.

»Tiga stengah«, rief er nach jedem Aufklatschen und holte dabei die Leine hastig zu einem neuen Wurf ein. »Tiga stengah«, was soviel hieß wie dreiundeinhalb Faden. Von einem Punkt etwa eine Meile weit in See war bis zu der Bank eine gleichbleibende Wassertiefe. »Halb drei, halb drei, halb drei« – und sein wohltönender Ruf, immer wiederholt, schien im Sonnenschein davonzutreiben und sich im Raum der schweigenden See und des leblosen Ufers zu verlieren, der offen war, nach Nord und Süd, nach Ost und West, ohne den kleinsten Wolkenschatten, ohne den geringsten Laut.

Der Reeder-Ingenieur der Sofala stand reglos hinter den zwei Seeleuten von verschiedener Rasse, Herkunft und Farbe; dem Europäer, der mit der ganzen Macht seines alten Körpers der Zeit zu trotzen schien, und dem kleinen Malaien, auch alt, doch dürr und verschrumpelt wie ein welkes Blatt, das ein Zufallswind in den mächtigen Schatten des anderen geblasen hatte. Da sie so gespannt nach dem Lande ausschauten, hatten sie für nichts sonst einen Blick übrig; und Massy, der ihnen von hinten her zusah, schien ihren Diensteifer peinlich zu empfinden, wie eine persönliche Spitze gegen sich.

Das war unvernünftig; doch er hatte durch Jahre in seiner eigenen Welt voll unvernünftiger Bitterkeiten gelebt. Schließlich strich er sich mit der feuchten Hand über die spärlichen Haarsträhnen auf dem gelben Kopf und begann langsam zu sprechen:

»Einen Mann am Lot, den brauchen Sie! Das ist wohl Ihr korrekter Dampferstil. Sind Sie nicht selber schlau genug, um sagen zu können, wo Sie sind, einfach durch einen Blick auf die Küste? Nun, bevor ich zwölf Monate bei dem Geschäft war, hatte ich den Trick schon heraus – und ich bin nur ein Ingenieur. Ich kann Ihnen von hier aus zeigen, wo die Bank ist, und könnte Ihnen überdies noch sagen, daß Sie das Schiff aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb der nächsten fünf Minuten auf Grund setzen werden; aber Sie würden das Einmischung nennen, nehme ich an. Und da gibt es ja unsere schriftliche Abmachung, daß ich mich nicht einmischen darf!«

Seine Stimme brach ab. Kapitän Whalley bewegte, ohne die strengen Züge zu entspannen, die Lippen zu der halblauten Frage:

»Wie nahe, Serang?«

»Sehr nahe jetzt, Tuan«, murmelte der Malaie hastig.

»Ganz langsam«, sagte der Kapitän laut, mit fester Stimme.

Der Serang rückte den Hebel des Maschinentelegraphen. Unten erklang ein Gong. Massy ging mit einem verächtlichen Schnauben davon und steckte den Kopf in das Oberlichtfenster zum Maschinenraum.

»Sie können sich auf ein närrisches Getue mit den Maschinen gefaßt machen, Jack«, bellte er. Der Raum, in den er hinuntersah, war tief und düster; und das graue Schimmern von Stahl dort unten wirkte kühl nach dem grellen Glanz der See rings um das Schiff. Die Luft allerdings schlug einem heiß und stickig ins Gesicht. Ein kurzer Schrei, der kaum zu deuten schien, hallte aus der Tiefe herauf. Das war die Art, in der der Zweite Ingenieur seinem Vorgesetzten antwortete.

Er war ein älterer Mann von nachlässigem Benehmen und augenscheinlich so sehr in der schweigsamen Sorge um seine Maschinen befangen, daß er darüber die Sprache verloren hatte. Wenn man ihn unmittelbar anredete, so war seine einzige Antwort, je nach der Entfernung, ein Knurren oder ein Schrei. Während all der vielen Jahre, die er auf der Sofala zugebracht, hatte man ihn nie auch nur ein lautes »Guten Morgen« mit einem seiner Schiffskameraden wechseln hören. Er schien es nicht zu merken, daß Leute kamen und in die Welt hinausgingen; er schien sie überhaupt nicht zu sehen. Tatsächlich schien er seine Schiffskameraden an Land nie zu kennen. Bei Tisch (die vier Weißen der Sofala speisten gemeinsam) saß er da und blickte teilnahmslos auf seinen Teller; gegen Ende der Mahlzeit aber sprang er auf und stürzte hinunter, wie in der plötzlichen Befürchtung, man könnte ihm während des Essens die Maschinen gestohlen haben. Am Ende der Reise ging er im Hafen regelmäßig an Land, doch wußte niemand, wo und auf welche Weise er seine Abende zubrachte. Unter den Leuten der Küstenfahrer lief immer noch ein wildes und unbestimmtes Gerücht um von seiner Liebschaft mit der Frau eines Sergeanten in einem irischen Infanterieregiment. Das Regiment aber hatte seine Garnisonzeit dort draußen schon vor Jahren abgedient und war irgendwohin auf die andere Hälfte der Erdkugel versetzt worden, weiter weg, als das Wissen der Menschen reichte. Zweimal oder vielleicht dreimal im Jahre pflegte er zuviel zu trinken. Bei diesen Gelegenheiten kehrte er früher als gewöhnlich an Bord zurück, rannte über das Deck, wobei er sich mit ausgespreizten Armen, wie ein Seiltänzer, im Gleichgewicht hielt, schloß sich dann in seiner Kajüte ein und redete und schimpfte die ganze lange Nacht in allen Tönen vor sich hin; Wut, Hohn und Wehklagen wechselten unerschöpflich miteinander ab. Massy, der Wand an Wand mit ihm schlief, pflegte sich in seiner Koje auf den Ellbogen aufzurichten und entdeckte dann, daß sein Zweiter Offizier den Namen jedes Weißen behalten hatte, der durch Jahre und Jahre auf der Sofala Dienst getan hatte. Er erinnerte sich an die Namen von Leuten, die gestorben, die nach Hause oder nach Amerika gegangen waren; er erinnerte sich während seiner Räusche an die Namen von Männern, deren Verbindung mit dem Schiff so kurz gewesen war, daß Massy selbst die näheren Umstände vergessen hatte und sich eben noch an die Gesichter erinnern konnte. Die trunkene Stimme jenseits des Schotts ergoß über sie alle eine ungewöhnliche Flut giftiger und lästerlicher Verleumdungen. Scheinbar hatten sie alle ihn auf irgendeine Weise beleidigt, und zum Lohn dafür war er ihnen allen hinter die Schliche gekommen. Er murmelte finster; er lachte höhnisch; er zermalmte sie, einen nach dem andern; von seinem Vorgesetzten aber, Massy, plapperte er voll Bewunderung und Neid. »Gerissener Schuft! Trifft seinesgleichen nicht alle Tage. Seht ihn nur an! Ha! Groß! Eigenes Schiff. Würde sich nie erwischen lassen. Keine Angst – der Hund!« Und nachdem Massy eine Weile mit dankbarem Lächeln diesem kunstlosen Tribut an seine Größe gelauscht hatte, begann er wohl zu brüllen und mit den Fäusten gegen das Schott zu trommeln.

»Hören Sie auf, Narr! Wollen Sie mich nicht schlafen lassen! Saufbold!«

Dabei aber umspielte immer noch ein halbes Lächeln des Triumphs seine Lippen; draußen stand der Laskar, den die Nachtwache im Hafen getroffen hatte (ein Junge vielleicht, der gerade aus einem Walddorf gekommen war), reglos im tiefen Schatten des Decks und lauschte dem endlosen trunkenen Geschwätz. Sein Herz pochte vor atemloser Ehrfurcht vor den weißen Männern: den hartnäckigen, herrschsüchtigen Männern, die unbeugsam ihre unverständlichen Ziele verfolgen – Wesen mit unerhörtem Tonfall in der Stimme, von unberechenbaren Gefühlen und unergründlichen Trieben bewegt.

 


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