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Dreiundfünfzigstes Kapitel

Tragische Rhapsodie: Finale

Aber noch zwei andre Geflechte von Hofbeziehungen und Hofsensationen galt es in diesen Jahren zu entwirren und zu verknüpfen. Sie betrafen die Unionsverhandlungen und die Erhebung Hannovers zur Kur-Würde.

Es gab da merkwürdige Zusammenhänge. Frau von Brinon, eine leidenschaftliche und herrschsüchtige Nonne des Klosters St. Cyr, das von Frau von Maintenon gestiftet worden war, fühlte sich plötzlich unzufrieden und trat ins Kloster Maubuisson über, wo sie Sekretärin der Louise Hollandine, der Schwester der großen Herzogin, wurde. Louise Hollandine wieder beschäftigte sich viel mit Malerei und Literatur. Eines Tages sandte sie ihrer Schwester eine neue, aufsehenerregende Schrift Pelissons, der Geschichtsschreiber Ludwigs XIV. war. Diese Schrift hieß »Reflexionen über den Unterschied der Religionen« und war eigentlich ein scharfer Angriff auf die Protestanten. Die Protestanten, so erklärte Pelisson, hätten recht eigentlich die Schuld am Indifferentismus, und zwar sei dieser Indifferentismus durch das Aufgeben des Unfehlbarkeitsdogmas in die christliche Lehre getragen worden. Die Unfehlbarkeit des Papstes aber sei und bleibe das einzige Band der Religionen. Als die große Herzogin dieses Buch gelesen hatte, gab sie es sogleich Leibniz weiter. Und es wurde zum Diskussionsthema zwischen ihr, Leibniz und Molanus. Daher war es auch nicht verwunderlich, daß ein Briefwechsel zwischen Leibniz und Pelisson einsetzte, da Leibniz den Vorwurf des Indifferentismus abwehren wollte. Diesen Briefwechsel, der in ganz Europa Aufsehen erregte, vermittelte die schon erwähnte Frau von Brinon, die es sich nicht versagen konnte, sich höchst unzart einzumischen und Leibniz mit tadelnden theologischen Belehrungen zu überschütten.

Er erwiderte höflich, berührte aber der Frau von Brinon gegenüber niemals die Sache, was sie um so heftiger zum Zorn reizte. Sie sann also auf Verstärkung durch den größten ihr zugänglichen Bundesgenossen, nämlich durch Bossuet, der sich bisher von den Unionsverhandlungen ferngehalten hatte.

Und nun setzte, wieder durch Vermittlung jener Brinon, der entscheidende Briefwechsel zwischen Leibniz und Bossuet ein, den Bossuet im Jahre 1694 abbrach. Wodurch die Hoffnung auf die Union zwischen Katholiken und Protestanten endgültig begraben war. Denn Bossuet war in Dingen der Religion so viel wie Frankreich, und Frankreich war der größte katholische Staat.

Auch dieser Zusammenprall zweier Riesengeister war für ganz Europa ein unerhört großartiges Schauspiel. Dabei geriet Leibniz in eine tragische Lage. Auf Befehl seines Hofes und wegen des plötzlichen Widerstandes, den Molanus leistete, mußte er die Waffen des Protestantismus in einer Schärfe gebrauchen, die ihm eigentlich innerlich fern lag. Da nützten nun all seine glänzenden theologischen und historisch kritischen Einwendungen gegen das Konzil von Trient nichts. Ebensowenig seine blendende Verteidigung des Prinzips der Reformation. Bossuet fragte einfach: »Warum wollt ihr dann zu uns kommen, wenn ihr so denkt? ›Ihr Katholiken setzt voraus‹, werdet ihr Protestanten sagen, ›daß ihr allein die allgemeine Kirche seid.‹ Ja, wir setzen es voraus, anderswo haben wir es bewiesen. Aber es ist sogar genug, es bloß vorauszusetzen, weil wir es mit Personen zu tun haben, die mit uns zu einer Réunion kommen wollen, ohne uns zu nötigen, von unsren eigenen Prinzipien abzugehen.«

Das war der erste Gegenschlag Bossuets. Wollte nun aber Leibniz die Angelegenheit auf subjektiv-theologisches oder gar auf diplomatisches Gebiet ablenken, so hielt ihm Bossuet die Würde und Objektivität der katholischen Kirche, deren dienendes Glied er sei, entgegen. Und schrieb Leibniz, man habe sich den Ufern der Bidassoa genähert, um eines Tages auf der Insel der Konferenzen zu landen (was eine versöhnliche Anspielung auf den pyrenäischen Frieden bedeutete); oder wenn er sagte, es müsse einen Unterschied geben zwischen Advokaten, die plädieren, und Vermittlern, die negotiieren; und die einen, die Advokaten, blieben in einer verstellten Entfernung und in künstlicher Zurückhaltung, die anderen, die Vermittler aber, ließen an ihren Schritten erkennen, daß ihre Absicht aufrichtig und geneigt sei, den Frieden zu erleichtern: dann antwortete Bossuet: »Was die Zuvorkommenheit betrifft, die Sie von unsrer Seite über die Dogmen der Lehre zu erwarten scheinen, so habe ich Ihnen oft geantwortet, daß die Verfassung der römischen Kirche keine andere Zuvorkommenheit duldet als auf dem Wege der Erklärung und Auslegung. Die Angelegenheiten der Religion lassen sich nicht wie die weltlichen Angelegenheiten behandeln, die man oft beilegt, indem jede der beiden Seiten etwas nachgibt; weil nämlich weltliche Angelegenheiten Dinge sind, deren Herren die Menschen zu sein pflegen. Die Angelegenheiten des Glaubens aber hängen von der Offenbarung ab, die man einander gegenseitig zwar erklären kann, um einander besser zu verstehen; über die man aber keine Geschäfte abschließen darf. Es würde der Sache gar nichts nützen, wenn ich andre Wege einschlüge; und es hieße wahrlich, höchst unzeitgemäß den Gemäßigten spielen. Die wahre Mäßigkeit, die man bei solchen Dingen beobachten muß, besteht darin, den Stand, worin sie sich befinden, nach der Wahrheit zu sagen: indem jede andre Willfährigkeit, die man suchen könnte, nur dazu diente, Zeit zu verlieren und in der Folge noch größere Schwierigkeiten entstehen zu lassen.«

Als aber endlich Leibniz die Einwände gegen das Konzil von Trient häufte und sich dabei als ein Theologe allerersten Ranges bewährte, der von einer ganzen Welt staunender Zuseher bewundert wurde, fragte Bossuet nur kühl, wozu so viel Gelehrsamkeit gut sei. Denn selbst, wenn man das Konzil von Trient fallen lasse, blieben noch immer alle Meinungsverschiedenheiten über Transsubstantiation, Oberhoheit des Papstes, Fürbitte der Heiligen und zahlreiches andre, das auf den dem Tridentinum vorhergehenden Konzilen geregelt worden sei, bestehen. Man müßte also die Konzile bis auf sieben-, ja achthundert Jahre vor die Reformation zurück aufheben. »Finden Sie ein Mittel gegen diese Unordnung, gegen diese Verwirrung, oder verzichten Sie auf die Auswege, die Sie vorschlagen!« schrieb Bossuet hart und unerbittlich. Und damit war eigentlich der Vereinigungsgedanke tot.

Er war es aber auch noch aus einem anderen Grunde, der Leibniz in höchste Erregung warf. So groß und einwandfrei die Haltung Bossuets war, der zudem nicht den leisesten Versuch machte, Leibniz als Person zum Katholizismus hinüberzuziehen, so sehr war alles, was er über die religiöse Frage hinaus unternahm, von französischem Patriotismus und von Haß gegen Deutschland diktiert. Vielleicht sogar strahlte dieses für einen Franzosen beinahe selbstverständliche, sicher nicht niedrige Gefühl irgendwie in die religiösen Debatten, da der französische Katholizismus im Gegensatz zum universellen durch viele geschichtliche Ereignisse eine Art von separatistischer Note hatte. Und hier begann trotz aller heißen Vereinigungswünsche in Leibniz das religiöse mit dem Nationalgefühl zu ringen. Die Gefahr eines Glaubenskrieges innerhalb Deutschlands wurde von Jahr zu Jahr geringer. Dafür aber stand eine neue Gefahr auf: daß nämlich nach der Union die deutschen Protestanten von den französischen Katholiken stets nur als Angehörige einer Religion zweiten Ranges behandelt werden würden. Was nützten überhaupt noch Erwägungen? Bossuet hatte den Briefwechsel abgebrochen. Und von dieser Zeit an verfolgte Leibniz einen näherliegenden Unionsgedanken bis an sein Lebensende: die Vereinigung aller Protestanten! Der englischen Hochkirche, der Reformierten, der Calvinisten, der Augsburger Konfession. Und auch politisch war dieses Konzept vorwiegend ein germanisches. Denn es würde England, Holland, die Schweiz, Kurbrandenburg, Hannover und nicht zuletzt die Blüte französischer Tüchtigkeit umfassen, die eine plötzlich einsetzende Intoleranz Ludwigs außer Landes getrieben hatte.

Gleichwohl gehörte auch das Scheitern der Unionsverhandlungen mit Rom für Leibniz mit zur tragischen Rhapsodie, die in jenem Jahrfünft von 1690 bis 1695 vor seinen entsetzten Augen abrollte. Nicht einmal der Glanz der Erringung der Kurwürde für Ernst August konnte an der tragischen Grundstimmung etwas ändern. Denn auch hier gab es nichts als Widerstände. Und Ernst August und Kursachsen hatten nur durch die Androhung eines endgültigen Bruches mit dem Kaiser es erzwungen, daß die Welfen den Kurhut erhielten. Obgleich bereits wegen des Erzamtes ein Streit mit Württemberg losbrach, den Leibniz trotz aller Wucht und Geschichtskenntnis mit kläglichem Erfolg führte. Vielleicht war es in jener Zeit der einzige wirkliche Gewinn für Leibniz, daß er im Zuge der Verhandlungen wegen der Kurwürde wieder mit Philipp Wilhelm von Boineburg in ein näheres Verhältnis kam, der als erster Kammerherr und Reichshofrat am Hof zu Wien wirkte.

Nun aber, im Jahre 1694, behaupteten ängstliche Bürger Hannovers neuerlich, in einer Frühlingsnacht eine merkwürdige Bewegung wahrgenommen zu haben. Wie damals, als die Verschwörung des Oberjägermeisters Moltke aufgedeckt wurde. Diesmal aber griff die Erregung weit über die Grenzen Hannovers hinaus und erschütterte beinahe alle Höfe Europas. Und wieder war Leibniz in mehr als einer Beziehung Schuldtragender und Mitwisser aller Ereignisse.

Der große Held und ritterliche Edelmann, der glänzende Graf von Königsmark, schritt in dieser Nacht durch die Galerie des kurfürstlichen Schlosses zu Hannover. Er kam aus den Gemächern der Erbprinzessin Dorothea. Vier vermummte Bewaffnete stellten sich ihm entgegen und riefen ihn leise an. Als er keine Miene machte, stehenzubleiben, warfen sie sich im fahlen Licht des Mondes zwischen Schlagschatten von Säulen und flirrend silbernen Lichtflecken über ihn, um ihn zu fesseln. Königsmark aber, der riesenstarke Kämpfer, sprang zurück und zog den Degen. Gut, vier Vermummte! Was gehen mich Vermummte an? Das ist nichts, was mit Recht und Gesetz zu schaffen hat. Es ist meuchlerischer Überfall. Ob im Schloß, ob außerhalb des Schlosses, ist gleichgültig. Er stach wütend zu. Leise Schreie begleiteten die Treffer seiner Degenspitze. Aber auch die Vermummten schienen wilde Kämpfer zu sein, die ihr Leben teuer verkauften. Und plötzlich glitt Königsmark aus, drei Degen durchbohrten ihn fast gleichzeitig, und man schleppte die Leiche in ein nie betretenes Kellergewölbe, wo man sie in den dunkelsten Winkel stieß. Droben aber, in der Galerie des Schlosses, lagen ruhig die Schlagschatten der Säulen über den silbernen Flecken des Mondlichtes.

Eine furchtbare nächtliche Konferenz vereinigte wenige Stunden später Ernst August, Sophie, Grote und Leibniz. Und man wußte sich keinen Rat. Denn man hatte Königsmark zwar heimlich gefangensetzen wollen, um dem Skandal der Flucht Dorotheas vorzubeugen; nie aber hatte man diesen Ausgang erwartet. Kein Rechtstitel war zu finden, der den Mord beschönigte. Man wußte, daß Dorothea bloß aus Kränkung über die Untreue des Erbprinzen Georg, dem sie vor kaum einem Jahr einen Sohn geschenkt hatte, ihre Flucht vorbereitet hatte. Und daß Königsmark nur als ein jedes Abenteuer suchender Edelmann in einer romantischen Laune sein Leben für eine schöne unglückliche Dame, die er nicht einmal liebte, eingesetzt hatte. Man wußte in dieser Konferenz aber noch mehr, obgleich man nicht darüber sprach. Die ehrgeizige und intrigante Gräfin von Platen, die Mätresse Ernst Augusts, hatte alles aufgespürt. Und deren Schwester, die Gattin des Gardegenerals von Weyhe, war wieder die Geliebte des Erbprinzen Georg; also eigentlich die Ursache der Tragödie. Aber noch mehr. Die Gräfin Aurora, die Schwester Königsmarks, vielleicht

die schönste Frau Europas, war die Geliebte des Kurfürsten von Sachsen. Und regierte aus dieser Machtstellung fast unbeschränkt. Bis zum Krieg mit Kursachsen konnte der Tod Königsmarks führen.

Dazu der Haß der Kurfürstin Sophie, die jeden Verdacht gegen Dorothea unbewiesen aussprach, ja solchen Verdacht sogar als Sicherheit hinstellte. »Ich will durch die Unbeherrschtheit und Eitelkeit der Tochter dieser niedriggeborenen d'Olbreuse nicht noch vielleicht den vierten Sohn verlieren«, sagte sie steinern ein über das andremal. »Wenn schon außer diesem Wüstling Königsmark noch ein Opfer notwendig ist, dann soll es Dorothea sein. Keine Gnade für die Halbblütige, für die Tochter einer nachträglich legitimierten Mätresse, die sich nicht zur Haltung und Würde einer Kurprinzessin durchringen konnte. Die wie ein Bürgermädchen bei Nacht und Nebel mit dem Geliebten ausreißen will. Fidonc! Ich habe nichts übrig für solche Moral von Frauen, deren Ziel es sein sollte, nichts, aber auch nichts andres zu tun, als die Erbfolge zu sichern und die Schwelle des hohen Gatten reinzuhalten. Des Gatten, auf den man nicht als gewöhnliches Weib Ansprüche hat. Sondern von dem man wissen muß, daß er eher ein Begriff als ein zu Familienzwecken degradierter Hausvater ist.«

Leibniz blickte die Kurfürstin an. Was, so fragte sein Blick, ist es dann mit den Briefen, die Eure kurfürstliche Hoheit vor nicht allzulanger Zeit in meine Hände gelangen ließen? In denen von Demütigung der Frau, von schlaflosen Nächten, vom beinahe nicht Ertragenkönnen die Rede ist, weil Ernst August die Platen bevorzugt. Furchtbar, große Fürstin! Furchtbar. Es ist überhaupt fast unerträglich, daß Vater und Sohn mit zwei Schwestern schlafen. Noch schrecklicher aber ist es, daß Dorothea nie zu ihrem Recht kommen darf. Und am allerentsetzlichsten, daß vielleicht die Liebe der großen Fürstin zum Vater Dorotheas, zu Georg Wilhelm von Celle, noch nicht erloschen ist. Und daß darum die wunderbare, edle d'Olbreuse eine »legimitierte Mätresse« und die ebenso wunderbare Dorothea, dieses blühend heitere, geistvolle, charmante, gütige und weltoffene Geschöpf, diese Frau, die nichts tat als ihre Pflicht, und die für nichts kämpft als für ihr Recht, verurteilt werden soll. Bin ich noch Leibniz, wenn ich bei solcher Liquidierung des Menschenhandels, den ich selbst einleitete, mitschuldig werde? Bin ich dann nicht eher ein dynastischer Sklave, ein »Hof«-Komplice? Auch Grote denkt ähnlich. Ich sehe es. Wir alle sind ratlos. Und unten im Keller liegt starr und mit verglasten Augen der prachtvolle Königsmark, den wir durch unsre überspitzt mathematischen Pläne und Schachzüge ermordeten. Derselbe Königsmark, dem ich noch gestern beim Souper die harte Hand drückte, und der mir lachend einige gutmütige Scherze zuraunte. Es ist zum Verzweifeln. Ist das jetzt die letzte Tragödie? Oder kommt noch die fünfte, sechste, siebente? Was ist noch unerledigt in unsrem Geflecht, genannt »Vereinigung aller welfischen Lande in einer Hand, zur Stärkung des Heiligen Deutschen Reiches durch eine geschlossene niedersächsische Vormacht?« Was ist noch offen? Wir können nicht mehr zurück. Obwohl wieder, fast schuldlos, ein heißes Einzelglück vernichtet ist. Furchtbar und unverzeihlich! Aber zwischen dem Rhein und Siebenbürgen gibt es Millionen solcher Einzelglücksansprüche, für die wir angeblich unsre Menschenopfer bringen. Heute schon. Und in fünfzig, hundert Jahren werden es neue und stets neue Millionen sein. Sind das Ausreden, Selbstrechtfertigungen? Pilatushändewaschungen? Wahrscheinlich. Aber unser Geist hat Grenzen. Wir haben uns verrechnet. Sind Rechenfehler bereits Verbrechen? Wenn nur dieser Haß der Herzogin nicht wäre! Und Georg Wilhelm, der tragischeste aller Welfen, wird das einzige Kind verstoßen. Ich weiß es. Denn auch er ist starr in dynastischen Dingen. Und auch er liebt noch die große Sophie ...

Königsmark blieb verschwunden. Europa lag unter einem Alpdruck. Bis sich alles »aufklärte«. Das heißt, bis durch neue verlogene und recht hilflose Schachzüge die Ordnung der Tragödie einigermaßen erfolgte.

Georg Wilhelm verstieß sein einziges Kind. Dorothea saß gefangen im Schloß Ahlden, umgeben von zwei Ringwällen, begleitet von Reitern, wenn sie ausfuhr. Und getrennt von ihren Kindern. Sie zeigte die Größe, die nur wahre Unschuld leihen kann. Man bat, beschwor, drohte, sandte Molanus, sandte Leibniz. Sie weigerte sich, zum ehebrecherischen Gemahl zurückzukehren. Und blieb die »Gefangene von Ahlden.«

Die schrillen Schlußakkorde der tragischen Rhapsodie waren verklungen. Und Leibniz, der fast Fünfzigjährige, von dem man nach all dem Geschehen glauben müßte, er sei von den Ereignissen erdrückt oder aus dem Geleise geworfen worden, schrieb am Ende des grausigen Quinquenniums, am 5. September 1695, an den Hamburger Gelehrten und Freund Placcius:

»Wie außerordentlich zerstreut ich bin, läßt sich nicht sagen. Ich suche Verschiedenes in den Archiven, nehme alte Papiere vor die Augen und suche ungedruckte Manuskripte zusammen, mit deren Hilfe ich für die Geschichte Braunschweigs Licht zu gewinnen hoffe. Briefe empfange ich und erwidere sie in großer Anzahl. So viel Neues habe ich in der Mathematik, so viele Gedanken in der Philosophie, so viele literarische Betrachtungen, die ich nicht umkommen lassen möchte, daß ich oft nicht weiß, was ich zuerst tun soll. Und die «Wahrheit des Ovid'schen Ausrufs fühle: Inopem me copia fecit! Hilflos hat mich der Reichtum gemacht! Zwanzig Jahre und darüber sind es her, daß die Franzosen und Engländer meine Rechenmaschine gesehen haben ... Seit dieser Zeit haben Oldenburg, Huygens und Arnaud und auch Sie selbst, Placcius, mich aufgefordert, eine Beschreibung dieses kunstvollen Werkes herauszugeben; was ich jedoch stets aufgeschoben habe, da ich ja nur ein kleines Modell der Maschine hatte, das eben nur zur Demonstration für den Mechanicus, nicht aber für den wirklichen Gebrauch hinreichte. Jetzt aber ist mit Hilfe von Arbeitern, die ich mir habe kommen lassen, die Maschine fertig geworden, bei der man die Multiplikationen bis zu zwölf Ziffern führen kann. Es ist ein Jahr, seit ich so weit gekommen bin, ich habe aber die Arbeiter noch hier, um andre solcher Maschinen anfertigen zu lassen. Denn sie werden an mehreren Orten verlangt. Ich möchte gerne eine Beschreibung dieser Maschinen geben, aber die Zeit fehlt mir dazu. Ich muß nämlich vor allem meine Dynamik vollenden, in der ich endlich die wahren Gesetze der materiellen Natur gefunden zu haben glaube, mittels deren ich Probleme über die Bewegung der Körper lösen kann, Probleme, für die alle bisher bekannten Regeln nicht ausreichten. Meine Freunde, die von der durch mich begründeten höheren Geometrie Kenntnis haben, treiben mich, meine ›Wissenschaft des Unendlichen‹ herauszugeben, die alle Fundamente meiner Analysis enthält. Dazu kommt eine ›Characteristica situs‹, eine neue Art der Geometrie, die nicht die Größe, sondern bloß die Lage berücksichtigt. Ich arbeite an dieser ›Characteristica situs‹ und noch über viel allgemeinere Dinge der ›Ars inveniendi‹, der Kunst, zu erfinden und zu entdecken. Aber alle diese Arbeiten, die historischen ausgenommen, geschehen wie verstohlen. Denn Sie wissen, daß man an den Höfen ganz andre Dinge sucht und erwartet! Daher habe ich von Zeit zu Zeit Fragen aus dem Völkerrecht und aus dem Recht der Reichsfürsten zu behandeln. So viel habe ich jedoch durch die Gnade des Kurfürsten erlangt, daß ich nach eigenem Ermessen mich der Mitwirkung an Privatprozessen enthalten kann.«


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