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Viertes Kapitel

Mystische Vereinigung und Berufung

Die Tage bis zum Sonntag waren schnell vergangen. Der Knabe hatte nämlich – und dadurch erhielt dieser Sonntag seine große Bedeutung – in einer Anwandlung von Askese sich vorgenommen, die Bibliothek erst zu diesem Zeitpunkt zu betreten. Er wollte sich sammeln, wollte sich innerlich vorbereiten und wollte auch das große Ereignis nicht sozusagen zwischen Tür und Angel erleben, was an einem Wochentage unvermeidlich gewesen wäre. Um so mehr, als der Onkel erst am Samstag abgereist war. Das nun war ein herber Schmerz gewesen. Denn das Gefühl einer Geborgenheit durch die Anwesenheit eines verstehenden reifen Mannes, das der Knabe mehrere Jahre schon hatte entbehren müssen, war ihm mit Urgewalt zum Bewußtsein gekommen. Auch das war ein Grund mehr, sich die große Freude für den Augenblick der wiederbeginnenden Einsamkeit aufzuheben.

Äußerlich war an diesen gehobenen Tagen im stillen Hause nichts vorgefallen. Eine angenehme Enttäuschung hatte der junge Leibniz durch das Verhalten seines Lehrers erlebt, der ihn in der Schule mit einer gewissen ingrimmigen Hochachtung behandelte und ihn bei jeder schwierigen Frage hatte zu Wort kommen lassen.

So war eigentlich jedes innere Hemmnis verschwunden, als Gottfried Wilhelm an jenem Sonntag, nach dem Gottesdienst, sich den geliebten Schlüssel aus seinem Kämmerchen holte und mit Schauern in der Seele in das Erdgeschoß hinabstieg, wo, dem Garten zugewandt, die stille Bibliothek gelegen war.

Wie ein Entdecker, der längstgeahnte Schatzkammern erstmalig betritt, so fühlte er sich, als das schwere Riegelschloß zurückschnappte.

Es war kein allzu großer Raum, der vor ihm lag. Doch seine Stimmung übte einen geheimnisvollen Zauber. Alle Wände, bis hoch hinauf zur spitzgewölbten staubig grauen Decke, waren mit Regalen bedeckt, in denen sich Buch an Buch reihte. In der Mitte stand ein langer tuchbespannter Tisch, belegt mit Büchern und Heften. Vor dem einzigen Fenster endlich gab es eine Art von tiefer Nische mit erhöhtem Boden. Dort befand sich ein geschnitzter schwerer Lehnstuhl und das kleine Lesetischchen. Das Fenster aber hatte Butzenscheiben, durch die das Licht, vielfarbig gebrochen, hereinschimmerte.

Lange Zeit rührte sich der Knabe nicht von der Stelle, um die Ganzheit des Erlebnisses zu genießen. Er wurde anfänglich von der ungeheuren Fülle erdrückt und es kroch ihn fast wie Beängstigung an. Wo sollte er ohne Führer, ohne Anleitung beginnen, wie sein brennendes Interesse befriedigen? Ein krauser Gedanke wünschte Tilemann Bachusius herbei.

Doch überwand er bald die Schwäche, da er sich sagte, er stehe hier ja dem gesamten Wissen gegenüber, würde vielleicht Jahre um Jahre brauchen, um nur einen Teil davon sich einzuverleiben. Also hieß es bloß, irgendwo den Anfang zu setzen. Schließlich war er dem Thesaurus und dem Livius zu Beginn noch fremder, noch hilfloser gegenübergestanden, da ihm dort kaum ein Wort vertraut geklungen hatte. Und hier gab es wahrscheinlich die mächtigen Schätze deutscher Gelehrsamkeit, deutscher Dichtung. Wie freute er sich gerade auf die Leistungen des eigenen Volkes, des verwandten Geistes. Wenn dieser Geist auch jetzt durch den furchtbaren Krieg darniederlag, wie es ihm der fremde Magister auf dem holprigen Bauernwagen erklärt hatte.

Gewiß, das war der Anfang. Das war ein leichter, ein würdiger Anfang. Zuerst die Taten des eigenen Landes, dann wollte er weiter forschen, was die anderen geleistet hätten, und zurücksteigen in die Geschichte bis zur Antike, zu den Römern und Griechen, die er ja schon aus seinen Büchern oberflächlich kannte.

Große freudige Erregung und Festigkeit überkam ihn, als der erste Entschluß gefaßt war. Die durch keine Hemmung bedrohte Geradlinigkeit in der Durchführung einmal feststehender Entscheidungen, seine selbstvergessene Hingabe und sein ungeheurer Fleiß brachen gleichzeitig hervor. Eigenschaften, denen gleichwohl jede Hast oder Ungeduld fehlte. Schon der Knabe Leibniz war mit der Magier-Gabe begnadet, daß nicht die Zeit seine Arbeit, sondern die Arbeit die Zeit beherrschte. Selbsttätig beschleunigte und verlangsamte sich seine Lebenskraft, je nachdem, ob es galt, über Gleichgültiges hinwegzuhuschen oder Wesentliches zu durchdringen. Dadurch wußte er nie, wie viel Zeit, rein äußerlich betrachtet, seine Arbeit erfordert hatte.

Er ging zuerst die Regale entlang um einen vorläufigen Überblick zu erhalten. Und gewisse Grundsätze der Bücherordnung zu erkennen. Bald bemerkte er, daß sein Vater durchaus nicht die pedantische Einteilung gewählt hatte, nach der die Bücher, bloß gemäß ihrer Größe, in Reihen von Folianten, Quart- oder Oktavbänden hingestellt sind. Im Gegenteil. Der Vater hatte alles genau so geordnet, wie er es eben suchte. Allem Anschein nach standen die Bücher nach Sprachen eingeteilt und innerhalb der Sprachen nach Materien. Das Zweite wußte er nicht deutlich, jedoch er ahnte es, als er eine große Reihe juristischer und daneben einen Stapel religiöser Bücher beieinander sah.

Als er den ersten Rundgang vollendet hatte, erinnerte er sich, als Kind einmal gesehen zu haben, wie man zu den höheren Reihen gelangte. Er blickte sich um. Und wirklich stand dort im Winkel der kleine Leiterstuhl, durch den die Gesamtheit der Bücher zugänglich wurde.

Er rückte sich das Hilfsmittel heran und setzte geduldig seine Forschungen fort. Wie leuchtende Edelsteine in den Flächen eines Diadems blitzten ihn von Zeit zu Zeit Namen und Titel an, die ihm Ehrfurcht, Schauer und heiße Begierde der Durchdringung einjagten. Bei manchen dieser Entdeckungen aber hätte er kaum Rechenschaft ablegen können, warum sie ihn so ergriffen.

Vieles hatte er schon erforscht. Mächtige Reihen römischer und griechischer Klassiker, Dichter und Philosophen, Geschichtsschreiber und Dramatiker waren unter seine Hände gekommen. Ab und zu zog er behutsam ein Buch heraus, warf einen Blick hinein, stellte es aber sogleich wieder an seinen Platz. Dann fand er die Kirchenväter, die großen Theologen, fand Gesetzessammlungen, das Corpus Juris der Römer und der Kirche. Und dann, aufsteigend, manch wissenschaftliches Buch aus neuerer Zeit, alles aber in lateinischer Sprache. Plötzlich begannen andere Sprachen.

Er hatte ein eigentümlich helles inneres Ohr für den Klang auch von Idiomen, deren Worte er nicht verstand. Gewiß, er hatte durch die vielen Reisenden und Flüchtlinge, die nach dem großen Kriege durch Leipzig gezogen waren, fast jede Sprache Europas öfter gehört. Aber woher er nach wenigen Worten sogleich wußte, welcher Nation die Sprache zugehörte, war damit noch keineswegs voll erklärt.

Wie dem auch war, erkannte der Knabe ohne nachzudenken, daß er es jetzt mit Werken der Franzosen, der Engländer, Holländer und Italiener zu tun hatte. Wenn nun auch hier wieder in der Wissenschaft viel Lateinisches eingestreut war, so gab es dennoch bei diesen Nationen, auch bei den Spaniern, manches stolze Werk der Philosophie und Dichtung in eigener Sprache. Manches Buch fand er lateinisch und in die Landessprache übersetzt, ein Fund, der ihn besonders beglückte, da er dadurch zu unbekannten Zungen Zugang gewann.

Und nun überkam es ihn wie ein Fieber. Jetzt mußten die deutschen Dichter und Denker folgen, mußte sich die eigene Welt offenbaren, die er sich als Beginn und Hauptinhalt seines Studiums vorgesetzt hatte.

Da erschrak er so furchtbar, daß alle angespannte Anstrengung, mit der er die zahllosen Bücher durchmustert hatte, voll in Erscheinung trat. Seine Knie begannen zu wanken, ein Schwindelgefühl überkam ihn und er mußte sich am obersten Regal anklammern, um nicht zu stürzen. Denn er konnte es nicht mehr vor sich verbergen: Er hatte die Bibliothek bis zum letzten Band durchmustert und an deutschen Büchern nur einige wenige Geschichtsbücher, die Schriften Martin Luthers und ein kleines Büchlein Hans Sachsens erblickt.

Er stieg schnell vom Leiterstuhl hinunter und warf sich in den Lehnstuhl. Zuerst kreiste alles vor seinen Augen. Nach einigen Minuten jedoch begann er fieberhaft zu überlegen. Wie war es möglich? Hatte der Vater, der doch ein Deutscher war, deutsche Bücher seiner Bibliothek nicht einverleibt? Das konnte doch nicht sein. Oder war gar das andere, das viel Furchtbarere die Lösung? Gab es nur wenige oder gar keine deutschen Bücher? Keine deutschen Gelehrten, keine deutschen Dichter und Klassiker? Zumindestens so wenige, daß sie gegenüber den Werken andrer Nationen nicht in Betracht kamen? Oder kümmerten sich die Deutschen gar eher um das Fremde als um das Eigene? Sicher war es, das hatte er manchmal gehört, daß die Franzosen, die Italiener den Deutschen zum Vorbild dienen sollten. Aber das bedeutete doch nicht vollständige eigene Untätigkeit? Und er forschte, stets erregter, in seinem Gedächtnis. Er hatte Märchen und Volkslieder in deutscher Sprache gehört, hatte einmal ein Puppenspiel gesehen. Was er aber sonst vernommen hatte, war eigentlich nur das Evangelium gewesen. Nie waren vor seinem Ohr Zitate oder längere Stellen aus deutschen Dichtern erklungen. Das wurde ihm Gewißheit, furchtbare Gewißheit, je länger er grübelte. Und eine große Verzagtheit kam über ihn, die fast all seine Besitzes- und Entdeckerfreude trübte. Und jedes der Worte des landflüchtigen Magisters ergriff ihn nun erst recht mit doppelter und dreifacher Wucht. Nein, keine trügerische Hoffnung! Der Magister hatte recht. Es würde sich nie, nie mehr erheben können, dieses unglückselige Deutschland. Wie sollte es sich auch erheben, da es zwei Drittel seiner Bewohner verloren hatte? Wie sollte es? Wo es im Besitz all seiner Einwohner noch nichts geschaffen hatte, nichts wenigstens, was nur halbwegs an die Leistungen andrer Völker heranreichte? Jetzt verstand er auch erst voll, was er in seinen lateinischen Büchern über Liebe zum Vaterland, über Schmerz um das Vaterland gelesen hatte. Und sah, wie sehr der Einzelne, selbst ein unscheinbarer Knabe, verwoben und verkettet war mit dem Schicksal der Gesamtheit; und er erkannte, wie sehr wieder Einzelne, große Denker und Dichter, imstande waren, Ansehen und Bedeutung aller, die der Gesamtheit angehörten, zu heben.

Der letzte Gedanke hatte schon einen Schimmer von Hoffnung in sich enthalten. Können wirklich Einzelne das Schicksal des Volkes wenden und heben? Woher kommen diese Einzelnen? Wann stehen sie auf, warum erheben sie sich plötzlich aus den Tiefen des Unbekannten? Vielleicht gar, weil die Not höher und höher steigt? Darf man also die Hoffnung daher auch nie verlieren? Auch nicht, wenn nur mehr ein Drittel eines einst mächtigen Volkes lebt?

Aber war nicht überhaupt alles eine Täuschung, ein Irrwahn, der ihn genarrt hatte? Er erinnerte sich plötzlich, daß ja auch der lange Tisch in der Mitte des Bibliotheksraums mit Büchern bedeckt war. Nichts lag näher, als daß die deutschen Bücher hier zu finden sein mußten.

Er sprang auf, als ob er nicht eine Sekunde verlieren wollte, sich letzte Gewißheit zu verschaffen. Und erfaßte mit einem einzigen erregten Blick die geschichteten Bände und Hefte. Aber nicht ein kleinstes Zeichen bestätigte seine Mutmaßung. Wieder lauter lateinische Aufschriften, nichts als juristisches und anderes Handwerkszeug des Alltages eines Gelehrten, der zudem noch praktischer Notar gewesen war.

Nur in der Mitte des langen Tisches lag etwas anderes, etwas, das auch im Format aus den übrigen Büchern hervorstach. Eine Art von Mappe in großem Folio, in Leder gebunden, mit der Überschrift: Chronik des Hauses Leibniz.

Diese unvermutete Entdeckung lenkte den Knaben sogleich von seiner neuen und daher noch schwereren Enttäuschung ab. Und zwar hauptsächlich deshalb, weil er gleich sah, als er die Chronik aufschlug, daß sie in den zierlichen Schriftzügen des Vaters geschrieben war. Vielleicht konnte er aus den Blättern dieser Chronik den Geist des Toten beschwören, vielleicht wollte gar der Vater mit ihm Zwiesprache halten. Und es schüttelte den Knaben ein sonderbar freudiges Grauen, eine Wallung, die in den Zwischenreichen des Diesseits und Jenseits schwebte.

Er ging, die einzige wilde Angst im Herzen, er könnte jetzt gestört oder gerufen werden, den Folianten unter den Arm gepreßt, mit gesenkten Augen wieder zurück zur Lese-Nische. Ein fremdes Wort, ein Knarren des Türschlosses, so fühlte er übergrell, könnte die Verbindung des Vaters mit dem Sohne, diese mystische Vereinigung zerreißen. Aber es regte sich nichts und das Haus blieb still.

Er begann mit fast wildem Eifer zu lesen. Und wieder war die Zeit zerbrochen und gebannt. Diesmal jedoch in zweifacher Art. Denn er stieg zurück in die Reihe seiner Ahnen, stieg zurück bis dorthin, wo sich seine Herkunft in den Nebel des Unbekannten verlor.

Und der kaiserliche Hauptmann an der windischen Grenze, von dem er schon durch seinen Onkel gehört hatte, tauchte vor ihm auf, er hörte von dessen Bruder Christof Leibniz, Amtmann in Altenburg, später Schösser in Pirna, der verheiratet war mit Barbara von Kahlenburg aus Jütland. Deren beider Sohn wieder Ambrosius Leibniz gewesen war, sein väterlicher Großvater. Und plötzlich stand er bei den Lebenserinnerungen des Friedrich Wilhelm Leibniz. Beisitzer und Subsenior der philosophischen Fakultät zu Leipzig, Magister der Philosophie, Professor der Moral, Jurist, Aktuarius der Universität und Notarius. Stolze Titel des Vaters, der mit vierundfünfzig Jahren seine Arbeitsfülle hatte für immer verlassen müssen. Und der Knabe erfuhr von den drei Ehen des Vaters, stieß auf manche sonnige, manche furchtbare und düstere Eintragung. Hörte schwedische und kaiserliche Kanonen vor den Mauern und Wällen Leipzigs donnern, fühlte das Stampfen und Klirren siegreicher Heere, die durch Leipzig zogen, las von Seuchen, Schrecknis und Hunger. Dann wieder von Aufstieg, Hoffnung, neuem Bauen. Geburt und Heranwachsen der Stiefgeschwister Johann Friedrich und Anna Rosina sah er verzeichnet, sah Bemerkungen über ihren Charakter und ihre kleinen Erfolge und Mißerfolge. Und wieder getrennt durch das Auf und Ab der Jahre, durch Ausbrüche von Schwermut und Bekenntnis zu zähem Ausharren, standen da die Worte: »21. Juni, am Sonntag 1646 ist mein Sohn Gottfried Wilhelm einviertel auf sieben Uhr abends zur Welt geboren, im Wassermann. Am 23. Juni, am Vorabend des Johannistages, wurde er getauft. Als er beim Taufakte durch die Hände des Diakons Daniel Moller gehalten wurde, hob er den Kopf empor und ließ zur Verwunderung der Umstehenden mit emporgerichteten Augen sich mit dem Wasser benetzen. So wünsche und weissage ich, daß dieses ein Merkmal des Glaubens und das beste Vorzeichen sei, daß dieser Sohn sein ganzes Leben hindurch, mit zu Gott erhobenen Augen, ganz göttlich sein, in Liebe zu Gott brennen und in ihr bewunderungswürdige Taten tun werde zur Ehre des Höchsten, wie zum Heil und Wachstum der christlichen Kirche und zu seinem und der Unsrigen Heil.«

Und nun reihte sich Eintragung an Eintragung. Der Knabe erschrak. Denn die Wärme all der Worte stach gewaltig von den Bemerkungen über die älteren Geschwister ab. Er wurde dadurch verwirrt und beschämt. Doch in einer anderen Schicht seines Fühlens stiegen Dankbarkeit, Liebe und Stolz in ihm auf, die er vergeblich zu unterdrücken versuchte.

Von einem gewissen Zeitpunkt an begannen die Berichte des Vaters sich mit seinen eigenen Erinnerungen zu mischen, begannen einzelne Bilder und Sätze längst Verschüttetes zur deutlichen Gegenwart zu heben. Besonders eine Aufzeichnung erregte ihn wieder in ungewöhnlichem Maße:

»Es war an einem Sonntag Anno 1648 und meine Frau Catharina war zur Kirche in die Vormittagspredigt gegangen. Ich selbst lag krank zu Hause in meinem Bette. Gottfried Wilhelm spielte, während nur noch die Muhme im Zimmer sich befand, am Ofen, und war noch nicht ganz angezogen. So trippelte das Kindlein auf und ab auf einer an der Wand stehenden Bank, vor welche ein Tisch herangerückt war. An dem Tische stand die Muhme und wollte das Kindlein ankleiden. Das Kind aber, Mutwillen treibend, stieg auf den Tisch und indem die Muhme es fassen wollte, tritt es hinter sich und stürzt vom Tisch auf den Estrich hinab. Die Muhme und – es sei einbekannt! – auch ich selbst schrien auf, blickten entsetzt hin und sahen das Kindlein unversehrt und uns anlachen, aber beinahe drei Schritte vom Tisch entfernt, auf dem Estrich sitzen. Viel weiter, als ein Kind hätte durch einen Sprung erreichen können. Ich erkannte darin wieder eine besondere Gnade Gottes und schickte daher auf der Stelle jemanden mit einem Zettel in die Kirche, damit, der Sitte gemäß, nach dem Gottesdienst ein Dankgebet zu Gott gehalten würde. Und man sprach viel über diesen Vorfall in der Stadt. Ich aber schöpfte aus diesem Ereignis neuerlich die Hoffnung, daß dieses Kindlein einst hervorstechen werde unter den Menschen und daß es Gott in so sichtbarer Weise auszeichnete, weil im Plan seiner Vorsehung eben dieses Kind berufen sein würde, Wichtigstes zu vollenden.«

Im Plan – der Vorsehung – Wichtigstes vollenden? Ausersehen? Begnadet? Talent ist eine Gnade? Dem Knaben begann zu schwindeln. Das Blut drang so sehr zu seinem Herzen, daß er die Linke auf die zarte Brust preßte, um das Pochen, das durch die Rippen hämmerte, zurückzuhalten.

Und er flog wieder mit seinen Augen über die Eintragungen, durchflog lange Seiten von Berichten, die ihm bekannter und bekannter wurden und ihn in ruhige Jahre der Vereinigung mit dem Vater versetzten.

Plötzlich, mitten hinein in diese ansteigende Lebensfreude des Vaters, in das Glück über die Beendigung des großen Krieges, über das langsame Schwinden seiner Folgen, über höhere Besoldung, Auszeichnung und heitere Muße, wie ein schriller Aufschrei die furchtbare Notiz vom 20. August 1652:

»Ich habe angeordnet, daß niemand im Hause vor meinem Tode diese Chronik aufschlägt. Denn irgendwohin muß ich es schreiben. Der Arzt hat mich zwar vertröstet. Ich aber weiß aus unvorsichtigen Äußerungen desselben Arztes von früher besser Bescheid. Ich werde das neue Jahr 1653 nicht mehr erleben. Werde, wenn mich Gott besonders begnadet, ohne allzuviel Schmerz die große Reise ins Jenseits antreten. Ich will mich nicht aufbäumen. Aber zu schön war dieses letzte Jahr, viel zu hold. Meine Träume und all die Vorzeichen, derentwegen mich meine Freunde schon verspotteten, Omina, die Gottfried Wilhelm betreffen, beginnen sich, rascher als geahnt, zu erfüllen. Vor der Zeit, gleichsam aus sich selbst, hat das Kind das Lesen und Schreiben erlernt, und hat, als ich es sachte zur profanen und biblischen Geschichte hinleitete, in kurzem erstaunliches Wissen gezeigt. Und nun muß ich diesen Gipfelpunkt eines in Sorge und Mühe erkämpften Lebens missen, muß dieses Kleinod geistigen Vorwärtsstürmens all den Fährlichkeiten ausgesetzt sehen, die ein vaterloses Söhnchen in solch schwankender Zeit bedrohen. Oh, nicht um gieriges Einzelglück geht es da. Um die Bewachung eines unersetzbaren Schatzes handelt es sich, eines Schatzes, den das arme deutsche Land heute und überhaupt notwendiger braucht als je. Denn was haben wir bis jetzt geleistet in Dichtung und Philosophie, was uns anderen Völkern und Nationen gleichwürdig an die Seite brächte? Aber selbst solche Klage ist fruchtlos. Meine Zeilen hier werden den Ablauf der Vorsehung nicht ändern. Nicht zu meinen Gunsten, nicht zum Schaden Deutschlands. Trotz aller Demut jedoch sei gesagt, daß kaum ein Schmerz furchtbarer ist als das Wissen, ein solches Kind der Ungewißheit einer gärenden Zeit zu überlassen. Gott und andre mögen ihn, den auserwählten Gottfried Wilhelm, an Stelle seines, ach, so bald auf Erden ohnmächtigen Vaters, bewachen und dorthin führen, wo er nach allem Anschein seinen Platz und seine Sendung hat.«

Nur noch einige Worte vom 1. September 1652:

»Gott hat mich begnadet und mir ein Ende ohne Qualen beschieden. Ich werde in wenigen Tagen hinüberschlummern in die Ewigkeit. Amen.«

Und nun blieben die Blätter weiß. Denn der Tod des Vaters, das wußte der Knabe, hatte ihn schon vor der Zeit, die jeder vermutete, am 5. September 1652 hingerafft.

Zuerst wollte allmächtiges, aufquellendes Schluchzen den Knaben überwältigen. Dann aber war plötzlich so klare und lichte Ruhe in ihm, als ob der Vater neben ihm stände, ihm über den Kopf gestrichen und gesagt hätte: »Ich weiß es jetzt besser. Sei nicht traurig, Kind. Es mußte so sein. Denn ich bin jetzt du und du bist mein Ich. Ich mußte fortgehen, damit du ein Vater werden könntest, schon jetzt, schon als Knabe. Ein Vater in der höchsten Bedeutung des Wortes. Bewacher aller, Führer allen, verantwortlich Gott und den Menschen. Die Worte, die ich dir jetzt sage, werden dir entschwinden. Denn sie waren nicht von deiner Welt, in der du wirken sollst. Aber als dunkles Gefühl werden sie dich nun begleiten, da sie dich schon im Anblick des zerstörten Landes erfaßt haben. Tolle, lege, mein Kind! Nimm und lies, wie es eine Stimme einst dem heiligen Augustinus aus dem Nebenhaus zurief. Eine Stimme, die ihn, da er eben das Evangelium aufschlug, auf den rechten Weg leitete. Und noch einmal, sei nicht traurig. Denn du bist ich und ich bin du und nichts ging mir verloren, was ich fürchtete, als ich es noch schlechter wußte.«


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