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Neuntes Kapitel

Rheinfahrt

Je länger die Fahrt dauerte, desto weniger bereute Leibniz, sich dem sanften Gleiten des Rhein-Kahnes anvertraut zu haben. Er hatte sich zu dieser Art von Reise sehr plötzlich entschlossen, als er Straßburg verließ, um wieder nach Mainz zurückzukehren.

Es war ein begnadeter Herbstnachmittag des Jahres 1671 und die ganze Luft war buchstäblich voll von Gesang. Aber nicht nur von Gesang. Eine selige Stimmung, wie sie vielleicht nur den Weinlesetagen an den Ufern großer Ströme eigentümlich ist, durchwogte alles; durchwogte die grellen Farben des rot und gelb werdenden Laubes, die klare Sicht, die scharfen Umrisse der stufigen Hügel und Berge und die all ihre stolze Vergangenheit und trotzige Gegenwart vermeldenden Burgen.

Der Kahn war groß und flach, und man hatte Leibniz einen bequemen Sessel und ein Tischchen auf das Verdeck gestellt, so daß er auf die Schiffsknechte, die gleichmäßig und gar nicht hastig ihre Ruder durch das schäumende Wasser zogen, herabsehen konnte.

Man hatte eben vor etwa einer Stunde bei einem Dörfchen angelegt und hellen Wein und süßen trüben Most an Bord genommen. Noch ein Grund für die Insassen des Kahns, die Stimmung des festlichen Rheines sozusagen als Beteiligte verstehend mitzugenießen.

Und trotzdem war, für Leibniz wenigstens, gleich neben der Freude und der Hingabe an den frischen Luftstrom, der über dem Wasser wehte, ein wenig Wehmut und Sorge. Nicht etwa aus unmittelbarem Anlaß. Nein, viel mehr als naturgemäßes Grenzbewußtsein eines fast restlos glücklichen Menschen und als Ahnung, daß Höhepunkte so leicht von Tiefen abgelöst werden. Noch mehr aber als diese gewöhnlichen Stimmungsmischungen war es die Besessenheit des Geistes, die selbst diese wenigen Stunden gleitender Ruhe als Untätigkeit mit schlechtem Gewissen durchsetzte.

Das war zuerst der unmittelbare Anlaß seiner Reise. Im Auftrage seines Gönners Boineburg hatte er dessen Sohn Philipp Wilhelm, der in Straßburg studierte, besucht, um ihn zu kontrollieren und sachte in die Wege zu leiten, die der Vater für den Sohn wünschte. Vielleicht zum erstenmal im Leben war Leibniz bei diesem halben Knaben auf einen Charakter getroffen, der an Härte und Dämonie seinem eigenen in die Nähe kam. Ja, noch mehr. Er war selbst fast stärker unter den Einfluß des jungen, hochfahrenden Boineburg geraten, als dieser unter seinen. Nicht äußerlich. Der Jüngling wußte genau, daß er sich fügen mußte, und wollte bei seinen ungeheuren Talenten sich durchaus nicht in das Genußleben eines durchschnittlichen Höflings verlieren. Aber er wollte trotzdem leben. Und da war Leibniz zum erstenmal in eine Liebe verstrickt worden. Vielleicht hatte ihm der frühreife Jüngling nur beweisen wollen, daß es neben Gelehrsamkeit und Geist auch noch andres auf der Welt gab. Jedenfalls war das kleine Abenteuer, wenn man alles erwog, vom jungen Boineburg wie an geheimen Fäden gelenkt worden.

Als jetzt Leibniz wieder den Gesang von den Rheinufern herüber wehen hörte, als er das Glas an den Mund führte und zwischen den Weingärten bunte Menschen sah, die sich im Reigentanz bewegten, wußte er, daß dieses vorüberhuschende Erlebnis in Straßburg, diese dunklen weichen Augen, dieser feuchte rote Mund und die schlanken Mädchenglieder, die er für einen Augenblick gefühlt hatte, ihm zu keiner Erweckung oder Veränderung geworden waren. Auch Sehnsucht oder Schmerz begleitete die Erinnerung nicht. Dankbarkeit war in ihm, Freundschaft für das Linde, Gütige, das da über seinen Weg gekommen war. Aber nichts wirklich Aufwühlendes. Höchstens das Bewußtsein größerer Einsamkeit. Und er lächelte vor sich hin. Jenes wissende, bejahende Lächeln, das seine Feinde so oft als Spottlust, Hochmut oder Unglauben auslegten, das aber nichts andres war als Erfülltheit und Harmonie. Gleichzeitig jedoch das Einbekenntnis, daß er aus Pflicht gegen die höchsten Bereiche in gewissem Sinn über dem Leben stand. Nicht anmaßend. Nein, demütig und schuldbeladen, da er weniger dadurch zu tragen hatte als die leidenschaftlich Verblendeten.

Seine Gedanken wanderten zu den Boineburgs zurück. Viel, allzuviel hatte sich zugetragen, seit er, vor fast vier Jahren, in Nürnberg den edlen »Fremden« getroffen hatte. Für Boineburg und für ihn war viel an Schicksal vorbereitet gewesen seit jener Zeit, die ihm heute schon erschien wie ein Kindheitstraum.

Zuerst das Auf und Ab der Beziehungen des Patrioten und Staatsmannes zum Erzbischof Philipp von Schönborn. Jenes sonderbare Verhältnis, stets überschattet von den Einflüssen aus Frankreich. Kurz, nachdem Leibniz mit dem Exminister Boineburg aus Nürnberg in Frankfurt eingetroffen war, hatte eine feierliche Versöhnung zwischen dem gekränkten Boineburg und dem Erzbischof stattgefunden, dadurch besiegelt, daß der Neffe des Kurfürsten, der Obermarschall von Schönborn, die älteste Tochter Boineburgs geheiratet hatte. Und nun schien auch innerlich sich die Versöhnung zu vertiefen. Denn der Kurfürst hatte sich zu den deutschen Gedanken Boineburgs bekehrt und spann nach allen Seiten Fäden für eine Verteidigungsallianz gegen Frankreich. Boineburg war mit Leibniz nach Mainz übersiedelt. Seine Gesinnung für Deutschland war keine andre geworden. Aber er hatte plötzlich eingesehen, daß die Kräfte Frankreichs ungleich stärker wuchsen als die Widerstandskraft Deutschlands. Und er wußte, daß der Ehrgeiz des französischen Königs unersättlich war. So wollte er den Zeitpunkt der Entscheidung hinausschieben und begann, zur Loyalität gegen Frankreich zu raten. Worüber der Kurfürst, der sich mühevoll zu Boineburgs ursprünglichen Plänen durchgerungen hatte, entsetzt war und neuerdings Boineburg beargwöhnte.

Alle Phasen dieses Auf und Nieder hatte Leibniz miterlebt. Vom Bibliothekar Boineburgs in Frankfurt war er in den dreieinhalb Jahren zuerst zum Vertrauten, Sekretär und Anwalt des Ministers aufgerückt, bis er selbständig zweimal durch aufsehenerregende Denkschriften über die polnische Königswahl und über die Sicherheit des deutschen Reiches das Interesse Europas auf sich gelenkt hatte. In rasender Arbeit suchte er mit allen Größen des geistigen Europa in Fühlung zu kommen, regte die Neugestaltung des juristischen Unterrichtsganges an, erfand Linsen, mit denen man die Entfernung messen konnte, schrieb darüber an Spinoza, über andre Dinge an Hobbes und an den großen Conring, bekämpfte Descartes, die Scholastiker und die Freigeisterei, die auf allen Ecken und Enden aufzukeimen begann, reichte tiefgründige physikalische Untersuchungen in London und Paris den Akademien ein – und erhielt meistens keine Antwort.

Schließlich war er mit vierundzwanzig Jahren, noch dazu als Protestant, zum Rat im Kurmainzischen Oberrevisions-Kollegium, dem obersten Gericht des Kurfürstentums, ernannt worden. Und wußte im tiefsten, daß ihn nur seine merkwürdige Abgeklärtheit davor bewahrte, dem Wahnsinn zu verfallen. Da diese Abgeklärtheit weder klares Wissen noch inneres Alter, sondern im tiefsten Grund eine Art von jugendlichem Leichtsinn war. Seine riesigen Geisteskräfte nahmen die Dinge trotz stärkstem Verantwortungsgefühl nicht anders als ein Spiel höherer Ordnung. Und er wollte auch gar nicht darüber klar werden, daß es kein Spiel, sondern furchtbarer Ernst war, was er trieb.

Dafür, fast zur Rache für seinen olympischen Leichtsinn, schoß plötzlich der Ernst aus einer andren, dunkleren Region seines Wesens an die Oberfläche.

Er hatte lange Zeit mit den Schiffsknechten geplaudert. Hatte zu erforschen gesucht, was diese schlichten Menschen über Gott und über den Lauf der Welt dachten. Und war erstaunt gewesen, wie fast alle Fragen, die die höchste Gelehrsamkeit durch die Jahrhunderte beschäftigte, hier in knappen, klaren Formeln ausgesprochen wurden.

Durch diese Erkenntnis des Wertes einfachster Menschen aber wurde er wieder auf die grauenvolle Verantwortung der Herrschenden hingestoßen, die nur zu leicht den Ausdrucksmangel des Volkes mit Gefühlsmangel verwechseln und dadurch geneigt sind, die Leiden des Volkes als Leiden minderer Art anzusehen. Und dieser Schluß und die Heiterkeit um ihn herum zwangen ihn schließlich, auf ein Blatt Papier sich zur Erinnerung an diese zwiespältigen Gefühle folgende Sätze zu notieren:

»Ich hatte beschlossen, von Straßburg nach Mainz mit einem Kahn hinunterzufahren. Denn es war zu einladend, statt ermüdender Wagenreise, diese anmutigste Fahrt zu unternehmen. Man hätte geglaubt, daß selbst die Hügel in der über den Erdkreis ausgegossenen Ruhe vor Freude mittanzen würden, während ringsum die Nymphen des Schwarzwaldes den Reigen führten. Aber gleich wie oft der Tiere Ausgelassenheit eine Änderung des Wetters anzeigt, und die freien Spiele der Delphine als Vorzeichen des Sturmes gelten, so scheint Deutschland heute des bald einzubüßenden Friedens zu übermütig genießen zu wollen. Und der Rhein, der König der Flüsse, scheint sich, als ob er dunkle Zukunft ahnte, noch der nicht lange mehr währenden Freiheit zu freuen. Vielleicht wird er, bald von gewaltigen Heeren eingezäumt, bald durch Furten besudelt, bald unter das Joch von Brücken geschickt, nur mehr mit Seufzern dieser verlorenen Glückseligkeit gedenken. Doch ich will von diesen unangenehmen Vorstellungen meinen Geist abwenden. Und versuchen, ob nicht mein Verstand ein Mittel ersinnen könnte, den Rebenhügeln und den bunten Winzern ihr kleines harmloses Glück zu erhalten.«

Leibniz war aufgestanden, da ein kühler Abendwind zu wehen begonnen hatte. Das Papier hatte er schnell zusammengefaltet und zu sich gesteckt. Dann aber war es einige Augenblicke schmerzlich leer in seinem Innern. Doch nur sehr kurze Zeit. Denn plötzlich schoß, halb unklar, ein riesenhafter Plan in den Mittelpunkt seines Denkens, wie Brettsteine schob er die Staaten Europas durcheinander, sann, grübelte, schrie innerlich auf, knirschte mit den Zähnen und ballte unsichtbar die Faust. Form mußte dieser Gedanke werden, klare unwiderstehliche Form.

Warum glitt der Kahn so träge dahin? Legt euch in die Ruder, Knechte! Es geht um euer Leben. Um unser aller Leben. Um Deutschland, um den Rhein, um die Zukunft!

Noch einmal riß er den Zettel heraus und schrieb zwei Worte: »Consilium Aegyptiacum.« Geheimnisvoll dieser »Ägyptische Ratschlag« wie die Hieroglyphen.

Dann aber sank er in den Sessel zurück, stürzte ein Glas Wein hinunter, und es dauerte nicht lange, bis er wieder die liebliche Gegenwart der Rheinufer genoß.


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