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Fünfundvierzigstes Kapitel

Die große Herzogin

An einem herrlichen Morgen zu Ende April betrat Leibniz nach längerer Zeit wieder das Schloß Herrenhausen. Ein sonderbares Gefühl hatte von ihm Besitz ergriffen, als er die ihm so vertrauten Treppen hinanstieg. Er konnte es noch immer nicht begreifen, daß er nicht in wenigen Minuten dem Herzog Johann Friedrich gegenüberstehen würde. Noch sonderbarer aber war seine Stimmung dadurch, daß er nicht etwa vom neuen Herzog berufen worden war. Der weilte noch in Osnabrück. Nein, die Gemahlin des Herzogs, die große Herzogin Sophie, hatte ihn für heute dringend zu sich beschieden.

Im leeren Empfangssaal, in dem er längere Zeit vergeblich wartete und dessen Leere von der grundstürzenden Änderung aller Dinge sprach, ging er, als die erste Viertelstunde schon verstrichen war, auf und nieder.

Diese Monate, die hinter ihm lagen, waren nicht nur für ihn unsicher und qualvoll gewesen. Kaum einem der Würdenträger und Beamten Hannovers war es besser ergangen. Zuerst noch eine Betäubung und ein Abschluß der Herrschaft Johann Friedrichs: das solenne Begräbnis, die Totenfeier, die ihresgleichen suchte an Prunk und Pracht. Ernst August hatte anscheinend in dieser Totenfeier alles tilgen wollen, was die welfischen Brüder im Leben getrennt hatte. Und Leibniz war eben bei diesem düsteren Anlaß in den Vordergrund gerückt worden. Denn ihm war die Aufgabe zugefallen, die große Rede zu verfassen, die nach uraltem Brauch der Hofpfarrer zu sprechen hatte. Nach Welfensitte war diese Rede weit mehr als eine bloße Form. Sie war, wenigstens bisher, stets ein Totengericht, ähnlich dem berühmten Gericht über die verstorbenen altägyptischen Könige gewesen. Eine Aufzählung aller guten, hohen, aber auch aller schlechten und verderblichen Taten des Verstorbenen. Und sollte dem Nachfolger auf dem Throne eine ernste und eindringliche Mahnung sein, die künftige Regierung so zu gestalten, daß er diesen Nachruf nicht zu fürchten hatte. Nun hatte das Volk wohl noch gegen keinen anderen Herrn so vernichtende Anwürfe erwartet wie eben gegen Johann Friedrich. Nicht weil er als Herzog und Landesherr etwa Schuld auf Schuld gehäuft hätte. Er war ja ein milder und gerechter Fürst gewesen. Aber man war überzeugt, daß es der protestantische Hofpfarrer sich nicht entgehen lassen würde, dem von seinem Standpunkt aus Abtrünnigen ein gräßliches »Wehe« in das Jenseits nachzurufen. Um so mehr, als, wie alle glaubten, auch die feindlichen Brüder in solcher Richtung auf den Nachruf Einfluß nehmen würden. Aber nicht nur der gemeine Mann, auch Leibniz und Grote hatten Ähnliches befürchtet. Und eben diese von Leibniz dem Abt Molanus gegenüber geäußerte Besorgnisse hatten vielleicht dazu beigetragen, jede Gefahr des »Totengerichtes« zu bannen. Denn Leibniz hatte recht unvermittelt im Namen Ernst Augusts den Auftrag erhalten, »nach eigenstem Ermessen« die Gedächtnisrede zu verfassen. Leibniz hatte die tiefste Absicht dieses Befehles sofort verstanden. Von ihm wußte man, daß er ein wahrer und treuer Freund des Verewigten war. Von ihm setzte man auch voraus, daß er, als Mitglied des Union-Ausschusses, eine Kluft zwichen den Bekenntnissen nicht anerkennen würde, ja nicht einmal anerkennen durfte. Und von ihm erwartete man kaum, daß er sich durch liebedienerischen Eifer beim neuen Herzog einschmeicheln wollte, um so weniger, als eben dieser neue Herzog strikte erklärt hatte, daß alle Anordnungen und Maßregeln des Verstorbenen vorläufig unangetastet bleiben sollten. Leibniz hatte also in der Gedenkrede nur den willkommenen Anlaß gesehen, sich voll und ganz zum Toten zu bekennen, ihm ein würdiges Denkmal zu setzen und lieber zuviel als zuwenig zu sagen. Wenn sein Konzept Anstoß erregte, dann sollte es Anstoß erregen! Dann war um so schneller sein Verhältnis zum neuen Herzog geklärt. Dann würde er eben Hannover den Rücken kehren. Es erfolgte aber nichts irgendwie Verstimmendes. Im Gegenteil. Ernst August ließ ihm mitteilen, die Rede entspreche durchaus seinen eigenen Gefühlen und er befehle, daß sie Wort für Wort durch den Hofprediger gesprochen werde.

Dann aber, als der große Welfe Johann Friedrich nach all den Wirrsalen, nach allen feierlichen und aufwühlenden Zeremonien, endlich zur Zeit des Karnevals, den er hatte in Venedig verbringen wollen, in der Gruft die endgültige Ruhe gefunden hatte, war ein Leerlauf der Staatsmaschine eingetreten, den allerdings hauptsächlich alle die fühlten, die bisher die entschiedene Hand Johann Friedrichs gewohnt gewesen waren. Wieder hatte Ernst August ein um das andere Mal betont, es sollte nichts geändert erden. Vorläufig. Er sei noch nicht imstande, persönlich einzugreifen. Allerdings würde er, wenn er einmal so weit wäre, grundstürzende Neuerungen durchführen müssen, die nicht etwa als Desavouierung des Toten, sondern nur als Anpassung der Staatsführung an geänderte Verhältnisse aufgefaßt werden dürften. Alle hatten trotzdem sogleich gewußt, was das hieß. Es war eine unausgesprochene Drohung, die eigentlich jeden ohne Ausnahme bedroht hatte. Und dieser qualvolle Zustand hatte bis heute angedauert und würde auch wahrscheinlich noch lange andauern. Denn vorläufig war bloß die Herzogin für kurze Zeit in Hannover eingetroffen.

Die Herzogin! Leibniz ging noch immer im Vorsaal auf und nieder. Nichts regte sich weit und breit. Spukhaft war diese Stille. Keine Hofbediensteten eilten umher, keine Bittsteller, keine stolzen Würdenträger warteten flüsternd auf den großen Augenblick der Audienz, wie noch vor wenigen Monaten, als er hier zum letzten Male eingetreten war. Schloß Herrenhausen schien ausgestorben zu sein. Was konnte die Herzogin von ihm wünschen? Wozu hatte sie ihn in so dringlicher Form vor Grote und allen anderen Würdenträgern zu sich beschieden? War er vielleicht doch nicht nur der »jüngste Hofrat« für die neuen Herrscher? Aber gleichgültig. Er hatte bewußt allen Ambitionen, die mit der Vorsilbe »Hof« zusammenhingen, abgeschworen, um Leibniz zu werden. Nichts als Leibniz! Wenn sein tiefster Drang auch stets den Dionysius von Syrakus suchte, um den Idealstaat verwirklichen zu können. Bei jeder anderen Fürstin hätte er sich weiter kaum Gedanken gemacht. Man lebte ja in der Zeit der Preziösen. Und eine Herzogin konnte ganz gut die Laune haben, für eine Stunde das ebenso gepriesene wie verleumdete Wundertier Leibniz zu sehen. Auch für eine Herzogin war es verlockend, ihren Schwestern oder Schwägerinnen in gedrechselten französischen oder gar lateinischen Sätzen schreiben zu können, der berühmte Herr Leibniz habe eine Stunde mit ihr geplaudert und sie habe ihn durch Einwürfe, Fragen und selbständige Ansichten mehr als einmal zum Aufhorchen gebracht. Ja, Herr Leibniz sei sogar durch dieses Gespräch zu neuem Schaffen angeregt worden. Er habe es ausdrücklich gesagt. Bei Gott und beim Kruzifix. Und es hätte auch nichts geschadet, wenn sich die Briefempfängerin, die vielleicht zufällig eine Spötterin war, dabei einiges gedacht und es am Abend ihrem Galan mitgeteilt hätte. Etwa: »Mon Dieu, was in aller Welt hätte denn dieser arme Monsieur Leibniz reden sollen, ohne seine Stellung zu gefährden? Er mußte sich doch angeregt fühlen, ob er nun wollte oder nicht. Du kennst meine Schwägerin. Sie verträgt alles, nur nicht die Wahrheit. Nämlich, daß sie eher eine Gans als eine Philosophin ist.«

Solche Möglichkeiten nun waren bei der Herzogin Sophie nicht einmal in Betracht zu ziehen. Denn sie war nicht nur die Tochter des unseligen Winterkönigs und der Elisabeth von Stuart, hatte nicht nur das Blut dieser beiden stolzen Königsgeschlechter in ihren Adern, sondern sie war darüber hinaus noch eine Philosophin und eine Spötterin, stammte durch ihre Schwester Elisabeth gleichsam aus dem engsten Kreise des Cartesius; und hatte auch als Frau ein Leben hinter sich, das ihre Seele ebensosehr geformt als verhärtet hatte. Und sie hatte in tiefste Abgründe menschlicher Verwirrungen geblickt. Zum allerletzten rühmte man ihr nach, sie sei an rein politischem Instinkt beinahe allen Herrschern Europas, den Sonnenkönig nicht ausgenommen, ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen.

Diese Frau also hatte sicherlich nicht ohne Zweck und bestimmte Absicht den jüngsten Hofrat und das Wundertier Leibniz vor Ludolph Hugo, vor Podewils, vor dem Grafen Platen und vor Otto von Grote zu sich beschieden; da eben diese Frau auch genau wußte, daß eine solche Berufung nicht verborgen blieb und bei den anderen Würdenträgern allerlei Gefühle des Neides oder der Zurücksetzung erzeugen mußte.

Trotzdem, und das war Leibniz einigermaßen rätselhaft, empfand er gegen die »Auszeichnung« heftige Abwehr. Irgendwo in seiner Seele regte sich eine durch nichts zu bannende Sorge, daß ihn eben diese Bevorzugung, von der er übrigens noch gar nicht wissen konnte, ob sie eine Bevorzugung bedeutete, von seinen neuen Zielen abziehen und ihn endgültig in widriges Schicksal verstricken würde. Obwohl er sich ohne Zweifel und ohne Reserve geistig zu dieser Frau hingezogen fühlte und sich für die Begegnung ungewöhnlich interessierte. Vielleicht ebendeshalb.

Zeigte Herzogin Sophie ihm auch schon rein äußerlich dadurch die Distanziertheit einer Königstochter, daß sie ihn hier in diesem verzauberten leeren Saal warten ließ? Wo er keine Möglichkeit hatte, die Audienz zu beschleunigen? Denn er konnte ja weder weiter vordringen, noch auch den Raum verlassen, da die angesetzte Stunde schon reichlich überschritten war.

Es vergingen noch gut zehn Minuten, in denen er, zunehmend verstimmter, auf und nieder schritt. Und erschrak fast, als atemlos ein Kavalier der Garde hereinstürzte und übersprudelnd meldete:

»Ihre Hoheit ist untröstlich, daß durch ein unentschuldbares Versehen Herrn Hofrat nicht schon unten am Tor mitgeteilt wurde, daß Ihre Hoheit sich im Park befinden und dort auf Herrn Hofrat warten. Hoheit läßt also bitten, sich hinaus zubemühen.«

»Danke, Herr von Hammerstein, ich komme sogleich«, erwiderte Leibniz und ging schon zur Türe.

Auf dem Weg aber bestürmten ihn neue Gedanken. So sicher also war die Herzogin ihrer persönlichen Macht, daß sie bewußt auf die Folie eines Audienzzimmers und auf die dadurch erzeugte zeremonielle Beengung des Besuchers verzichtete und dem Besucher irgendwo im Park als Frau entgegentreten wollte? Gleich das erste Mal? Denn Herzogin Sophie wußte auch um solche Subtilitäten. Wollte nicht bloß den schönen Morgen genießen. Oder wollte sie ihn doch nur genießen und dazu ganz nebenbei ein paar Worte mit dem Wundertier Leibniz sprechen. Unverbindliche, unpreziöse Worte? Wie man etwa in einer fremden Stadt eine Skulptur betrachtet, von der man irgendwann gehört hat und die einem nur deshalb wichtig ist, weil man zufällig in diese Stadt geriet?

Er würde jetzt bald alles erfahren. Denn er schritt, geführt von Herrn von Hammerstein, schon über den glatten Kies der Parkwege.

Unvermittelt standen sie vor der Herzogin, die aus einer Seitenallee herausgetreten war und nun vollständig formlos auf sie zukam.

Leibniz war unwillkürlich stehen geblieben und verbeugte sich zeremoniell. Dann blickte er der Herzogin ohne innere Hemmung entgegen.

Sein Eindruck stimmte zu allen Erzählungen, die er bisher gehört hatte. Sophie war eine ebenso hoheitsvolle als anziehende Erscheinung. Groß und schlank. Und die bald Fünfzigjährige zeigte durchaus keine Anzeichen des Alters. Sie war in tiefschwarze Seide gekleidet, und auch der hohe durchbrochene Spitzenkragen, der aufrechtstehend ihren Kopf und Hals umrahmte, war schwarz. Ihr Antlitz war schmal und etwas bleich. Die Augen jedoch sprühten und schillerten in einem seltsamen Feuer, in dem sich von Sekunde zu Sekunde der Ausdruck des Leuchtens steigerte oder dämpfte.

Die Herzogin reichte Leibniz sogleich die Hand, die er ehrfürchtig küßte, und verabschiedete Herrn von Hammerstein mit einem freundlichen Kopfnicken. Dann sagte sie in freiem, ungekünsteltem Ton:

»Wir wollen lustwandeln, wie man so schön sagt, Hofrat Leibniz. Ich verstehe die Peripatetiker. Der gemeinsame Spaziergang ist vielleicht die abstrakteste Form, sich zu unterhalten.

Jeder spricht vor sich hin ins Leere. Und dabei werden Dinge offenbar, die sonst ungesprochen blieben. Gleichsam ein paralleler Monolog. Besonders empfehlenswert für erste Begegnungen starker Partner.«

»Ein Beginn, Hoheit, der mich ungemein ehrt«, erwiderte Leibniz. »Und es ist nicht einmal die Galanterie, die ich der großen Dame Sophie schulde, wenn ich sofort ausspreche, daß ich mich auf dieses erste Zusammentreffen stets besonders freute. Wenn es auch rein sachlich vielleicht eine tiefe Enttäuschung für Eure Hoheit bedeuten kann. Dafür will ich vorweg um Verzeihung bitten.«

Die Herzogin lachte leise auf.

»Das waren keine Phrasen, mon cher«, sagte sie dann gedämpft und nachdenklich. »Durchaus keine Phrasen. Es war persönliche Liebenswürdigkeit, vermischt mit verhüllten Drohungen. Doch wir wollen jetzt anders sprechen. Mir ist es bekannt, daß Leibniz einmal eine Schrift über die Kunst der Kombinatorik geschrieben hat. Und Herrn Leibniz ist es bekannt, daß ich, wo nichts andres, die Schwester Elisabeths, der Mitarbeiterin des Descartes, die Schwester der geistvollen Künstlerin Henriette Maria und schließlich die Schwester der genialen tollen Louise Hollandine von Maubuisson bin. Wozu also Plänkeleien? Sie, lieber Leibniz, wissen ebensogut wie ich selbst, daß ich Sie nicht vor allen anderen Würdenträgern Hannovers zu mir gebeten habe, um Ihnen einen guten Morgen zu wünschen.«

»Auch das hätte mich geehrt. Da es mir die Hoffnung auf weitere geistige Beziehungen gegeben hätte.«

»Sie gleiten aus, Leibniz. Man behauptet, es wäre Ihre Art oder besser Ihre Unart.«

»Man verleumdet mich mit Vorliebe, Hoheit.«

»Jeder nennt berechtigte Kritiken Verleumdung. Auch ich, Leibniz. Ich sogar besonders gern. Es geht allen Leuten so, die riesige Ziele haben. Weil solche Menschen sowohl die Kritiklosigkeit als die schlechten Eigenschaften brauchen. Es gibt da anscheinend notwendige Zusammenhänge.« Die Herzogin machte eine Pause. Dann sagte sie betont: »Es ist mir bekannt, Leibniz, daß Sie uns verlassen wollen. Ich begreife es. Obgleich es mir durchaus nicht ins Konzept paßt.«

Leibniz horchte auf. War das Zustimmung zu seinen Plänen oder war es Werbung? Der letzte Satz sprach fast für den Willen der Herzogin, ihn um jeden Preis hier in Hannover zu halten.

»Hoheit haben die Güte, meine Lage zu begreifen«, antwortete er langsam. »Ich leugne auch nicht, Versuche gemacht zu haben, meinen Wirkungskreis anderswohin zu verlegen. Ich habe aber durchaus keine vorgefaßten Meinungen. Ich weiß nur nicht, wie weit die Art meiner bisherigen Tätigkeit sich in den Rahmen der beabsichtigten Regierungsmaßnahmen des Herzogs einfügen kann. Denn als bloßer Hofrat zu dienen, wäre nach meiner wahrscheinlich sehr unbescheidenen Ansicht Verrat an meinem Volke.«

Die Herzogin blieb einen Augenblick stehen und blickte Leibniz mit einem Ausdruck ins Gesicht, der zwischen Spott, Zärtlichkeit und Zorn schwankte. Dann sagte sie:

»Sie sind also wenigstens nicht ganz abgeneigt, hoher Herr Leibniz, mit mir zu sprechen. Gut, abgemacht. Also beginnen wir die Verhandlungen. Aber wieder peripatetisch.« Und sie ging schon ziemlich schnell weiter.

»Einer Frau wie Eurer Hoheit darf ich nicht anders entgegentreten. Ich darf mich auch für meine ungewöhnlichen Worte nicht entschuldigen. Ich bitte daher Eure Hoheit, mir alle Wünsche bekanntzugeben, die für mich Befehle sein werden, wenn sie mit meiner Verantwortung gegen meine Nation vereinbar sind.«

»Ja, wenn und wenn und wenn! Lieber Leibniz, ich habe von vornherein gewußt, daß die Königstochter Sophie heute einen Bittgang zu machen hat. Und daß es sich nicht um Gehaltsaufbesserungen oder Titel handelt. Sie zwingen mich, auch das habe ich vorausgesehen, meine Vorzüge und die Vorteile des neuen Hannover anzupreisen wie ein fahrender Händler. Bitte, Herr Leibniz! Ich werde es ohne Scheu tun. Einem Herzog gegenüber würde ich es nicht tun. Denn es gibt darüber noch Kurfürsten, Könige und Kaiser. Leider aber gibt es in geistigen Bereichen über gewissen Leuten keine höheren Ränge. Wenn sie auch erst Mitte der Dreißig und reichlich unfreundschaftlich sind. Haben Sie das ordentlich gehört, Leibniz?«

»Ich habe es gehört, Hoheit. Und mir ist der bittere Ton dieser Worte ungemein schmerzlich. Ich glaube aber, daß auch Eure Hoheit das Gesamtwohl Deutschlands und eine vielleicht eingebildete innere Berufung höher stellen als jede persönliche, noch so berechtigte Verstimmung. Noch einmal, Hoheit. Mein ›wenn‹ ist keine Laune, keine Ziererei, sondern ein Befehl Gottes.«

»Gut, Leibniz. Wir wollen vorläufig diese Hypothese gelten lassen. Und ich bin stolz genug, mit dem Persönlichsten zuerst zu beginnen. Ich biete Ihnen für Lebenszeit meine unwandelbare Freundschaft an, wenn Sie bei uns bleiben. Jetzt keine Antwort. Das ist kein Sentiment. Das ist eine klare Zweckgemeinschaft. Mein Gatte, der Herzog, weiß von meinem Schritt bei Ihnen. Er versteht mich zwar nicht recht, hat aber nichts dagegen. Dies, weil ich aufrichtig sein will. Freundschaften nehme ich ernst. Auch Feindschaften.«

»Eine Drohung, Hoheit?«

»Nein, keine Drohung. So unlogisch bin ich nicht, Leibniz. Ich versprach ja eben vorhin, Sie zu überzeugen. Ein erzwungener Leibniz ist nicht der Leibniz, den wir brauchen. Und nun hören Sie: Ich nehme an, Ihrer Berufung nach Wien stände nichts im Weg. Warum gehen Sie nach Wien? Sicherlich nicht allein des Bücherstaubes wegen. Sie sind kein Bücherwurm, Leibniz, alles weniger als ein Stubengelehrter. Sie gehören jener zweiten Kategorie von Raufbolden an, die Tag und Nacht gegen irgend etwas Sturm laufen. Mein Gatte wieder rangiert in die erste Kategorie. Nämlich in die Kategorie, die wirklich das Schwert führt. ›Geistiges Schwert‹ klingt lächerlich. Man müßte für Raufbolde Ihrer Art ein neues ebenso unpreziöses wie bezeichnendes Wort ersinnen. Kurz, Sie gehen nach Wien, um hinter dem Deutschen Kaiser mit allerlei diplomatischen und staatsrechtlichen Kanonen herauszuschießen und um das Gesicht Europas nach Ihrem Willen zu kneten. Auch darauf gibt es nichts zu antworten, Leibniz. Es ist einfach so. Nun hören Sie aber meine politischen Ansichten, bevor Sie uns Wien vorziehen. Gewiß, Wien ist herrlich, ehrwürdig, weltschwanger. Den Habsburgern steckt noch das Reich im Blut, in dem die Sonne nicht unterging. Und es wird über kurz oder lang sich mit Spanien Neues zutragen. Aber auch mit den Türken, Leibniz. Ich weiß da einiges. Meine Schwester ist die Gattin des Siebenbürgener Fürsten Rakoczy. Und was bin ich, Leibniz? Was ist unser armes, kleines Hannover? Nun, da gibt es, um in Ihrer mathematischen Sprache zu reden, Maxima und Minima. Das Minimum ist die Vergrößerung unsrer Macht durch die innige Freundschaft meines Gatten mit Georg Wilhelm von Celle.«

»Und das Maximum?« Leibniz war plötzlich in den Bann des harten Glaubens geraten, der von der Herzogin wie ein Fluidum ausstrahlte.

»Das Maximum?« Sophie lächelte ein wenig hochmütig. »Das ist nicht so schnell zu sagen. Weil sich dieses Maximum aus vielen Teilergebnissen zusammensetzt. Zuerst haben wir eine Schlacht von Fehrbellin erlebt. Kurbrandenburg ist eine Macht, die von Tag zu Tag aufsteigt. Und wir selbst werden auch Kurfürsten werden, da wir dem Kaiser unsre Truppen leihen wollen. Dieselben Truppen, die uns der arme Johann Friedrich als trauriges Vermächtnis einer zumindest undeutschen Politik hinterließ. Was folgt daraus? Wohl, daß sich der Schwerpunkt der Macht langsam nach Norddeutschland verschiebt. Und daß wir eine engere, wenn nicht engste Verbindung mit Kurbrandenburg anstreben werden. Ich habe eine Tochter, Leibniz. Eine Tochter, die dem Großen Kurfürsten mindesten ebenbürtig ist. Und hinter allem, lieber Leibniz, steht noch eine höchstpersönliche Eigenschaft meiner eigenen Person. Ich bin die Enkelin Jakobs des Ersten von England, bin eine vollbürtige Stuart. Und in England gilt das salische Erbfolgeprinzip. Vielleicht nehme ich als Königin von England Sie einmal auf die Insel hinüber, damit Sie mit Sir Isaac Newton zusammen die Vollendung der Mathematik und Physik besorgen. Aber jetzt keine Träume. Sie wollten das Maximum kennen, das ich zu bieten habe, wenn uns das Glück lacht – und wenn Sie selbst mithelfen, Leibniz. Es sind da doch vielleicht einige erstrebenswerte Dinge im Spiel. Und es wird ungeheure Aufregungen, ungeheure Kämpfe, geradezu planetarische Schachzüge und Intrigen geben, mon cher. Vielleicht auch Kampf, Blut und Ruinen. Denn in Ernst August und mir haben sich wohl die unruhigsten Stämme europäischer Herrscherhäuser die Hand zum Bunde gereicht. Und jetzt antworten Sie, Leibniz. Nicht endgültig. Aber doch wenigstens vorläufig.«

In Leibniz hatte schon die ganze Zeit, da die Herzogin sprach, sich ein Baum stärker und stärker um die Gedanken gelegt. Und dabei hatte Sophie den größten Trumpf noch durchaus nicht ausgespielt. Sie hätte ja sagen können, es sei von ihm geradezu Wahnsinn, für die Unsicherheit einer Berufung nach Wien eine förmliche Werbung Hannovers mit Bestätigung all seiner Rechte auszuschlagen: eines größeren, weit mächtigeren und vor allem deutscheren Hannovers. Gleichwohl aber setzte aus anderen Bereichen seiner Seele wieder die instinktive Abwehr ein. Gut, man lockte und köderte ihn jetzt. Würde man ihn aber nicht vielleicht, wenn man ihn sicher hatte, in rein dynastische Interessen einklemmen und ihn dadurch zum »Hofmann«, wenn auch noch so großen Kalibers machen? Und ihn dadurch seiner eigentlichsten Sendung entfremden? Über diesen Punkt mußte er Klarheit gewinnen, bevor er auch nur halb zustimmte.

»Eure Hoheit«, erwiderte er langsam, »haben ein großgeschautes Bild der europäischen Politik entrollt. Ich leugne nicht, daß es mich ungeheuer anzieht, in diesem Geflecht neuzuschaffender Ereignisse eine mittätige Rolle zu spielen. Trotzdem aber muß ich mich fragen, warum ein Souverän oder eine erleuchtete Herzogin, die einen Grote zu ihren willigen Dienern zählen kann, gerade auf einen Leibniz Wert legt. Und dazu noch zur Durchführung hochpolitischer Konzepte. Hier, Hoheit, das gestehe ich offen, stimmt etwas nicht in den Berechnungen. Ganz abgesehen davon, daß Hoheit mir nur sehr schwache Hoffnung auf ein Verständnis meiner Aufgaben durch den Herzog selbst machten.«

»Gut, daß Sie davon sprechen, Leibniz.« Der Ton der Herzogin war ein wenig ungeduldig geworden. »Ich sage gut. Obgleich ich mir nicht vorgestellt habe, so viel Widerstand bei Ihnen zu finden. Aber schließlich spielen einige Worte mehr oder weniger bei solch riesigen Dingen kaum eine Rolle. Ich weiß genau, wen wir an Grote haben, Leibniz. Aber unsre Sache liegt nicht so klar, daß wir einfach einen Staatsmann brauchen, wenn er auch ein europäisches Lumen ist wie Grote. Unsre künftige dynastische Entwicklung ist eine Angelegenheit subtilster Rechtskenntnis und Geschichtsforschung. Kein Mensch heute weiß ja noch, woher die Welfen kommen. Die Geschichte Hannovers bis zu den Ursprüngen ist noch nicht geschrieben. Da aber die Lösung der ›Maximumaufgabe‹ in einer Hand liegen muß, ist selbst ein Grote dafür untauglich. Zu dieser Rechnung brauchen wir eben den Juristen, Historiker und Mathematiker, den Weltmann und unanfechtbaren Gelehrten Leibniz. Und wenn Sie es noch dazu hören wollen: Es wird unsrem Ansehen in der Welt durchaus nichts schaden, wenn wir überall hin einen gewissen, sehr gewissen Leibniz, Mitglied mehrerer Akademien und Bahnbrecher auf entlegensten Geistesgebieten, senden können, den man im großen England ebenso fürchtet wie im großen Frankreich. Jetzt aber, verzeihen Sie, mon cher, wenn ich mit meinen Liebenswürdigkeiten und Selbstanpreisungen am Ende angelangt bin. Ich hasse Sie bereits ein wenig. Übrigens kommen dort meine Kinder. Wahrscheinlich sind sie auch neugierig auf den ebenso spröden wie unherzlichen Herrn Leibniz, der vielleicht einmal die Gnade haben wird, ihnen zu besserem Fortkommen unter den Herrschern Europas zu verhelfen. Wenn er nicht vorher ein neues ›wenn‹ ausklügelt.«

Es entstand eine kleine Pause. War der plötzlich hervorbrechende Zorn der Herzogin nur eine begreifliche Antwort auf seine Zurückhaltung, war er gar gekränkte Sympathie oder doch nur Herrschsucht? Jetzt aber durfte er nicht weiter kombinieren. Sonst konnte, gegen seinen Willen, das Gespräch zum sofortigen Bruch mit Hannover führen, einem Bruch, den er kaum mehr wollte. Nicht weil seine Bedenken zerstreut waren, sondern weil die klare Freundschaft dieser bedeutenden Frau in sein Leben plötzlich etwas merkwürdig Farbiges hineingetragen hatte. Und weil er überzeugt war, daß ein weiterer Verkehr mit der Herzogin ihm auch auf ganz anderen, rein menschlichen Gebieten einen Kosmos des Verstehens erschließen würde.

So sagte er schnell:

»Jetzt bitte ich um Verzeihung, Hoheit! Und zwar bitte ich die Herzogin um Verzeihung, die mir ihre unvergleichliche Freundschaft anbot. Um dieser Freundschaft willen antworte ich schon heute, daß ich meine Bewerbung in Wien zurückziehen werde, und daß ich vorläufig nicht daran denke, Hannover zu verlassen. Denn die Aufgaben, die man mir stellen will, scheinen doch nicht bloß einem Staatsmann Leibniz zu gelten, den es gar nicht gibt. Sie scheinen vielmehr einem ganz anderen ...« Er stockte plötzlich, da sich etwas Unerwartetes zugetragen hatte.

»Wir wollen dich bitten, hohe Mutter, mit uns auszufahren«, hatte der etwa zwanzigjährige Prinz Georg, der nahe an die Herzogin herangetreten war, mit überlauter Stimme, ohne Leibniz auch nur im mindesten zu beachten, dazwischengerufen. »Nicht wahr, Mutter, wir können darauf rechnen? Den Herrn da dürftest du ja schon abgefertigt haben. Er soll gehen, denn ich muß dir noch schnell einiges erzählen.«

Die Herzogin blickte den Prinzen starr an, und die zwölfjährige Prinzessin Charlotte, die noch einige Schritte entfernt war, erbleichte, da sie das Betragen des Bruders einfach nicht begriff.

»Hast du dich erkundigt, Georg, wer dieser ›Herr‹ da ist?« fragte die Herzogin schneidend. »Ich würde dich bitten, es das nächstemal nicht zu versäumen.«

»Es ist mir gleichgültig, wer er ist. Bei allem Respekt, Mutter. Ich bin es nicht gewohnt, einen Tadel vor irgend einem Hofbeamten einzustecken«, keuchte der Prinz, dessen Gesicht purpurrot geworden war.

»Deine unglaubliche Antwort ignoriere ich. Es ist Herr Leibniz. Mäßige dich, Georg!«

Da lachte der Prinz auf.

»Leibniz?« höhnte er. »Was sagt mir das? Ich habe den Namen nie gehört.«

»Sie werden ihn vielleicht noch einmal hören, Prinz«, fiel Leibniz, der fast die Beherrschung verlor, ein. »Bestimmt aber nicht als den Namen ›irgend eines Hofbeamten‹ in Hannover.« Er wendete sich an die Herzogin: »Hoheit verzeihen, wenn ich nach dieser Zukunftsprobe meinen Entschluß rückgängig machen muß. Ich bitte um Entlassung aus dem Dienst Hannovers.«

»Tun Sie, was Ihnen beliebt!« schrie der Prinz dazwischen.

Die Herzogin aber blitzte ihn unvermittelt mit solch einem furchtbaren Blick an, daß er sich schüttelte und plötzlich unsicher und befangen dastand.

»Nun, Georg?« fragte Sophie mit sonderbar belegter Stimme. »Weißt du vielleicht, was du jetzt eben vollbracht hast? Ich werde es dir als Rehabilitation eines der größten Geister Deutschlands deutlich sagen. Du hast mit deiner maßlosen Hoffahrt dich selbst vielleicht darum gebracht, Kurfürst oder König von England zu werden. Ja, starr mich nur an. Eben wegen dieses ›Hofbeamten‹. Aber das verstehst du anscheinend noch nicht. Du wirst jetzt augenblicklich deine Gemächer aufsuchen und abwarten, was wir weiter bestimmen. Es sind höchste Staatsrücksichten im Spiel. Ich behalte mir vor, deinen Vater von allem in Kenntnis zu setzen. Und jetzt geh!« Sie wandte sich mit zusammengebissenen Zähnen und zitternd der holden Prinzessin zu, die aufschluchzend in ihre Arme lief.

Georg hatte sich wortlos umgedreht und entfernte sich mit gesenktem Kopf.

Leibniz aber sagte leise:

»Es ist nicht das erste Mal, Hoheit, daß mir ein solcher Auftritt begegnet. Der große Boineburg, ich meine der junge Philipp Wilhelm, der heute schon ein Stern und eine Hoffnung Deutschlands ist, hat mich ähnlich behandelt. Ich habe ihm verziehen. Und wir wechseln freundschaftliche Briefe. Obgleich er mich mit dem Fluch belegt hat, daß mich stets alle Söhne hassen würden.«

Da geschah wieder etwas Unerwartetes. Prinzessin Charlotte hatte sich plötzlich aus den Armen der Mutter gelöst und hatte sich vor Leibniz auf die Knie geworfen. Aus tränenschimmernden, gleichwohl strahlend reinen, weitgeöffneten Augen bückte sie Leibniz an. Und rief klagend:

»Verzeihen Sie ihm, Herr Leibniz, verzeihen Sie ihm um meinetwillen! Ich werde alles wieder gutmachen, alles! Es ist mir unbegreiflich, was in Georg gefahren ist. Er ist sonst gut und verträglich. Gehen Sie nicht fort aus Hannover, Herr Leibniz! Sonst stirbt die größte Freude meines Lebens. Ich weiß bei Gott, wer Sie sind, Herr Leibniz. Und ich will Ihre Schülerin sein und werde Sie lieben bis zum Tod. Bleiben Sie bei uns! Bleiben Sie bei uns!« Und sie preßte, wild aufschluchzend, ihr heißes Gesicht auf die Hand Leibnizens.

Leibniz aber, von einem jenseitigen Schauer ergriffen, hob das Kind auf, küßte es auf die Stirne und erwiderte leise und hell:

»Ich werde bei dir bleiben, Prinzessin Charlotte. Und du wirst meine Schülerin sein. Weine nicht mehr, mein Kind. Und sag deinem Bruder, daß ich mich an die düsteren Augenblicke nicht mehr erinnere. Aber dir zuliebe, du reines Kind, werde ich es tragen. Denn aus dir sprach jetzt der Gott!« Und er wandte sich, plötzlich verwandelt, in kühler Glätte an die Herzogin: »Ich bitte Eure Hoheit noch einmal um Verzeihung. Ich habe, da die Zwischenzeit in tiefes Vergessen sank, meiner vollen Zustimmung nichts hinzuzufügen.«

»Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Leibniz«, erwiderte die Herzogin mit steinerner Würde. »Sie haben jedenfalls gesehen, daß ich den Willen und die Macht besitze, meine Freundschaft zu betätigen. Aber auch der beste Freund kann leider den Freund nicht immer vor Lästigkeiten und Aufregungen behüten.« Sie zog die kleine Prinzessin, die befangen und verklärt dastand, zu sich. »Du aber, mein echtestes Kind, hast dem Hause Hannover und der Welt einen großen Dienst erwiesen. Vielleicht wird dir Leibniz einmal die Königskrone erstreiten, deren du heute schon würdig bist. Zumindest aber wird er dich in die Gemeinschaft der großen Geister einführen. Das weiß ich.« Sie lachte plötzlich leise auf. »Beinahe eine Königstragödie«, sagte sie wegwerfend. »Wir wollen jetzt mit dem Kind noch ein wenig spazieren gehen. Und erzählen Sie, bitte, der Prinzessin zur Belohnung irgend etwas aus einer recht abgelegenen und unerhörten Wissenschaft.«


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