Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die fremden Jahre

Wenn je ein Mensch sein Leben dem Bruder zum Opfer brachte, so haben die Geschlechter aller Zeiten gewetteifert, den Namen solches Heiligen dem Gedächtnis der Bücher einzuverleiben. Unbeachtet und vergessen blieb aber gewöhnlich Name und Schicksal desjenigen, der ein solches Opfer zu empfangen verurteilt war. Hier soll von einem solchen erzählt werden, der das Lebensopfer des anderen nicht anders zu beantworten wußte, als indem er dem eigenen Leben entsagte, um nun die empfangenen fremden Jahre zu leben und auf diese Weise Gott und die Welt an sich doppelt zu erfahren. Es ist eine dunkle Überlieferung, der wir hier folgen. Sie läuft in gewissen Gegenden Polens noch heute von Mund zu Munde, man findet sie auch wohl kurz und bündig in einigen alten Büchern wiedererzählt, richtig sie niederzuschreiben aber hat noch keiner gewagt. So unternehmen wir es heute, der alten, verborgenen Quelle nachzugehen, das Echte und Wahre von den offenbaren Zutaten späteren Aberglaubens zu scheiden und den Kindern unserer Zeit durch einen beglaubigten Bericht, wie der folgende ist, klarzumachen, was es mit jenem tiefsinnigen Worte unserer Weisen für eine Bewandtnis hat, man solle Gott mit seinen beiden Trieben dienen, dem guten und dem bösen dazu.

In den Tagen Poniatowskis, als unter den Juden Polens noch die Vierländersynode Bannflüche schleuderte und die Ungefügen mit schweren Strafen an Leib und Gute belegte, lebte in Dobrze, einem kleinen Städtchen Wolhyniens zwischen Zamocz und Wladimir, ein Rabbi, der im Volk allgemein Reb Eilje genannt wurde, mit seinem vollen Namen aber Reb Eilje Sußmann hieß. Er war ein hoher, schwarzbärtiger Mann von vierzig Jahren mit harten Augen unter einer klaren Stirn. Trotzdem sah man ihm an, daß er mancherlei Not des Lebens an sich erfahren hatte. Er war zweimal verheiratet gewesen, beide Male kinderlos, und es schien ihn zu quälen, daß er nun so allein und ohne Leibeserben unter den Menschen wandelte. Ein drittes Mal wollte er es nicht mit einem Weibe versuchen, sondern lebte nun einsam und verhärtet in seinem Hause, war streng zu den Leuten, aber noch strenger zu sich selbst, also daß ihn die Leute ebenso fürchteten wie ehrten. Nur ein armer Bocher Jünger., der Lange Schmelke Schmelke = Samuel. genannt, lebte in seiner Gesellschaft, teilte des Tages seinen kargen Tisch und bis tief in die Nacht die schweren Stunden des Lernens mit ihm. Dem schauten aus dem blassen Gesicht recht schwermütige Augen in die Welt hinein, die manchmal sogar ängstlich wurden, als könnte ihm bei all dem Studieren über den dicken, schweren Büchern irgendein schöner Anteil an dieser Welt verloren gehen, ohne daß er es merkte.

Nun wohnte in derselben Gasse gegenüber dem Rabbi ein armer Schulklopfer mit seiner einzigen Tochter Chane Mirel. Das war eine zierliche Jungfrau von sechzehn Jahren, der Gott einen gar lieben Sinn geschenkt hatte, also daß jedermann Freude hatte an dem Kinde. Wie es denn nicht viel Freude in der Gasse gab. Die Jahre kamen und gingen und gingen und kamen, und das Joch der Thora war schwer, und der Rabbi tat nichts, es leichter zu machen, sondern plagte die Leute vom Morgen bis zum Abend mit allerhand Pein und Strengheit des Gehorsams, den er verlangte. Sang da einmal eins in der Gasse, so erschraken die Leute und schauten zum Fenster des Rabbis hinüber, ob sich nichts regte. Und erst, wenn es dort still blieb, atmeten sie auf und lauschten, als meldete sich in dem Sange eine bessere Welt, die sie vor langen Zeiten verlassen hatten und der sie sich kaum noch zu erinnern wagten. Ein solcher Singvogel war Chane Mirel. Während der Vater mit seinem hölzernen Hammer zu halber Nacht durch die Gassen schlürfte und die Juden aus dem Schlafe klopfte, daß sie eilten, Gott zu lobpreisen in der Frühe, tönten allezeit die Wände seines Hauses von den bald frohen, bald schwermütigen Weisen des Volkes wieder, die die Tochter sang.

An einem Frühlingsabend, als die Dämmerung gekommen ist, steht Chane Mirel an ihrem Fenster und schaut den Wolken nach, wie sie dem roten Abend folgen. Und siehe, da überkommt es sie zum ersten Male, daß sie ein Weib geworden ist. Sie sieht den Wolken nach und wird bang und sehnt sich und weiß nicht, wonach sie sich sehnt, und je dunkler es wird, um so banger wird ihr, und die jungen Tränen steigen ihr hoch. Drüben hat schon der Raw Raw = Row = Rabbi. mit seinem Bocher die Kerze entzündet und sitzt über den Büchern, und Chane Mirel sieht durchs Fenster, wie Schmelke, der Bocher, so schwer sein Haupt stützt und einen Augenblick ganz melancholisch über sein Buch hinweg ins Leere träumt und wie traurig das alles ist. Da sucht sie sich die trüben Gedanken mit einem leichten Liedchen wegzusingen, breitet die Arme zwischen den Fensterpfosten und singt mit einer ganz neuen Stimme, die ihr selber fremd und eigen ist:

»Ich weiß ein Liedel
Von meinem Jüngel,
Von meinem Jüngel
Ein kleines Lied.

Es liest mein Jüngel
In seinem Büchel,
In seinem Büchel
Die heiligen Wort'.

Es trägt mein Jüngel
Ein frommes Käppel,
Ein frommes Käppel
Auf seinem Haupt.

Ich fass' die Locken
An seinem Käppel
Und küss' mein Jüngel – –
– – – – –«

»Aufhören zu singen sollst du! Herüberkommen sollst du!« tönt es von Reb Eiljes Fenster her, und die Jungfrau flieht in die Stube zurück und faßt sich an ihr klopfendes Herz. Es war Schmelkes Stimme, die so rief, und, an allen zarten Gliedern bebend, wankt das Mädchen über die Gasse und steht alsbald in der Tür vor dem Raw, der gebeugt über den heiligen Büchern sitzt. Sie steht und wartet, und er läßt sie warten. Endlich blickt er auf und schaut sie an, daß ihr das Herz stillsteht: »Singen ist Unzucht! Geh!« sagt er hart, und da sie verwirrt und ganz ratlos noch zögert: »Geh!« herrscht er sie an.

Chane Mirel weiß nicht, wie sie wieder über die Gasse hinübergekommen ist, aber wie sie sich in ihrem Stübchen umsieht, ist alles verändert, und sie fängt herzbrechend zu weinen an. Sie weint in der Mitte ihres Zimmers sitzend so unaufhörlich, daß der alte Vater sie so noch findet, als er spät nach Hause kommt, und sie nicht zu trösten weiß und nicht merkt, daß an diesem Abend eine große Liebe im Herzen Chane Mirels ihren Einzug gehalten hat.

Wenige Tage vergehen, da fällt Reb Eilje auf ein hartes Krankenlager, also, daß er zu sterben scheint. Und alle Juden befällt eine große Angst, und die laufen in die Schul und laufen wieder heraus und rufen die Brüder und laufen wieder hinein und sprechen: »Wir wollen Thillim Thillim = Psalmen. sagen für den Row!« Und sie sagen Thillim, und von Zeit zu Zeit läuft der lange Schmelke nach Haus, um nach dem Kranken zu sehen, und kommt wieder und ist ganz außer Atem. »Noch mehr Thillim!« sagt er und wischt sich den Schweiß. Und sie sagen noch mehr Thillim. Und wieder läuft der Bocher und kommt zurück, und sein Gesicht ist weiß wie Kalk und er bringt kein Wort hervor, aber man sieht ihm an, daß es mit dem Reb Eilje immer schlechter geht.

Da steht der alte Schulklopfer auf und spricht: »Wir wollen Jahre sammeln für den Row, wie es die Väter getan. Der Bocher soll ein Buch nehmen, und jeder soll einschreiben, wieviel Jahre, Monde oder Wochen er von seinem Leben abgeben will, dem Row zu längeren Jahren in dieser Welt, ihm selbst zum guten Geleite für die kommende Welt.«

Und sie tun also: Der Bocher nimmt das Buch und läuft von Haus zu Haus, und die Juden schreiben sich ein: Der zwei Jahre, der eins, und der dritte kratzt sich hinter dem Kopf und atmet tief, als er sechs Monate schreibt. Der lange Schmelke aber läuft die Gassen herauf und herunter und noch einmal die Gassen herunter und herauf, und es ist Abend geworden und er ist fertig und steht atemlos vor Reb Eiljes Tür. Eben will er hinauf und das Buch dem Rabbi unter das Kopfkissen schieben, als Chane Mirel aus des Vaters Haus herübergeschossen kommt und ihn so heftig am Arme kneift, daß der Bocher vor Schmerzen aufschreit.

»Schreib, Schmelke,« ruft das Mädchen und bei jedem Worte greift sie fester in seinen Arm, »schreib mein Leben! Schreib mein ganzes Leben für den Row! Hast du noch nicht geschrieben?« –Und so, als wenn es gar nichts wäre, schreibt der Bocher das Leben der Jungfrau in das Buch ein, ganz unten, wo die Reihe der guten Juden zu Ende war. Dann aber stürzt er ganz verstört in das Haus, und Chane Mirel hört draußen, wie er mit seinen schweren Stiefeln die Treppe hinaufstolpert, um dem Row die Jahre zu bringen und das ganze Leben einer Jungfrau dabei. Und als es droben stille wird und drunten allgemach die Nacht begonnen hat, atmet die Jungfrau tief auf und schleicht sich leise in ihr Kämmerchen zurück. Und das Städtchen schläft ruhig die ganze Nacht.

Am nächsten Morgen findet man Chane Mirel, des Schulklopfers Tochter, tot in ihrem Bette. Reb Eilje Sußmann aber wacht nach einem tiefen Schlafe, in den er versunken war, in den Strahlen der Frühlingssonne auf und lebt. -

 

Als Reb Eilje erfährt, daß man Jahre für ihn gesammelt hat, und daß die Jungfrau Chane Mirel in derselben Stunde verschieden ist, da er selbst wie durch ein Wunder vom Tode erstand, wird er schweigsam. Er lernt noch tiefer in die Nächte hinein und läßt sich bei Tage kaum noch auf der Straße sehen. Dem Bocher Schmelke, der beim Lernen ihm gegenübersitzt, wagt er nicht ins Gesicht zu sehen und nur das Nötigste redet er mit ihm. Obgleich aber Reb Eilje so abgeschlossen in seinem Hause lebt, verbreitet sich in der Gasse bald die Kunde, wie wunderbar er nach seiner Krankheit aufgeblüht. Sein Wuchs ist höher, seine Augen strahlender als je zuvor. Da stecken die Leute die Köpfe zusammen und flüstern: »Arme Chane Mirel!« sagen sie und wiegen den Kopf. Von der Qual aber, die Reb Eiljes Herz in Besitz genommen hat, weiß keiner. Wenn er den alten Schulklopfer im Morgengrauen die Tür seines Hauses aufschließen hört, zittert Reb Eilje. Er kann seinen Hammer nicht mehr hören, ohne zusammenzuschaudern, kann den Bocher nicht mehr sehen, ohne daß ihm weh wird. Eine stille Schwermut hat ihn in Besitz genommen. Er tut Dinge, die er früher nie getan, kann nachts stundenlang am Fenster stehen und ins Dunkel hinausstarren. Ihm, der ein strenger Mann gewesen sein Leben lang, können unerklärliche Tränen kommen, mitten im heiligen Studium befallen ihn weiche Träume. Früher hatte er Träume wie Tränen als den bösen Trieb in sich bekämpft, jetzt läßt er sich tragen und treiben, aber wenn er erwacht und sich besinnt, peinigt er sich mit stundenlangem Gebet und hartem Fasten. Wer weiß davon in der Gasse? Sie sehen nur, daß seine Wangen blühen, und wundern sich, daß er so schweigsam ist.

Ein Jahr ist vergangen, da tönt eines Nachts der Hammer des Schulklopfers mit solcher Gewalt an Reb Eiljes Tür, daß er erschrocken vom Lager springt und sich weit zum Fenster hinausbeugt, um zu sehen, warum der Alte so schrecklich und zu so ungewohnter Stunde schlägt. Als dieser nun langsam den Kopf zum Fenster hebt, beleuchtet der Mondschein ein totenblasses Gesicht: »Der Row soll zum Dobrzaner Waldhaus kommen!« schallt es dumpf herauf, und es ist Reb Eilje, als käme die Stimme von ferne her und, der die Worte spricht, hätte einen unendlich weiten Weg hinter sich.

Macht sich Reb Eilje in der Nacht auf den Weg und geht zum Dobrzaner Waldhaus. Das war früher eine Schenke am Wege nach Wladimir, nun aber ist sie verlassen und ein Unterschlupf für Schmuggler und dunkle Leute. Als Reb Eilje in den Wald kommt, wird ihm bange, denn der Wald ist schwarz und der Weg geisterhaft. Erst, als er vom Waldhaus Lichter schimmern sieht und gar lustige Musik ertönen hört, beruhigt er sich. Da geht er schneller, um aus dem Schatten der schwarzen Bäume herauszukommen und steht bald vor der alten Schenke zwischen Wagen und angebundenen Pferden, die träumend ihre Hälse an die alten, himmelhohen Föhren lehnen. Draußen ist kein Mensch zu sehen, und es geht Reb Eilje durch den Sinn, daß es doch recht eigen sei, so mitten in der Nacht allein vor dieser verlassenen Schenke zu stehen.

Drinnen aber geht es dafür um so lustiger her. »Kommt herein zu uns, Row!« spricht es plötzlich hinter ihm, und wie er sich umwendet, siehe da, so ist es der Schulklopfer, der so spricht. Da wundert sich Reb Eilje gar sehr, daß er nicht gemerkt hat, wie der Alte ihm gefolgt ist, und denkt, wie schrecklich es doch sei, daß immer einer hinter ihm her gegangen sei durch den ganzen Wald, wo man doch ohne Schutz ist vor Räubern und Gesindel.

»Kommt herein zu uns!« sagt der Alte noch einmal und macht unbeholfen eine einladende Bewegung mit der Hand zur Tür hin. Da zittert Reb Eilje und will nicht gehen. Durch die angelehnte Tür aber und durch die Spalten der geschlossenen Fensterläden sieht er, daß da eine lustige Hochzeit im Gange ist. Auch merkt er es an den fröhlichen Weisen, die die Spielleute drinnen fiedeln.

Mit einem Male wird die Tür von innen aufgestoßen, und nun sieht Reb Eilje, welch eine Hochzeit das ist. An langen Tischen sitzen sie und schmausen, obenan der Bräutigam mit seiner Braut. Reb Eilje erschrickt, denn er hat erkannt, wer der Bräutigam ist. »Warum hat man mir nichts gesagt?« fragt er sich voll Unmut, als er seinen Bocher Schmelke in so stattlichem Aufputz sieht. Er trägt einen seidenen Kaftan und eine hohe Mütze vom feinsten Zobel, sieht fröhlich aus und seine Augen glänzen vor Freude.

Wie nun Reb Eilje in der Tür steht und sich unschlüssig an den Pfosten lehnt, erkennt ihn mit einem Male die junge Braut und fängt zu weinen an. Sie weint so laut und heftig, daß man »Pst! Pst!« zu den Spielleuten macht, und die Musik mitten drin abbricht und es ganz still wird. Die Weiber laufen herzu und streicheln und küssen die Braut und weinen selber und führen sie hinaus und um die Tische herum, gerad auf die Tür zu, wo Reb Eilje steht. Er starrt sprachlos auf das, was er sieht, und je näher die Jungfrau ihm kommt, um so mehr lehnt er sich rückwärts, um sie inmitten der weinenden Frauen an sich vorbeizulassen. Und gerad, als sie vorübergeht, erkennt er, daß es Chane Mirel ist.

»Der Row soll sitzen! Laßt den Row sitzen! Einen Ehrenplatz für den Row!« geht es nun flüsternd und eilig durch den Raum und es geschieht ein Gelaufe, und ehe sich's Reb Eilje versieht, hat man ihn zu dem verlassenen Platze der Braut geführt und ihn neben dem Bocher auf den Stuhl gedrückt.

»Massel tow!« »Zum guten Glück!« tönt es nun von allen Seiten: »Massel tow! Massel tow!« Reb Eilje weiß gar nicht, wie ihm geschieht, so schwirren die Wünsche um ihn herum, und viele Hände greifen nach seiner Hand: »Massel tow! Massel tow!« Bis auch der gute Schmelke seine Hand zu fassen bekommt. Da erschreckt Reb Eilje, denn des Bochers Hand ist heiß und feucht, und wie er ihm in die Augen sieht, erblickt er auch dort etwas, was er früher nie gesehen. Reb Eilje will aufstehen und fortgehen, aber er vermag es nicht, denn Schmelkes Hand hält ihn furchtbar fest und ist wie brennendes Feuer in seinem Gebein.

Da bekommt Reb Eilje Angst und schreit und schreit so gewaltig, daß die ganze Hochzeit auseinanderstiebt. Schmelke aber läßt ihn nicht los, sondern rüttelt ihn so, daß er erwacht. Es ist Morgen, er liegt in seinem Bett und vor ihm steht der Bocher und fragt: »Was ist Euch, Row? Warum schreit Ihr so?« Da sieht Reb Eilje, daß es ein Traum gewesen und erholt sich allmählich. Wie er aber den Bocher ansieht, ist es ihm, als blickte der mit ganz bösen Augen auf ihn herab, gleich als hätte er ihm Gott weiß etwas angetan.

Und Reb Eilje wird den Traum nicht los: »Ich habe einen Traum geträumt,« sagt er sich, »aber den Deuter habe ich nicht.« Und er fragt sich: »Warum hat sie geweint? Und warum ist sie aufgestanden? Es muß doch ein sehr großer Kummer sein, der sie drückte? Und ich bin es, der ihr diesen Kummer bereitet hat. Denn hat sie nicht erst zu weinen angefangen, als sie mich in der Türe sah?« Mit solchen Gedanken quält sich Reb Eilje den ganzen Tag und noch viele Tage dazu. Und denkt an die fröhliche Hochzeit und fragt sich weiter: »Hab' ich ihr das genommen? Und wenn ich es nahm, wie mach' ich es gut? Und noch einmal, wenn ich es nahm, was nahm ich denn da? Ja, dieser Traum, den ich träumte, aus wessen Leben war er denn? Aus meinem etwa? Wie denn? Saß ich nicht auf ihrem Platze? Hielt der Bräutigam nicht meine Hand, nachdem er vorher ihre gehalten? Ewiger Gott, leb' ich denn noch mein eigenes Leben?« So wühlt es in Reb Eilje, er hat keine Ruhe mehr zu sitzen, sondern wandert durch sein Haus und, wenn er in die Nähe des Bochers kommt, blickt er zu Boden und es ist ihm jedesmal, als läge Schmelkes Auge böse auf ihm.

Am nächsten Morgen steht Reb Eilje auf, ruft die Weiber des Städtchens in der Schul zusammen und fragt: »Ist wohl eine Jungfrau am Ort, die mannbar ist, daß wir sie verheiraten?« Und man nennt ihm eine mit Namen Ssosche. Da läßt sie Reb Eilje kommen und redet mit ihr hin und her. Dann geht er zum Bocher und spricht mit ihm von dem und jenem und schließlich: »Ich habe eine Braut für dich, Schmelke.« Aber da kommt er gut an. Der arme Schmelke fährt in die Höhe, schießt einen giftigen Blick ab und zischt: »Ich will nicht!« Da flattert Reb Eilje das Herz und er fängt den Traum ein wenig zu begreifen an. Gern wüßte er, ob in jener Nacht auch der Bocher geträumt, aber zu fragen wagt er nicht. Nur weh ist ihm, sehr weh um das tote Mädchen und auch um den armen Bocher ist ihm weh, mit dem er schon so lange Tisch und Bücher teilt. Die Leute in der Gasse aber verwundern sich sehr, als sie sehen, daß der Row die Verheiratung eines armen Mädchens betreibt. Denn solches ist von ihm nicht kund geworden in den langen Jahren, die er mit ihnen lebt. Von jetzt an aber läuft Reb Eilje mit einer wahren Wut hinter dieser Mizwo Liebeswerk. her, als gelte es, alle Mädchen Wolhyniens unter den Baldachin zu bringen. Dabei tut er es kurzab und mit der alten Strenge, die die Leute an ihm kennen, und duldet keinen Widerspruch. Nur zu dem Bocher kommt nie wieder ein Wort aus seinem Munde dieserhalb.

 

Kaum ein Jahr ist vergangen, da erfährt Reb Eilje an sich einen zweiten Ruf. Eines Abends hat er den Bocher zur Ruhe geschickt und sitzt selbst noch einige Augenblicke über den Büchern. Da hört er, wie unter seinem Fenster einer – trapp, trapp – die Gasse hinunterläuft. Dann ist es still, nach einer Weile aber läuft es wieder vorbei und bald darauf ein drittes Mal. Reb Eilje wird unruhig und blickt zum Fenster hinaus. Wer beschreibt sein Erstaunen, als es der Bocher selber ist, der so atemlos die Häuser abläuft und nicht zu Ende kommt. Reb Eilje eilt die Stiege hinab, folgt dem Bocher und ruft ihn an: »Schmelke!« ruft er, »Schmelke, was soll das?« Antwortet Schmelke in aller Hast und weiterlaufend: »Row, Row, ich kann keine Wehmutter für sie finden!« –und ganz, als wäre es selbstverständlich, folgt Reb Eilje seinem Bocher, und wieder geht es gaßauf und gaßab und Schmelke hält sich beim Laufen die Seiten und stöhnt und Reb Eilje folgt ihm in großen Ängsten und bitterer Not. So geht es zum Städtchen hinaus und in den Wald hinein, und Reb Eilje merkt, daß es der Weg zum Dobrzaner Waldhaus ist, und wundert sich gar nicht, daß der Bocher immer schneller und schneller läuft. Da hebt ein Sturm an über dem Walde, die Wipfel brausen, die alten Riesenstämme knarren, und bei jedem Knarr schaudert Reb Eiljes Herz in Ängsten auf. Und wie das Brausen hin und wider wandert, hört er auf einmal einen Schrei und dann wieder einen und dann wird es still. Reb Eilje bleibt zitternd und in Schweiß gebadet stehen, Schmelke ist plötzlich in der Dunkelheit verschwunden. Reb Eilje ruft, aber da ist weder Stimme noch Antwort im ganzen Walde. Lange noch steht er mit bangem Herzen, dann macht er sich auf den Heimweg.

Wie er zu Hause ankommt, liegt alles im tiefen Schlaf. Er horcht an Schmelkes Kammer, der aber schläft und nicht einmal seinen Atem hört man. Reb Eilje geht zur Ruhe. Er fühlt sich zerschlagen an allen Gliedern und fällt aufs Bett wie ein toter Leib.

Das erste, was Reb Eilje am nächsten Morgen sieht, ist, daß sein Bocher totenblaß ausschaut und ganz elend und abgehärmt. Davon erschrickt er so, daß er erst gar nicht mit ihm zu reden wagt. Dann aber fängt er doch zu fragen an.

»Schmelke«. fragt er, »was war das gestern abend auf der Gasse?«

»Weiß nicht!« sagt Schmelke und sagt es so kurz ab, daß Reb Eilje ganz betreten ist. Nach einer Weile beginnt er von neuem: »Du hast gestern abend gewacht, Schmelke?«

»Nein!« sagt Schmelke und Reb Eilje flattert wiederum das Herz, wie er's hört. Er stöhnt, schweigt eine Weile, dann fängt er von vorne an: »Du fastest zu viel, Schmelke!«

»Ich fast' nicht!« zischt Schmelke, und es klingt beinahe frech, wie es Reb Eilje von dem guten Bocher nie zu hören gewohnt ist. Erstaunt blickt er ihn an und sieht zum ersten Male, wie eingeschrumpft und kümmerlich sein Bocher im letzten Jahre geworden ist. Da faßt ihn ein tiefes Weh und bittere Reue an und er spricht ganz weich zu seinem Bocher:

»Schmelke, du bist bald über die Jahre hinaus. Heirate, Schmelke!«

»Ich will nicht!« sagt Schmelke giftig, kehrt seinem Rabbi den Rücken und krümmt sich über die Gemore Talmudfoliant., die da liegt. Und wieder ist es still in der Stube.

Reb Eilje geht schweigend hinaus, schließt ganz leise die Tür hinter sich und tritt auf die Gasse. Dort scheint die Sonne und die Kinder spielen auf den Steinstufen die stillen Spiele der Judengasse. Reb Eilje sieht es und tut, was er früher nie getan. Er schaut ihnen zu. Wie er aber so steht und schaut, tönt aus einem offenen Fenster das Quarren eines Säuglings an sein Ohr. Die Königstochter von Ägypten kann, als sie das Weinen des Moseknäbleins vernahm, nicht so erschüttert gewesen sein, wie es Reb Eilje in diesem Augenblicke ist. Die Tränen kommen ihm hoch und er lauscht wie verzaubert dem Weinen des Kindes. Noch steht er so, da geht eine junge Mutter vorbei, die trägt ihr Kind durch die Sonne, und das Kind freut sich und kreischt vergnügt in die Welt hinein.

»Gib mir dein Kind!« sagt Reb Eilje zu der Mutter, und das Weib erschrickt. Rot bis an die Haarwurzeln reicht sie ihm das Bübchen, er wiegt es einmal auf den Armen, und wird selber rot und gibt es ihr wieder, und sie eilt betreten davon.

Da hört Reb Eilje hinter sich zwei Männer reden: »Was hat er mit den Kindern zu tun?« sagt der eine. »Was hat er mit den Weibern zu reden?« sagt der andere. »Warum lernt er nicht? Lernen soll er!« In Reb Eilje entbrennt ein Zorn, mit starken Schritten tritt er die Männer an, aber sie machen sich davon.

Er geht nach Hause, setzt sich zum Bocher in die Stube und fängt mit Macht zu lernen an. Er ißt und trinkt nicht den ganzen Tag und lernt mit solcher Gewalt, daß der Bocher ihm nicht mehr folgen kann und mit hochgezogenen Augenbrauen vor ihm sitzt. Wie es Abend wird, heißt er Schmelke gehen, schließt sich selbst in seiner Kammer ein und fängt zu beten an.

»Herr der Welt«, spricht er, »Herr der Welt, ich weiß nicht mehr, was du willst. Das Mädchen hat mir ihr Leben gegeben. Ist es nun mein Leben, oder ist es noch das ihre? Ist es mein Leben, welche Kraft kannst du mir armen Wurme geben, solches Opfer zu ertragen? Ist es aber noch immer ihr Leben, was soll ich tun? Muß ich leben wie sie, oder darf ich noch, wie ich selber will? Ja, Herr der Welt, bin ich überhaupt noch ich? Hilf mir, denn das Wasser geht mir bis ans Leben hinan!«

So betet Reb Eilje in jener Nacht und denkt daran, daß Chane Mirel jetzt ein Kind hätte und an seiner Wiege säße und ihm die alten Lieder sänge. Und gedenkt der Lieder, die ihm selber vor Zeiten seine Mutter sang und summt sie leise vor sich hin. Mitten im Singen aber erschrickt er wieder und eilt zu den Büchern und lernt und kann doch das Mädchen nicht vergessen und wie es an jenem Abend sang und wie hart er es damals schalt und welch ein bitteres Ende es nahm.

 

So gehen die Monde hin und allmählich kommt wieder Ordnung in die Gedanken Reb Eiljes. Er fängt an, einen Unterschied zu machen zwischen Tag und Nacht. Gehören mir meine Tage nicht, sagt er, so werden mir doch meine Nächte gehören. Wer will mir streitig machen, was ich mir von meinem Schlafe quäle? Das, ja, das ist mein, wenn nichts anderes mehr mir gehört. So geht er am lichten Tage hinaus unter die Leute und tut Gutes, scherzt mit den Kindern auf der Gasse, verheiratet Mädchen, versorgt Waisen und denkt über alles nach, was ein wackeres Weib wohl tue unter den Menschen und geht fröhlich hin und tut desgleichen. Kommt aber die strenge Nacht, so brennt er eine Kerze nach der anderen ab und lernt und scheucht den Schlaf von den Augen bis in den frühen Morgen hinein. Die Männer murren in der Gasse, und die Weiber wundern sich, aber sie sehen, wie er sich allerhand Pein antut tages und nachts und schweigen darum.

Nur den Hammer des Schulklopfers kann er nicht mehr hören, ohne zu schaudern. Wenn der ertönt, ist ihm, als riefe ihn eine andere Welt. Und wenn er den Alten sieht, wird sein Herz rege, und es jammert ihn, wie er bemerkt, daß der Alte, seitdem ihm die Tochter entrissen ward, nun so allein am Herde steht, sich die schmale Suppe zu kochen; und wie ihm der Rock schleißt und die Knöpfe springen und er anfängt zu verwahrlosen. Reb Eilje schickt ihm eine brave Witwe ins Haus, daß sie ihm nach dem Rechten sehe, aber der Alte ist störrisch und sagt auch: »Ich will nicht!« genau, wie der Bocher sagte, mit giftigem Blick: »Ich will nicht!« Und Reb Eilje betet viel und weint in den Nächten.

 

So werden aus den Monden Jahre, und Reb Eilje hat mehr als einmal einen Tag und eine Nacht, wo er einen Weheruf vernimmt und weiß dann, daß wieder ein Kind gekommen ist. Jedesmal durchzuckt ihn die höchste Lust, jedesmal das tiefste Weh, als wenn Himmel und Abgrund sich um ihn rissen. Und er zählt die Rufe und die Kinder. »Jetzt bekäme sie das zweite, jetzt das dritte«, sagt er sich und ermißt die Schmerzen und Wonnen, um die er das Mädchen gebracht, an den eigenen Wonnen und Schmerzen. Dabei ist ihm alles rätselhaft, und er weiß sich nicht zu helfen, als indem er weiter zwischen Tagen und Nächten scheidet. »Ihr den Tag und mir die Nacht!« stöhnt er oft. Allsabbatlich aber, wenn der heilige Tag zur Rüste geht, und er die Hawdole, die große Tagesscheide singt, weint Reb Eilje. Er singt: »Der da scheidet zwischen Weihe und Unweihe, unsere Sünden er verzeihe!« und weint. Denn er trägt schweren Kummer, daß er die Nacht nicht zum Tage bringen kann und den Tag nicht zur Nacht. »Die Nacht ist zum Lernen da«, trösten ihn die Weisen, und so lernt er bei Nacht, läßt die Männer kommen bei Nacht, schlichtet bei der Kerze ihren Streit, entscheidet mit Strenge wie zuvor, nur alles bei Nacht. Dann schläft er eine Stunde, steht wieder auf und verläßt die Welt des Lernens, um mit Kindern zu singen, oder mit Frauen zu sorgen, allein im Walde zu gehen und in seinem Brausen die Stimme Gottes zu hören. Kommt er aber wieder nach Hause, so quält er sich doch, daß er die Nacht nicht zum Tage bringen kann. Der alte Schulklopfer ist inzwischen noch älter geworden, er sieht ganz herabgekommen aus und riecht auf zehn Schritte nach Branntwein. Die Leute machen Reb Eilje auf das Ärgernis aufmerksam: Soll der Row mit ihm reden! Reb Eilje aber schnürt es die Kehle zu, wenn er den Alten sieht. Er schweigt.

Eines Tages erfährt Reb Eilje seinen dritten großen Ruf. Kommt da ein Wagen von Zamocz gefahren, und der Bauer, der ihn fährt, überbringt dem Rabbi einen Brief, über dem geschrieben steht: »Rabbi Schmuel Schmuel = Samuel., Sohn Nathans an Rabbi Elijahu Sußmann, das Licht von Dobrze, die Leuchte des Exils, der die schwachen Hände stärkt, strauchelnde Knie kräftigt, sehend macht die Blinden und die Tauben hörend.« In dem Briefe wird Reb Eilje mit vielen feinen Worten der heiligen Sprache aufgefordert, mit dem Wagen ohne Verzug nach Zamocz zu fahren, um als Gast an der Barmizwoh Einsegnung. im Hause des weisen Rabbi Schmuel teilzunehmen. Reb Eilje verwundert sich, hat er doch nie von jenem Rabbi Schmuel gehört, aber, da ihn die Thora ruft, was soll er tun? Setzt er sich also auf den Wagen und fährt. Und der Wagen fliegt nur so durch den Dobrzaner Wald, denn es ist der Rüsttag des Sabbath, und Reb Eilje hat nur eine Sorge, vor Sabbath nach Zamocz zu kommen. Das verlassene Waldhaus fliegt vorüber und, wie er es so halb im Traume erblickt, wird ihm ganz seltsam zumut, und er fragt sich, warum er denn eigentlich gefahren ist. Aber da sieht man schon die Türme von Zamocz liegen, und im Nu sind sie am Rande der Stadt angelangt und halten kurz vor Sabbath vor einem hohen Hause. Der Hausherr, stattlich in Pelz und Seide, erwartet den Gast vor der Tür und bewillkommt ihn mit dem Gruße des Friedens und siehe da, wer ist es? –Schmelke, der einstige Bocher in seinem Hause, nun die Leuchte von Zamocz. Und wie herrlich er aussieht: ein hoher Mann mit leuchtender Stirn und hellen, starken Augen, so tritt er Reb Eilje entgegen und führt ihn in sein Haus. Da sind viele Juden versammelt, die beten und den Sabbath begrüßen, und danach kommen sie alle in die Stube des Hausherrn. Viele Kinder sitzen dort wie Olbaumschößlinge um seinen Tisch und als der Vater eintritt, fangen sie an zu singen:

»Friede sei mit euch,
Ihr Engel des Dienstes,
Ihr Engel des Höchsten,
Vom Heiligen, gelobt sei er!«

Auf einmal sitzen sie alle, Männer und Weiber, und sieh, da steht der Barmizwoh auf, ein feiner Knabe mit lieben, weichen Augen, und fängt zu reden an. Reb Eilje erstaunt, wie schön das Kind von der Thora zu reden weiß, und alle wiegen den Kopf und lächeln still, Männer, Weiber und die Kinder auch. Wie sich Reb Eilje nun so im Herzen über die Klugheit des Kindes verwundert, hört er ein leises Weinen neben sich und sieht, daß es die Mutter ist, die so weint.

»Muß sie denn immer weinen, wenn ich komme?« denkt Reb Eilje, aber da sieht er, daß es diesmal glückliche Tränen sind, die sie weint, und hört sie fragen: »Was sagt Ihr, Row, wie ich mein Jüngel hab' lernen lassen?« Und das fragt sie so, wie nur eine jüdische Mutter fragen kann, und auch nur bei ihrem erstgeborenen Barmizwoh.

»Oh, oh, oh!« macht Reb Eilje, aber da steht schon Schmelke auf, Schmelke, der Bocher.

»Nun, was wird er bringen?« denkt sich Reb Eilje, »ein grober Kopf war er nicht, nur müde, müde, immer müde.«

Wie nun aber Rabbi Schmuel zu reden anhebt, werden Reb Eilje die Ohren gewaltig weit, ja, es ist, als wenn einer aus dem Dunkeln ins Helle tritt, die Stube wird ganz glänzig, und alle schließen die Augen und lauschen verzückt den weisen und tiefen Worten aus des Hausherrn Munde. Reb Eilje sitzt ganz ergriffen da, und wieder hört er die innige Stimme neben sich fragen: »Was sagt Ihr, Row, zu meinem Schmelke?« Ja, das Beste, was Reb Eilje je gedacht hatte, wurde übertroffen von der Rede dieser erhabenen Leuchte, Rabbi Schmuel, dem Großen von Zamocz, wie der in der Barmizwohnacht seines Erstgeborenen zu seinen Leuten redete.

Reb Eilje sitzt lange mit geschlossenen Augen und lauscht. Wie er sie endlich auftut, muß er sie sich reiben, denn alles ist verschwunden, und er sitzt in seiner Stube dem armen Schmelke gegenüber, der ihn mit trüben Augen anglotzt, wie er so aus seiner Vergessenheit erwacht. Es ist Abend, die Kerze flackert, die Bücher liegen offen und die Buchstaben tanzen vor seinen Augen.

Wie er nun den Bocher so erbärmlich vor sich sitzen sieht, steigt ein Schmerz in ihm hoch, und er spricht zu sich selber: »Das also hätte er werden können, wenn sie sein Weib geworden wäre, wie es ihre Bestimmung war. Ich dachte bisher, ich hätte es nur den Toten genommen, und siehe, nun nahm ich es auch den Lebenden. Haut um Haut, so muß ich auch den Lebenden wiedergeben, was ich den Lebenden nahm.« Am andern Morgen steht Reb Eilje auf, geht umher und sammelt Gelder und gründet ein Lehrhaus, wo fromme Jünglinge sich zur Thora bereiten. Er läßt sie in seinem Hause als seine Söhne wohnen, speist sie von seinem Tische und lernt mit ihnen. Vom Morgen bis zum Mittag lernt er mit ihnen und bringt so zum ersten Male wieder die Nacht zum Tage. Denn, sagt er, nicht nur die Toten, auch die Lebenden haben ein Recht auf meinen Tag. So umgibt er sich mit lernender Jugend, Schmelke, den Bocher, aber setzt er über sie und pflegt ihn besonders, so mürrisch der auch bleibt und sich absondert von der Schar der fröhlichen Lerner. Am Nachmittag aber pflegt Reb Eilje hinauszugehen, singt mit den Kindern, wenn er über die Gasse kommt, macht arme Bräute glücklich und ist ein Vater der Witwen und Waisen, so daß sein Name groß wird im Lande. Er wandert auch weiter hinaus in die Wälder, liebt es, den Vögeln zu lauschen und sich von Herzen zu freuen an der Welt. Manche Mutter aber geht vorüber am Lehrhaus, lauscht der Stimme der Lernenden und ist stolz, wenn sie die Stimme des Sohnes dazwischen hört. Dann fragt sie sich im Herzen, wie nur eine jüdische Mutter fragen kann: »Was sagt wohl der Row zu meinem Jüngel?« –

 

Wieder vergeht einige Zeit, da wird der Row einmal zur Slicheszeit Vor dem Neujahrsfest durch einen schweren Hammerschlag an seiner Tür geweckt. Es ist Nacht, er wagt nicht das Fenster zu öffnen, sondern steigt im Dunkeln die Stiege hinab und öffnet die Tür: liegt da ein Mensch auf seiner Schwelle und rührt sich nicht. Reb Eilje rüttelt ihn, er rührt sich nicht. Herr der Welt, es ist der Schulklopfer, der tot zu seinen Füßen liegt. Reb Eilje weckt den Bocher, der kommt mit der Kerze, und sie leuchten dem Toten ins Gesicht. Seine Züge sind aufgedunsen und ein widriger Geruch geht von ihm aus. Der Alte war ganz dem Trünke verfallen, nun hat ihn der Schlag gerührt, und er schlug vorm Sterben noch einmal mit aller Macht an Reb Eiljes Tür –einen einzigen Schlag.

Wie nun Reb Eilje starr vor dem Toten steht und auf ihn und den über ihm knienden armen Bocher herabblickt, wird er sich dessen, was er sieht, wie einer furchtbaren Schuld bewußt. Er weiß, daß der Alte nie ein Trinker und der Bocher nie so welk geworden wäre, wäre sie nicht für ihn, den ewig jungen Eilje Sußmann gestorben. Er weiß auch, sie wäre nimmer für ihn gestorben, wenn er sie nicht so hart gescholten hätte. Aber indem dieser Gedanke seine Seele zu füllen beginnt, indem ihm die Brust arbeitet, diesen eisernen Reifen zu sprengen, der sein Wesen umspannt, steigt unmerklich, mit stiller aber sicherer Gewalt das Gefühl in ihm auf: »Ich lebe! Diese Schuld, mag es mit ihr sein, wie es wolle, ist mein Leben. Ich lebe, ja, ich lebe mein Leben!«

Wie sie nun den alten Schulklopfer begraben haben, und er von dem schweren Wege heimgekehrt ist in sein Haus, sieht er mit einem Male die Welt mit anderen Blicken an. Eben noch war er sich als ein Doppelter gespenstisch vorgekommen, eben noch hat er, fremdes Wesen in sich fühlend, nicht gewagt, an sich und sein eigenes Leben zu glauben, scheint sich ihm jetzt wie auf ein Zauberwort die ganze Verstrickung zu entwirren, und indem ihm das, was ihm Schuld schien, zur süßen Reue wird, nimmt eine tiefe Liebe zu dem Andenken Chane Mirels von seiner Seele Besitz. Er beginnt in ihr die geheimnisvolle Führerin zu sehen, die ihn durch ihr großes Lebensopfer den wahren Weg gewiesen. Jeden Morgen und jeden Abend fleht er zu ihrer heiligen Seele, nicht mehr seines Scheltens zu gedenken von jenem Tage, jeden Abend und jeden Morgen fleht er zu ihr, sich seiner Seele zu vermählen, auf daß ihm auch eines Weibes Seele walte in seiner Brust: Denn das sei der Weg.

Und siehe da, Reb Eilje wird ein anderer. Er hört auf zu scheiden zwischen Tag und Nacht, quält sich nicht mehr mit sich selber, wird ruhig, wird still und weise. Ja, er lebt nun das Leben Chane Mirels, aber er fühlt sich reich, daß er zu seinen Gedanken auch ihre denken darf, und vom eigenen festen Lebensufer schauen darf auf ihren bewegten Strom. Er wird ein anderer, und auch die Welt wird anders vor ihm.

Wieder vergehen Jahre, und dann und wann hört er Stimmen. Eine Braut wird an seinem Hause vorübergeführt, hei, wie tönen die Geigen und wie klatschen die Juden in die Hände! »Jetzt hätte sie ihre Tochter unter den Baldachin geführt«, denkt Reb Eilje, sitzt mit schmerzlich geschlossenen Augen und lauscht den davonziehenden Tönen unter seinem Fenster.

Der Bocher Schmelke schrumpft immer mehr zusammen. Seine Schläfen werden grau, sein Rücken krümmt sich, und die Jünglinge, die Reb Eilje an seinem Tische hat, spotten über ihn: Wenn es so weiter geht, wird bald gar nichts mehr von ihm übrig sein. Und so kommt es auch: eines Morgens findet man ihn tot über den Büchern liegen. Sein armes Gesicht sieht so kummervoll aus, als hätte er das ganze Leben versäumt. Wie sie ihn aber hinausgeleiten auf den guten Ort, tritt Reb Eilje vor und hält ihm die Totenklage. »Was wird er von dem armen, alten Bocher sagen?« denken die Leute, wie er beginnt. Aber siebe da, Reb Eilje spricht nicht von Schmelke und nicht vom Bocher, sondern von Rabbi Schmuel, dem Sterne des Exils, dem Lichte der Thauro Thora., das erloschen vor der Zeit. Die Leute wissen nicht, ob sie träumen oder wachen. Aber sie wissen auch nicht, was Reb Eilje weiß. Da sie aber sehen, wie ihm die Tränen rinnen, so schweigen sie und blicken sich nur verwundert an. Weil aber Schmelke nur ein Bocher war, wenn auch ein alter, kommt er zwischen die Junggesellen und Jungfrauen zu liegen, und es trifft sich, daß er neben der kleinen Chane Mirel begraben wird, mit der er nun vereint unter dem grünen Rasen ruhen wird.

Reb Eilje geht nach Haus. Wie er so geht, allein gelassen von den andern, die ihm kopfschüttelnd nachschauen, fühlt er, daß eines neben ihm geht und weint. Er wagt nicht, sich umzusehen, hört aber deutlich, wie bitterlich es schluchzt. Es scheint sich auf seine rechte Schulter zu lehnen, sein Atem streicht warm seine Wange und dabei weint es in einem fort.

Da überkommt es Reb Eilje noch einmal mit aller Gewalt, was alles er ihr und ihrem Schmelke genommen und wie er nach Hause kommt und unter seine Schüler tritt, stöhnt er auf und ruft: »Oh, wie ist die Welt so finster geworden! Euer Vater, meine Söhne, ist gestorben! Laßt uns Kaddisch sagen für den Vater!« Damit schlägt er von Sinnen zur Erde bin, daß die Jünglinge sich entsetzen. Als sie ihn mit vieler Mühe ins Leben zurückgerufen, steht er auf, wäscht sich, ißt und trinkt und ist ruhig. So ruhig, wie an diesem Tage, ist Reb Eilje noch nie gewesen. Eine stille Hoheit umgibt ihn, die Schüler merken es wohl, weichen vor ihm zurück und blicken ihn doch mit Augen voll Liebe an. Und wie er hinausgeht, merken es auch die Leute auf der Gasse. Die Kinder, die noch vor kurzem lärmend ihn umsprangen, lächeln ihm nur von ferne zu. Die Frauen, mit denen er zu plaudern pflegte, schlagen die Augen nieder. Die Männer, die hinter seinem Rücken grollten, sehen ihn ernst und ruhig an. So wandelt Reb Eilje durch seine Gasse, und Furcht und Liebe folgen seiner Spur.

 

Reb Eilje ist ein alter Mann geworden. Alle seines Alters sind hingegangen, er hat alle überlebt. Aus seinen Schülern sind Lehrer in Israel geworden, ringsumher wohnen sie im Lande und sind auch schon alte Leute. Reb Eilje aber ist volle hundert Jahre alt geworden, seine Augen wurden nicht trübe, und seine Kraft ist nicht von ihm gewichen, und der Ruhm des Hundertjährigen, der ein Weiser ist unter den Weisen und ein Kind unter den Kindern, streng gegen sich selbst und nachsichtig gegen die andern, anmutig im Leben und ernst im Gesetze, dringt durch alle Zonen. So ist auch die Kunde von dem verwunderlichen Alter Reb Eiljes mit mancherlei Gerede zu den Ohren des großen, weitberühmten Rabbi Elijahu, des Gaons Gaon –Fürst, Geistesfürst. von Wilna, gekommen. Der hat gerade damals seinen schweren Bann gegen den Unfug des Israel von Mesbetsch geschleudert, der sich Baalschem, d. i. der Meister des göttlichen Namens, genannt, und reist nun im Lande umher, um die Wankenden zu stützen und die Knie der Strauchelnden festzumachen. Wie ihm nun erzählt wird, auf welche Weise der Hundertjährige sein Wesen treibt, wie ihm das Größte nicht zu groß ist, daß er sich seiner nicht freute wie ein Kind, und das Kleinste nicht zu klein, daß er seine Heiligkeit nicht sähe, und wie er ferner hört, daß einzelne Schüler Reb Eiljes, jetzt angesehene Lehrer in Israel, jener neuen Lehre huldigten, die er mit Todeshaß verfolgt –was Wunder, daß er sich eines Tages sagt: »Ich muß doch sehen, was es mit dem Dobrzaner für eine Bewandtnis hat!« und sich auf den Wagen setzt und stracks gen Dobrze fährt.

An einem schönen Abend langt er an, und die ganze Stadt erbraust, als sie hört, welch ein hoher Gast in ihren Mauern weilt. Reb Eilje sitzt vor seiner Tür und genießt die schöne Abendluft, und alle Schüler, die Sprößlinge seiner Pflanzung, um ihn herum. Sie plaudern und er schnitzt dabei ein Pfeifchen aus einem Holunderzweig, das ein kleines Jüngel bekommen soll, das schwarzlockig an seinem Knie lehnt, als der Rabbi von Wilna großmächtig von seinem Wagen steigt: »Ich habe ein Wort an dich, Dobrzaner«, sagt der Gaon, und der Hundertjährige erhebt sich und führt den Gaon in sein Haus. »Setzt Euch!« sagt er, aber der Gaon spricht: »Ich setze mich nicht, bis ich geredet habe. Sagt, Reb Eilje, was sind das für Sachen, die man von Euch hört? Man sagt, Ihr lernt, unterweist Eure Schüler, richtet die Leute nach der Strengheit des Gesetzes. Gut. Aber man sagt auch, Ihr scherztet mit den Kindern, machtet viel Gerede mit den Weibern, und seiet nachsichtig mit jedem. Eure Schüler sollen beim Lesen fremder Bücher betroffen worden sein, und einige gar dem Schwindler Israel von Mesbetsch anhängen, den sie den Baalschem heißen und von dem sie so viel Aufhebens machen im Lande. Antwortet mir einmal Dobrzaner, seid Ihr auch von denen, die nach beiden Seiten hinken?« –

So spricht der Fünfzigjährige zum Hundertjährigen, und der sieht den Jüngeren lange und schweigend an, während ein Lächeln um seine Lippen spielt: »Setzt Euch schon, Gaon!« sagt er dann ganz unvermittelt noch einmal, so daß der Wilnaer ganz verwirrt und betroffen ist und nicht weiß, wie er sich verhalten soll.

Noch reden sie miteinander, da geschieht ein Murmeln des Volkes unter dem Fenster, es wird unruhig da unten, und man hört Ausrufe des Staunens und der Verwunderung. Gleich darauf wird von außen weit die Tür geöffnet, und herein tritt ein hoher Mann von außergewöhnlicher Schönheit. Er trägt einen Kaftan von weißem Atlas und um seine Hüften einen silbernen Gurt. Hinter ihm drängen sich die Köpfe zahlreicher Männer, die, wie es scheint, zu seinem Gefolge gehören. Er aber schließt die Tür hinter sich, sieht den uralten Reb Eilje mit einem starken Blicke an und beginnt:

»Dauw Bär ist mein Name, ich bin der Maggid Maggid = Volksprediger. von Misritsch, Schüler des Heiligen von Mesbetsch.«

Wie er das sagt, fängt der Gaon von Wilna zu knurren an, Reb Eilje aber begrüßt den Ankömmling und sagt: »Friede sei mit Euch! Setzt Euch, Misritscher!«

Aber auch der bleibt stehen und hebt an: »Ich setze mich nicht, denn ich bin nicht Euer Gast. Nicht zu Euch bin ich gekommen, sondern zu Euren hundert Jahren allein. Die suche ich, nicht Euch: Ich suche das Wunder! Ihr und Eure hundert Jahre seid zwei: Wie wäre es sonst möglich, daß Ihr Eure Jünglinge Tage und Nächte plagt, ihnen die sechshundertdreizehn Gebote einzuprägen mit ihren Erklärern und Übererklärern die sie zu sechzigmal sechshundertdreizehn gemacht haben. Hundert Jahre brauchten doch nur ein Wort zu reden, ein Wort und alle dreizehn Himmelstore sprängen auf! Warum kämet Ihr, Reb Eilje Sußmann, nicht zum Meister des heiligen Namens nach Mesbetsch?«

Dabei schaut der Misritscher den Hundertjährigen mit seinem mächtigsten Blick an. Der lächelt, wie er beim Wilnaer gelächelt und sagt wieder gütig und weise: »Setzt Euch nur, Misritscher Maggid!«

Wie er das sagt, knallt einer mit der Peitsche vor der Tür des Hauses. Schon während der Worte des Misritschers hat er damit angefangen. Wie ein Kutscher, der wartet, knallt er ungeduldig mit seiner Peitsche. Die Dämmerung ist inzwischen gekommen, es wird dunkel in der Stube, wo Reb Eilje vor seinen Gästen sitzt und dem Knall der Peitsche lauscht.

Er wird unruhig und fängt zu reden an. Seine Stimme zittert im Dunkeln, sein Gesicht können die beiden kaum noch sehen: »Hört ihr, wie er mit der Peitsche knallt? Darf ein Fuhrmann so ungeduldig sein? Oh, ihr ungeduldigen Fuhrleute, ich will euch ein Licht anzünden!« Damit geht er, holt eine brennende Kerze, stellt sie auf den Tisch und erkennt mit einem Male, wie feindselig die beiden sich mit den Blicken messen.

»Ach, daß man immer tun muß, wie der Fuhrmann will!« seufzt Reb Eilje und wendet sich langsam zum Gehen.

Er geht hinunter und findet vor seinem Hause einen Wagen, auf dem ein feiner Jude sitzt, der mit der Peitsche knallt und dem heraustretenden Reb Eilje hastig zuruft: »Der Row soll kommen, Scheimes Scheimes = Sterbegebete. sagen für die Mutter!« Und ehe sich's die Schüler rundherum versehen, fliegt der Wagen mit ihrem Meister davon.

Er fährt durch die dunklen Gassen, er fährt lang, die Räder rütteln, und Reb Eiljes Herz schlägt mit den Flügeln vor Bangigkeit. Während der Fahrt hat der Hundertjährige Zeit nachzudenken und denkt über vieles nach. Der Wagen fährt durch den Wald, die schwarzen Föhren knarren und brausen. Da denkt er daran, wie er einst zum Dobrzaner Waldhaus zur Hochzeit fuhr. Wie im Sturm fliegt der Wagen am Waldhaus vorüber, da ist ihm, als sähe er wieder die Lichter durch die Fensterspalten und hörte die Spielleute fiedeln. Weiter geht's nach Zamocz. Der Hundertjährige sieht Wolken jagen und Sterne fallen, der Nachtwind läuft schauerlich neben seinem Wagen her. Da ist ihm, als stünde ihm das Herz still, und er gedenkt jener Nacht, da er in Ängsten nach der Wehmutter lief. So kommen sie nach Zamocz, »Jetzt werden wir vor dem Hause halten, wo ihr Knabe zur Thauro trat«, denkt Reb Eilje, aber nein, das Haus liegt wie ausgestorben am Rande der Stadt, und der Fuhrmann fährt weiter, bis der Wagen an einem schwarzen, verschlossenen Gitter hält. »Wohnt sie hier?« fragt Reb Eilje und wundert sich, vor welch hohem Bau er steht.

Und sonderbar, da hat er selbst einen alten rostigen Schlüssel in der Hand und schon steckt er ihn ins Schloß. Das öffnet sich kreischend, dann führen einige Stufen hinab und es kommt eine Tür und hinter dieser eine zweite Tür, und wie der Hundertjährige durch diese zweite Tür tritt, befindet er sich in einem großen Raum, in dem viele Juden beisammen sind. Sie sitzen an der Erde wie am Trauertage des neunten Aw Zerstörung Jerusalems., und jeder hält ein brennendes Lichtstümpfchen in seiner Hand, so daß ihre Gesichter in der Dunkelheit hell umflackert sind, und man sehen kann, wie sie weinen.

»Sie weinen um die Mutter!« denkt Reb Eilje, und seine Augen gehen herum, die Sterbende zu entdecken, zu der er gerufen ward, ihr die Scheimes vorzusagen. Aber er sieht in dem ganzen Räume kein Bett. Da legt sich ihm eine Hand auf die Schulter, und wie er sich umsieht, ist es der Jude, der ihn gefahren hat und nun mit dem verkehrten Ende seines Peitschenstiels auf eine Stelle an der Wand hinweist. Da sieht der Hundertjährige, daß da eine alte Bettstatt in der Wand ist, wie man sie in Bauernhäusern findet. Die Läden sind angelehnt, über der Bettstatt hängt an der Decke ein flackerndes Licht hinter rotem Glas. Reb Eilje dreht sich um und blickt den Fuhrmann fragend an. Der aber ist totenstill, und man hört keinen Laut in dem weiten Raum. Da zittert Reb Eilje, dann aber schwankt er auf die Bettstatt zu und öffnet langsam die Läden. Und siehe da, ein himmlisches Licht bricht daraus hervor: da liegt sie, Chane Mirel, die greise, sterbende Mutter, von ihren Kindern wunderbar geschmückt in ihrer letzten Stunde. Sie haben einen brokatenen Mantel über sie gebreitet, in den mit Gold heilige Worte gestickt sind, sie haben ihr wie einer Königin eine silberne Krone aufgesetzt, und eine Kette von Silber hängt um ihren Hals. So liegt sie da und blickt Reb Eilje mit einem wunderbar milden Blicke an.

Und der Hundertjährige sieht, daß sie ihn erkennt, und sein Herz erbraust, wie er all die Vergebung und die Liebe und die Macht sieht in diesem Blicke. Da steigen ihm seine alten Tränen hoch und verschließen ihm den Mund. Mit einem Male aber fällt ihm etwas Neues auf: An der Kette auf Chane Mirels Brust hängt als seltenes Schmuckstück eine vergoldete Hand mit einem ausgestreckten Finger. Da kommt Reb Eilje eine Furcht an, denn er erkennt, daß das ein drohender Finger ist, ein Finger der Strenge und der Zucht. Und seine Blicke wandern von diesem ernsten Finger zu den heiteren Augen der Sterbenden, die wie ein bewegtes Wasser leuchten, und von den Augen wieder zum Finger zurück.

Nun hebt ein Flüstern in dem Gemache an, und es tönt von allen Ecken und Enden: »Sagt ihr die Scheimes vor, Row! So sagt ihr doch die Scheimes vor!« Der Hundertjährige tritt an die Sterbende heran und beginnt ihr die Sterbeworte vorzusagen: »Höre, Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig.« So fängt er an und bittet mit den Augen, die Sterbende möchte ihm nachsprechen. Aber sie schweigt, und darum fährt er fort: »Gelobt sei der Name seines herrlichen Reiches in alle Ewigkeit!« Das wiederholt er dreimal und wartet wieder, daß die Sterbende sich bereite, ihm das nachzusprechen. Aber sie liegt still mit offenen klaren Augen und sieht ihn nur immer in all ihrer Güte an. Und zum dritten Male hebt der Uralte an und spricht ihr siebenmal das hochheiligste Bekenntnis vor: »Der Ewige, er ist Gott! Der Ewige, er ist Gott!« Sie aber schweigt.

Da denkt er: »Warum schweigt sie denn? Hat sie mich nicht holen lassen, daß ich ihr vorspreche, was sie mir nachsprechen wollte?« und fängt noch einmal an, ihr alles vorzusagen. Wie er fertig ist, schweigt sie abermals und Reb Eilje beginnt, sich den Schweiß abzuwischen. Wieder fällt sein Blick auf die Silberhand mit dem drohenden Finger. Er glaubt, daß sie ihm noch immer grolle, weil er sie dereinst so hart zurechtgewiesen um ihren leichten Sang. Er glaubt, daß sie Reue habe, ihm das Opfer ihres jungen Lebens gebracht zu haben. Und er will etwas sagen und kann nicht. Und sieht wieder ihre Augen voller Liebe und weiß nun, daß er gar nichts zu sagen braucht. Er seufzt tief auf und beginnt von neuem, die Scheimes zu sagen. Dabei richtet er seine Augen zum Himmel empor und bittet Gott, er möge die Zunge der Sterbenden lösen, daß sie ihn, den Hochheiligen, bekenne und als fromme Seele von hinnen scheide. Und beginnt mit einer Gewalt zu rufen, als gälte es nicht der Sterbenden da, sondern ihm selbst, Reb Eilje, dem Hundertjährigen, der so lange leben mußte. Und plötzlich durchzuckt es ihn mit einem gewaltigen und innigen Schrecken, daß es ihm wirklich selber gilt, daß er es ist, der sterben soll, er, der sterben –darf, nachdem er das Leben eines Mannes gelebt und das Leben eines Weibes dazu. Und sieh, da richtet sich die Silberhand am Halse Chane Mirels auf, wächst ins Unermeßliche vor ihm und ruft: »Ich bin die Furcht!« Und die Augen des Weibes fangen an zu schimmern, zu brennen, zu flammen wie eine Sonne und sprechen zu ihm: »Wir sind die Liebe!« Und in diesem Augenblicke merkt Reb Eilje Sußmann, der heilige Rabbi, daß sein Sterben angefangen hat, und er beginnt zu schreien, zu schreien, zu schreien: »Schma Jisroel –!«

 

Dem Gaon von Wilna und dem Misritscher Maggid ist sehr merkwürdig zumute, als sie von dem greisen Reb Eilje so kurzerhand bei der Kerze allein gelassen werden. Jeder hätte wohl dem anderen gern mancherlei Dinge gesagt, aber der Uralte hat eine Bangigkeit in der Stube zurückgelassen, die den beiden lange die Kehle verschließt. Endlich wirft der stolze Gaon den Kopf zurück und ohne Anrede fragt er den anderen: »Was haltet Ihr von ihm?« Der Misritscher ist in tiefes Nachdenken versunken und antwortet nicht. Der Gaon fragt nicht zum zweitenmal, sondern fängt an, mit harten Schritten und voller Ungeduld die Stube auf und ab zu gehen, und jeder Schritt scheint zu rufen: »Gehorsam dem Gesetz!« Der Misritscher hat den Blick nach innen gekehrt, und sein Lächeln scheint zu sagen: »Freude in der Welt!« Plötzlich fährt er auf und packt den Wilnaer entsetzt an den Armen: »Hörtet Ihr den Schrei?« keucht er. Der entwindet sich ärgerlich: »Ich hörte nichts.« Aber schon ist der Maggid zur Tür hinaus: »Wo ist der Row? Suchet den Row, ihr Schüler! Suchet den Row!«

Die ganze Stadt gerät in Aufruhr und alles läuft hin und her mit Fackeln durch die Nacht, den alten Reb Eilje zu suchen. Lange vergeblich. Endlich ruft ein Knabe: »Die Tür zur Synagoge steht offen.« Alle Juden laufen herzu: »Wer hat das Gitter geöffnet?« fragen sie und drängen sich vor und untersuchen das Schloß: »Geht hinein und seht zu, Reb Henoch!« sagt man zu einem. Der geht bis an die Tür, dann kehrt er um: »Geht Ihr!« sagt er zu einem andern. Der geht, legt auch schon die Hand auf die Klinke, aber weiter wagt er sich auch nicht. So gehen sie einer nach dem andern, und alle kehren sich schaudernd ab.

Da kommt der hohe Gaon von Wilna mit starkem Schritt durch die Menge gegangen und hinter ihm der Misritscher Rebbe. Alle weichen ehrfurchtsvoll zur Seite. Der Gaon öffnet stumm das Tor der Synagoge, sie treten ein und nun drängt die ganze Menge ihnen nach.

»Mein Vater, mein Vater! Wagen Israels und seine Reiter!« schreit der Rebbe gewaltig durch den Raum.

»Ruhe!« herrscht der Wilnaer ihn und alle Männer und Weiber an.

Der Blick des Rebben hat es zuerst gesehen: Vor der geöffneten Lade liegt tot auf seinen Knien der uralte Reb Eilje. Man sieht an seinen emporgereckten Armen, daß er im letzten Kampfe die Thora zu umfassen suchte. Diese steht mitten in der Lade im brokatenen Kleide, mit heiligen Worten in Gold gestickt, geschmückt mit silberner Krone und mit einer Kette, an deren Ende eine weisende Hand von vergoldetem Silber hängt.

Der Gaon unterbricht zuerst die entsetzensvolle Stille, indem er sich umwendet und mit gebrochener Stimme spricht: »Weint, Juden! In den Armen der Thora starb ein Gerechter. Er starb als treuer Row!«

Der Misritscher Rebbe aber hebt an und spricht: »Ich habe einen Schrei gehört, den ihr alle nicht hörtet! Weint, Juden: Ein Chossid Ein Anhänger des Chassidismus.ist gestorben!«


 << zurück weiter >>